Читать книгу Liebe ist Schicksal - Nikki Deed - Страница 6
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Оглавление»Wie, wir waren nur knapp zehn Stunden eingesperrt?« Sprachlos ließ sich Jana gegen die Lehne des Sofas fallen und starrte ungläubig auf die große Uhr, die gegenüber dem Wartebereich des Krankenhauses an der Wand hing. Außer der Prellung ihres Fußes und einer leichten Unterkühlung hatten die Ärzte bei ihr keinerlei Verletzungen feststellen können, sodass ihre Untersuchung nicht einmal zehn Minuten gedauert hatte und man sie nicht stationär hatte aufnehmen müssen, Mario hingegen war noch immer im Behandlungszimmer. »Ich hätte schwören können, dass wir mindestens zwei Tage in dieser Hütte festgesessen haben.«
»Da hat dich dein Gespür aber wirklich im Stich gelassen«, grinste Izzy und nahm neben ihr Platz.
»Aber wie ist das alles überhaupt möglich? Ich meine … ach, ich weiß auch nicht. Ich bin einfach nur total verwirrt und durcheinander gerade.«
»Deine oder besser gesagt eure Rettung habt ihr in erster Linie Sven zu verdanken. Nach seinem Einsatz hatte er sich vergewissern wollen, ob es dir gut geht und ob du sicher im Hotel angekommen bist – wir hatten bis dahin gar nicht gemerkt, dass du weg warst … na ja. Als er dich nicht gefunden hat und dich auch nicht auf deinem Handy erreichen konnte, hat er wohl eins und eins zusammengezählt und sofort eine Suchmeldung rausgegeben. Wir haben erst gedacht, dass er übertreibt, aber schließlich hatte er doch den richtigen Riecher und als dann auch noch Marios Notruf eingegangen ist, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis man euch gefunden hat. Oh Mann, du hast uns allen einen riesen Schrecken eingejagt. Wir wollten es nicht wahrhaben, dass du da irgendwo unter meterweise Schnee begraben liegst und wir dich womöglich nie lebend wiedersehen würden. Und dann bist du ausgerechnet mit der Person, die dir das Herz gebrochen hat, in dieser Hütte verschüttet. Das ist doch irre, einfach nur komplett irre.«
»Das kannst du laut sagen!«
»Was habt ihr überhaupt die ganze Zeit gemacht?«
Jana hatte plötzlich das Gefühl, ertappt worden zu sein und rutschte unruhig hin und her. »Das willst du gar nicht wissen.« Noch bevor sie den Satz ausgesprochen hatte, wusste sie, dass das genau das Falsche gewesen war und Izzy jetzt nur noch neugieriger werden würde, was auch zutraf. Argwöhnisch und mit hochgezogener Augenbraue beäugte Isabell ihre Freundin, die noch immer in eine Decke eingehüllt neben ihr saß.
»Irgendwas ist da unten mit euch passiert. Du siehst irgendwie total verändert aus.«
»Ach Blödsinn, du siehst Gespenster. Wir haben uns fast nur gestritten und angeschrien, mehr war da nicht«, versuchte sie, Izzy zu überzeugen, spürte aber, wie sie allein bei dem Gedanken an die Zeit rot anlief.
»Ach du je, ihr habt doch nicht etwa miteinander geschla…«
Weiter kam sie nicht, da Jana ihr eine Hand vor den Mund presste und sich mit der anderen einen Zeigefinger an ihre Lippen legte: »Bist du verrückt, dass so laut herumzuschreien?«, sagte sie leise und sah sich peinlich berührt um, musste dann erkennen, dass Hongo und Maier, die sich gerade mit Sven und einem Arzt unterhalten hatten, sie fragend anstarrten, was ihr nur noch mehr Röte ins Gesicht trieb. »Mensch, sei leise. Das muss doch nicht gleich die ganze Welt erfahren!«
Izzy hielt sich vor neugieriger Spannung die Hände vor den Mund und kicherte leise: »Ihr habt also wirklich … Und, wie war es?«
Jana rollte mit den Augen, wusste aber, dass Izzy nicht klein bei geben würde, bis sie nicht alles und jedes Detail erfahren hätte, und sagte schließlich: »Was soll ich sagen? Keine Ahnung, würde es wohl am ehesten beschreiben.«
Izzy runzelte die Stirn: »Hä? Du weißt nicht, wie es war? Du musst doch wissen, ob es schön war oder doch ganz furchtbar, hat es Spaß gemacht oder eher wehgetan? Mensch Jana, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
»Mann, ich habe doch wirklich nicht die besten Vergleichsmöglichkeiten. Ich weiß also nicht, wie es hätte sein sollen. Es ist einfach so passiert. Auf der einen Seite war es schon ganz schön, aber auf der anderen Seite auch irgendwie komisch. Verstehst du, was ich meine?«
»Nein, absolut nicht. Manchmal bist du echt ein Buch mit sieben Siegeln. Hattest du wenigstens einen Orgasmus?«
Fassungslos schnappte Jana nach Luft, Izzy war wirklich immer so wahnsinnig direkt und nahm absolut kein Blatt vor den Mund. Jana zuckte nur mit den Schultern.
»Ist das jetzt wieder ein ›Keine Ahnung‹, oder willst du es mir nicht verraten?«, fragte Isabell frustriert.
