Читать книгу Liebe ist Schicksal - Nikki Deed - Страница 4

31.

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Dank Isabell hatte Jana nicht nur neuen Mut, neue Kraft und neue Energie, sie blühte förmlich auf. Da die EM in der Woche vor Weihnachten stattfinden sollte und bis dahin kaum noch Zeit blieb, standen die beiden jede freie Minute auf dem Eis. Während Jana versuchte, in ihre alte Form zurückzufinden, stand ihr Izzy mit Rat und Tat zur Seite, wies sie auf Fehler hin, gab ihr Tipps und trieb sie zu Höchstleistungen an. Es dauerte keine drei Wochen, bis Jana wieder ganz die alte zu sein schien. Sie war sogar beweglicher denn je, stand jede ihrer Figuren und hatte eine Ausstrahlung, die das Eis regelrecht zum Schmelzen brachte.

»Für die EM müssen wir da anknüpfen, wo du bei der DM aufgehört hast! Das wird echt nicht leicht, du hast ja auch alle von den Socken gehauen und deswegen werden sie nun eine Menge von dir erwarten. Wir sollten doch lieber zu Hongo gehen, der hat viel mehr Erfahrung in solchen Dingen«, hatte es Isabell, die sich schon die ganze Zeit wunderte, warum Hongo sich so konsequent von Janas Training fernhielt, mal wieder versucht. Doch erneut hatte Jana vehement abgelehnt.

»Verdammt, was kann denn nur so schlimm gewesen sein, dass du seine Hilfe ablehnst und damit sogar deinen Sieg aufs Spiel setzt?«

»Ich habe meine Gründe und ich will nicht drüber sprechen. Akzeptier das bitte! Wir schaffen das schon alleine!«

Izzy machte sich Sorgen um ihre Freundin, aber was sollte sie schon tun, wenn sie sie nicht verärgern wollte. In den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, hatte sich Jana ganz schön verändert. Vor allem war sie noch verschlossener als zuvor – sie hatte ja noch nie wirklich gerne über ihre Gefühle gesprochen, aber jetzt … Daran konnte einfach nicht nur die Vergewaltigung schuld sein.

»Oh Mann, ich wüsste nur zu gerne, was da zwischen euch dreien gelaufen ist. Echt mal …«, meinte Izzy frustriert und versuchte, sich einmal mehr auf die Gestaltung von Janas Kurzprogramm zu konzentrieren, was ihr aber nicht so gut gelingen wollte.

»Uns dreien? Wen bitte schön meinst du denn jetzt schon wieder?«

»Mensch, Jana, stell dich doch nicht immer so dumm. Ich meinte natürlich dich, Hongo und den Maier.«

»Was hat denn jetzt Ralf damit zu tun? Ich meine der Maier?«, berichtigte sich Jana schnell, als sie Izzys fragenden Blick sah.

»Ach komm schon, ich weiß doch, dass ihr euch duzt. Das meine ich ja auch gar nicht. Willst du mir nicht langsam mal erzählen, was da zwischen euch läuft … oder meinetwegen gelaufen ist. Das kann sich ja keiner mit ansehen, wie ihr beide seid, wenn ihr aufeinander trefft. Seit die Schule wieder angefangen hat, habt ihr keine zwei Wörter miteinander gewechselt. Wenn ich da an früher denke …«

»Ja, früher war alles anders, alles einfacher«, schnitt Jana ihr das Wort ab. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich es dir irgendwann erzählen werde, nur eben jetzt nicht. Können wir uns bitte erst einmal auf die EM konzentrieren und wenn alles vorbei ist, erzähl ich es dir, okay?«

»Versprochen?«

»Versprochen.«



* * *



Die Wochen vergingen, aus Sommer wurde Herbst, aus Herbst Winter, bis schließlich Weihnachten vor der Tür stand und somit auch die Europameisterschaft. Es waren nur noch zwei Tage – zwei Tage, in denen Jana nicht sie selbst war. Aufgeregt und nervös versuchte sie, der letzten Unterrichtsstunde zu folgen, was aber mehr oder weniger zwecklos war. In nicht einmal drei Stunden würde ihr Wagen Richtung Warschau aufbrechen, dann gab es kein Zurück mehr. Ich schaffe das, ich schaffe das, ich schaffe das, sprach sie sich in Gedanken immer wieder Mut zu, konnte sich aber nicht wirklich beruhigen. Sie hatte viel und hart trainiert, doch hatte sie das Gefühl, nicht wirklich gut vorbereitet zu sein.

Die Zeit kroch nur so dahin, verging aber schließlich doch. Da Herr Hongo Repräsentant der Schule war, würde er Jana und Isabell begleiten, was Izzy sehr beruhigte, da er versprochen hatte, alle administrativen Aufgaben zu übernehmen. Nervös standen die beiden jungen Frauen mit ihren Taschen auf dem Hof und warteten auf ihren Direktor, als sie hinter sich jemanden hörten.

»Jana?«

Der Klang seiner Stimme genügte, um ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper zu jagen. Sie drehte sich langsam um, hoffte, dass sie sich geirrt hatte, doch stand Ralf tatsächlich hinter ihr. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, wollte gerade etwas sagen, als er meinte: »Ich wollte dir nur viel Glück und alles Gute wünschen.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. Sie sah ihn einen Moment an, unfähig sich zu bewegen oder auch nur einen Ton zu sagen, bis Izzy sie plötzlich in die Seite stieß: »Na mach schon!« Als Jana seine Hand ergriff, durchfuhr es sie wieder wie ein Blitz. Warum nur löste diese kleine unscheinbare Geste so ein Wechselbad der Gefühle in ihr aus? Nur mit größter Mühe behielt sie die Kontrolle, sodass sie ihre Hand nicht gleich wieder zurückzog, auch nicht, als er ihre leicht drückte. Das Lächeln, das er dabei auf den Lippen hatte und das so viel Wärme ausstrahlte, steckte an – sie lächelte schüchtern zurück.

»Wir sehen uns dann in ein paar Tagen«, sagte er noch, ließ ihre Hand los und ging seines Weges.

»Ja«, flüsterte sie ihm hinterher.

»Was war denn das gerade?«, riss Izzy sie aus ihrer Starre.

»Was?«, fragte Jana irritiert, fühlte sich aber irgendwie erwischt.

»Na, das da eben mit dir und dem Maier?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

Gespielt entrüstet stemmte Izzy ihre Hände in die Seiten und sah Jana mit schief gelegtem Kopf an, als Herr Hongo endlich mit seinem Wagen vorfuhr. Sie würde ihre Freundin später zur Rede stellen müssen. Vor der EM würde sie wohl kaum etwas aus ihr herausbekommen, also winkte sie nur ab, nahm wie Jana ihr Gepäck, verstaute es im Kofferraum und stieg zu Hongo in den Wagen.

