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32.
ОглавлениеSind wir tot?
So schnell das Grollen heraufgezogen war, so schnell war es auch vorüber. Keine zwei Minuten später herrschte absolute Stille, nicht mal das kleinste Zwitschern eines Vogels war zu hören.
»Mario?«, rief Jana, der die Panik in sämtliche Knochen gefahren war.
»Alles in Ordnung, ich bin hier drüben.«
Erleichtert atmete sie tief durch, sie waren also beide noch am Leben.
Mario tastete sich suchend an der Wand entlang, bei jedem Schritt knarrte und ächzte die Hütte, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Er hatte zwar kaum Hoffnung, doch betätigte er den Schalter. Flackernd sprang das Licht in der kleinen Glühbirne an, die in der Mitte der Hütte hin und her baumelte und diese nun schwach beleuchtete. Er sah sich um, die Hütte war ungefähr fünfundzwanzig Quadratmeter groß, bestand aus einer kleinen Kochnische, einem schäbig aussehenden Bett und einem Kamin. Der Tisch und die beiden Stühle lagen quer im Raum verteilt, und dort, wo sich höchstwahrscheinlich die Toilette befunden haben musste, klaffte nun ein großes Loch, dass durch den riesigen Baumstamm teilweise verschlossen war. Er hatte fast die komplette linke Seite der Hütte einfach weggerissen.
Nach der ersten Bestandsaufnahme trat Mario zur Tür, die auch nur noch halb im Rahmen hing, öffnete sie und starrte auf die weiße Schneewand dahinter. »Scheiße«, fluchte er erneut und trat an eines der Fenster neben dem Kamin, doch auch hierdurch sah er nichts weiter als Schnee. Er blickte sich erneut in der Hütte um und entdeckte eine Schaufel, mit der er zum Fenster zurücklief.
»Was hast du vor?«, fragte Jana leise.
Ohne zu antworten oder auch nur auf sie zu achten, schob er das Fenster auf und versuchte den Schnee beiseite zu schaufeln, bis plötzlich der Stiehl brach. »So eine verdammte Scheiße«, schrie er, hieb noch ein paar Mal mit dem Stiehl gegen die weiße Mauer und feuerte schließlich alles in die Ecke.
»Was ist denn los?«, fragte Jana, als sie sich soweit gesammelt hatte.
»Wir sitzen hier fest. Das ist los«, sagte er trocken.
»Was?« Sie konnte und wollte ihren Ohren nicht trauen, lief zur Tür und boxte mit beiden Händen so fest sie konnte gegen die Schneemauer. »Das kann doch gar nicht sein … das darf nicht sein … ich will hier raus … ich will hier sofort raus …«, schrie sie und fing an, wie wild zu graben.
»Hör auf, das hat doch keinen Sinn!«, meinte Mario, doch schien sie ihn nicht zu hören, sondern grub einfach nur stur weiter. »Du sollst aufhören!«, schrie er sie an und zog sie von der Tür weg. »Es ist sinnlos! Schau dir deine Finger an!« Wie abwesend sah sie hinab auf ihre Hände, die ganz taub von der Kälte waren und erkannte nun blutige Spuren. »Wer weiß, unter wie viel Metern Schnee wir begraben sind. Wie lange willst du graben? Bis dir die Finger abfallen?«
»Aber wir müssen doch etwas tun.« Verzweifelt tastete sie ihre Jacke ab, schien etwas zu suchen, doch fand sie ihr Handy nicht. Es musste ihr heruntergefallen sein, als Mario sie gepackt und hinter sich her geschleift hatte. »Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt … das darf doch alles nicht wahr sein«, schrie sie und trat mit voller Wucht gegen den Baumstamm neben sich und ächzte unter Schmerz auf.
»Was ist bloß in dich gefahren?«, schimpfte Mario.
»Du hast nicht zufällig dein Handy dabei? Dank dir habe ich meins verloren.«
»Dank mir? Dank mir bist du überhaupt noch am Leben.«
»Dank dir stecken wir in dieser verdammten Hütte fest.«
»Die scheiß Hütte war deine Idee, schon vergessen?«
Abrupt hielt sie inne und schwieg, streiten half in dieser verfahrenen Situation nichts und er hatte zumindest im letzten Punkt ja recht. Sie hatte die Hütte entdeckt.
Er kramte in seiner Jacke und zog sein Handy hervor. »Kein Empfang.«
Es war zum Verrücktwerden. Niemand wusste, wo sie waren. Sie steckten zusammen in dieser alten verlassenen Hütte fest, die jeden Moment in sich zusammenbrechen konnte und beide unter sich begraben würde.
»Was ist mit dem Kamin? Können wir kein Feuer machen? Vielleicht sieht ja jemand den Rauch?«, sagte sie leise und versuchte verzweifelt, Ruhe zu bewahren.
Mario ging hinüber und spähte den Schornstein hinauf. »Keine Chance, alles dunkel. Wahrscheinlich würden wir ersticken, bevor nur ein Wölkchen den Himmel erreicht. Wir sitzen ganz schön tief in der Scheiße.«
Sie rieb sich die Schläfe, mit einem Mal hatte sie furchtbare Kopfschmerzen. Sie waren lebendig begraben, ohne Chance, sich allein zu befreien. Wenn man sie nicht fand, was mehr als wahrscheinlich war, würde sie hier verhungern, verdursten oder erfrieren müssen, und das ausgerechnet mit der Person, die sie im Moment am wenigsten um sich haben wollte. Jetzt konnte sie nicht mehr weglaufen, jetzt musste sie sich ihm stellen. Sie konnte nur hoffen, dass er unter diesen Umständen nicht auch noch mit ihr reden wollte. Humpelnd ging sie zum Bett hinüber und setzte sich.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, alles bestens. Ich hätte nur nicht gegen den beschissenen Stamm treten sollen. Der war eindeutig stärker als ich und hat gewonnen.«
Mario griff sich einen umgestürzten Stuhl, trat zu ihr ans Bett und wollte nach ihrem Fuß greifen. »Zeig mal her!«
»Fass mich nicht an«, zischte sie und zog ihre Füße hoch aufs Bett.
