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5. Lange Bärte und kurze Prozesse
ОглавлениеEs war bereits später Nachmittag, als eine Handvoll Matrosen die Gerridae mit Stangen vom Kai abstieß, nachdem Hafenarbeiter die Halteleinen gelöst und aufs Deck des Schiffes geworfen hatten. Langsam trieb es auf die Mitte der Bucht zu und ein kleines, dreieckiges Segel am vorderen Mast wurde gesetzt, mit dessen Hilfe das Schiff durch die Enge der Klippen manövriert wurde.
Wulfhelm fuhr das erste Mal in seinem Leben auf einem richtigen Schiff und war voller Erwartungen und Vorfreude, aber auch angespannt und nervös. Harika schien es ähnlich zu ergehen, dennoch war sie um Längen lockerer, als bei ihrer Fahrt im Dampfwagen.
Der Leuchtturm thronte hoch über ihnen auf der Klippe und vermittelte das Gefühl für die eigene, unbedeutende Größe. Wulf fühlte sich beklommen und winzig, als er zum Turm hochsah. »Die Aussicht von dort oben muss großartig sein.«
Als die Gerridae das offene Meer erreichte, wurden alle Segel gesetzt und es ging in gemächlichem Tempo entlang der Küste nach Südwesten. Wulfhelm suchte aufmerksam die Steilküste nach einem Zeichen für den heimischen Zaubererturm ab, musste jedoch schnell einsehen, dass es noch Stunden dauern mochte, bis sie ihn passierten. Also saßen die drei Passagiere bald in der Messe und versuchten, sich besser kennenzulernen.
»Ihr seid der erste Zwerg, den ich sehe, der keinen langen Bart trägt«, sagte Harika gerade.
Falgrim tastete mit der Hand über seine Bartstoppeln und ein schmerzhafter Ausdruck huschte über sein Gesicht.
»Das ist auch noch nicht lange so«, begann er, »denn bis vor Kurzem hatte ich einen prächtigen Bart, den ich zu zwei dicken Zöpfen geflochten trug.«
»Was ist denn passiert?«, wollte Wulfhelm wissen.
»Ich geriet in eine Notlage, als ich gerade dabei war, die Pyramide in den Bergen weit östlich von Salzhausen zu untersuchen.«
»Eine Pyramide in Ardavil?« Der Zauberer sah erstaunt auf.
»Seltsam, nicht wahr? Das dachte ich mir auch und entschloss mich dazu, dieses Bauwerk einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Die Pyramide befindet sich ganz nahe an der kleinen Insel im Nordosten des Landes, auf dem ein seltsames Volk hausen soll. Vielleicht sind sie die Erbauer, denn die Insel war ja einst mit dem Festland verbunden.«
»Dann hätte dieses Volk ja schon vor dem Urknall existiert und wäre mindestens ebenso alt wie die Elfen!«
»Und die Zwerge«, fügte Falgrim mit erhobenem Zeigefinger hinzu. Die Zwerge nutzten gern jede sich bietende Gelegenheit, um herauszustreichen, dass sie sich für das älteste Volk auf Scherben hielten.
»Und die Zwerge«, wiederholte Wulf gefällig, »aber die Insel ist doch ziemlich klein für ein ganzes Volk, oder?«
»Stimmt. Umso mehr spricht für ihren präapokalyptischen Ursprung. Vielleicht gibt es weitere Spuren von ihnen auf anderen Scherben.«
»Die Pyramide«, erinnerte Harika, deren Sinn eher nach einer abenteuerlichen Erzählung, denn nach langweiligem Gelehrtengewäsch über die Entstehung der Welt, war.
Die Kriegerin wurde etwas düpiert von Zwerg und Zauberer angesehen, die gerade Fahrt für herrlich historische Debatten und glorreiche Grundsatzdiskussionen aufnahmen.
»Was?«, fragte Harika entrüstet. »Kommt schon. Eine Prise weniger Geschichtsbuddelei, dafür mehr Spannung, Abenteuer und Bart!«
»Diese Pyramide steht also einsam und allein inmitten der Berge in einem großen, bewaldeten Tal … «, begann der Zwerg erneut.
»Wie habt Ihr von der Pyramide erfahren?«
»Bald-Zeitung«, entgegnete Falgrim knapp und holte tief Luft, um fortzufahren, wurde aber schon wieder von Wulf unterbrochen.