Die Begegnung mit Ralf und seine Berührung, auch wenn sie nichts weiter als ein einfaches Händeschütteln gewesen war, hatten Jana so durcheinandergebracht, dass sie nun wieder unsicher wurde, was ihre Gefühle ihm gegenüber angingen. Konnte es sein, dass sie ihn nach wie vor liebte? Nein, das kann nicht sein. Das ist unmöglich. Es darf einfach nicht sein. Verdammt, reiß dich zusammen!



* * *



»Mit einer Gesamtpunktezahl von 210.40 Punkten, bestehend aus 71.02 Punkten für das Kurzprogramm und 139.38 Punkten für die Kür erklären wir Jana Hansen zur Gewinnerin der diesjährigen Europameisterschaft im Eiskunstlauf. Meinen herzlichsten Glückwunsch!«

Dies zu hören, war ein überwältigendes Gefühl. All die harte Arbeit hatte sich bezahlt gemacht, sie hatte es tatsächlich geschafft. Jetzt war sie ihrem Traum von der Weltmeisterschaft einen entscheidenden Schritt nähergekommen. Mit pochendem Herzen und Tränen in den Augen nahm Jana ihre Medaille entgegen und fiel Izzy, kaum war sie von dem Siegertreppchen hinunter gestiegen, in die Arme. »Das ist alles dein Verdienst. Vielen lieben Dank!«

»Ach, so ein Blödsinn. Dass du heute hier stehst, verdankst du deinem Ehrgeiz und deinem Talent«, winkte Isabell mit roten Wangen ab.

»Lasst uns nach Hause fahren!«, unterbrach Hongo die beiden Mädchen.


Während der ganzen neunstündigen Autofahrt brachte Jana kein Auge zu, obwohl sie total erledigt war und eigentlich nur noch schlafen wollte. Zurück im Internat schleppte sie sich schlaftrunken auf ihr Zimmer, ließ sich mitsamt ihren Klamotten aufs Bett fallen und fiel fast augenblicklich in einen traumlosen Schlaf.


Währenddessen saß Isabell, die die ganze Autofahrt hindurch geschlafen hatte und nun putzmunter war, vor Hongos Schreibtisch.

»Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?«, fragte der Direktor, als Izzy ihm ihren Vorschlag unterbreitet hatte.

»Ich weiß, es ist riskant und vielleicht ist sie hinterher auch noch sauer auf mich, aber einen Versuch istʼs doch wert. Außerdem brauchen wir alle mal Urlaub.«

»Wenn du meinst. Gib mir mal die Telefonnummer von dem Hotel, dann werde ich mich drum kümmern!« Seufzend nahm er den Zettel entgegen. »Ich hoffe, du weißt, was du tust!«

Sie nickte ihm zu, stand auf und ging.


»Skiurlaub? Wie kommst du denn da drauf?«, fragte Jana, als sie zwei Tage später von der geplanten Reise erfuhr.

»Wieso denn nicht? Wir haben uns einen Urlaub und ein wenig Entspannung verdient nach all der anstrengenden Arbeit. Außerdem weiß ich, dass Sven dich schon ein paar Mal eingeladen hat, du aber nie auf sein Angebot eingegangen bist.«

»Woher …«

»Das erzähl ich dir vielleicht ein anderes Mal«, schnalzte Izzy mit der Zunge.

»Haha, sehr witzig«, sagte Jana beleidigt. Sie hatte den Wink verstanden, Izzy schien ihr immer noch böse zu sein, dass sie ihr noch immer nicht erzählt hatte, was es zwischen ihr, Hongo und Maier für Probleme gab.

»Na komm schon, das wird bestimmt lustig. Sven freut sich auch schon.«

»Auch? Wer ist denn sonst noch mit dabei?«

»Na alle!«

»Alle? Verdammt, Izzy, rede doch mal Klartext! Wie können denn alle mit, wir haben doch Ferien und es ist kaum jemand hier.«

»Eben. Außer uns beiden sind noch vier Mädels hiergeblieben, die alle mitkommen, und außerdem noch drei Lehrer. Darunter auch dein Ralf.«

»Mein Ralf? Tickst du noch ganz richtig? Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen, dass …«

»Mensch, reg dich ab! Das war doch nur ein Witz. Aber mal ganz ehrlich, wenn da nichts zwischen euch ist, warum regst du dich dann immer so künstlich auf?«

»Du bist blöd«, sagte Jana immer noch ärgerlich und knuffte Izzy in die Seite.

»Und wenn schon … Bist du nun dabei?«

»Wennʼs sein muss.«

»Ja, muss es. Das wird bestimmt ganz toll.«



* * *



Keine zwei Tage später war alles so weit organisiert, dass die Reise beginnen konnte. Per Flieger ging es am zweiten Weihnachtsfeiertag vom Hamburger Flughafen aus nach Zürich und dann noch mal knapp zwei Stunden per Kleinbus nach Laax, wo sich die sechs Mädchen und drei Lehrer vor einem wunderschönen kleinen Waldhotel unterhalb der Skipisten einfanden. Die Aussicht selbst unterhalb des Berges war überwältigend. Die schneebedeckten Bäume und Dächer glitzerten im Sonnenschein, Fenster, Türen und Vorgärten waren weihnachtlich geschmückt und es duftete herrlich nach frischen Tannen und Lebkuchen.

Mit geschlossenen Augen atmete Jana tief ein, als eine Stimme hinter ihr sie aus ihren Gedanken riss.

»Ist alles okay?« Es war Ralf, der sie besorgt ansah.

»Wieso fragst du?«

»Na ja, ich frage mich nur schon die ganze Zeit, wie es für dich sein muss, wieder hier zu sein.«

Sie wusste sofort, was er meinte. Er sprach von dem Vorfall vor all den Jahren, der ihnen beiden fast das Leben gekostet hatte. Lächelnd sagte sie: »Du musst dir keine Sorgen machen. Die Erinnerungen sind das eine, doch habe ich nicht vor, mich davon runterziehen und mir den Spaß und die gute Laune verderben zu lassen. Jemand hat mal zu mir gesagt – und das ist noch gar nicht so lange her –, dass ich endlich aufhören muss, an das zu denken, was mal war, sondern mich lieber auf das konzentrieren soll, was vor mir liegt. Und genau das mache ich jetzt. Ich kann damit umgehen, wirklich. Ich meine, all das, was war, hat mich doch zu der gemacht, die ich heute bin, und ich komme damit klar. Es ist abgehakt. Und zwar alles.«

Wem sie da was mit ihrer kleinen Rede und vor allem mit dem letzten Zusatz beweisen wollte, wusste sie selbst nicht so recht, doch hatte sie es einfach noch mal betonen müssen. Er sollte verstehen, dass ihr der Kuss nichts bedeutet hatte … Der Kuss! Es war doch zum Verrücktwerden. Seit Wochen hatte sie nicht mehr dran gedacht. Sie war abgelenkt, konnte sich auf Wichtigeres konzentrieren. Aber jetzt? Jetzt stand er vor ihr. Warum nur brachte dieser Mann sie immer wieder aufs Neue so durcheinander?

