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2. Palmenhain
ОглавлениеIm äußersten Norden des Landes Ardavil lag inmitten einiger sanfter Hügel die Hafenstadt Palmenhain. Bekannt war sie vor allem als Sitz der Propheten- und Wahrsagergilde, die die wöchentlich erscheinende Bald-Zeitung herausgab. Aber einen weiteren großen Stellenwert besaß die Stadt als Verbindungshafen zur nördlich gelegen Scherbe Daschûn. Der Handel mit dem rauen, eisbedeckten Land war der Hauptwirtschaftszweig Palmenhains und bescherte seinem Landesfürsten, Anselm III, ein prall gefülltes Stadtsäckel. Der Unterhalt der größten Galeerenflotte Ardavils war somit ein eher geringes Problem und Anselm galt als dem Kaiserhaus treu ergeben.
Wie die Stadt zu ihrem Namen kam, wird aber wohl immer ein Geheimnis bleiben, denn in einem großen Umkreis gab es nur Tundra und Nadelgehölze.
Mittels eines Gruppentransportzaubers war Wulfhelms Familie an der Position eines Runensteins in seiner Tasche in einem kleinen Tannicht unweit der Stadtmauern aus den astralen Sphären aufgetaucht. Dieser Zauberspruch war die zweithöchste Stufe der Transportzauber und sagte bereits einiges über die arkanen Fähigkeiten des Zauberers aus. Die höchste Stufe hatte er allerdings noch nicht gemeistert: sperrige Speditionsgüter, wie etwa Klaviere, oder begehbare Kleiderschränke. Mithilfe des Runensteines wurde ein Fixpunkt für den Zauber geschaffen und bei Briefkästen funktionierte es ähnlich, nur verblieb der Stein dort am Gerät.
Um zu vermeiden, dass durch das plötzliche Auftauchen dreier Personen aus dem Nichts arglose Passanten an Herzversagen verschieden, wählten verantwortungsvolle Zauberer einen möglichst unbevölkerten Zielpunkt für die Kennzeichnung eines Runensteines aus. Wulfhelm, Familienvater und Pädagoge, stellte sich natürlich solchen Herausforderungen und ging nun mit festem Schritt voraus, seinen Sohn Avion direkt hinter sich.
Der Junge kam ganz nach seiner Mutter, jedenfalls was die Haarfarbe, und seine Vorliebe für den Kampf mit gewöhnlichen Waffen betraf. Er trug eine einfache, dunkelbraune Hose aus Leinen und eine Tunika in der Farbe von unbehandelter Schafswolle. Von seinem Gürtel baumelte eine Lederscheide mit einem nicht ungefährlich aussehenden Dolch.
Harika war in eine lange Lederhose und ein dick gepolstertes Wams gekleidet. Leichte Rüstung, jedoch nicht wehrlos, wie auch das Langschwert an ihrer Seite deutlich machte. Eigentlich sollte auf einer so kurzen Reise nichts passieren, aber wer konnte das schon so genau wissen?
Es war nicht besonders warm in diesem Landstrich, auch wenn es langsam auf den Sommer zuging. Die Luft duftete intensiv nach Baumharzen, gemischt mit einem erdigen Single Malt Geruch, der vom Meer des verlorenen Tropfens herüber getragen wurde.
Auf einem Hügel innerhalb der Stadt thronte die Burg von Anselm III und war schon von außerhalb der trutzigen Verteidigungsmauern gut zu sehen. Die Gardisten am Stadttor bemühten sich, ein möglichst entschlossenes und finsteres Gesicht zu machen. Wulfhelm seinerseits legte so viel Würde in seinen Auftritt, wie es seine hochgeschossene - wenn auch nicht sehr muskulöse - Figur, sowie der gezückte Gelehrtenausweis, gestattete. Dieser bescheinigte seinem Träger, dass er zur wissenschaftlichen Elite im Dienst ihrer Majestät, Kaiserin Naphenima VI, gehörte, und öffnete viele Türen. So ließen ihn auch diesmal die Wachen ohne viel Aufhebens passieren und stützten sich wieder gelangweilt auf ihre Hellebarden, als die Familie in den Straßen Palmenhains verschwand.