»Warum bist du nur so neugierig? Ich weiß es echt nicht genau.«
»Oh Mann, Jana, so was weiß man doch! Hattest du nicht das Gefühl, dass tausend Schmetterlinge in deinem Bauch umherflattern würden?«
»Du tust ja gerade so, als ob du absolut die Ahnung hättest«, meinte Jana und sah mehr als überrascht Izzys hochgezogene Augenbrauen. »Echt jetzt? Wann hast du denn …«
»Weißt du, als ich zur Reha war, gab es da diesen total megatollen und verboten gutaussehenden Therapeuten und da ist es irgendwann passiert. Wir haben uns echt gerngehabt, aber als meine Mutter das rausgefunden hat, hat sie mich nach Hause geholt und mich von so einer vertrockneten Staubmumie therapieren lassen.« Fassungslos starrte Jana ihre Freundin an, bis diese schließlich fragte: »Was? Hast du mir sowas etwa nicht zugetraut?«
»Ehrlich? Nein, eigentlich nicht … aber irgendwie doch … ach, keine Ahnung. Sind heute etwas viele Informationen. Habt ihr wenigstens noch Kontakt?«
»Klar, was denkst du denn? Wenn Chris nächsten Monat Urlaub hat, kommt er mich besuchen, dann kannst du ihn auch kennenlernen, und dreimal darfst du raten, was wir dann die ganze Zeit machen werden? Glaub mir, Sex ist wirklich der Wahnsinn.«
»Wenn du das sagst!«
»Das wirst du schon noch feststellen, glaub mir. Immerhin bist du ja jetzt wieder mit Mario zusammen, oder?«
»Ja, wir probieren es einfach noch mal, wollen ganz von vorne anfangen, ohne die Vergangenheit.«
»Das freut mich für dich, für euch. Ich wüsste nur nicht, ob ich das könnte.«
»Behalte es bitte für dich, ja? Mir geht es nicht anders. Die Bilder kommen immer wieder hoch, aber wenn das mit uns etwas werden soll, muss ich lernen, damit umzugehen oder es zu vergessen, sonst funktioniert das nicht.«
»Ihr schafft das schon, nein, du schaffst das schon. Wenn es einer verdient hat glücklich zu werden, dann du. Glaub mir! Und was den Sex betrifft, musst du nur das nächste Mal den Kopf abschalten und es einfach genießen! Alles andere kommt von ganz alleine.«
Keine halbe Stunde später war auch Marios Untersuchung abgeschlossen und auch er durfte das Krankenhaus verlassen, wenn auch gegen den Wunsch der Ärzte. Neben den zwei gebrochenen Rippen hatte er sich zusätzlich einen Haarriss im fünften Halswirbelkörper zugezogen, was bedeutete, dass er mindestens ein halbes Jahr lang keinen Sport betreiben durfte, um Folgeschäden zu vermeiden. Obwohl die Fahrt zurück ins Hotel nicht allzu lange dauerte, schlief Jana unterwegs ein, so müde war sie. Sie bekam nicht einmal mit, dass sie einen kurzen Zwischenstopp in Marios Hotel einlegten, wo er zusammen mit Izzy schnell seine Sachen zusammenpackte. Herr Hongo hatte ihm ein Zimmer in ihrem Hotel organisiert, damit sie die restlichen Tage alle gemeinsam verbringen konnten.
»Hey Kleines, aufwachen! Wir sind da!«, weckte Mario Jana sanft und küsste sie auf die Wange.
Verschlafen und verträumt trottete sie zusammen mit Hongo, Maier, Mario und Izzy auf die Lobby des Hotels zu. Als sie merkte, dass Sven ihnen nicht mehr folgte, blieb sie stehen und drehte sich fragend zu ihm um. »Kommst du nicht mit?«
Er schüttelte den Kopf und meinte: »Ich muss zurück. Leider. Ich wollte nur sichergehen, dass du dieses Mal auch wirklich gut ankommst.«
»Wir gehen schon mal rein, dann kannst du dich in Ruhe von ihm verabschieden«, flüsterte Mario ihr ins Ohr, küsste sie flüchtig auf den Mund und folgte dem Rest der Truppe ins Warme.
»Ist er der richtige oder der einfache Weg?«, fragte Sven, als alle anderen außer Hörweite waren und trat langsam auf sie zu.
Sie schwieg einen kurzen Moment, ganz so, als ob sie wirklich über die Frage nachdenken musste, meinte aber schließlich: »Worauf willst du hinaus?«
»Ich möchte nur wissen, ob du dir wirklich sicher bist und keinen Fehler machst.«
»Es wäre ein Fehler, wenn wir es nicht noch einmal versuchen würden. Ja, es ist viel passiert, und ja, das wird nicht leicht werden, zumindest nicht für mich. Aber ich möchte es versuchen.«
»Dann liebst du ihn also noch?«
Sie wollte so gerne »Ja« sagen, brachte dieses kleine unscheinbare Wort aber nicht über die Lippen und sah nur zu Boden.