»Jana, kommst du?«, rief Isabell, die bereits mit ihren Koffern in der Hand auf dem Weg zur Lobby war.

»Ja sofort. Ich bin gleich da.«

Sie sah noch einmal zu Ralf, der noch immer vor ihr stand, nickte ihm zu und lief hinter ihrer Freundin her.


»Was wollte denn der Maier gerade von dir?«, fragte Izzy und warf ihre Tasche aufs Bett.

»Der hat sich Sorgen gemacht, wegen dem, was damals passiert ist. Du weißt schon, die Sache mit John und das wir dann fast ertrunken und erfroren sind. Irgendwie hat doch hier alles begonnen.«

»Ihr zwei seid echt komisch, könnt nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der steht auf dich.«

»Fängst du schon wieder damit an?«

»Mensch, reg dich ab! Ich sage doch nur, was ich sehe.«

»Ganz toll. Muss das denn immer wieder sein?«, antwortete Jana und dachte nur: Du kannst doch auch keinem trocknen Alkoholiker ne Flasche Bier vorsetzen …


Da weder Jana noch eines der anderen Mädels wirklich viel Erfahrung im Snowboarden oder Skifahren hatten, bekamen sie an den nächsten beiden Tagen professionellen Unterricht. Besonders schwer hatte es Isabell, die stets auf ihr Bein achten musste, daher mit allem anderen schier überfordert war, und schon recht schnell die Flinte ins Korn warf. »Der Wintersport und ich werden wohl keine Freunde mehr. Macht besser mal ohne mich weiter! Ich habe eh noch was vor.«

Bevor jemand auch nur ein Wort hatte sagen können, war Izzy bereits davongelaufen, und hatte vor allem Jana irritiert zurückgelassen, die sich achselzuckend wieder ihrem Unterricht zuwandte.

Je mehr Zeit Jana auf ihrem Snowboard verbrachte, desto sicherer fühlte sie sich, was sich auch recht schnell in ihren Fahrkünsten zeigte, auch wenn sie hin und wieder auf ihrem Hintern landete.

»Autsch«, fluchte sie leise, als sie einmal mehr hingefallen war.

»Na, so ganz sicher sind wir wohl noch nicht, was?«

Irritiert und erschrocken blickte sie sich, immer noch auf dem Boden sitzend, um. Hinter ihr stand jemand, der ihr seine Hand entgegenstreckte, doch konnte sie ihn nicht erkennen, die Sonne blendete sie zu sehr. Vorsichtig ergriff sie die Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. So war es leichter, als hätte sie sich alleine aufgerappelt. Als sie sich in Augenhöhe gegenüberstanden, erkannte sie ihn: »Sven? Oh mein Gott, ich hätte dich ja fast nicht wiedererkannt.«

»Dafür siehst du immer noch so aus wie damals. Quatsch, du bist noch viel hübscher, wenn das überhaupt möglich ist.«

Mit hochroten Kopf, zumindest fühlte sie sich so, umarmte sie Sven, bevor sie ihm einen leichten Fausthieb gegen den Oberarm verpasste. »Der war dafür, dass du mit Isabell gemeinsame Sache gemacht hast.«

Er sah sie amüsiert an und sagte: »Sonst wärst du ja kaum hierhergekommen, oder? Gehen wir ein Stück?«

Nachdem sie sich von ihrer Gruppe verabschiedet hatte, hakte sie sich bei Sven unter. »Hier ist es echt schön – vor allem mit dem vielen Schnee. Das hätte ich echt nicht erwartet.«

»Dass es ausgerechnet dieses Jahr so viel schneit und das auch noch so früh, ist ungewöhnlich. Okay, für die Skisaison ist es toll, aber dadurch ist auch die Lawinengefahr deutlich gestiegen. Aber jetzt was anderes: Wie geht es dir?«

Sie blieb stehen, sah schüchtern zu Boden und fragte mit kaum hörbarer Stimme: »Du weißt es, oder?« Für einen kurzen Moment schwebte die Frage zwischen ihnen, sein Schweigen war im Grunde Antwort genug. »Und wer hat es dir gesagt?«

»Ein Kommissar Bruckner hat mich angerufen und mich gebeten, bei der Verhandlung auszusagen.«

»Bei welcher Verhandlung?«, fragte sie entrüstet und bemerkte an Svens Verhalten sofort, dass er sich verplappert hatte. »Tut mir leid, dass hätte ich jetzt echt nicht sagen sollen. Vergiss es einfach.«

»Das hättest du wohl gerne. Also raus mit der Sprache!«

Nach kurzem Nachdenken erzählte er ihr schließlich von der Gerichtsverhandlung, die nur wenige Monate nach Johns Verhaftung begonnen und lediglich zwei Tage gedauert hatte.

»Und wieso hat mir niemand etwas gesagt?«

»Kannst du dir das nicht denken? Um dich zu beschützen natürlich. Du warst damals so labil, dass du ein erneutes Aufeinandertreffen doch niemals überstanden hättest.«

»Woher …«, begann sie, stockte dann aber, weil sie auch diese Antwort kannte. »Wie viele Jahre hat er bekommen? Und wie war das überhaupt möglich, so ganz ohne meine Aussage?«, fragte sie stattdessen.

»Er hat sechseinhalb Jahre bekommen, und deine Aussage lag doch vor. Erinnerst du dich an die Tonbandaufnahme?«

»Oh mein Gott … dann hat es also jeder gehört? Dann kennt jetzt also jeder alle Details?« Bei dem Gedanken daran war ihr sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Ihre Knie hatten so heftig angefangen zu zittern, dass sie einfach unter ihr wegknickten und sie beinahe in den Schnee gefallen wäre, hätte Sven sie nicht aufgefangen.