Das Stadtbild war geprägt von den sehr schmalen, hohen Gebäuden, die sich leicht windschief in die engen Gassen beugten. Selten war ein Wohnhaus breiter als vier Schritte, erstreckte sich dafür umso weiter in die Tiefe und bildete mit seinen Nachbarn oft große Blöcke, die über einen gemeinsamen Innenhof verfügten. Hier fand das gesellschaftliche Leben dieser Nachbarschaften statt, welches sich in gemeinschaftlichen Grillfesten, Brettspielen und Kindergruppen äußerte. Die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen und Gassen Palmenhains waren daher eher gering und überschaubar. Eine Ausnahme bildete das Zentrum mit seinem großen Marktplatz, der von öffentlichen Gebäuden umrahmt war. Hier fand man einige Tempel, eine Universität, ein Gasthaus mit Fremdenzimmern sowie die Adresse, die auf dem Briefumschlag von Darius zu lesen war.
Als sie ihre Freunde das letzte Mal besucht hatten, wohnten sie noch in der Nähe des Hafens. Das Gebäude, vor dem sie nun standen, ließ sie staunend und mit offenen Mündern davor innehalten. Eine Sandsteintreppe führte zu einer breiten Fassade hinauf, die von mächtigen Säulen getragen wurde.
»Da wohnen die doch nicht jetzt, oder?« Harika begann, die Treppe zu erklimmen.
»Wer weiß, aber erinnerst Du Dich, was Darius geschrieben hat? Wenn es sich um etwas Ähnliches wie die Festung in der Hölle handelt, dann ist das wohl ein öffentliches Gebäude.«
Durch eine schwere, eisenbeschlagene Tür gelangten sie in eine kleine Halle. Hier war es deutlich kühler als draußen. Nur durch ein farbiges, rundes Mosaikfenster im spitzen Giebel, drangen spärliche, Sonnenstrahlen und tauchten den Raum in ein buntes Halbdunkel. Die Abbildungen zeigten maritime Szenen mit Schiffen und dem Schutzgott der Zecher und Alkoholumnebelten, Grumuk. An der hinteren Wand der Halle führte ein Gang tiefer in das Gebäude, der von zwei jeweils zehn Schritte hohen Statuen flankiert wurde. Das unheimliche Dämmerlicht und die niedrige Temperatur veranlassten Avion dazu, sich eng an seine Mutter zu drängen. Neben dem Eingang gab es einen Tresen, hinter dem ein junger Mann stand und sie freundlich anlächelte: »Immer hereinspaziert! Hier können sie die größten Schätze der bekannten Scherben bestaunen! Kinder in Begleitung eines Erwachsenen haben freien Eintritt.«
In Erinnerungen schwelgend zog Wulfhelm den Brief aus der Tasche und näherte sich dem Tresen: »Wir suchen Darius und die Adresse auf dieser Botschaft ist doch hier, oder?«
»Eine Einladung vom Chef persönlich? Dann geht nur hinein. Darius müsste sich im großen Saal aufhalten, gleich dort bei den Statuen hindurch.«
Der Zauberer bedankte sich und führte seine Familie ans Ende der Halle und durch eine hohe Doppeltür in einen gewaltigen Raum. Unschlüssig blieben sie stehen und sahen sich um. Durch weitere bunte Glasfenster drangen Sonnenstrahlen und erleuchteten den Raum in reichem Farbenspiel. Überall standen Kästen mit Gegenständen, umzäunte Statuen oder andere »Dinge« herum.
»Wulf! Harika! So schnell habe ich nicht mit euch gerechnet.« Der Dieb kam freudig auf sie zu. Er trug einen grauen Kittel, auf dem Farbkleckse und andere Flecke dicht an dicht verteilt waren. Hinter ihm arbeiteten ein paar Männer daran, einen weiteren Kasten aufzubauen.
»Darius!«, lachte Wulfhelm wurde jedoch gleich wieder Ernst. »Du hast doch wohl keinen Grumuk-Tempel entweiht, oder?« Grumuk war der Schutzpatron der Seefahrer und besonders in den Hafenstädten sehr hoch angesehen.