»Ich drücke dir alle Daumen und wünsche dir nur das Beste. Aber du solltest dir wirklich sicher sein. Überleg dir, was du willst und was richtig und was einfach ist. Vielleicht solltest du doch noch mal mit dem anderen reden, auch wenn es nur ein einziger Kuss war.«
»Wie meinst du das?«
»Finde es heraus!« Ohne ein weiteres Wort der Erklärung nahm er sie in die Arme, drückte sie fest an sich und küsste sie auf beide Wangen, bevor er sich umdrehte und schließlich ging.
»Sven, du kannst mich doch nicht einfach so stehen lassen«, rief sie ihm hinterher, doch hob er nur die Hand und winkte ihr zu. Na ganz toll, was nur hatte er damit gemeint, und wie konnte er so etwas in den Raum stellen und dann einfach verschwinden? Vielleicht solltest du doch noch mal mit dem anderen reden … Aber wieso? Wieso, wieso, wieso? Wusste Sven etwas, das sie nicht wusste, oder hatte er etwas mitbekommen, das ihr entgangen war? Das konnte doch unmöglich sein. Er hatte doch schließlich keine Ahnung, dass es sich bei dem anderen um Ralf handelte, oder etwa doch? Sie raufte sich die Haare. Sie war so verwirrt, so furchtbar durcheinander.
Sie sah ihm noch eine Weile nach, in der Hoffnung, dass er zurückkehren und ihr eine Antwort geben würde, doch ging sie schließlich ebenfalls in den Speiseraum, wo schon die anderen mit dem Essen warteten. Einerseits hatte sie einen Bärenhunger, dann aber brachte sie keinen Bissen hinunter, sie bekam den Kopf einfach nicht frei. Während sie lustlos auf ihrem Teller herumstocherte, sah sie immer wieder zu Ralf hinüber und suchte beinahe verzweifelt nach irgendetwas in seinem Blick, in seiner Mimik, irgendetwas, das Svens Aussage unterstützen mochte.
»Alles in Ordnung? Du bist irgendwie so abwesend«, fragte Mario plötzlich und holte sie in die Realität zurück.
»Ja, ja, alles okay, ich bin nur total im Eimer.« Auch wenn das nicht die ganze Wahrheit war, gelogen war es zumindest auch nicht.
»Nicht nur du. Lass uns einfach ins Bett gehen!« Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und streckte ihr seine Hand entgegen. Zögernd sah sie sich um und kam sich mit einem Mal so klein und dumm vor. Wovor hatte sie denn Angst? Hoffte sie etwa auf etwas, das sowieso nie eintreffen würde? Ihr Blick fiel auf Hongo, der ihr freundlich zunickte. »Kommst du?« Sie sah Mario an, der noch immer neben ihr stand und ihr noch immer seine Hand entgegenstreckte und sie ergriff sie.
»Schlaft gut«, kicherte Izzy leise und Jana spürte, wie sie rot anlief.
Nichts anmerken lassen, ja nichts anmerken lassen, versuchte sie sich zu beruhigen, zuckte aber unwillkürlich zusammen, als ihr Mario den Arm um die Hüfte legte und sie etwas näher an sich zog. Dabei fiel ihr Blick auf Ralf, der sie scheinbar beobachtete. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, auch er nickte ihr kurz und freundlich zu, wandte sich aber sogleich wieder ab.
»Na komm schon! Worauf wartest du noch?«, meinte Mario leicht ungeduldig und zog sie mit sich.
Sie hatten sich gerade vom Tisch abgewandt, als Jana das Gefühl hatte, seinen Blick im Rücken zu spüren. Doch was sollte sie tun? Stehen bleiben und sich umdrehen, in der Hoffnung, dass es tatsächlich so war, um dann feststellen zu müssen, dass sie sich doch geirrt hatte? Mit seiner letzten Aussage hatte Sven ihr so einen fatalen Floh ins Ohr gesetzt, dass sie nicht mehr wusste, was sie wollte, oder besser gesagt, wen sie wollte. Warum nur suchte sie so krampfhaft nach einem Anzeichen? Machte ihr die Sache mit Mario doch mehr Angst, als sie glaubte?
Nach einem kurzen Zwischenstopp in ihrem Zimmer, wo sie schnell ein paar Sachen zusammen sammelte, erreichten sie schließlich Marios neues Zimmer, das nur eine Etage über ihrem lag, doch kaum hatte Mario die Tür hinter sich geschlossen, versteifte sie sich.
»Ist wirklich alles in Ordnung? Du verhältst dich irgendwie anders als vorhin, irgendwie so abweisend. Kann es sein, dass du jetzt doch wieder unsicher bist?«
Oh Mann, warum war sie immer wieder so leicht zu durchschauen? Sie lächelte ihn gequält an und versuchte, die richtigen Worte zu finden: »Nein, das ist es nicht. Wirklich. Ich bin mir noch genauso sicher wie vorhin, glaub mir!«
»Und was ist es dann?«
»Ich habe Angst, dass das alles zu schnell geht. Ich möchte eben nur nichts überstürzen.«
Er atmete erleichtert auf, sah sie aber irritiert an und fragte: »Glaubst du etwa, dass ich dich nur mit auf mein Zimmer genommen habe, um gleich wieder über dich herzufallen?«
»Hast du nicht?«
»Was denkst du denn von mir? Klar würde ich liebend gerne wieder mit dir schlafen, aber wir haben doch alle Zeit der Welt, oder?«, sagte er und musste lachen. Als er ihr sanft über die Wange streichelte und ihr einen flüchtigen Kuss gab, atmete sie erleichtert auf und ließ sich aufs Bett fallen. »Aber ein wenig fummeln ist doch erlaubt?«, fragte er und setzte sich neben sie.