Er sah sie finster an, holte tief Luft, ganz so, als müsse er sich nun beruhigen und meinte: »Jetzt stell dich nicht so an! Verdammt noch mal, du wirst wohl oder übel mit mir auskommen müssen!« Ohne Rücksicht auf sie zu nehmen, griff er erneut nach ihrem Fuß, zog ihr Stiefel und Socke aus und seufzte schließlich: »Ich schätze, den hast du dir verstaucht.« Er stand auf, legte ihren Fuß sachte auf dem Stuhl ab, ging hinüber zu der kleinen Küche und begann, jeden einzelnen Schrank dort zu öffnen. Erst fand er nichts als Staub und Spinnweben, doch unter der Spüle zog er einen kleinen Verbandskasten hervor, mit dem er zu ihr zurückkam. Der Inhalt gab allerdings nicht viel her. »Na ja, besser als nichts«, sagte er, nahm das vergilbte Klebeband heraus und wickelte es vorsichtig um ihren Knöchel. »Ich bin zwar nicht gut im tapen, aber so sollte es besser sein. Sag aber Bescheid, wenn die Schmerzen schlimmer werden oder du gar kein Gefühl mehr hast!«
»Danke«, murmelte sie verlegen, als er fertig war, zog sich Socke und Stiefel wieder an und kroch nach hinten aufs Bett.
Irgendwie hatte sie mehr und mehr das Gefühl, dass dieser letzte Satz zwischen ihnen stand wie eine dicke Betonmauer. »Wenn du gar kein Gefühl mehr hast«, schwirrten ihr seine Worte im Kopf herum. War das wirklich nur auf ihren Fuß bezogen gewesen oder hatte er damit auf die ganze Situation zwischen ihnen angespielt? Sie fuhr sich durch die Haare. Sollte sie jetzt vielleicht etwas sagen, oder doch lieber den Mund halten? »Ich weiß zwar nicht, wie viel du vorhin mitbekommen hast, aber es war nicht das, wonach es ausgesehen hat«, sagte sie kleinlaut und kam sich plötzlich so unendlich dumm vor, denn es waren die gleichen Worte gewesen, mit denen er damals versucht hatte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
»Ja, ja, ist schon klar. Du musst mir nichts erklären! Ich verstehe das schon. Wie du mir, so ich dir.«
Fassungslos sah sie ihn an. Machte er ihr gerade tatsächlich einen Vorwurf? Ihr fehlten die Worte, doch sie versuchte, ruhig zu bleiben, was ihr aber nicht gelang. Schließlich schrie sie ihn an: »Tickst du eigentlich noch ganz richtig? Wie du mir, so ich dir? Was soll denn der Mist jetzt? Sven hat mich geküsst, ja. Ich habe es zugelassen, ja. Aber das war nur, um zu sehen, ob wir oder besser gesagt ob ich etwas für ihn empfinde, und dem war nicht so. Nicht, dass es dich auch nur das Geringste anginge, aber es ist die Wahrheit … Wie du mir, so ich dir … Ich fasse es nicht, dass du mir so etwas zutraust.«
»Reg dich ab! Ich habʼs ja nicht so gemeint.«
Das war leichter gesagt, als getan, sie war auf hundertachtzig, kochte förmlich. Geladen sprang sie vom Bett; sie konnte einfach nicht mehr ruhig sitzen bleiben und sich blöd von ihm anstarren lassen; und stiefelte sauer in dem kleinen Raum auf und ab. Das war echt die Höhe! Wie konnte er ihr Untreue vorwerfen, wo er sie doch betrogen hatte und sie schließlich kein Paar mehr waren? Je mehr sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie. Damals hatte sie alles nur in sich rein gefressen, alles für sich behalten und wäre an dem Schmerz und dem Kummer fast kaputtgegangen. Jetzt war sie hier, mit ihm, und es gab keinen Ausweg, keine Möglichkeit, die Flucht zu ergreifen, jetzt konnte sie all ihren Frust loswerden und er musste es ertragen. Dann blieb sie stehen, stand mit geballten Fäusten vor ihm und blickte starr zu Boden. »Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie weh du mir getan hast? Ich habe dich geliebt und du hast mir das Herz herausgerissen und es mit Füßen getreten«, sagte sie mit leiser zitternder Stimme. Er stand auf, ging einen Schritt auf sie zu, doch wich sie zurück. Was wollte er damit bezwecken? »Und jetzt hast du nichts Besseres zu tun, als mir Vorhaltungen zu machen, obwohl du mich betrogen hast. Du bist so ein mieser Scheißkerl.«
»Verdammt, es tut mir leid. Wie oft soll ich das denn noch sagen?«
»Meinetwegen so oft du willst, und es wird trotzdem rein gar nichts ändern. Du kannst es nicht ungeschehen machen!« Endlich sah sie auf, Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich wünschte, ich hätte dich nie kennengelernt. Ich wünschte, ich hätte mich niemals auf dich eingelassen. Ich hasse dich.«
Er wollte etwas sagen, doch er wusste nicht, was, ihm fehlten schlicht die Worte. Er wusste, dass er ihr wehgetan hatte und er wusste auch, dass er nichts sagen oder tun konnte, um ihr diesen Schmerz zu nehmen. Seit damals war kein Tag vergangen, an dem er sich nicht gewünscht hatte, die Zeit zurückdrehen zu können, alles ungeschehen zu machen. Er ging noch einen Schritt auf sie zu, aber auch dieses Mal wich sie zurück, doch gab er nicht auf, sondern wiederholte das Spiel, bis sie mit dem Rücken zur Wand stand und nicht mehr ausweichen konnte. Er wollte sie einfach nur in den Arm nehmen und ihr zeigen und immer wieder sagen, wie leid ihm das alles tat. Als er direkt vor ihr stand, sah sie ihm in die Augen und fragte, obwohl sie die Antwort eigentlich nicht hören wollte: »Warum?«
Sie konnte sehen, wie er die Luft anhielt und nach der richtigen Antwort zu suchen schien: »Ich weiß es nicht.«
Sie schüttelte den Kopf, konnte das nicht glauben und fragte noch einmal: »Warum?«
»Verdammt, ich weiß es wirklich nicht. Meinst du etwa, dass ich mir diese Frage nicht auch schon hunderte Male gestellt habe, aber ich habe keine Antwort, zumindest keine, die es dir leichter machen würde.«
»Leichter machen? Als ob du irgendetwas daran ändern könntest, wie ich mich fühle. Warum verdammt noch mal, warum hast du mit ihr geschlafen?«
Er packte sie an den Schultern und presste sie gegen die Wand: »Was willst du von mir hören? Dass ich mit ihr geschlafen habe, weil du nur noch deine DM im Kopf hattest und mich nicht beachtet hast? Dass ich mit ihr geschlafen habe, weil du dich nicht hast anfassen lassen? Oder weil ich meine Karriere für dich aufgegeben habe und du es nicht zu würdigen gewusst hast? Also was ist? Was willst du von mir hören?«
»Dann gibst du also mir die Schuld?«, fragte sie traurig und wütend zugleich, stieß ihn beiseite und flüchtete sich zur anderen Seite der Hütte.