»Und erneut stellt sich die Frage, was zuerst da war. Die Nachricht oder das Ereignis? Hat die Bald vorhergesehen, dass Ihr zu der Pyramide reisen wollt, von der Ihr ja gar nichts wusstet? Oder habt Ihr erst durch die Zeitung von der Pyramide erfahren und seit aufgrund des Artikels dorthin gereist?«
»Wulfhelm!«, schimpfte Harika und sah den Zwerg entschuldigend an. »Das macht er dauernd! Er ist wie besessen von diesem Blatt und der Huhn oder Ei Frage.«
»Kein Problem und außerdem ein sehr interessanter Einwand. Tatsächlich wusste ich nichts von der Pyramide, bis ich davon las, also konnte die Bald eigentlich nicht voraussehen, dass ich sie untersuchen würde. Andersherum hätte ich den Artikel nicht lesen können. Aber natürlich ist die Nachricht immer vor dem Ereignis da - rein auf den zeitlichen Ablauf bezogen - sie sieht es ja voraus. Doch ich verstehe, was ihr meint. Den Ursprung, die Initialzündung, die den Stein ins Rollen bringt …«
»Der Bart, der Bart!«, rief Harika und warf theatralisch die Hände in die Luft.
»Ähm ja … Wo war ich? Ich stand also vor dieser Pyramide in dem Tal und suchte nach einem Eingang. Sie ist nicht besonders groß, müsst ihr wissen. Nicht so, wie man es von den Pyramiden in den Südlanden hört. Aber es ist immer noch ein gewaltiges Bauwerk. Ich bin eine Seite abgelaufen und kam auf eine Länge von sechzig Schritten.«
»Potztausend, das ist nicht gerade klein«, staunte Wulf.
»Ohne Euch zu nahe treten zu wollen, Falgrim. Doch sechzig Eurer Schritte sind vielleicht dreißig meiner Schritte«, gab Harika zu bedenken.
»Ich sagte ja, sie ist nicht besonders groß. Es war aber kein Zugang zu entdecken. Die Flächen der Pyramide waren ganz sauber aus gewaltigen Steinquadern errichtet. Nichts deutete auf den Zweck des Gebäudes hin, und ob es überhaupt etwas im Inneren gab. Dass sich jedoch jemand die Mühe gemacht haben sollte, einfach so einen riesigen Haufen Steine aufeinanderzuschichten, hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Ich machte mich also auf die Suche und schloss die nähere Umgebung mit ein. Unweit der Pyramide fand ich ein Gebäude im Wald, in dessen Inneren ein dunkler Brunnenschacht war. Da ich keine weiteren Anhaltspunkte sah, beschloss ich den Schacht hinabzusteigen.«
»Macht Ihr so was öfter? Es ist doch gewiss ziemlich riskant, so ganz ohne Begleitung in finstere Löcher zu klettern.« Offenbar hatte Harika nun die Rolle übernommen, den Zwerg in seiner Erzählung zu unterbrechen.
»Manchmal ist es aber gerade diese Begleitung, die einen erst in Schwierigkeiten bringt. Manche Dinge wecken Begehrlichkeiten in anderen Personen, die dazu führen, das Schlechteste in ihnen zum Vorschein zu bringen. Wenn es möglich ist, arbeite ich daher lieber allein.«
»Verstehe. Wie ging es weiter?« Die Kriegerin stützte das Kinn auf ihre Hände und hing gebannt an den Lippen des Zwergs.
»Ich band ein langes Seil draußen an einen Baumstamm und sicherte damit meinen Abstieg, meine Helmlaterne sorgte für ein wenig Licht. Der Schacht war eng und von Moos überwuchert. In etwa fünf Schritten Tiefe führte ein niedriger Gang in Richtung der Pyramide. Der Schacht führte weiter hinab in die Dunkelheit, aber ein geworfener Stein plumpste nach kurzem Fall ins Wasser, so dass ich mir einen weiteren Abstieg ersparte. Ich fragte mich, welchen Zweck dieser Gang erfüllte, denn selbst ich konnte nicht aufrecht darin gehen. Als ich dem leicht ansteigenden Korridor folgte, gelangte ich ins Innere der Pyramide, wo die Gänge sehr viel geräumiger waren. An den Wänden waren auf jedem freien Stein Malereien zu sehen, hauptsächlich primitive Bilder, Schriftzeichen und Zahlen. Diese Galerie bildete ein perfektes Quadrat um das Zentrum des Bauwerks und jeweils mittig in jedem Korridor führte ein Gang zum Herzen der Pyramide. Was auch immer hierin verborgen lag, musste dort zu finden sein.« Falgrim legte eine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen und einen Schluck Wasser zu trinken.