* * *
Noch bevor die Sonne am nächsten Morgen aufgegangen war, erwachte Jana aus total verworrenen Träumen. Ohne Mario aufzuwecken, der immer noch seelenruhig neben ihr schlief, stand sie auf, zog sich den leichten Morgenmantel über und trat ans Fenster. Der Ausblick von diesem Zimmer aus war überwältigend, vor allem, weil der Himmel in einem so bezaubernden Rot schimmerte, dass sie Raum und Zeit einfach für einen Moment vergaß. So verträumt, bemerkte sie nicht, dass Mario ebenfalls erwacht war und sie nun beobachtete, bis er ebenso leise wie sie zuvor aufstand, zu ihr hinüberging und seine Arme um sie legte. Da das so unerwartet kam, zuckte sie leicht zusammen.
»Wunderschön, nicht?«, sagte sie leise, als er ihren Nacken küsste.
»Oh ja, wunderschön, aber du bist tausend Mal schöner«, flüsterte er ihr ins Ohr, löste den Gürtel des Mantels und schob seine Hände unter ihr Shirt.
Oh mein Gott, was hat er vor? Er will doch nicht etwa … hier … jetzt?, dachte sie fast panisch und hielt die Luft an. Wollte sie es denn auch? Sollte sie ihn aufhalten, oder würde sie ihn dann nur wieder vor den Kopf stoßen? Sie wusste nicht, wo ihr der Kopf stand, so viele Fragen waren ihr so plötzlich in den Sinn gekommen. Was hatte Izzy noch gleich gesagt? Kopf abschalten und genießen? Aber war sie überhaupt schon wieder bereit für das, was kommen würde?
Mario nahm nicht wirklich wahr, in welchem Dilemma sie sich gerade befand. Streichelnd fuhr er ihren Bauch hinauf und hinunter, spürte die weiche warme Haut unter seinen Fingern, bis er zu der Narbe kam und plötzlich innehielt. »Ist es das, wofür ich es halte?«, fragte er zögernd und zog, kaum dass er ihr Nicken gespürt hatte, seine Hände unter ihrem Top hervor.
Irritiert drehte sie sich zu ihm um. »Was ist los?«
»Nichts«, sagte er und sie wusste sofort, dass er log.
Kopfschüttelnd griff sie seine Hand, zog ihr Oberteil ein Stückchen hoch und fuhr mit seinen Fingern über die Narbe, während sie ihm in die Augen sah. »Es ist in Ordnung, wirklich!«
Er konnte jeden einzelnen Zahnabdruck spüren. Je länger sie seine Hand festhielt, desto wütender wurde er, was er nur mit größter Mühe vor ihr verbergen konnte. Was er allerdings nicht verstecken konnte, war der angeekelte Gesichtsausdruck, mit dem er sie ansah. Sie ließ seine Hand los – auch er zog seine blitzschnell von ihr weg –, und trat einen Schritt näher auf ihn zu, legte ihre Hände auf seine Schultern, stellte sich auf die Zehenspitzen und wollte ihn küssen, um ihm zu zeigen, dass wirklich alles in Ordnung war, doch wich er vor ihr zurück. Jetzt verstand sie die Welt erst recht nicht mehr. Was zur Hölle war los mit ihm?
»Ich weiß, die ist nicht schön, aber warum stört sie dich so sehr, dass du mich nicht mal mehr ansehen kannst?«, fragte sie traurig.
Er schwieg einen Moment, ging dann einfach an ihr vorbei und meinte: »Du solltest dich anziehen, damit wir zum Frühstück gehen können, sonst machen sich die anderen nur gleich wieder Sorgen.«
»Alles okay, Süße?«, fragte Izzy, als Jana wieder nur abwesend auf ihrem Teller herumstocherte.
»Hm …«
»Hey, hey, was ist los? Komm schon, ich merke doch, dass irgendwas nicht stimmt!«
Mit einem mehr als gezwungenen Lächeln blickte Jana ihre Freundin an und meinte: »Mach dir keine Gedanken! Es ist alles in Ordnung.« Im Grunde genommen stimmte das ja, es war nur Marios Reaktion auf ihre Narbe gewesen, die sie so nachdenklich stimmte, aber was sollte sie Izzy denn sagen, sie verstand es ja selbst nicht. Bliebe einfach abzuwarten, wie er sich in Zukunft verhalten würde.
* * *
Zwei Tage später war der Urlaub auch schon wieder vorbei und die Abreise stand vor der Tür. Rückblickend betrachtet war es zwar eine willkommene Abwechslung zum schulischen Alltag gewesen, doch hatte sich gerade Jana weniger gut erholen können. Aufgrund ihres angestauchten Knöchels hatte sie keine Minute mehr auf ihrem Snowboard stehen können, und selbst um den Wellnessbereich hatte sie einen großen Bogen gemacht. Jana hatte sich die ganze Zeit eingeredet, am liebsten nur mit Mario zusammen sein zu wollen, doch im Grunde genommen ging sie ihm aus dem Weg. Sie wusste, dass er im Wellnessbereich sehr viel Zeit verbrachte – zusammen mit den Lehrern, so auch mit Ralf. Und gerade auch ihm wollte sie beim besten Willen nicht über den Weg laufen, deshalb mied sie es, ebenfalls dort zu sein. Ja, es war dumm und kindisch, da sie jetzt wieder mit Mario zusammen war, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie definitiv noch Gefühle für Ralf hatte.