»Das wollte ich damit doch gar nicht sagen.«
»Und doch hast du es gesagt.«
»So war das aber nicht gemeint. Ich wollte …«
»Was du wolltest, ist mir scheißegal. Du hast mich betrogen und gibst mir die Schuld daran. Wie konnte ich nur so blöd sein zu glauben, dass du es wirklich ernst meinst?«
»Kannst du mir nur ein einziges Mal zuhören, ohne mich zu unterbrechen? Du biegst dir doch alles so hin, wie du es brauchst, nur damit ich der Böse bin, der alles kaputt gemacht hat. Hast du dich vielleicht nur ein einziges Mal gefragt, was du hättest anders machen können? Ob du nicht auch ein klein wenig Schuld an der ganzen Situation trägst? Verdammt, ich habe dich so geliebt, dich so begehrt, dass es mir so schwer gefallen ist, meine Finger von dir zu lassen. Doch ich habe mich zusammengerissen, weil ich ganz genau gewusst habe, dass du nicht bereit dafür bist. Sie hat es gewusst, sie hat es gespürt, und es für sich ausgenutzt. Hat es so gedreht, dass du uns erwischst. Verdammt, das war doch alles …«
»Nicht deine Schuld? Wage es ja nicht, das zu sagen!«, schrie sie ihn an.
»Aber …«
»Kein Aber. Ich will nichts mehr davon hören! Ja, ich habe mich jeden Scheißtag gefragt, ob es anders gelaufen wäre, wenn wir vorher miteinander geschlafen hätten. Aber ich glaube, dass es gar nichts geändert hätte, und weißt du auch, warum? Weil du ein gottverdammter schwanzgesteuerter Mistkerl bist.«
Ihre Worte hallten ihr schmerzhaft in den Ohren wider, während er sie einfach nur kopfschüttelnd anstarrte. Sie hatte ihm wehgetan, das war ihr bewusst, und genau das hatte sie ja auch bezweckt. Doch fühlte sie sich damit jetzt besser? Nein, im Gegenteil sogar, sie fühlte sich einfach nur noch leer. Sie hatte ihm genauso wehtun wollen, wie er ihr, hatte sich somit auf eine noch niedrigere Stufe begeben wie er, und was hatte das gebracht? Nichts, absolut gar nichts.
Frustriert und enttäuscht von sich selbst setzte sie sich aufs Bett, zog ihre Beine an ihren Körper und versuchte, sich warm zu halten. Sie waren nicht mal eine Stunde in diesem Loch gefangen und schon hatte sie das Gefühl, halb erfroren zu sein. Wenn sie doch nur ihre Handschuhe hätte! Wie lange sie es wohl in dieser Eiseskälte aushalten konnten?
Je länger sie so dasaß und in die Leere starrte, desto mehr schienen sich ihre Gedanken zu überschlagen. Sie dachte an Izzy, an Sven, an Hongo und Ralf und immer wieder an Mario, der ihr keine fünf Meter entfernt gegenüber an der Wand lehnte und ihrem Blick auswich.
»Hey, aufwachen! Du kannst doch nicht einfach einschlafen, nicht in dieser Kälte«, rüttelte Mario sie plötzlich unsanft an der Schulter, und sie schreckte auf.
»Vielleicht ist es besser so«, murmelte sie schlaftrunken; sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie müde oder gar eingeschlafen war.
»Red ja nicht so einen Scheiß! Komm, steh auf und geh wenigstens ein bisschen auf und ab! Dann kommt dein Kreislauf in Schwung und dir wird etwas wärmer!«
»Ach, lass mich doch in Ruhe!«
»Vergiss es!«, sagte er scharf, packte sie am Arm und zog sie auf die Füße.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so komisch steif dagesessen hatte, aber ihre Füße fühlten sich an wie dicke Eisklumpen, sie hatte kaum noch Gefühl darin. Wie ein Elefant im Porzellanladen stapfte sie durch die Hütte, rieb und hauchte sich immer wieder in die Hände, um auch die zu wärmen, als es über ihr zu krachen begann und die Hälfte des Daches neben ihr einstürzte. Aufschreiend und sich die Ohren zuhaltend sackte sie in sich zusammen, kniete wippend auf dem Boden und betete, dass alles ganz schnell gehen und sie es dann hinter sich haben würde. Wie im Zeitraffer liefen die letzten Momente ihres Lebens vor ihrem inneren Auge ab.
»Jana? Alles okay?«
Die Stimme schien direkt vor ihr zu sein und doch Kilometer weit weg. Sie war wie erstarrt, konnte sich weder bewegen noch irgendetwas sagen. Plötzlich legten sich Hände auf beide ihre Schultern, rüttelten sie leicht und sie kam zur Besinnung, hob ihren Kopf und blickte direkt in Marios besorgtes Gesicht. »Es ist alles gut, nichts passiert. Okay?«
Sie blickte sich um, während er ihr auf die Beine half. Nichts passiert? Das war leicht untertrieben. Die Hälfte des Daches war eingestürzt und hatte die Hütte quasi erneut halbiert. Überall lag Holz, Schutt und Schnee. Nur noch ein kleiner Teil der Küche, der Kamin und das Bett waren übrig.
Zitternd kam sie auf die Beine – zitternd vor Kälte, zitternd vor Angst. Noch so einen Einsturz würden sie wahrscheinlich nicht unbeschadet überstehen. Der nächste würde sie unter sich begraben – begraben unter Massen von Schnee und Schutt, ohne dass jemand wusste, wo sie waren, ohne eine Chance, jemals gefunden zu werden.