»Nein, nein, das habe ich nicht gemeint. Die Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und außerdem hat nur der Richter die Aufnahmen gehört. Nicht mal ich kenne alle Einzelheiten.«

»Wirklich?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

»Wirklich. Warum sollte ich dich anlügen? Das alles nimmt dich immer noch sehr mit, was?«

Sie sah beschämt zur Seite und schwieg einen Moment. »Ich wünschte, es wäre nicht so. Weißt du, es ist jetzt schon über drei Jahre her und trotzdem vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denken muss.« Die Traurigkeit in ihrer Stimme machte auch ihm das Herz schwer. Zu gerne hätte er irgendetwas Aufmunterndes gesagt, doch fehlten ihm schlichtweg die Worte. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht runterziehen«, sagte sie, als sie seinen beinahe gequälten Gesichtsausdruck bemerkt hatte. »Lass uns einfach über was anderes reden. Ja?«

»Gerne, aber nur, wenn du dich nicht noch einmal bei mir entschuldigst«, sagte er und knuffte sie in die Seite. »Also, worüber willst du reden?«

»Warum hast du mir nie gesagt, dass du es weißt? Wir haben doch oft genug telefoniert?«

»Weil es einfach kein gutes Gesprächsthema für ein Telefonat ist. Aber wollten wir nicht über etwas anderes reden?«

Sie lächelte ihn an und zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Dann erzähl mir alles über dich!«, forderte sie ihn schließlich auf und hakte sich wieder bei ihm unter.

So liefen sie stundenlang umher und unterhielten sich über alles Mögliche. Sven hatte gerade einiges von seinem Alltag im Job berichtet, als Jana sagte: »So wie du über deinen Beruf redest, scheint es dir wirklich Spaß zu machen und genau das richtige für dich zu sein.«

»Das kannst du laut sagen. So sehr wie du das Eislaufen liebst, liebe ich meinen Polizeidienst. Und jetzt erzähl mal etwas mehr über dich! Meine letzten Jahre kennst du ja nun.«

»Was willst du denn wissen?«

»Einfach alles. Hm … fangen wir doch ganz leicht an. Hast du einen Freund?«

Sie blieb abrupt stehen, überlegte kurz und meinte schließlich: »Fällst du eigentlich immer gleich mit der Tür ins Haus?«

»Nicht immer, aber bei besonderen Menschen schon. Schwieriges Thema?«

Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und sagte: »Besondere Menschen? So besonders bin ich nun auch nicht.«

»Das denkst aber auch nur du. Also, was ist nun?«

Zur Ablenkung spähte sie auf ihr Handy. »Ach du je, schon so spät. Ich muss zurück! Nicht, dass man noch einen Suchtrupp losschickt. Zuzutrauen wäre das nämlich jedem von meinen Leuten.«

»Dann bringe ich dich wohl mal besser zum Hotel.«

»Brauchst du nicht. Ich finde den Weg schon alleine«, meinte sie und war schon im Begriff loszusprinten.

»Du willst mich also unbedingt loswerden, was? Schade.«

Sie drehte sich noch einmal zu ihm um, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Wir sind noch bis zum dritten Januar hier und morgen ist schließlich auch noch ein Tag!«

»Dann sehen wir uns morgen wieder?« Sie nickte bloß, bevor sie loslief, er rief ihr hinterher: »Aber morgen bekomme ich meine Antwort.«

Warum war ihr plötzlich nur so heiß? Sie hatte das Gefühl, im Inneren zu glühen und das lag garantiert nicht nur an der Rennerei oder ihrem dicken warmen Outfit.


»Mensch, wo bist du denn gewesen? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Izzy schritt unruhig im Zimmer auf und ab, während sich Jana im Bad frisch machte.

»Tut mir leid. Ich habe völlig die Zeit vergessen. Wir haben uns einfach total verquatscht.«

»Wir?«

»Neugierig wie immer. Ja wir, Sven und ich. Es war irgendwie komisch, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen – komisch, aber schön«, sagte Jana verträumt, als sie aus dem Bad kam und sich aufs Bett fallen ließ. »Und was hast du den ganzen Tag getrieben? Du hast so geheimnisvoll getan heute Mittag.«

»Ach, nichts Besonderes.«

»Isabell Braun, ich merke übrigens auch sofort, wenn du lügst. Also raus mit der Sprache!«

»Okay, okay, ich habe mich auch mit jemandem getroffen. Und bevor du fragst: Nein, ich werde dir nicht sagen, wer es war. Zumindest heute noch nicht. Und jetzt lass uns essen gehen, die warten bestimmt schon alle auf uns!«

Ohne auf Janas fragenden Gesichtsausdruck zu achten, lief Izzy los. Was war hier nur los? Irgendetwas stimmte doch ganz gewaltig nicht. Izzy führte definitiv etwas im Schilde, aber was nur? Seufzend sprang Jana vom Bett und folgte ihrer Freundin in das kleine Restaurant, in dem die anderen ihrer Gruppe tatsächlich bereits warteten.

»Triffst du dich morgen wieder mit Sven?«, fragte Izzy, als sie zusammen vor dem großzügig zubereiteten Büffet standen.

»Ja.«

»Wann denn?«

»Keine Ahnung. Wieso fragst du?«

»Nur so.«

»Ach, komm schon, du hast doch irgendetwas vor.«

»Jetzt leidest du aber an Verfolgungswahn«, kicherte Izzy und lief schon wieder zurück zum Tisch.

»Izzy«, rief Jana ihr frustriert hinterher.

Jeder weitere Versuch, etwas aus Isabell herauszubekommen, war zwecklos.


Die nächsten Tage schneite es ununterbrochen, sodass die Skipisten aufgrund der Lawinengefahr vorübergehend geschlossen werden mussten. Da Isabell zwischenzeitlich immer wieder verschwand und Jana einfach nicht herausfinden konnte, wo sie steckte oder was sie machte, verbrachte sie die meiste Zeit mit Sven. Die Unbeschwertheit zwischen ihnen tat ihr so unbeschreiblich gut, dass sie alles andere um sich herum wirklich vergessen konnte. Er war so witzig und brachte sie ständig zum Lachen, konnte aber auch todernst sein.

»Stoßen wir heute Abend zusammen an?«

»Heute Abend?«, fragte sie leicht irritiert.

»Na, heute ist doch Silvester! Schon vergessen?«

Das hatte sie tatsächlich. Wo war nur die Zeit geblieben? Sie lächelte ihn verlegen an und sagte: »Gerne. Sehr gerne sogar.«

»Das freut mich. Ich muss leider noch mal los, aber ich bin pünktlich zum Feuerwerk wieder hier. Versprochen.« Er küsste sie zum Abschied auf beide Wangen und ließ sie alleine.

Bis zum Feuerwerk waren es noch fast zehn Stunden. Was sollte sie nur so lange machen? Gedankenverloren schlenderte sie erst durch die Flure des Hotels, bis sie wieder in der Lobby stand und feststellen musste, dass nicht mal fünfzehn Minuten vergangen waren. Wo waren denn all die anderen aus ihrer Gruppe? In der Lobby befanden sich einige Gruppen von Menschen, so stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen und schaute sich um, konnte aber niemand Bekanntes entdecken. Wenn man mal jemanden brauchte, war niemand da.