Am Flughafen dann musste sich Jana schließlich erst einmal von Mario verabschieden, da sein Flug etwas später gehen würde.
»Nicht traurig sein! Am Wochenende werde ich dich besuchen kommen, ja?«, hatte er gesagt, bevor sie in ihren Flieger hatte einsteigen müssen.
Dass er jetzt aufgrund seiner Verletzung, die ihn mindestens ein halbes Jahr außer Gefecht setzen würde, sehr viel zu erledigen hatte, stand außer Frage, Jana machte sich eher Gedanken darüber, wie ihre Beziehung in Zukunft aussehen würde.
»Jetzt raus mit der Sprache! Was ist los?«, meinte Izzy und knuffte Jana in die Seite, kaum dass sie im Flugzeug Platz genommen hatten. »Und sag bloß nicht schon wieder, dass alles okay ist! Du bist die ganze Zeit schon so nachdenklich. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock.«
»Hast du dir eigentlich schon Gedanken darüber gemacht, wie es nach dem Abitur weitergehen soll?«, fragte Jana nachdenklich.
»Wie kommst du denn jetzt darauf? Ist es wegen Mario?«
»Nicht nur. Weißt du, ich bin jetzt seit sechs Jahren in Neustadt. Ich habe außer dem Internat nichts, was einem Zuhause auch nur ansatzweise gleichkommt. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wegzugehen, aber ich kann ja auch nicht bleiben. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich denke schon.«
»Bis zur Weltmeisterschaft werde ich definitiv in Neustadt bleiben, aber ich habe keine Ahnung, was ich danach machen soll. Wie sieht es bei dir aus?«
»Hm … wenn es nach meiner Mutter gehen würde, würde ich irgendwo Medizin oder Jura studieren, aber das reizt mich beides mal so gar nicht. Ich wollte eigentlich schon immer irgendwas im Bereich Sport machen, hatte das aber nach dem Unfall verworfen, weil ich dachte, eh keine Chance zu haben. Dank Hongo kann ich aber an der Uni in Heidelberg diesem Traum nachgehen. Komm doch einfach mit, dann können wir zusammen studieren!«
»Und dann?«
»Mann, das ist doch erst einmal egal. Danach kannst du hingehen, wo du willst. Zur Not auch zurück nach Neustadt. Hongo würde bestimmt nicht Nein sagen, Sportlehrer werden doch immer gebraucht. Überleg mal, das wäre doch klasse. Wir können ja Mario fragen, ob er nicht auch nach Heidelberg wechseln will, dann sind wir alle drei zusammen, und du brauchst keine Angst vor einer Fernbeziehung haben.« Jana schaute so irritiert, dass Izzy fragte: »Du weißt doch, dass er bereits Sportwissenschaften studiert, oder?« Kopfschütteln. »Mensch, Jana, was habt ihr denn die ganze Zeit gemacht? Nicht, dass ich es mir nicht schon denken kann, aber habt ihr euch denn zwischendurch gar nicht unterhalten?«
»Was soll denn das heißen? Nur damit du es weißt: Es ist nichts weiter gelaufen.«
»Hä? Wieso das denn?«
»Schon vergessen, er ist verletzt und soll sich schonen.«
»Das ist vielleicht ein Hindernis, aber doch kein Grund. Ihr seid schon ein komisches Paar.«
Im Grunde genommen hatte Isabell mal wieder voll ins Schwarze getroffen. Seit Mario vor ein paar Tagen auf ihre Narbe gestoßen war, hatte er sich ihr gegenüber sehr distanziert verhalten. Sie hatten im Bett gelegen wie ein altes Ehepaar. Er auf der einen Seite, sie auf der anderen. Was nur störte ihn so dermaßen daran, dass er nicht mal in der Lage war, sie zu berühren? Er wusste doch, was John ihr in diesem Kellerloch angetan hatte, er wusste also von der Narbe, und wirklich gestört hatte sie ihn doch vorher auch nicht. Oder? Hatte er sie überhaupt schon einmal bewusst wahrgenommen? So wie er sich verhalten hatte und dies auch immer noch tat, wahrscheinlich nicht, aber das konnte doch gar nicht möglich sein. Fast verzweifelt zermarterte sie sich das Hirn, doch dann wurde ihr klar, dass sie sich nach ihrer Vergewaltigung nur ein einziges Mal wirklich nah gekommen waren, und da hatte sie einen Rückzieher gemacht. Wie und wann also hätte er die Narbe sehen oder gar spüren sollen?
* * *
Isabells Vorschlag mit dem gemeinsamen Studium begleitete Jana fortan auf Schritt und Tritt. Bei genauerer Betrachtung war das eigentlich eine recht gute Idee. Nicht nur, da sie so weiterhin ihre Freundin um sich haben konnte, sie würde sogar ihre Leidenschaft zum Beruf machen können.