»Wo denkst Du hin? Hier wurde es zu eng und so haben sie einen größeren Tempel am Hafen errichtet. Ein glücklicher Umstand für mich und meine visionäre Magieunabhängige Sicherungseinrichtung Uralter Möbel. Kurz: MuSeUM«, strahlte Darius stolz mit einer alles umfassenden Geste.
»Museum?«, fragten Wulfhelm und Harika wie aus einem Mund.
»Ja, ich fand die Idee der Erzdämonen gar nicht so blöd, Schmuck und alten Kram herumzuzeigen und dafür Geld zu nehmen. Ist doch besser, als die Sachen zu verhökern. Du musst Avion sein. Bist Du groß geworden, Junge. Alandra wird sich freuen, euch zu sehen. Kommt, kommt.«
Darius freute sich wie ein junger Hund und Wulf befürchtete schon, er würde gleich eine Pfütze auf dem Boden hinterlassen. Der ehemalige Dieb war ein kleiner, drahtiger Mann mit kurzen, fast schwarzen Haarstoppeln und wieselte vor ihnen her in den hinteren Teil des Saales. Er gab ein paar Anweisungen an die Arbeiter und unterstrich seine Worte mit zappelig wirkenden Gesten, dann führte er die Familie durch einen schmalen Gang. In einem Hinterzimmer befanden sich in Regalen und auf Tischen verschiedene Stücke, die von einer schlanken Elfe in ein großes Buch auf einem Schreibpult eingetragen wurden.
»Alandra! Schau nur, wer hier ist!«, rief Darius, noch bevor er den Raum betreten hatte.
Lächelnd stellte Alandra den Federkiel im Tintenfass ab und wandte sich der Gruppe zu. Sie trug ein schlichtes, weißes Leinenkleid, das an ihr jedoch wirkte, wie eine wertvolle Seidentracht. Das Gewebe schien aus sich selbst heraus zu leuchten und die langen weißblonden Locken der Elfe unterstützten diesen Eindruck.
»Schön, euch zu sehen«, sagte sie mit warmer, sanfter Stimme, die wie ein Gebirgsbach dahinplätscherte.
»Wir haben noch eine große Neuigkeit für euch!« Darius’ Stimme überschlug sich förmlich vor Aufregung.
Harika und Wulfhelm sahen erst sich, dann ihre Gastgeber fragend an. Darius zog Alandra zu sich in den Arm und gab dadurch den Blick auf eine Kinderwiege frei, die an der Seite des Schreibpultes stand.
»Oh wie schön. Hat es bei euch endlich geklappt?« Harika trat näher an die Wiege heran und warf einen Blick hinein. Wulfhelm schüttelte Darius überschwänglich die Hand: »Ich gratuliere euch. Ist es ein Mädchen oder ein Junge?«
»Ein Mädchen. Ihr Name ist Lianna«, antwortete die Elfe und sah lächelnd zu, wie ihre Freunde sich über das Baby beugten. Avion machte aus respektvollem Abstand einen langen Hals, verlor das Interesse aber schneller wieder, als es geweckt war. Als seine Eltern auch noch alberne »Kuckucks« und »Gutschi-Gutschi-Guus« von sich gaben, rollte er mit den Augen und sagte: »Ich schau mir lieber die tollen Sachen draußen an.«
»Ja, mach das. Aber fass nichts an, verstanden?«, mahnte Harika und betrachtete dabei fasziniert, wie Lianna ihren Finger umklammerte.
Nach einiger Zeit nahm Darius Wulfhelm an die Seite und raunte: »Ich möchte Dir gern etwas zeigen.«
Der Zauberer folgte seinem Freund hinaus auf den Gang und in einen anderen Raum. Unter groben Leinentüchern verborgen, lagerten etliche Kisten und zukünftige Exponate. »Das hier«, begann der Dieb und zog ein Tuch von einer goldenen Schatulle, die mit einem Gürtel umschlossen war, »hat mir ein Zwerg zum Ausstellen überlassen. Ein Schatzjäger, der dieses Ding vor einigen Jahren in einer versunkenen Ruine im Dunkelmoor gefunden hat. Seitdem versucht er herauszubekommen, was es damit auf sich hat. Aber selbst in der magischen Universität von Kaisersruh konnte man ihm nur bedingt helfen.«
»Sieht für mich wie ein Gerät aus, mit dem man …«, begann Wulfhelm geheimnisvoll und schien nach den richtigen Worten zu suchen.