»Jana?«, hörte sie Izzys Stimme hinter sich und drehte sich erleichtert um.

»Mann, wo hast du denn …«, rief sie ihr zu und stockte, als sie die Person neben ihr erkannte. Es war niemand anderes als Mario.

Ihre eben noch gute Laune sackte augenblicklich in den Keller, sie atmete zitternd ein und aus. Das konnte doch jetzt echt nicht wahr sein.

»Hi«, sagte er nur, aber das reichte ihr schon. Abrupt drehte sie sich um und lief, so schnell sie ihre Füße tragen konnten, einfach davon.

»Hey, jetzt warte doch«, rief Isabell ihr hinterher und lief ihr nach.

Jana hatte gerade die Ausgangstür erreicht, als Izzy sie am Arm packte und festhielt. »Mensch, wo willst du denn hin?«

»Kannst du dir das nicht denken?« Janas Stimme zitterte vor Wut.

»Er will doch nur mit dir reden. Hör dir doch wenigstens an, was er zu sagen hat!«

»Du steckst dahinter? Ich fasse es nicht. Wie konntest du nur? Du weißt doch genau …«

»Das ist fast ein Jahr her.«

»Na und? Und wenn es zehn Jahre her wäre, ändert das rein gar nichts daran, was er getan hat. Ich will ihn nicht sehen.«

Zornig riss sie sich von Izzy los und lief weiter, einfach nur stur geradeaus, bis sie plötzlich mit jemandem zusammenstieß und nur Sekunden später ihre Lehrer erkannte, die gerade aus der Sauna gekommen zu sein schienen; die Handtücher über ihren Schultern und die rot verschwitzten Köpfe wiesen zumindest darauf hin.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte Ralf neugierig.

»Steckt ihr da etwa auch mit drin?«, fragte sie ohne auf seine Frage zu antworten und sah beide mit zornig funkelnden Augen an.

»Er ist also gekommen?«, fragte Hongo trocken.

Sie wollte ihren Ohren nicht trauen und schüttelte langsam den Kopf, versuchte die aufsteigende Wut zu unterdrücken.

»Wer ist gekommen? Verdammt, was ist hier los?«, wollte Ralf wissen.

»Mario.«

»Was?« Seine Entrüstung schien ehrlich zu sein. Er hatte also nichts damit zu tun, oder spielte er seine Rolle vielleicht nur perfekt?

Janas Nasenflügel bebten, während ihr Blick auf ihren Direktor gerichtet war, der sie ebenfalls ansah. »Das war Isabells Idee.«

Das reichte jetzt endgültig und brachte das Fass zum überlaufen. »Mir ist scheißegal, wessen beschissene Idee das war. Verdammt, wie konntet ihr nur?« Mit Tränen in den Augen lief sie weiter und hoffte inständig, dass ihr niemand folgen würde. So wütend wie sie war, würde sie für nichts garantieren können. Erst als sie sich wirklich sicher war, alleine zu sein, blieb sie stehen, setzte sich auf einen umgestürzten Baum und versuchte, zur Ruhe zu kommen, doch tauchten die Bilder von Mario und Viktoria immer wieder vor ihr auf. Was hatte sich Izzy nur dabei gedacht? Hör dir doch wenigstens an, was er zu sagen hat! Als ob das irgendetwas bringen oder die Sache ungeschehen machen würde!

Je länger sie auf dem Stumpf saß und ihre Wut verrauchen ließ, desto kälter wurde ihr. Hier einfach nur zu sitzen, war scheinbar keine gute Idee, doch wollte sie auch noch nicht wieder zurückgehen. Sie sah sich um; hinter ihr befand sich das Dorf, aber um dieses zu erreichen, müsste sie am Hotel vorbei; und vor ihr lag ein kleines Wäldchen, hinter dem sich, wie sie von Sven erfahren hatte, keine drei Kilometer von hier entfernt, ein weiteres, größeres Hotel befand. Ach, warum eigentlich nicht?, dachte sie und ging auf den Wald zu. Drei Kilometer – oder auch sechs, wenn sie den Rückweg mit einkalkulierte –, waren jetzt auch nicht so weit. Bevor das Feuerwerk beginnen würde, wäre sie längst zurück.


»Was machst du denn hier?« Überrascht blickte Jana in Svens ebenso überraschtes Gesicht.

»Wieso hast du nicht gesagt, dass du in dem Hotel wohnst?«

»Sag bloß, du bist durch den Wald bis hierher gelaufen?«

Schuldbewusst blickte sie zu Boden und nickte.

»Verdammt, weißt du denn nicht, wie gefährlich das ist? Und dann auch noch bei so einem Wetter«, sagte er etwas zu energisch. Es hatte schon wieder angefangen zu schneien. »Komm erst einmal mit rein. Dann kannst du dich aufwärmen.« Er packte sie bei der Hand und zog sie ins warme Innere des Hotels, wo sie sich vor einen großen Kamin setzten, der in der Lobby stand und in dem ein Feuer munter vor sich hin brannte.

»Tut mir leid, wenn ich eben etwas laut geworden bin. Wissen deine Leute überhaupt, dass du hier bist?«

Sie verzog ihren Mund und schwieg einen kurzen Moment, bevor sie sagte: »Auch auf die Gefahr hin, dass du mich gleich wieder anschreist: Nein, sie wissen nicht, wo ich bin.«

Er schüttelte seufzend den Kopf. »Dann sollte ich dich wohl besser mal zurückbringen, bevor du noch Ärger bekommst.«

»Können wir nicht bis nach dem Feuerwerk warten?«

»Meinetwegen, dann sagen wir aber wenigstens Bescheid, damit sie sich keine Sorgen machen. Aber willst du denn nicht mit deinen Freunden anstoßen?«

»Ehrlich gesagt, nein. Die können mir gerade mal so was von gestohlen bleiben«, sagte sie patzig.

»Was ist denn passiert? Willst du drüber reden.«

»Nö.«

»Alles klar, schon verstanden. Und jetzt hör auf zu schmollen, auch wenn dich das furchtbar sexy macht!«

Sie sah verblüfft auf, sah sein Lächeln und entspannte zum ersten Mal seit Stunden.

»Na siehst du, geht doch! Ich bin gleich zurück.«

Während er beim Portier Getränke bestellte und zum Telefonhörer griff, saß sie immer noch ganz verdattert auf der kleinen Couch. Was ging hier nur vor sich? Tausende Gedanken auf einmal geisterten ihr durch den Kopf und verunsicherten sie. Was mache ich hier nur? Warum ist er so viel anders? Warum fragt er nicht ständig nach dem Grund für irgendetwas, sondern lässt es gut sein, wenn ich nicht gleich drauf eingehe? Findet er mich wirklich sexy und anziehend und besonders? Was mache ich, wenn er mich küssen will? Oh mein Gott, was antworte ich, wenn er mich fragt, ob ich die Nacht bei und mit ihm verbringen will?