»Rede doch mit Hongo! Der kann dir bestimmt einen Platz freihalten lassen«, drängte Izzy fast täglich, doch wollte Jana es auf eigene Faust schaffen.
Immerhin hatte sie noch fast ein Jahr Zeit und bewerben wollte sie sich erst mit ihrem Abiturzeugnis, was wiederum bedeutete, dass sie sich nun wieder besonders auf ihre schulischen Leistungen konzentrieren musste. Doch war das alles leichter gesagt als getan. Der Spagat zwischen Schule und dem Training für die WM zerrte mehr und mehr an ihren Kräften und auch an ihren Nerven, sie musste auf beiden Ebenen ihr Bestes geben, doch schien es hier wie da nie wirklich zu reichen. Selbst die Zeit mit Mario, auch wenn sie sich nur jedes zweite Wochenende sahen, die sie eigentlich genießen sollte und die ihr Kraft geben sollten, endeten meistens in einem heillosen Durcheinander, nicht selten sogar in Zank und Streit. Und viel zu schnell war das erste Halbjahr des Schuljahres vorbei.
»Um Gottes willen, Jana, wie konnte denn das passieren?«, fragte Izzy entsetzt, als sie einen Blick auf Janas Zwischenzeugnis geworfen hatte.
»Na komm schon, so schlimm ist es jetzt auch nicht. Sah auch schon mal schlimmer aus.«
»Darüber macht man keine Witze! Du weißt doch, was auf dem Spiel steht.«
Ganz toll, jetzt fühlte sie sich nur noch mieser. Ja gut, die zwei Vieren in Mathe und Physik hätten echt nicht sein müssen, aber was sollte sie denn tun? Noch mehr lernen ging ja fast gar nicht, zumindest nicht, ohne die Zeit für das Eislauftraining zu kürzen und das stand definitiv nicht zur Debatte.
»Ich brauch einfach mal ʼne Pause. Kannst du das nicht verstehen? Die letzten Wochen waren so hart. Wenn das in dem Pensum weitergeht, wird bald nicht nur die Schule darunter leiden.«
»Dann reiß dich mal zusammen! Früher hast du nie so geredet, da war dir die ganze Arbeit immer mehr als willkommen.«
»Hat sie recht?«, wollte Mario an diesem Abend wissen, als sie gemeinsam auf ihrem Bett lagen.
»Ich weiß nicht, aber gut möglich. Ich habe langsam das Gefühl, dass ich es keinem mehr recht machen kann. Egal wie sehr ich mich auch anstrenge, es will einfach nicht so funktionieren, wie ich es will. Ich habe so Angst zu versagen.«
»Und vielleicht ist genau das dein Problem. Du versuchst dich zu zerteilen, damit du überall dein Bestes geben kannst, und das zerreißt dich. Konzentrier dich doch erst mal auf das, was als Erstes ansteht, also auf dein Abitur!«
»Du hast leicht reden, du kennst Izzy nicht so gut wie ich. Das wird sie garantiert nicht zulassen.«
»Na wie gut, dass sie jetzt nicht da ist«, meinte Mario lüstern und zog Jana auf seinen Schoss.
»Hey, ich muss doch noch trainieren. Schon vergessen?«
»Nein, das habe ich nicht, aber wir werden heute mal auf eine ganz andere Weise trainieren.« Er zwinkerte ihr zu, und sie verstand sofort, worauf er hinaus wollte.
Sämtliche Härchen auf ihrem Körper standen ihr bereits zu Berge, noch bevor er angefangen hatte, ihren Hals zu küssen. In Windeseile hatte er ihr den Pulli über den Kopf gezogen, doch als sie sich ihres Tops entledigen wollte, hielt er kurz inne. »Lass das bitte an«, bat er sie, bevor er sich an ihrer Hose zu schaffen machte.
Warum das denn?, schoss es ihr unweigerlich in den Kopf. Sie wollte ihn schon fragen, wollte endlich über das Thema ›Narbe‹ reden, entschied sich aber dagegen. Bei seinem vorletzten Besuch waren sie schon einmal so weit gewesen, waren kurz davor, miteinander zu schlafen, als sie ihn dann darauf angesprochen hatte und ihm urplötzlich die Lust vergangen zu sein schien. Das wollte sie nicht noch einmal riskieren. Seit ihrem ersten Mal in der verschütteten Hütte war es zwischen ihnen nicht noch einmal zum Sex gekommen, was sie irgendwie auch sehr nachdenklich machte und was auch ein Grund dafür war, dass sie sich weder auf den Sport noch aufs Lernen richtig konzentrieren konnte. Was hatte er doch gleich im Hotel gesagt: ›Ich würde liebend gerne wieder mit dir schlafen.‹ Also, warum hatte er sich dann so lange Zeit gelassen? Es konnte nicht nur an der Narbe liegen, ganz sicher nicht. Ihr Kopf schien förmlich zu platzen, so viele Fragen schwirrten darin umher, und schließlich schien es auch Mario zu bemerken: »Lass los! Du bist ja fast noch verkrampfter, als beim letzten Mal. Lass doch einfach mal los, lass dich fallen!«
Ehe sie sich versah, lag sie unter ihm. Er beugte sich zu ihr und küsste sie, erst zaghaft, dann immer wilder und leidenschaftlicher, während sie die Augen schloss und sich ihm hingab, den Kopf abschaltete und sich endlich fallen ließ.