»Ja? Mit dem man was?«, fragte Darius aufgeregt.
»Mit dem man seine Schätze vor neugierigen Blicken verbergen kann«, vollendete Wulf den Satz tonlos und grinste.
»Das ist ernster als es aussieht, glaube ich.« Der ehemalige Dieb knuffte dem Zauberer in die Rippen. »Hör Dir erst die Geschichte des Schatzsuchers an. An dem ausgegrabenen Gebäude waren nämlich Fresken, auf denen der Kasten zu sehen war. Auf diesen Abbildungen kam irgendetwas aus der Schatulle heraus. Licht oder Strahlen und als die Orks in die Ruine gingen, soll es hell daraus geleuchtet haben und dann waren sie weg!« Darius’ Stimme war immer schneller und höher geworden. Der Zauberer kratzte sich nachdenklich am Kopf.
»Weg«, wiederholte er lakonisch. »Wo sind sie gleich hergekommen? Am Besten wir machen einen kleinen Rundgang, Du holst tief Luft und erzählst mir alles noch einmal ganz in Ruhe und in ungekürzter Fassung.«
Darius nickte und führte Wulfhelm durch die große Haupthalle. In einiger Entfernung beobachtete er seinen Sohn, der gerade neugierig eine primitive Statue aus Holz umrundete.
»Fass nichts an, Avion!«, rief er nervös. Darius bemerkte die Besorgnis seines Freundes und winkte beruhigend ab: »Keine Sorge. Es kann eigentlich gar nichts passieren.«
»Wie meinst Du das?«, fragte Wulfhelm alarmiert. Er erinnerte sich an das schrille Klingeln, als sie sich das Zepter von Ardavil bei den Erzdämonen »ausgeborgt« hatten. »Was genau ist denn diese magieunabhängige Sicherungseinrichtung, von der Du gesprochen hast?«
»Es handelt sich um ein ausgeklügeltes Fallensystem …«
»Moment mal! Sagtest Du Fallen? AVION! Komm her!«
»Es besteht wirklich keinerlei Grund zur Aufregung. Zugegeben: Es gab da ein paar klitzekleine Zwischenfälle, aber jetzt funktioniert alles ganz wunderbar.«
Der Junge kam herbei gelaufen und Wulfhelm legte ihm die Hände auf die Schultern, hielt ihn fest.
»Ich kann mich ja irren, aber die größten Katastrophen sind immer dann eingetreten, wenn Du ganz sicher warst, dass alles gut wird.«
»Wann bist Du eigentlich zu so einem bösen Mann geworden?«, fragte Darius mit gespielter Traurigkeit.
»Möchtest Du uns begleiten, oder willst Du zu Mama, Avion?« Entweder Wulfhelm überging die letzte Frage, oder aber er wollte zum großen Gegenschlag ausholen, wenn der Junge zu Harika zurückkehrte.
Nachdenklich sah Avion zu den beiden ernst dreinschauenden Männern auf. Er hatte ein recht gutes Gespür dafür, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein und sagte: »Ich geh zu Mami.«
Wulf blickte seinem Sohn nach und sagte dann: »Er ist der Grund. Und Dir wird es genauso ergehen mit Deiner Tochter, warte es nur ab.«
»Da will ich Dir nicht widersprechen, aber um noch einmal auf die Geschichte zurückzukommen …«
»Eigentlich wollte ich Dir gerade aufzählen, wann ich ein böser Mann geworden bin, wie Du Dich ausdrückst.«
»Muss das jetzt wirklich sein? Du hast ja recht, da sind gelegentlich mal ein paar Kleinigkeiten etwas aus dem Ruder gelaufen. Aber am Ende hat es doch funktioniert.«
Wulfhelm seufzte. »Dich ändern wir eh nicht mehr, schieß los.«
»Also …«, grinste der Dieb, »Der Mann heißt Falgrim und ist Schatzsucher aus Kaisersruh. Er hat die ganzen Fresken abgemalt und sie mir auch gezeigt, sein Buch aber wieder mitgenommen. Du solltest ihn mal besuchen und befragen. Er hatte damals eine Mannschaft aus Torfstechern angeheuert und das Gebäude im Moor ausgebuddelt. Als sie fast fertig waren, erschien eine Gruppe Orks. Die Torfstecher sind gerannt, als wären alle Dämonen hinter ihnen her, auch Falgrim zog sich zurück. Dann überlegte er es sich aber anders, denn er wollte sich den Schatz nicht so einfach wegnehmen lassen. Er schlich sich zurück, während die Orks im Gebäude verschwunden waren und lautstark diskutierten. Es gab ein helles Licht im Inneren und Ruhe kehrte ein. Als der Schatzsucher vorsichtig hineinging, war niemand da. Nur die Schatulle lag am Boden.«
»Orks im Dunkelmoor? Das ist nicht sehr weit von Burg Falkenstein entfernt«, gab Wulfhelm zu bedenken.