»Was war es!«, verlangte Harika schließlich zu wissen.
»Geduld …«, lächelte der Zwerg. »Ich begab mich also ins Herzstück der Pyramide und fand eine Kammer mit einem Podest in der Mitte, auf dem eine goldene Skulptur ruhte. Sie war etwa eine Elle hoch und musste ein Vermögen wert sein. Auf einem runden, goldenen Sockel, der von zwei grünen Ringen aus Jade unterteilt war, stand ein Mensch mit über den Kopf ausgebreiteten Armen. Hinter dem Mann schien die Figur wehenden Stoffbahnen nachempfunden zu sein und darüber thronte eine große Kugel. Ich konnte die Falle förmlich riechen, welche die Skulptur umgab und suchte in meiner Ausrüstung nach einem Gegenstand, der in etwa dem Gewicht der Statuette entsprach. Einen Fuß hoch aus massivem Gold … Das Ding musste echt schwer sein. Ich bemerkte auch die feinen Ritzen im Podest, auf dem die Figur stand. Ich wollte sie also blitzschnell gegen ein Teil mit dem gleichen Gewicht tauschen, damit ich die Falle nicht auslöste.«
»Sehr schlau«, pflichtete Harika ihm bei.
»Leider hatte ich nichts bei mir, was diesem Gewicht entsprochen hätte. Am Schwersten waren wohl mein Fausthammer und meine getreue Streitaxt, aber die ist ein Familien-Erbstück«, Falgrim tätschelte die seltsame Klinge an seiner Seite. »Ich nahm also meinen Meißel und brach ein großes Stück Sandstein aus dem Gemäuer. Ich schätzte und wog, bearbeitete das Stück und schätzte wieder. Schließlich hielt ich einen Steinblock in Händen, der mir das richtige Gewicht zu haben schien. Innerhalb eines aufgeregten Herzschlags hatte ich den Stein gegen die Skulptur ausgetauscht, als das Unglück über mich hereinbrach.«
»Was ist passiert?«, fragten Harika und Wulfhelm wie aus einem Mund.
»Betrug! Verrat! Abscheuliche Täuschung ehrlicher Schatzjäger! Das Ding war hohl und federleicht. Die Platte im Sockel senkte sich ab und es klickte Unheil verkündend. Im nächsten Moment surrten mehrere Pfeile aus Löchern in der Wand. Mit einem Hechtsprung versuchte ich aus der Nähe des Podestes zu kommen, als auch schon ein gewaltiges Axt-Blatt von der Decke schwang und den Sockel spaltete, wo ich gerade noch gestanden hatte. Die Pfeile schwirrten dicht an meinem Gesicht vorbei und zu allem Überfluss sah ich, wie sich die Eingänge langsam schlossen. Ein Mechanismus zog im Boden versenkte Steinwände nach oben; bereits zu hoch, um sie noch überspringen zu können. In einer Nische entdeckte ich eine Winde, auf die sich eine starke Kette aufwickelte, und stürmte darauf los, in der Absicht die Mechanik aufzuhalten. In der gebotenen Eile nahm ich das Erste, was mir in die Hand kam, oder besser, was sich bereits darin befand: die unselige Skulptur. Es gelang mir, damit die Winde und die Kette zu verkeilen. Die Steinblöcke stoppten. Es war auch noch genug Platz, um sie zu erklettern und die Kammer zu verlassen.«
»Puh, da habt Ihr aber Glück gehabt.« Harika atmete hörbar auf und stutzte dann: »Das kann jedoch nicht das Ende der Geschichte sein. Was ist mit dem Bart?«