»Na siehst du, geht doch«, witzelte er keine zehn Minuten später, küsste sie noch einmal auf die Wange und drehte sich auf den Rücken.
Da er keine Anstalten machte, sie in seine Arme zu ziehen, drehte sie sich auf die Seite, rückte etwas näher zu ihm und legte ihren Arm auf seine Brust. Dort spürte sie nun einen kleinen Flaum flauschiger Härchen, die ihr vorher noch nie aufgefallen waren, durch die sie nun streichelnd fuhr, bis er seine Hand auf ihre legte und sie so zum Aufhören zwang.
»Darf ich dich mal etwas fragen?« Jana klang zögerlich.
»Hm…«, grummelte er, ohne seine Augen zu öffnen.
»Wo siehst du dich in fünf Jahren?«
Er schien irritiert zu sein, denn plötzlich sah er sie mehr als fragend an: »Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Na los, sag schon!«
»In fünf Jahren? Hm … so weit habe ich bisher noch nicht gedacht. Echt, ich habe mir noch nie wirklich Gedanken gemacht. Aber jetzt, wo du fragst … Nun ja, ich hoffe, dass ich bis dahin wieder auf dem Eis stehen werde, mein Studium erfolgreich beendet habe und vielleicht sogar schon eine gutbezahlte Stelle gefunden oder zumindest in Aussicht habe. Und du?«
»Wahrscheinlich das Gleiche.«
»Da, wir passen einfach super zusammen, auf dem Eis ein Team und privat ebenfalls.«
Ja, und was für ein Team. Er merkte noch nicht mal, dass sie sich traurig von ihm abwandte und sich auf die andere Seite drehte. Sicherlich, sie waren beide noch jung, verdammt jung sogar, an Familienplanung oder dergleichen war eigentlich noch lange nicht zu denken, und auf so etwas wollte sie auch gar nicht hinaus. Sie wusste ja selbst nicht, ob und wann sie einmal Kinder haben wollte. Sie hatte nur wissen wollen, inwieweit sie in seiner Zukunftsplanung vorkam. War sie denn in seinem Leben schon so selbstverständlich, dass man ein ›Wir‹ gar nicht erst erwähnen musste oder hatte sie im Gegenteil in seinem Leben keinen Platz? Sie bereute es, ihm die Frage überhaupt gestellt zu haben, da sie jetzt nur noch mehr zweifelte. Ihr kamen Svens Worte in den Sinn: »Ist er der richtige oder der einfache Weg?« Im Grunde genommen war er weder das eine noch das andere, auch wenn sie das zu Anfang gedacht hatte, momentan war er einfach nur der komplizierte Weg. Aber war das vielleicht auch allein ihre Schuld, weil sie immer alles zu hinterfragen versuchte? Warum konnte sie auch nie etwas einfach nur auf sich zukommen lassen und glücklich sein?
* * *
»Was hältst du davon, wenn ich vorerst hier bei dir bleibe?« Die Frage kam so unerwartet, dass sie Jana völlig von den Socken haute. Auch wenn die letzten zwei Wochen zunehmend schöner verlaufen waren, hatte sie sich doch schon darauf eingestellt, erst mal wieder etwas Abstand gewinnen zu können.
»Ist das denn so einfach möglich? Was ist mit deinem Studium?«
»Nicht, dass es nicht so etwas wie ein Fernstudium geben würde … und zur Not kann ich eben ein oder zwei Semester aussetzen. Außerdem geht es meiner Schulter noch nicht richtig gut, ich könnte mich während der Auszeit auskurieren. Und wir hätten mehr Zeit füreinander, ich könnte dich beim Training für die WM unterstützen oder Izzy etwas zurückhalten, wenn sie es mal wieder übertreibt. Also, was meinst du?«
An seinem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass es sich um eine rein rhetorische Frage handelte und sie sagte: »Du hast dich doch schon längst entschieden. Warum fragst du dann?«
»Stimmt eigentlich, aber ich wollte auch deine Meinung wissen. Du machst nicht den Eindruck, als würde es dich freuen.«
Verdammt, er hatte sie durchschaut. Wenn sie jetzt nicht schnell etwas unternahm, würde das wieder nur in einem Streit enden und darauf hatte sie keine Lust. »Quatsch, klar freue ich mich«, grinste sie ihn an und fiel ihm in die Arme.
Die Frage danach, wo er in der Zeit unterzukommen gedachte, löste sich auch ziemlich schnell. Ganz so, als ob es das Schicksal gut mit ihnen meinen würde, war ausgerechnet das Zimmer neben ihrem frei, in dem Mario wohnen konnte, solange es nicht anderweitig gebraucht würde.