»Meinst Du die gehörten zu unseren alten Freunden? Könnte gut sein, ist aber auch unwichtig. Ich werde mich nicht beklagen, sollte ich sie niemals wieder sehen. Dieser Falgrim nahm die Schatulle mit, um in der magischen Universität etwas darüber zu erfahren. Er plante, sie für eine stattliche Summe zu verkaufen, doch solange er nichts über ihren Ursprung weiß, wäre es ziemlich skrupellos, sie in fremde Hände zu geben.«
»Immerhin hat er sie in Deine Hände gegeben. Viel schlimmer kann er es da auch nicht mehr treffen.«
»Ich habe auch Gefühle, Wulf. Ich versichere Dir, dass ich mich sehr verändert habe. Ich soll die Schatulle vor Zugriff schützen und durch die Ausstellung wenigstens etwas Geld verdienen, bis ihr Geheimnis gelüftet wird.«
»War ja auch nicht so ernst gemeint, Finger.« Die Verwendung des Spitznamens des Diebes unterstrich dies.
»Soweit es Falgrim in Erfahrung bringen konnte, deuten die Darstellungen auf eine Herrscherin oder eine Göttin hin, die nicht in diesem Landstrich bekannt ist.«
»Was soll das Ganze? Geht es nur darum, den Kasten verkaufbar zu machen?« Wulfhelm war stehen geblieben und sah Darius herausfordernd an.
»Nein. So wie ich dem Verschwinden der Orks und den Darstellungen entnehmen konnte, ist es möglich, dass es sich hierbei um ein richtig gefährliches Ding handelt. Wahrscheinlich wäre es besser, die Schatulle weit draußen auf dem Meer zu versenken.«
»Das wollte ich hören. Vielleicht hast Du Dich ja wirklich geändert«, lächelte der Zauberer zufrieden.
Avion war auf dem Weg zu Harika und Alandra und fand, dass sein Papi mal wieder ein oller Spielverderber war. Immer war alles zu gefährlich. Für einen Bücherwurm vielleicht, aber doch nicht für einen richtigen Krieger! Onkel Darius hatte hier wirklich aufregende Sachen gesammelt, viel interessanter als Papis müffelnde Bücher.
Avions Fantasie bekam Flügel, als er sich vorstellte, von welchen fernen Scherben all die Dinge kamen und welche verwegenen Kapitäne sie unter Lebensgefahr hierher mitgebracht hatten.
Ja, Kapitän wollte er später einmal werden. Am Besten auf einem richtigen Piratenschiff! Er zog seinen Dolch und fuchtelte damit, wie mit einem Säbel vor sich herum, die andere Hand in der Hüfte abgestützt, und parierte die Angriffe eines Harpienfelser Galeonenkapitäns.