Sie schüttelte sich, um die Gedanken loszuwerden und merkte nicht, dass er bereits wieder neben ihr stand.

»Alles in Ordnung?«, fragte er und reichte ihr ein Glas Eierlikör.

Ach du je, will er mich etwa betrunken machen?

Entweder war es ihr Zögern oder ihr entsetzter Gesichtsausdruck, der ihn veranlasste zu sagen: »Keine Sorge, der ist alkoholfrei.«


Es war weit nach Mitternacht, als er ihr die Tür aufhielt und ihr aus dem Wagen half. »Danke für den schönen Abend«, sagte er leise, zog sie in seine Arme und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.

Sie fing leicht an zu zittern, aber nicht, weil ihr kalt war, sondern weil sie genau wusste, was gleich passieren würde. Sollte sie es zulassen? Sollte sie zulassen, dass er sie küsste?

Ganz so, als ob er ihren Konflikt spürte, meinte er: »Denk doch nicht immer so viel nach!«

Schon im nächsten Moment beugte er sich zu ihr hinunter und berührte ihre Lippen mit den seinen. Es war ein komisches Gefühl, dass sich in ihr ausbreitete; es fühlte sich so vertraut an und gleichzeitig doch so fremd, und sie wich einen Schritt zurück.

»Tut mir leid, ich kann nicht«, sagte sie mit trauriger leiser Stimme.

»Mir tut es leid, wenn ich dir zu nahe getreten bin. Ich …«

»Bist du nicht. Das war sehr schön, aber …«

»Aber du bist nicht bereit für was Neues.«

Bereit für was Neues? In ihrem Kopf ging es drunter und drüber. Der letzte Mann, den sie geküsst hatte, war Ralf gewesen, und auch wenn sie sich seitdem verzweifelt versuchte einzureden, dass sie nichts mehr für ihn empfand, wusste sie, dass es eine Lüge war. Und auch Mario bekam sie einfach nicht aus ihren Gedanken. Jetzt war da dieser gutaussehende junge Mann, der sie geküsst hatte, und was machte sie?

»Jana, alles in Ordnung?«, fragte Sven besorgt.

»Tut mir leid, dass ist gerade alles ein wenig zu viel. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht.«

»Hey, das macht doch nichts. Ich habe dich ganz schön überrumpelt, was? Lass uns doch einfach so tun, als wäre das nicht passiert, okay?«

Genau das habe ich auch zu Ralf gesagt.

Kopfschüttelnd sah sie ihn an. Sein freundliches Lächeln jagte ihr erneut eine Gänsehaut über den Körper und sie kam sich plötzlich so dumm vor, dass sie Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten.

»Bis morgen?«, fragte er vorsichtig und dieses Mal nickte sie.


Auf Zehenspitzen schlich sie sich nur Minuten später auf ihr Zimmer und hoffte, Isabell nicht aufzuwecken. Das diese noch wach war, konnte sie ja nicht ahnen. »Wo bist du gewesen?«, bekam sie zu hören, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war. Ohne ein Wort zu sagen, verschwand Jana aber erst im Badezimmer, um sich bettfertig zu machen, und keine fünf Minuten später schlüpfte sie unter ihre Bettdecke. »Bist du etwa immer noch sauer?«, rief Izzy, bekam aber wieder keine Antwort und drehte sich schnaubend zur Seite.

Eigentlich hätte sich Jana liebend gerne mit ihr unterhalten, sie gefragt, was sie jetzt tun sollte, doch war sie in der Tat noch stinksauer auf sie und das wollte sie sie noch einen Augenblick länger spüren lassen.

Auch wenn sie es noch so sehr versuchte, sie konnte einfach nicht einschlafen. Dazu war heute einfach zu viel passiert. Warum nur war das alles so kompliziert? Warum nur konnte sie keinen klaren Gedanken fassen? Sven war lieb und nett und sah auch noch gut aus. Er war älter, wusste also, was er wollte und hatte ihr nicht das Herz gebrochen. Dafür wohnte er aber viel zu weit weg. Würde eine Fernbeziehung überhaupt funktionieren? Sein Kuss war zwar nicht so überraschend gewesen, hatte sich aber so viel anders angefühlt, als der zwischen ihr und Ralf.

Ralf … ja … wäre die Entscheidung vielleicht einfacher, wenn sie nicht ständig an ihn würde denken müssen? Was hieß hier überhaupt ›Entscheidung‹? Sie musste sich wohl kaum zwischen Ralf und jemand anderem entscheiden? Ein ›Wir‹, ein ›Ralf und ich‹ würde es zweifelsohne nie geben. Und dann war da noch Mario. Ja, er hatte ihr furchtbar wehgetan und doch hatte sein Anblick etwas in ihr ausgelöst, auch wenn sie sich noch nicht sicher war, was es war. Sollte sie vielleicht doch mit ihm reden und es herausfinden? Empfand sie überhaupt noch was für ihn, außer Hass und Verachtung? Und wie war es um ihn bestellt? Empfand er noch etwas für sie, wo sie ihn doch seit damals nur noch abweisend behandelte? Aber warum war er sonst hier? Je mehr sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, desto mehr hatte sie das Gefühl, ihr Kopf würde explodieren. Wenn sie doch nur jemanden hätte, mit dem sie über all das reden konnte.


Noch bevor die Sonne am nächsten Morgen komplett aufgegangen war, stieg Jana müde aus dem Bett. Wenn es hochkam, hatte sie eine, vielleicht auch zwei Stunden geschlafen, doch selbst im Traum hatten die Geschehnisse des Vortages sie verfolgt. Nichtsdestotrotz hatte sie eine Entscheidung gefällt: Sie musste mit Sven reden, auch wenn das nicht gerade angenehm werden würde.


»Sag nicht, dass du schon wieder durch den Wald gelaufen bist?«, fragte er aufgebracht, als sie ihn gefunden hatte.

»Tschuldigung, hab nicht mehr dran gedacht.«

»Bist du eigentlich lebensmüde?«

»Wenn du die anderen fragst, werden die wahrscheinlich alle Ja sagen«, grinste sie, was ihr aber sogleich verging, als sie sein leicht zorniges Gesicht sah.

Nach dem Frühstück, zu dem er sie eingeladen hatte, als er ihr Magenknurren gehört hatte, setzten sie sich mit ihren heißen Getränken auf die Terrasse, um ungestört zu sein.