Sollte es das gewesen sein? Sollte das tatsächlich ihr Leben gewesen sein? Sie sah Mario an, wusste nicht, ob sie wütend, traurig oder ängstlich sein sollte, wusste nur, dass das nicht alles gewesen sein durfte. Sie war zu jung zum Sterben, sie waren beide zu jung, und sie wollte nicht, dass es so zu Ende ging. Sie hatte doch noch so viel vor sich, wollte noch so viel erleben, sehen und vor allem fühlen. Sie wollte nicht hier sterben, ohne wirklich gelebt zu haben. Ohne weiter groß nachzudenken, griff sie nach dem Kragen seiner Jacke, zog ihn zu sich und küsste ihn. Irritiert und überrumpelt riss er die Augen auf, sah sie an, sah die Verzweiflung in ihren Zügen, packte ihre Handgelenke und drückte sie von sich. Schwer atmend sah sie ihn an und er schüttelte den Kopf.
»Was ist? Willst du es etwa nicht?«, fragte sie leise.
Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter, als er erkannte, was sie vorhatte und er musste sich schütteln, bevor er fast heiser sagte: »Das ist weder der richtige Ort, die richtige Zeit, noch sind es die richtigen Beweggründe. Du würdest es nur bereuen.«
»Und wenn wir nicht die Zeit haben, es zu bereuen? Warum denkst du jetzt so viel nach? Was hast du schon zu verlieren?«
Er sah das Feuer in ihren Augen, ihren flehenden Blick, ihre wohlgeformten Lippen und doch wollte und konnte er das nicht. »Jana, bitte! Hör auf!«
»Ich will nicht sterben ohne zu wissen, wie es wirklich ist.«
»Du wirst nicht sterben. Hörst du? Wir werden weder hier noch heute sterben.«
»Und wenn doch? Bitte, ich will es wissen«, flehte sie und biss sich stöhnend auf die Lippe.
Er ließ ihre Hände los, wusste, wie falsch das war, aber sie hatte doch auch recht. Was hatte er schon zu verlieren? Schlimmer konnte es ja kaum werden. Er fasste sie im Nacken, zog sie näher zu sich und küsste dieses Mal sie.
»Nicht, dass du dir jetzt falsche Hoffnungen machst. Das gerade ändert rein gar nichts«, sagte sie leise, während sie auf der Bettkante saß und sich erst ihr Top, dann den Pulli und schließlich ihre Jacke überzog.
»Sieh mich an!« sagte er ruhig, aber bestimmend, allerdings rührte sie sich nicht. »Bitte, Jana, sieh mich an!« Das Licht flackerte kurz und verdächtig auf, beruhigte sich kurz, bevor es erneut aufflackerte und schließlich ganz den Geist aufgab. Die Dunkelheit kam ihr mehr als recht, so konnte sie die Tränen verbergen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten und langsam ihre Wangen hinunterliefen. »Du bereust es bereits«, stellte Mario traurig fest und richtete sich ebenfalls auf, bis er neben ihr saß.
»Das ist es nicht …«
»Und warum kannst du mich dann nicht ansehen? Sag es mir, bitte!«
Sie schwieg einen Moment, atmete tief ein und aus und sagte schließlich: »Weil ich die ganze Zeit daran denken musste und mich gefragt habe, ob es mit ihr genauso war?«
Auch wenn sie sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie, dass er sie fassungslos ansah. Es dauerte eine recht lange Zeit, bis er endlich etwas sagte: »Ich kann dich ja verstehen, dass du enttäuscht und wütend bist, aber können wir das nicht einfach hinter uns lassen und von vorne anfangen?«
Sie holte erneut tief und lange Luft, denn das war genau das, worüber sie auch schon einige Male nachgedacht hatte, und sagte schließlich: »Ich wünschte, ich könnte das, aber ich glaube nicht, dass ich das schaffe.« Ohne seine Antwort abzuwarten, stand sie auf. Einerseits wollte sie nicht mehr auf dem Bett sitzen, aus Angst, dass er sie berühren würde und andererseits war ihr so furchtbar kalt. Suchend tastete sie sich vorwärts. Da sich ihre Augen noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stieß sie gegen den Stuhl, auf dem Mario vorhin noch gesessen hatte, woraufhin sein Handy vom Sitz rutschte und zu Boden fiel. Das Licht des Displays hüllte den Raum in ein schwaches Licht.
»Tut mir leid«, sagte sie und bückte sich, um es wieder aufzuheben, als es erneut direkt über ihr zu krachen und knacken begann.
Gerade als sie nach oben sehen wollte, kam ihr auch schon die Decke entgegen.
»Weg da!«, schrie Mario, sprang vom Bett auf und riss sie beiseite, bevor die schweren Holzbalken über ihr einstürzten.
Im gleichen Moment erstarb das Display des Smartphones, die Dunkelheit erlangte die Oberhand zurück.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Jana realisierte, was gerade passiert war. Mario hatte sie so abrupt beiseite gestoßen, sodass sie gegen irgendetwas Hartes geprallt und zu Boden gestürzt war. Mühselig versuchte sie, sich aufzurappeln, doch steckte ihr Fuß fest. Sie streckte ihre Hand nach dem Hindernis aus, bis sie mit den Fingerspitzen an Holz stieß. Ihr Fuß schien zwischen zwei Balken festzustecken. Vorsichtig drehte sie ihr Bein etwas nach innen, streckte den Fuß, so weit es eben ging, nach vorn und zog ihn zwischen den Scheiten hervor. Zum Glück war ihr nicht mehr passiert. Plötzlich stockte ihr der Atem.
»Mario? Alles in Ordnung?«, fragte sie mit zittrig leiser Stimme in die Dunkelheit hinein, doch bekam sie keine Antwort. »Das ist nicht lustig. Bitte, Mario, sag etwas!«
Fast panisch tastete sie um sich, konnte aber außer Holz und Schnee nichts zu fassen bekommen. Oh Gott, lass ihm nichts passiert sein. Bitte!, flehte sie immer wieder.
Das Handy. Sie musste das Handy finden, dann konnte sie etwas Licht machen. Hilflos und ohne Orientierung kroch sie über den Boden, fand nach schier endloser Zeit den Stuhl, den sie umgestoßen hatte und darunter das Handy. »Bitte, geh an! Sei nicht kaputt. Geh einfach an!«, betete sie und drückte einen Knopf an der Seite.