Auf der Scherbe Famirlon gab es drei »Kaiserreiche«, Ardavil im Nordosten, Harpienfels im Nordwesten und die Südlande im Süden. Diese Länder waren durch unwirtliche Gegenden voller Ungeheuer voneinander getrennt und kümmerten sich eigentlich nicht besonders um ihre Nachbarn. Vor vielen Jahren war dies jedoch anders und Harpienfels hatte versucht Ardavil zu überfallen, musste jedoch eine bittere Niederlage einstecken. Das Protestmal, eine Monolithenformation im Herzen Ardavils, kündete heute noch von dieser Schlacht. In den Erinnerungen der Ardaviler lebten die Harpienfelser als Feinde fort, auch wenn diese sich nach dem Verschwinden ihrer Armee, nicht wieder über das Gebirge wagten.
Als Avion sich so den Gang entlangkämpfte und den gegnerischen Seemann vor sich her trieb, nahm er ein Glänzen in seinen Augenwinkeln war.
Har! Es schien, er war seiner Beute zum Greifen nah. Er musste nur noch den feindlichen Kapitän besiegen, dann würde er sich die Prise näher anschauen. Die Galeone brachte gewiss reiche Fracht nach Hause. Als treuer Ardaviler war es natürlich seine Pflicht, dies zu verhindern!
Avion schlug eine Finte und durchbohrte seinen Gegner, anschließend führte er den Säbel vor sein Gesicht und verbeugte sich.
»Gut gekämpft, Rotbart. Gegen den großen Avion und seine furchtlose Horde habt Ihr aber keine Aussicht auf den Sieg!«, knurrte Avion düster und stürmte den Laderaum der Galeone. Sofort stach ihm der goldene Kasten ins Auge, der scheinbar achtlos auf einem Stapel von Kisten abgelegt war, über die ein Segeltuch gebreitet lag.
»Die Kronjuwelen der Kaiserin!«, rief er ehrfürchtig und trat langsam näher. Ein breiter Lederriemen mit einer eisernen Gürtelschnalle war um das Kästchen geschlungen und hinderte ihn am Öffnen. Daher nestelte er zunächst an dem Verschluss und schwelgte in Fantasien, welche Schätze im Inneren des Kastens auf ihn warteten.
Der Lederriemen fiel zu Boden und Avion öffnete mit leuchtenden Augen die Schatulle.
Ein heller Lichtblitz drang aus dem Gang im hinteren Bereich. Wulfhelm und Darius sahen sich kurz besorgt an, bevor sie losliefen.
»Nein«, flüsterte Wulf. »Es ist nicht, was ich befürchte, dass es ist.«
»Was war das für ein Licht?«, fragte Harika, die gerade mit Alandra auf den Gang trat.
»Ist Avion bei euch?«, stieß Wulf außer Atem hervor.
»Nein?«, antwortete die Kriegerin mit einem fragenden Unterton und ihre Miene verfinsterte sich. »Mein lieber Wulfhelm! Wehe Dir, wenn unserem Kind etwas zugestoßen ist!«, grollte sie gefährlich leise.
»Und wehe Dir, Darius, wenn Du wieder leichtsinnig etwas hast herumliegen lassen«, ergänzte Alandra und passte ihren Tonfall dem von Harika an.
Die Männer schluckten schwer.
Gemeinsam eilten sie in den Lagerraum und fanden die Schatulle genau dort, wo sie sie zurückgelassen hatten. Nur der Lederriemen lag einsam und fehl am Platze wirkend auf dem Boden.
»Avion!« Immer wieder erklang der Ruf aus einem anderen Winkel des Museums. Darius hatte umgehend seine Arbeiter angewiesen, den Jungen zu suchen, doch auch nachdem sie jeden Raum durchkämmt hatten, blieb das Kind spurlos verschwunden.
Wulfhelm hatte sofort damit begonnen, die Umgebung um die Schatulle genauestens zu untersuchen, aber nichts deutete darauf hin, dass Avion etwas zugestoßen war. Keine Überreste, Aschehäuflein oder Brandspuren. In Wulfhelm keimte die zarte Hoffnung, dass sein Junge noch am Leben war, nur wo mochte er stecken? Gleich morgen würde er diesen Zwergen besuchen und eigene Nachforschungen in der Universität anstellen.
Nachdem Harika eine Weile gefaucht und gebrüllt hatte, beruhigte sie sich ein wenig und begnügte sich damit Wulfhelm die Hölle auf Scherben anzudrohen, sollte er ihren Sohn nicht in einem Stück zurückbringen.