»Ganz recht. Das ist noch nicht das Ende, dazu komme ich nun. Als ich mich gerade dem Ausgang zuwenden wollte, machte es ein Geräusch, als wenn ein Harnisch zerdrückt wird und mit einem Ruck lief die Winde wieder los. Dabei muss sich irgendwie mein Bart in der Kette verfangen haben und wurde nun aufgespult. Alles Zurren und Zerren war vergebens und mein Kopf wurde immer dichter zur Winde gezogen und zweifellos bald von der Kette zerquetscht, wenn es mir nicht gelang, mich zu befreien. Ich zog meine Axt aus dem Gürtel und begann, meine geliebten Zöpfe abzusägen, ja, ich glaube so kann man es nennen. Für einen kurzen, schnellen Axthieb fehlte mir der Platz. Ich weiß nicht, ob Ihr je versucht habt mit einer Axt etwas zu schneiden. Das ist ziemlich mühselig und zudem sehr schmerzhaft, wenn es an die Manneszier geht. Als ich endlich freikam, dachte ich mein Gesicht würde in Flammen stehen. Mir blieb aber keine Zeit weiter darüber nachzudenken, denn die Winde drehte sich unablässig weiter und langsam wurde der Türspalt schmal. Erbstück, oder nicht, ich nahm die Axt zum Verkeilen und suchte dann meinen Hammer, den ich unvorsichtigerweise mit dem Meißel auf dem Podest liegen gelassen hatte. Beim Zusammentreffen mit der Riesen-Axt waren sie durch den Raum geschleudert worden. Ich schnappte mir die Werkzeuge und trieb den Meißel durch eine Öse der Kettenglieder tief in die Wand. Dann griff ich die Axt und sah zu, dass ich zu so einer Türöffnung hinaufkam, wobei mir die Fresken von lachenden Gesichtern Tritt boten. Der Spalt war bereits zu klein, als dass ich mich mit meinem Gepäck hätte hindurchzwängen können. Ich schwang ein Bein hindurch, hakte mich damit unter und nahm den Rucksack vom Rücken, um ihn durch die Öffnung auf die andere Seite zu schleudern. Gerade als ich mich selbst durch den Spalt winden wollte, fiel der Meißel mit einem klirrenden Scheppern zu Boden und die Tür begann sich weiter zu heben. Hastig rollte ich mich hindurch und fiel auf der anderen Seite sehr unsanft zu Boden. Wie gewonnen so zerronnen. Ich war froh, mit heiler Haut und nur wenigen verbogenen Knochen davongekommen zu sein.«
»Da habt Ihr aber mächtig Glück gehabt, Falgrim. Denkt Ihr nicht es wäre ungefährlicher, wenn Ihr nicht allein …«, begann Harika, wurde jedoch vom Lärm des Smutjes unterbrochen, der mit einem großen Topf die Treppe heraufpolterte. Der Schiffsjunge folgte ihm mit einem Korb und beide stellten ihre Last auf einem Tresen an der Seite der Messe ab. Der Smutje läutete eine Glocke und nach und nach fanden sich die Seeleute ein und holten sich die Verpflegung ab. Wulfhelm sprang auf und freute sich: »Endlich Futter! Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.« Sie hatten am frühen Morgen zuletzt etwas gegessen und machten sich hungrig über eine Bohnensuppe mit Zwieback her.
Nach dem Essen stopfte Falgrim sich eine Pfeife und sah Harika und Wulfhelm durchdringend an. »Morgen müsst ihr mir von euren Abenteuern berichten, einverstanden? Für heute wollen wir es bei den Erzählungen belassen. Würfelt ihr?«
Sie nickten eifrig und auch zwei Seeleute auf Freiwache schlossen sich ihrer Gesellschaft an.
Widerwillig öffnete Wulfhelm ein Auge und schmatzte. Es fühlte sich an, als hätte er ein totes Eichhörnchen im Mund, dabei hatte er weder etwas getrunken, noch einen Nussbaum angenagt. Nach dem Würfelspiel war er in seine Koje gestiegen, nichts weiter. Er streckte den Kopf über seinen Kojenrand und schaute nach Harika, die unten selig schlummerte. Es gab keinerlei Anzeichen für ein Unwohlsein der Kriegerin und Wulfhelm empfand dies als ziemlich ungerecht. Nur weil man es geistige Getränke nannte, hieß das doch nicht, dass davon jene stärker betroffen waren, die ihren Geist zu benutzen verstanden, oder?