»Also, was ist los? Ist es noch immer wegen dem Kuss?«, fragte er, als sie die ganze Zeit nur verträumt in ihre Tasse starrte.

Beschämt blickte sie zur Seite und gab kleinlaut zu: »Ja und nein.«

»Na komm schon, raus mit der Sprache!«

»Weißt du, es ist alles einfach nur so furchtbar kompliziert. Du bist so lieb und ich mag dich wirklich. Sehr sogar.«

»Autsch, das wird wohl eine Abfuhr.«

Sie sah ihn traurig an. »Tut mir leid, wirklich. Ich wollte dir weder wehtun, noch dir falsche Hoffnungen machen.«

»Mach dir darüber keine Gedanken. Es ist wirklich in Ordnung. Du hast weder das eine noch das andere getan, aber du bist ehrlich und das schätze ich sehr.«

Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Aber das ist nicht alles, was dich bedrückt, oder?«, stellte er fest.

Sollte sie es ihm wirklich anvertrauen? Ihm von Mario erzählen, von dem Konflikt, den er in ihr ausgelöst hatte.

»Du kannst es mir ruhig erzählen! Was hast du schon zu verlieren?«

Er hatte ja recht, zu verlieren hatte sie weiß Gott nichts. Sie hatte ihm gerade gesagt, dass es zwischen ihnen nicht mehr geben würde als Freundschaft und trotzdem war er noch hier. Sie drehte ihre Tasse noch ein paar Mal hin und her und begann schließlich zu erzählen.


»Wow, kein Wunder, dass du so durcheinander bist. Das muss wohl ein riesiger Schock gewesen sein, ihn gestern wiederzusehen.«

»Das kannst du laut sagen. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.«

»Liebst du ihn noch?«

»Ich weiß es nicht. Ich will nicht abstreiten, dass da noch Gefühle sind, und nicht nur Wut … Aber was sollte das bringen? Ich weiß nicht, ob ich ihm je wieder vertrauen könnte.«

»Und, weiß der andere, dass du ihn liebst?«

»Was?«, fragte sie und sah ihn geschockt an, von ihren Gefühlen für Ralf hatte sie doch gar nichts erwähnt.

»Ach, Schätzchen, ist doch ganz klar. Wenn es nur um mich und Mario gehen würde, würdest du jetzt nicht mehr hier sitzen und mir erzählen, dass du so hin und her gerissen bist, zwischen dem, was richtig und dem, was einfach ist. Von daher bin ich ziemlich sicher, dass da noch jemand ist, der dir den Kopf verdreht. Also: Weiß er es?«

»Bin ich wirklich so durchschaubar?«

Er legte den Kopf schief, antwortete aber nicht.

»Nein, ich denke nicht, dass er es weiß. Wir haben uns zwar geküsst; na ja, eigentlich habe eher ich ihn geküsst; aber als ich gemerkt hab, dass es ihm unangenehm war, haben wir es eben einfach vergessen.«

»Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist, dass man so was vergessen kann? Sag es ihm doch einfach und schau, was passiert!«

»Um Gottes willen, dass kann ich nicht. Das würde alles nur noch viel schlimmer machen.«

»Hm, es ist doch so: Egal, für wen du dich entscheiden würdest, du hast Angst vor dem, was danach kommt, aber weißt du, das geht jedem so. Ich kann dir die Angst nicht nehmen und ich kann dir auch nicht sagen, was du tun sollst. Du hast Angst, wieder enttäuscht zu werden, und das ganz egal, wie du dich entscheidest. Aber das ist doch normal, es gibt immer Phasen im Leben, in denen man am liebsten alles hinschmeißen und aufgeben würde, weil es nicht so gelaufen ist, wie man es wollte. Es gibt immer Höhen und Tiefen, wichtig ist nur, was du draus machst. Denk nicht so viel darüber nach, was passiert ist oder was passieren könnte. Entscheide nicht mit deinem Verstand, höre auf dein Herz und mach das Beste draus!«

Sie sah ihn verwundert an.

»Was denn? Auch Männer können schlaue Dinge sagen. Schließ mal deine Augen!«

»Wieso?«

»Frag nicht so viel. Ich möchte nur etwas versuchen.«

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie ihre Augen schloss. Was hatte er jetzt wieder vor? Dann berührte er ihre Wange, streichelte langsam hinunter bis zu ihrem Kinn und ihr wurde bewusst, was als Nächstes kommen würde. Sollte sie das noch mal zulassen?

Scheinbar hatte sie sich unwillkürlich verkrampft, denn er sagte: »Entspann dich, ich tue dir nicht weh!«

Sie atmete tief durch, und schon im nächsten Moment spürte sie seine Lippen auf den ihren. Für einen winzigen Augenblick wollte sie ihn wegschieben, wollte, dass er aufhörte, doch ließ sie es dann doch zu. Sein Kuss war intensiv, sie spürte seine Zunge, schmeckte seinen Atem – und es war irgendwie so anders.

Als er sich von ihr gelöst hatte, fragte er: »Und? Was hast du gespürt?«

Verlegen öffnete sie die Augen, kräuselte die Lippen und er schien zu begreifen, noch bevor sie etwas sagen konnte.

»Nichts?«

Mit hochgezogenen Augenbrauen schüttelte sie entschuldigend den Kopf.

»Na ja, einen Versuch war es wert.«

»Tut mir leid.«

»Ach quatsch, dass muss dir doch nicht leidtun. Du bist eben was ganz Besonderes und verdienst nur das Beste, und wenn ich das nicht bin, dann ist es eben so. Jetzt musst du nur noch eine Entscheidung treffen, nämlich wer und was das Beste für dich ist. Denk in aller Ruhe darüber nach und lass dich nicht unter Druck setzen! Von niemandem!«

Das Piepsen seines Handys ließ ihn kurz innehalten, er zog es aus der Tasche und blickte aufs Display. »Na toll, ein Notruf. Ich muss los.«

»Du bist im Dienst? Ich dachte, du hast Urlaub«, sagte sie und knuffte ihn in die Seite.

»Sorry, aber ein Polizist hat nie wirklich Urlaub. Ich will dich zwar ungern alleine lassen, aber es geht leider nicht anders.«

»Ich finde den Weg in mein Hotel schon alleine. Ich bin doch schon groß.«

»Versprich mir nur, dich vom Wald fernzuhalten. Nimm den Bus oder ein Taxi, aber bitte lauf nicht durch den Wald.«

Er küsste sie zum Abschied auf die Wange und lief los. Während sie ihm hinterher sah, musste sie lächeln. Dieser Typ war so unkompliziert, so viel anders als die anderen beiden, aber dafür genauso übervorsichtig. »Geh nicht durch den Wald!« Mann, sie waren doch nicht im Märchen von Hänsel und Gretel, doch wollte sie die Freundschaft zu Sven nicht durch eine unüberlegte Dummheit aufs Spiel setzen. Eine halbe Stunde Bus fahren war schließlich auch nicht so schlimm. Immer noch schmunzelnd stand sie schließlich auf, reckte und streckte sich kurz und drehte sich zur Tür der Terrasse, als sie direkt in Marios Gesicht blickte.