Das grelle Licht des Displays blendete sie für einen kurzen Moment. In dieser pechschwarzen Dunkelheit schien die schwache Lichtquelle wie verloren, doch war sie ihre einzige Chance. Wie eine Taschenlampe hielt sie das Smartphone vor sich, konnte aber kaum dreißig Zentimeter weit sehen. Auf allen vieren krabbelte sie vorwärts, bis sie an die Stelle kam, wo Mario sie von den Füßen gerissen hatte. Im ersten Moment konnte sie außer Schnee und Schutt nichts erkennen, leuchtete immer wieder von rechts nach links und von oben nach unten. Dann entdeckte sie ihn, er lag auf der Seite unter einem Berg aus Dachbalken direkt vor ihr und regte sich nicht.
»Nein, nein, nein, nein, nein, bitte, Mario, sag was! Sag was!«
Sie legte das Handy neben sich auf den Boden, versuchte die Holzscheite, die kreuz und quer über ihm lagen, an die Seite zu räumen, musste aber ziemlich schnell feststellen, dass alles so dermaßen verkeilt war, dass sie nicht viel ausrichten konnte.
»Hör auf zu weinen! Mir geht’s gut!«, hörte sie endlich seine Stimme.
»Ich weine doch gar nicht.«
»Na dann scheint es zu regnen.«
Sie stockte kurz. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ihr Tränen über die Wangen liefen und von ihrem Kinn tropften. Schniefend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen, als das Licht erlosch und sie erneut eine Taste am Handy drücken musste.
»Wie viel Prozent hat es noch?«, fragte er mit kehliger Stimme.
»Sechzehn.«
»Dann schalt es lieber aus. Du wirst die restlichen Prozente bestimmt noch brauchen.«
»Wir. Hörst du! Wir werden sie noch brauchen. Aber solange wir dich da nicht raushaben, denke ich gar nicht daran.«
Mit dem Handy in der Hand betrachtete sie sich die Lage etwas genauer, doch schien sie ihr mit jeder Sekunde aussichtsloser zu sein. Es war wie Jenga oder Mikado, bewegte man den falschen Balken würde wahrscheinlich alles über ihm zusammenbrechen und das durfte nicht passieren.
»Kannst du dich irgendwie bewegen?«
Er stöhnte laut auf, als er es versuchte. »Nicht wirklich.«
Auf den Rücken konnte er sich nicht drehen, dazu war hinter ihm zu wenig Spielraum. Außerdem lag immer noch dieser große Balken quer über seiner Schulter und ein weiterer über seiner Hüfte. Sie blickte aufs Handy, wischte über das Display, damit das Licht nicht gleich wieder erlosch. Jetzt waren es nur noch knapp zehn Prozent, sie durfte keine Zeit mehr verlieren. Entschlossen stand sie auf, umfasste den vordersten Balken mit beiden Händen.
»Was hast du vor?«
»Wir brauchen nur ein paar Zentimeter. Dann kannst du dich auf den Bauch rollen und dich rausziehen!«
»Bist du irre? Das schaffst du nie!«
Ohne es nicht wenigstens versucht zu haben, wollte sie nicht aufgeben. Mit aller Kraft zog sie an dem Holzscheit, doch passierte rein gar nichts. Ein zweiter Versuch – doch wieder nichts. »Warum … warum geht das denn nicht?«, flehte sie mit Tränen in den Augen.
Sie setzte erneut an, zog mit Leibeskräften, schrie vor Anstrengung.
»Hör auf! Verdammt noch mal. Du tust dir nur weh!«, rief Mario durch ihren Schrei hindurch.
»Oh nein, ich gebe nicht auf, niemals … ahhhhhhhhhhhhhhhhhhh.«
Auch wenn er sie nur von der Seite sah, sah er die Entschlossenheit in ihren Augen, die Angst und Verzweiflung in ihren Zügen. Plötzlich merkte er, dass das Gewicht auf ihm geringer wurde, es war unglaublich, sie war gerade tatsächlich dabei, diesen schweren Balken anzuheben.
»Ahhhhhhhhhhh …«
Nicht nur der Balken über seinem Oberkörper schien sich zu bewegen, auch der Druck auf seiner Hüfte wurde geringer. Woher nur nahm sie diese Kraft?
Mit einem schmerzhaften Ruck bekam er seinen linken Arm frei, drehte sich auf den Bauch und robbte sich windend unter dem Haufen hervor, und das gerade noch rechtzeitig. Ihre Kraftreserven waren am Ende, sie konnte den Balken nicht mehr länger halten. Mit einem dumpfen Aufprall krachte er zu Boden. Die ganze Konstruktion über ihr wackelte gefährlich, doch blieb alles an der Stelle, wo es war.
Wie erstarrt hielt sie das kalte Holz noch immer in den Händen. Sie war unfähig, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Ihr war ganz schwarz vor Augen, alles drehte sich nur noch. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, in ihren Ohren hörte sie ihr Blut rauschen. Sie wusste weder, wo unten noch wo oben war, hatte nicht mal mitbekommen, dass Mario sich hatte befreien können. Erst als er seine Hand auf ihre Schulter legte und sie sanft zurückzog, wusste sie, dass er in Sicherheit war. Erleichtert und müde sah sie ihn lächelnd an, als ihre Beine unter ihr nachgaben, sie zur Seite kippte und er sie gerade noch auffangen konnte.
»Mensch, das hättest du echt nicht tun sollen!«, ermahnte er sie und setzte sie auf dem Bett ab.
»Ein einfaches Danke reicht auch«, sagte sie schwach.
»Musst du eigentlich immer das letzte Wort haben?«
»Du kennst mich doch.«
Sie fingen beide an zu lachen, doch bereute Mario das recht schnell – Schmerzen durchströmten ihn. Scheinbar ließ das Adrenalin gerade nach.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.
»Mir ging es zwar schon deutlich besser, aber ja, alles in Ordnung«, log er sie an, was seiner Meinung nach das Beste war, da sie sich ohnehin schon zu viel Sorgen machte.
Sie sah ihn einen Moment argwöhnisch an, bis plötzlich das Display erlosch und wieder alles in Dunkelheit hüllte.
»Nur noch sechs Prozent«, sagte er ruhig.