Zerknittert rollte er sich aus seiner Koje und begab sich an Deck. Die Sonne brannte schon hell vom wolkenfreien Himmel und vom Achterkastell erklang die Stimme des Kapitäns, nicht frei von Schadenfreude: »Das Frühstück habt Ihr verpasst! Wie gefällt Euch die Seereise, bisher?«
»Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich etwas Wasser hätte, glaube ich.«
Torben lachte dröhnend: »In der Messe ist ein Wasserfass, bedient Euch. Der Herr Zwerg steht übrigens am Bug und genießt die Aussicht.«
Wulfhelm füllte sich einen Becher mit Wasser und leistete Falgrim Gesellschaft, der auf dem Vorderkastell stand und aufmerksam die Küstenlinie beobachtete.
»Guten Morgen, Wulfhelm. Ist heute nicht ein herrlicher Tag?«
»Guten Morgen, Falgrim. Euch scheint die Seeluft ja gar nichts auszumachen«, antwortete der Zauberer. »Wonach haltet Ihr Ausschau?«
»Wir müssten bald in die Gegend kommen, wo Euer Turm steht. Ich hatte gehofft, einen Blick darauf werfen zu können.«
»Das würde ich auch gern sehen, aber ich befürchte er steht zu weit landeinwärts. Habt Ihr schon einmal darüber nachgedacht, wie es in Hachnasim weitergeht? Ich frage mich, wie wir dort von den Menschen empfangen werden. Was, wenn sie uns feindselig gesinnt sind?«
»Nach allem, was ich bisher über die Südländer hörte, sind sie ein durchaus freundliches Volk. Allerdings sollen sie eine sehr kurze Lunte haben.«
»Wie meint Ihr das?«, fragte Wulfhelm, der befürchtete, nun würde irgendeine zotige Zwergenposse kommen.
»Ich meine, dass sie schnell in die Luft gehen, wenn sie gereizt werden. Das habe ich zumindest gelesen.«
»Warum hat mich niemand geweckt?«, fragte Harika und kam die Stiege zum Vorderkastell hinauf. Sie sah frisch und ausgeruht aus, wie Wulfhelm neidisch feststellen musste. »Ihr scheint ja alle ganz wunderbar geschlafen zu haben«, maulte er.
»Wie ein Baby«, gestand die Kriegerin. »Kein Wunder, wenn das Bett so sanft hin und her schaukelt.«
Falgrim schätzte die Tageszeit. »Es ist noch etwas Zeit bis zum Mittag. Ich schlage vor, bis dahin genießen wir die warme Brise und am Nachmittag erzählt ihr mir von euren Abenteuern.«
Abwechselnd berichteten Wulfhelm und Harika davon, wie der Zauberlehrling nach dem gewaltsamen Ableben seines Meisters auszog, um das Zepter von Ardavil zu finden. Ein magisches Artefakt, mit dem der damalige Zauberer-Azubi hoffte, alles wieder ins Lot zu bringen.
Sie erzählten, wie sie sich in der Nähe des Zaubererturms kennenlernten, wie sie im verwunschenen Wald eine böse gewordene Hexe für eine Schar von Ungeheuern besiegten und bei ihrem unauffälligen Abgang schließlich Darius begegneten. Wie sie in der Hauptstadt Kaisersruh aus dem Kerker der Diebesgilde und dem Palast der Kaiserin entkamen. Sie sprachen vom Turnier mit den Gefallenen der großen Schlacht am Protestmal, in dem Harika schwer verwundet, und wie sie geheilt wurde. Was sie bei den Elfen erlebten, und wie Alandra von zu Hause fortlief, weil sie sich in Darius verliebt hatte.
Falgrims Augen begannen zu leuchten, als sie von ihrem Besuch in der Zwergenstadt Dunnheim berichteten. Wie sie ins Gebirge des Todes gereist waren und am Ende in einem tragischen Zusammenprall mit einem Trupp der bösen Zauberin in den »bodenlosen Abgrund« stürzten. Wie sie zusammen mit dem Anführer der Unholde und einem dichtenden Troll in die Schlucht hinabstiegen und schließlich in der Hölle landeten.
Und sie beendeten ihre Erzählungen damit, wie sie das Zepter bargen und mit ihm gegen die böse Zauberin zu Felde zogen, ganz so, wie es in der ersten Chronik der Scherbenländer niedergeschrieben war.