Oh nein, das hatte jetzt gerade noch gefehlt. Wie lange stand er da schon? Wie viel hatte er mitbekommen? So wie er aussah, so wie er sie ansah, hatte er mehr mitbekommen, als gut war. Was sollte sie jetzt tun? Was sollte sie ihm sagen? Musste sie ihm überhaupt etwas sagen? Sollte sie es ihm erklären? Nein, sie konnte weder mit ihm reden, noch ihn weiter so ansehen, sie konnte ja nicht mal an ihm vorbeigehen, also ließ sie den Griff der Tür los, drehte sich um und verließ die Terrasse über die kleine Treppe am anderen Ende. Sie lief einfach nur geradeaus, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, zu groß war ihre Befürchtung, dass er sie weiter beobachten oder ihr im schlimmsten Fall sogar folgen würde. Sie wollte einfach nur weg, so schnell und weit wie es nur ging. Sie hatte jetzt nicht den Nerv, mit ihm zu reden oder ihm irgendetwas zu erklären. Eigentlich gab es da ja auch nichts zu erklären, oder? Sie waren nicht mehr zusammen, wer sie also küsste oder wen sie küsste, war alleine ihre Sache, ihre Entscheidung. Doch warum hatte sie dann nur so ein furchtbar schlechtes Gewissen?

Sie verlangsamte ihren Gang – das Seitenstechen zwang sie dazu –, bis sie schließlich kurz stehen blieb und sich gegen einen Baum lehnte. Was hatte sie nur getan? Sie war feige davongelaufen, weil sie Angst vor seiner Reaktion gehabt hatte. Weil sie Angst hatte, dass er es nicht verstehen würde. Und dabei verstand sie das alles ja selbst nicht. Moment mal, ein Baum? Irritiert blickte sie sich um. Verdammt, sie war in den Wald gelaufen, obwohl sie Sven versprochen hatte, einen großen Bogen darum zu machen. Scheiße, scheiße, scheiße! Was sollte sie jetzt tun? Umkehren? Wie weit war sie denn schon gelaufen? Weder vor, noch hinter sich konnte sie etwas erkennen – nur Bäume, Sträucher und Steine waren zu sehen. Sie wusste nicht, wo sie war, hatte komplett die Orientierung verloren.

»Verdammt, so eine verdammte Scheiße«, fluchte sie laut, drehte sich um und wollte ihren Fußspuren, die sie im Schnee hinterlassen hatte, folgen, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte.

Die Stimme fuhr ihr durch Mark und Bein, es war seine Stimme, Marios Stimme. Er war ihr also doch gefolgt. Zurück konnte sie also nicht, nicht ohne ihm zu begegnen, nicht ohne schließlich doch mit ihm reden zu müssen. Sie drehte sich abrupt um und lief weiter, tat so, als ob sie ihn nicht gehört hätte. Das Piepsen ihres Handys drang an ihre Ohren. Am Ton hatte sie sofort erkannt, dass die eingegangene Nachricht von Izzy stammte. Gleich darauf piepste es noch einmal. Genervt blieb sie stehen, zog sich die Handschuhe aus und kramte das Smartphone aus der Innentasche ihrer Ski-Jacke.

Wo bist du?, lautete die erste Nachricht.

Höchste Lawinengefahr, die sperren gerade alle Gebiete ab. Egal wo du bist, komm bitte ganz schnell ins Hotel zurück!, lautetet die zweite.

Das hatte ihr gerade noch gefehlt. War Sven deshalb so überstürzt aufgebrochen? Mit flinken Fingern tippte sie eine Nachricht, als sie urplötzlich und wie aus dem Nichts heraus am Arm gepackt wurde. Vor Schreck ließ sie das Handy fallen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie geradewegs in Marios Gesicht, er hatte sie also gefunden.

»Gehtʼs noch? Musst du mich so erschrecken«, blaffte sie ihn an und wollte ihr Handy aufheben.

»Können wir vielleicht mal wie zwei normale Erwachsene miteinander reden, ohne uns immer gleich anzumaulen?«, sagte er scharf und sah sie an, was ihr irgendwie das Gefühl vermittelte, einen Fehler gemacht zu haben.

»Ich wüsste nicht, worüber ich mit dir reden sollte.«

»Das weißt du ganz genau. Wie lange willst du eigentlich noch die eingeschnappte Leberwurst spielen?«

»Ich bin nicht eingeschnappt. Ich habe nur weder die Zeit noch die Lust, mit dir zu reden.«

Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn an. Plötzlich sprang ein Reh aus dem Gebüsch über ihnen und lief hektisch an ihnen vorbei. Er sah nach oben, den Berg hoch und schien es zu begreifen, noch bevor er es hörte. »Scheiße«, fluchte er, packte ihre Hand und lief los.

»Spinnst du. Lass mich los!«, schrie sie und versuchte verzweifelt, sich aus seinem Griff zu lösen.

»Halt einfach deinen Mund und lauf!«

Das Donnergrollen wurde immer lauter und sie verstand, was da auf sie zuraste. Nicht schon wieder, oh nein, nicht schon wieder, dachte sie und stolperte hinter Mario her. Wie sollten sie bloß dieser Gefahr entkommen? Im Laufen blickte sie verzweifelt um sich. »Da drüben!«, schrie sie dann und deutete auf die kleine Hütte, die keine zehn Meter links von ihnen zwischen den Bäumen stand.

In der Hoffnung, dass das kleine Häuschen sie vor den gewaltigen Schneemassen würde schützen können, eilten sie hinüber, doch standen sie vor verschlossener Tür. Panisch sah sie den Berg hinauf, die Lawine kam gefährlich schnell auf sie zu. »Mach was! Um Gottes willen, mach endlich was!«, schrie sie Mario an, der sich mit voller Kraft gegen die Tür warf, die krachend aus der Angel flog.

Mit einem letzten Blick auf das drohende Unheil retteten sich die beiden in die Hütte, bevor die Schneemassen das Haus mit einem ohrenbetäubenden Aufschlag erfassten.

»Weg von der Wand!«, schrie Mario und riss Jana beiseite, die sich neben der Tür zusammengekauert hatte, als auch schon ein riesiger Baumstamm durch die Rückseite der Hütte schoss und an ihnen vorbei flog. Nur Sekunden später war alles dunkel.


Liebe ist Schicksal

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