»Egal, reicht aus, um zu sehen, ob du verletzt bist.« Die aufsteigende Panik in ihrer Stimme war nur schwer zu überhören, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Du kannst es wohl kaum erwarten, mich wieder auszuziehen«, versuchte er die Situation etwas aufzulockern, als sie sich an seinem Pullover zu schaffen machte.
»Haha, sehr witzig. Oh verdammt …« Sie hielt inne, als sie das Ausmaß seiner Verletzungen sah. Sein linker Rippenbogen war übersät mit Schürfwunden und färbte sich langsam von Rot zu Blau. »Mann, warum hast du denn nichts gesagt!«
»Ist halb so wild!«
»Halb so wild?«, schrie sie ihn ungewollt an und fuhr vorsichtig mit ihren Fingern über seine Rippen, woraufhin er leicht zusammenzuckte und die Luft scharf zwischen den Zähnen einsog. »Und alles nur meinetwegen«, sagte sie leise und konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten.
»Nun beruhige dich doch, es ist wirklich nicht so schlimm. Vielleicht habe ich mir zwei oder drei Rippen gebrochen, aber wenigstens ist dir nichts passiert.« Behutsam strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und wischte ihr eine Träne weg. »Mach dir keine Sorgen, bitte!«
Das Handy piepste auf, jetzt waren nur noch fünf Prozent Akku übrig. Seufzend blickte er aufs Display und versteifte sich. »Verdammte Scheiße, wir haben Empfang!«
»Was?«
»Nur einen Balken, aber Empfang.«
Vier Prozent.
Mit zitternden Fingern versuchte er die Telefonapp zu öffnen, aber es wollte nicht funktionieren. Er drückte wie wild auf dem Display herum, bis sich das Tastenfeld endlich öffnete und er die 112 eingeben konnte.
»Bitte, bitte, halte durch«, betete Jana, während Mario mit angehaltenem Atem auf das Freizeichen wartete.
Drei Prozent.
Es klingelte nur ein einziges Mal, dann war nichts weiter zu hören als ein leises Rauschen. Er kontrollierte den Empfang, immer noch ein Balken. Warum kam er dann aber nicht durch? Frustriert legte er auf und wählte noch einmal. Wieder das gleiche Spiel – ein Klingeln, dann nur noch Rauschen. »Verdammt noch mal«, fluchte er und wollte erneut auflegen, als er eine leise Stimme hörte: »Hallo? Ist da jemand …« Die Stimme brach ab, wieder das Rauschen.
Zwei Prozent.
»Bitte, wenn da jemand ist, der mich hören kann: Bitte, helfen Sie uns. Wir sind in einer alten Jagdhütte in einem Waldgebiet in Laax zwischen dem Snow Dessert In und dem Sleeping Mountain Hotel gefangen. Schicken Sie Hilfe, bitte!«
Die Leitung brach ab.
»Arghhhh … So eine verfluchte Scheiße«, fluchte Mario ungehalten und wählte die 112 noch einmal.
Ein Prozent.
Dieses Mal hörte er nichts – kein Freizeichen, kein Besetztzeichen, kein Rauschen. Er nahm das Handy vom Ohr, blickte aufs Display. »Nein, nein, nein, nein, nein. Komm schon!«
Er wählte noch einmal, hörte, dass die Nummer angewählt wurde, doch dann schaltete sich das Handy ab, bevor er ein Freizeichen bekam. Der Akku war leer. Wütend knallte er sein Smartphone gegen die Wand – zumindest glaubte er, eine Wand getroffen zu haben.
»Meinst du, dass man die Nachricht gehört und verstanden hat?«, fragte Jana vorsichtig.
»Keine Ahnung. Jetzt heißt es wohl, abwarten«, antwortete er stöhnend und zog sich erst den Pulli und dann seine Jacke über.
Als er hörte, wie sie sich die Hände immer wieder aneinander rieb und diese anhauchte – nicht auszumalen, wie sehr sie frieren musste, wenn ihm schon so kalt war –, griff er nach der steifen Decke, legte sie um seine Schultern und zog sie blitzschnell zu sich in seine Arme.
»Hey, was …«
»Halt den Mund. Ich lasse dich doch hier nicht erfrieren«, schnitt er ihr das Wort ab, wickelte die Decke auch um sie und begann ihre Arme zu rubbeln. Sie war eiskalt und zitterte, ihre Hände fühlten sich an wie Eisklumpen. Die Lippen zu einem Schmollmund verzogen und mit angehaltenem Atem ließ sie sich gegen seine Brust sinken. Er war so warm, so schön warm. Sie fühlte sich plötzlich so geborgen wie schon lange nicht mehr, und das in seinen Armen und obwohl alles so merkwürdig war. Je länger sie in seinen Armen lag, desto entspannter wurde sie – desto müder wurde sie.
Wie lange wir wohl schon hier drin sind?, fragte sie sich, bevor der Schlaf sie übermannte.
»Jana, wach auf!« Mario rüttelte sie etwas unsanft aus dem Schlaf.
»Wasʼn los?«, brachte sie sehr verschlafen heraus.
»Vielleicht habe ich mich nur geirrt, aber ich glaube, da draußen ist jemand.«
Hä? Was redet der da? Draußen?
Mit einem Mal war sie hellwach. Sie waren ja noch immer in dieser verdammten Hütte, in dieser Eiseskälte. Sie spitzte die Ohren, doch war das Pochen ihres Herzens so laut, dass es alles andere einfach übertönte. Sie hielt den Atem an, versuchte sich zu beruhigen, aber es schien nichts zu helfen. Dann hörte sie es auch, hörte ein leises Knacken über sich, als ob jemand über frischen Schnee laufen würde, gefolgt von leisen Stimmen. Mario musste es ebenfalls gehört haben, wie aufs Stichwort begannen sie beide, laut zu rufen und zu pfeifen. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hin und her gelaufen, so aufgeregt war sie, doch war es dazu einfach viel zu dunkel.
Die Stimmen schienen lauter zu werden, schienen direkt über ihnen zu sein.
Hoffentlich hält die Hütte das aus, nicht, dass auch noch der Rest über uns einstürzt, und das nur Minuten, bevor wir gerettet werden, flehte sie innerlich, da das Knarzen und Knacken des Holzes immer lauter zu werden schien.
Plötzlich fiel ein Lichtstrahl, wie von einer Taschenlampe, ins Innere der Hütte, gefolgt von einer Stimme, die ihr so vertraut war, dass ihr ganz warm ums Herz wurde: »Jana? Seid ihr da unten?«, rief Sven atemlos.