»Ihr sagt, dass die Ungeheuer aus dem verwunschenen Wald euch beim Kampf gegen die Zauberin halfen? Und das ihre Festung westlich vom Dunkelmoor im Gebirge sein soll?«, fragte Falgrim nach einer Weile des Grübelns.
»Stimmt.« Harika und Wulf nickten einmütig.
»Wisst ihr auch, was aus ihnen geworden ist?«
»Sie sind in der Festung geblieben, während wir nach Palmenhain gegangen sind, um zu heiraten. Warum?«
»Wegen der Orks, die plötzlich im Sumpf aufgetaucht sind, als wir gerade mit den Ausgrabungen fertig waren. Ob eure und meine Orks vielleicht etwas miteinander zu tun haben?«
»Hm, Darius hat auch schon so etwas vermutet. Nehmen wir doch mal an, der Kasten hat sie irgendwo hingezaubert, wäre das dann gut oder schlecht?«
Am Abend gingen sie noch einmal an Deck, um sich nach dem Essen die Füße zu vertreten. Sie hatten wieder fast den gesamten Tag mit Unterhaltungen zugebracht, bis ihnen ein Matrose berichtete, dass sie nun durch ein schwieriges Areal kamen, wo sich entlang der Steppe der Verdammten Untiefen und Riffe durch erkaltetes Lavagestein im Meer gebildet hatten. Der Kapitän vergrößerte den Abstand zur Küste, die in der Schifffahrt der Scherbenländer so ähnlich wie ein Treppengeländer funktionierte. Solange man die Küste im Auge behielt, machte auch ein leichter Rausch nicht viel aus, da man immer noch eine Kontrolle hatte. Das Land konnte von jedem Mitglied der Besatzung gesehen werden, nicht nur vom Steuermann, und wenn der Mann am Ruder pennte, gellten schnell die Rufe der Kollegen über Deck.
Auf hoher See fehlte diese Möglichkeit und das machte Reisen zu anderen Scherben so riskant. Es war überhaupt keine Seltenheit, wenn ein Schiff mal ein paar Grad vom Kurs abwich, nein, eigentlich war es sogar die Regel. Auch die Verdunstung war auf dem offenen Meer wesentlich höher als in Küstennähe.
Im Nachleuchten des Tages konnte Wulfhelm die dunklen Stellen im Wasser immer noch erkennen, an denen sich die Wellen brachen. Die Steppe selbst sah unwirklich aus; Grau und ohne jedes Anzeichen von Leben. Nur in der Ferne war ein weißblaues Schimmern aus den Augenwinkeln zu sehen. Sobald man seinen Blick darauf richtete, schien es verschwunden zu sein.
»Seht ihr das auch? Was ist das?« Wulfhelm zeigte auf das schwache Leuchten und sah dabei in eine etwas andere Richtung.
Harika und Falgrim sahen ebenso ratlos aus.
»Das ist Asche«, erläuterte ein Matrose, der eine Schnur in den Whisky hielt. »Die Ruine einer antiken Stadt, die Opfer des Vulkanausbruchs wurde.«
»Davon habe ich schon gehört, aber was leuchtet da?«
»Man munkelt, die Geister seiner Bewohner gehen dort um. Sie sollen sich von den Seelen derjenigen ernähren, die es wagen, die Steppe der Verdammten zu betreten«, sagte der Seemann mit furchtsamer Stimme. Plötzlich veränderte sie sich dann in ein dunkles Krächzen, wie aus einem Grab: »Niemand der dorthin ging, ist jemals wieder gesehen worden!«
Die Passagiere sahen den Matrosen fröstelnd an.
»Entschuldigung … Frosch im Hals«, krächzte dieser und schob sich eine Lutschpastille in den Mund.
»Bisher hatte ich diesen Ort nicht auf meiner Liste zu untersuchender Orte vermerkt. Ich denke, das bleibt auch erstmal so«, gestand Falgrim.
»Hinter der Steppe beginnen schon die Südlande. Wie lang werden wir denn noch unterwegs sein, bis wir Hachnasim erreichen?«, rief Wulf dem Seemann zu.
»Wenn die Windverhältnisse so bleiben wie bisher, sollten wir in drei Tagen ankommen.«