Blitzschnell sprang sie vom Bett und lief zu dem Licht, dass vom Schornstein nach unten fiel. »Ja, wir sind hier«, rief sie mit tränenerstickter Stimme nach oben. Sie hatten sie gefunden, endlich. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Jetzt hieß es wirklich nur noch, Ruhe bewahren und durchhalten. Unruhig lief sie auf den wenigen Metern, die noch geblieben waren, auf und ab, bis Mario sie an der Hand packte und zurück aufs Bett zog. »Sie wissen, dass wir hier sind, jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit. Also komm runter und leiste mir noch etwas Gesellschaft!«
»Ich kann nicht. Tut mir leid«, sagte sie und stieß ihn sanft beiseite.
»Was kannst du nicht? Runterkommen und dich beruhigen oder mir Gesellschaft leisten?«
Sie trat einen Schritt zurück und wandte sich von ihm ab. Sie konnte ihn jetzt einfach nicht ansehen. Seit sie hier gefangen waren, seit sie all das zusammen hatten durchstehen müssen, hatte sie sich immer wieder nur eine Frage gestellt: Gibt es nicht doch vielleicht eine zweite Chance für uns? »Beides«, gab sie leise und traurig zu. Neu anfangen, bei null anfangen, einfach so tun, als ob nichts geschehen wäre. Sie hatte es versucht, hatte sich wirklich Mühe gegeben, nicht daran zu denken, doch war das leichter gesagt als getan. Sie konnte die Bilder einfach nicht abschütteln, konnte es nicht vergessen, konnte nicht so tun, als wäre das alles nie passiert.
»Es hat sich also wirklich nichts geändert?«, fragte er und riss sie aus ihren Gedanken.
Sie schüttelte langsam den Kopf, da sie das Nein wohl nicht ohne zu zittern über ihre Lippen gebracht hätte, und auch wenn er ihre Geste nicht deutlich sehen konnte, wusste er es. »Warum?«
»Oh bitte, Mario, lass es doch einfach gut sein!«
»Nein, die Antwort schuldest du mir! Also warum? Warum gibst du uns nicht eine zweite Chance?«
»Weil ich dir einfach nicht mehr vertrauen kann und auch nicht weiß, ob ich es überhaupt jemals wieder könnte«, sagte sie ohne Umschweife.
Er sagte kein Wort, versuchte nicht mal, sie vom Gegenteil zu überzeugen, nahm es scheinbar einfach so hin. Zu gerne hätte sie gewusst, was er jetzt dachte, wie er sich jetzt fühlte, doch auch sie schwieg, sie traute sich nicht, ihn danach zu fragen. Vielleicht hatte sie nur das ausgesprochen, was sie beide wussten, aber vielleicht hatte sie ihm mit dieser Wahrheit auch einfach nur wehgetan.
Die Minuten waren schlimmer auszuhalten, als die vergangenen Stunden zuvor. Nicht nur, weil sich nichts zu tun schien, obwohl man sie gefunden hatte, sondern auch, weil das Verhältnis zwischen Mario und ihr auf einen Schlag und mit nur einem einzigen Satz so kalt geworden war wie der Schnee zu ihren Füßen, vielleicht sogar noch viel, viel kälter. Keiner von beiden sagte auch nur ein weiteres Wort.
Dann endlich schien sich etwas zu tun, immer mehr Licht drang durch das eingestürzte Dach, bis schließlich ein Feuerwehrmann die Decke aus Schnee und Schutt durchbrach. Der Schein der Taschenlampe, mit der er den übrig gebliebenen Rest der Hütte zu erkunden schien, tat ihr in den Augen weh und sie hob schützend die Hand vor ihr Gesicht. »Wir werden Ihnen gleich einen Gurt runterlassen, mit dem wir Sie nach und nach hochziehen«, rief der Mann ihr zu und warf nur Sekunden später besagten Gurt nach unten.
»Du zuerst«, meinte Mario, stand plötzlich hinter ihr und legte ihr bereits das Seil um.
»Aber du bist verletzt! Du solltest …«
»Was ich sollte, ist ganz alleine meine Sache. So wolltest du es doch. Außerdem heißt es doch immer: Ladys First.«
»Ich …«, fing sie an, als er ihr abrupt das Wort abschnitt.
»Lass es gut sein! Keine Erklärungen mehr, okay?! Du hast deinen Standpunkt mehr als deutlich gemacht. Und jetzt halt dich fest und lass dich hier raus ziehen!«, sagte er und gab dem Feuerwehrmann ein Zeichen.
Sie suchte seinen Blick, doch wich er ihr aus. Hatte sie ihn wirklich so sehr getroffen mit ihrer Abfuhr? War er verletzt oder einfach nur enttäuscht? Es war zum Verrücktwerden, dass er nicht einfach sagte, was er dachte, erklärte, was in ihm vorging … Aber tat sie das denn?
Allmählich verlor sie den Boden unter den Füßen und das nicht nur in körperlicher Hinsicht. Warum nur musste das Leben so furchtbar kompliziert sein? Oder war sie es vielleicht, die alles immer nur verkomplizierte?
Die Hälfte der Strecke hatte man sie bereits nach oben gezogen, gleich wäre sie endlich hier raus und in Sicherheit, endlich wieder im Warmen und Trockenen, endlich wieder bei ihren Freunden und endlich wieder bei …
Ein fürchterlicher Schlag direkt über ihr riss sie aus ihren Gedanken, sie sah nach oben und konnte gerade noch dem Balken ausweichen, der auf sie zuraste. Das Dach, oder das, was noch davon übrig war, ächzte immer mehr unter der meterdicken Schneelast. Es würde nicht mehr lange standhalten, bis es endgültig einbrechen und alles unter sich begraben würde.
»Mist, das Seil hängt fest«, hörte sie den Feuerwehrmann rufen und sah nach oben.
War das ihre Schuld? Hatte es sich verkeilt, weil sie dem Balken ausgewichen war? Die Männer oben zogen und zerrten, doch bewegte sie sich keinen Millimeter mehr, dafür brachten sie aber das Holz zum Wanken.
»Nimm meine Hand und dann lös den Gurt!«, rief Sven unter nicht weniger lautem Protest der Feuerwehrmänner und beugte sich so weit wie möglich zu ihr runter.
Sie streckte sich nach oben, konnte aber nur die Spitzen seiner Finger erreichen. »Ich komme nicht dran!«
Auch die weiteren Versuche endeten im Leeren, es fehlten nur wenige Zentimeter, bis sie plötzlich etwas unter ihren Füßen spürte und irritiert nach unten sah. Mario hatte sich so unter sie gestellt, dass sie ihre Füße auf seine Schultern stellen konnte. So hatte sie nicht nur einen festen Stand, sondern erreichte Svens Hand ohne Probleme, der sie nur Augenblicke später in die Freiheit zog.
»Bring sie hier weg! Wir kümmern uns um den Rest«, rief einer der Feuerwehrmänner, während Sven sie in seinen Armen hielt.
»Komm«, sagte er nur, nickte seinem Kollegen zu, legte einen Arm um ihre Schulter und führte sie weg von der Einsturzstelle. »Eigentlich müsste ich dich ja übers Knie legen.« Sein Tonfall war ernst, aber auch amüsiert, was sein Lächeln, das sie aus den Augenwinkeln heraus deutlich sehen konnte, bestätigte. Weniger amüsiert sahen aber die Personen aus, auf die sie zugingen; Hongo, Maier und Izzy standen nur wenige Meter entfernt unter einem Scheinwerfer.
»Ich glaube, da solltest du dich hinten anstellen«, meinte Jana seufzend und stellte sich innerlich bereits auf eine Moralpredigt ein, als ein ohrenbetäubendes Geräusch sie zusammenfahren ließ. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um und sah, wie an der Stelle, wo man sie eben noch herausgezogen hatte, plötzlich alles in sich zusammenbrach und einstürzte.
»NEEEEIIIINNN«, schrie sie mit schreckgeweiteten Augen, riss sich aus Svens Armen und wollte zurücklaufen, doch Sven konnte sie gerade noch rechtzeitig an der Hüfte packen und hielt sie fest umarmt.
Nicht mal dreißig Sekunden später war es totenstill um sie herum, alle starrten nur entsetzt auf die Unglücksstelle. Panisch blickte sich Jana um, sah die Feuerwehrmänner und Polizisten, nur Mario sah sie nicht. Hatte man ihn retten können, bevor alles eingestürzt war, oder war er immer noch da unten?
»Wo ist er?«, schrie sie so laut, dass es ihr selbst in den Ohren wehtat. Alle Augen schienen jetzt auf sie gerichtet, doch wollte oder konnte ihr niemand antworten. »Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein. Holt ihn da raus! Holt ihn sofort da raus!«, schrie sie erneut, wand sich aus Svens Armen und lief zu der Stelle, wo eben noch das rettende Loch gewesen sein musste. Doch da war nichts. War es doch woanders? Plötzlich sah alles gleich aus, überall lag Schnee – Schnee und noch mehr Schnee. Panisch blickte sie nach links und rechts, schüttelte hilflos den Kopf, ließ sich auf die Knie fallen und begann wie wild im Schnee zu graben. »Jetzt macht schon, helft mir! Verdammt noch mal.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flehen. Heiße Tränen liefen ihr die Wangen hinunter und tropften auf ihre Hände, ihre Finger waren bald so taub von der Kälte, dass sie nicht mal bemerkte, dass sie sich bereits die Fingerkuppen blutig gegraben hatte.
»Hör auf!«, drang Svens Stimme an ihre Ohren, bevor er sie erneut packte und in seine Arme zog.
»Lass mich los! Ich muss ihn da rausholen. Bitte!«, schluchzte sie.
»Hey, beruhig dich! Sieh doch, sie tun alles, was in ihrer Macht steht, okay? Du kannst rein gar nichts tun!«
Sie stand völlig unter Schock, zitterte am ganzen Leib und rührte sich dennoch keinen Zentimeter von der Stelle. Nur mit viel Mühe schaffte es Sven schließlich, sie zu einem der Schneemobile zu bringen, wo sie sich setzen und man ihr eine Decke überlegen konnte, was sie aber nicht wirklich mitbekam. Sie hörte weder Hongos Stimme, noch spürte sie Izzys stürmische Umarmung, sie starrte einfach nur wie in Trance zu den grabenden Männern. Nichts hatte in diesem Augenblick eine Bedeutung, nichts, außer dem Wunsch, dass man ihn fand, dass man ihn lebend aus dieser Hölle herausbringen würde – zu ihr. Bitte sei am Leben, bitte, bitte, bitte, sei am Leben!, flehte sie immer und immer wieder, während sie nichts weiter hörte als das Rauschen ihres Blutes.
Obwohl nicht mal zehn Minuten vergangen waren, hatte sie das Gefühl, schon seit Stunden auf ein Lebenszeichen zu warten. Sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben, nicht solange auch nur eine noch so kleine Möglichkeit bestand, dass sie ihn wiedersehen würde, dass sie ihn …
»Wir haben ihn!«
Konnte das tatsächlich sein? Hatte man ihn wirklich gefunden, ihn gerettet? Ihr Herz schlug so laut, dass es ihr in den Ohren dröhnte. Sie schloss die Augen, um sich etwas zu beruhigen, schloss sie für einen kurzen Moment, und als sie sie wieder öffnete, sah sie ihn. Er stand auf seinen eigenen Beinen und hielt sich seine linke Seite. Er war verletzt, aber am Leben, er war tatsächlich noch am Leben.
Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie aufgestanden war, sie lief auf ihn zu und warf sich in seine Arme. Sein schmerzhaftes Aufstöhnen war das schönste Geräusch, dass sie jemals gehört hatte. »Ich dachte, ich hätte dich verloren«, schluchzte sie abgehackt.
»Und ich dachte, es hätte sich nichts geändert?«
»Hat es auch nicht, aber lass uns ganz einfach von vorne anfangen und alles, was war, einfach vergessen!«
Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte er sie fragend an, das Lächeln auf seinen Lippen wurde breiter. »Das hätte auch von mir sein können.«
»Blödmann!«, sagte sie, ebenfalls lächelnd und er wusste, dass sie es wirklich ernst meinte. »Und jetzt küss mich endlich, bevor ich es mir doch noch anders überlege!«
Er packte sie leicht im Genick, zog ihren Kopf ein wenig nach hinten und küsste sie leidenschaftlich.