Durch seine Unterstützung kehrte in den nächsten Wochen zumindest etwas Ruhe in ihren stressigen Alltag ein. Izzy hatte eingesehen, dass sie das Training für die WM etwas einschränken mussten, damit sie sich beide mehr auf die Schule konzentrieren konnten, was auch am Anfang recht gut funktionierte. Doch je weniger Zeit sie mit Jana auf dem Eis stand, desto mehr Zeit wollte plötzlich Mario mit ihr verbringen. Die Ablenkung, die er ihr bot, war oftmals mehr als willkommen und brachte sie auf andere Gedanken. Sie liebte es, wenn er anfing sie zu massieren, während sie ganz verkrampft über ihren Schulaufgaben hing. Er konnte so zärtlich sein, wenn er wollte, doch auch ebenso abweisend.
»Verdammt noch mal. Warum stört dich die Narbe so sehr, dass du mich weder ansehen noch anfassen kannst?«, schrie sie ihn eines Abends an, als er wieder wie angeekelt vor ihr zurückwich, kaum dass er die unschöne Erhebung auf ihrem Körper ertastet hatte, doch drehte er sich nur um und verschwand im Badezimmer.
»Boahhh … das ist jetzt nicht dein Ernst. Wenn das so ist, sieh zu, wo du bleibst! Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du endlich mal darüber reden willst!«, rief sie ihm durch die geschlossene Tür zu, kramte ihre Sachen zusammen und ging, nicht ohne die Zimmertür lautstark hinter sich zuknallen zu lassen.
Isabells neugierige Blicke ignorierte sie gekonnt, als sie sich nur Sekunden später auf ihr Bett fallen ließ, doch ihrer Frage konnte sie nicht ausweichen: »Was ist denn bei euch schon wieder los? Ihr seid wie ein altes Ehepaar, ihr liebt euch, ihr zofft euch und dann folgt der Versöhnungssex, oder wie?«
»Ach, hör mir bloß auf! Der kann mir echt gestohlen bleiben.«
»Wer? Mario oder der Versöhnungssex?«
»Beides«, blaffte Jana ihre Freundin an.
»Oh je, so schlimm also? Was ist denn los?«
»Das ist los«, meinte sie energisch, sprang auf, zog sich ihr Shirt hoch und deutete auf die Narbe.
Isabell, die bisher zwar davon gewusst, sie aber auch noch nie zuvor gesehen hatte, schien sprachlos und entsetzt. »Ach du scheiße. Ist das noch von …«
»Ja verdammt. Ich kann’s halt leider nicht ändern, sie ist da und wird auch so schnell nicht verschwinden, aber scheinbar ekelt sich Mario deswegen vor mir.«
Sie wollte die Narbe gerade wieder verdecken, als Izzy einen Schritt auf sie zumachte, ihre Hand auf Janas Bauch legte und vorsichtig ihre Finger über ihre Haut und die Narbe gleiten ließ. »Wow, da merkt man ja jeden einzelnen Zahn. Das ist echt heftig.«
»Ich weiß, aber was soll ich denn machen?«
»Soll ich vielleicht mal mit ihm reden?«
»Und was soll das bringen? Ganz ehrlich, wenn er ein Problem damit hat, soll er verdammt noch mal mit mir reden und sich nicht aufführen, als wäre ich abstoßend. Sein Verhalten ist lächerlich und verdammt verletzend.« Frustriert warf sich Jana erneut aufs Bett und verkroch sich unter der Bettdecke, hoffte aber die ganze Zeit, dass es jeden Moment an der Tür klopfen und Mario sich bei ihr entschuldigen würde. Doch nichts dergleichen geschah.
»Willst du nicht lieber noch ein wenig lernen? Wir schreiben morgen Bio!«
»Ist mir gerade mal sowas von egal.«
»Spinnst du? Das kann dir doch nicht egal sein! Wir haben so lange und hart für die Prüfungen gelernt, da kannst du doch jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken. Na komm schon, es sind doch nur noch die zwei Wochen, dann haben wir das Schlimmste hinter uns!«
»Ach, lass mich in Ruhe!«
»JANA!«
»Izzy bitte!«
»Wie du willst, jammer aber hinterher nicht!«
Isabell wandte sich schnaubend von Jana ab und die nächste Tür fiel knallend ins Schloss.
* * *
»Können wir bitte reden?« Mario schien zerknirscht und müde zu sein, als er Jana nach dem Frühstück abpasste.
»Jetzt? Jetzt willst du reden? Können wir das nicht auf nachher verschieben? Ich muss in ner halben Stunde in meine Matheklausur.«
»Und ich muss nachher nach Hannover und ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme. Also bitte, lass uns reden!«
Doch so schnell wollte Jana nicht nachgeben: »Du hattest über eine Woche Zeit zum Reden, und da kommst du ausgerechnet jetzt?«
Er packte sie am Arm, zog sie an sich und küsste sie.
»Was sollte denn das jetzt?«, fragte sie atemlos.
»Das sollte dir mal etwas den Wind aus den Segeln nehmen, auch wenn du unwahrscheinlich sexy bist, wenn du sauer bist.«
Sie funkelte ihn böse an und sah auf die Uhr. Nur noch fünfundzwanzig Minuten. »Also gut. Dann rede«, sagte sie nachgebend und setzte sich auf die Treppenstufen.
Er tat es ihr gleich, seufzte kurz auf und fragte: »Wieso bist du eigentlich sauer auf mich und gehst mir aus dem Weg?«
Ihr fiel förmlich alles aus dem Gesicht, sie sah ihn fassungslos an. »Willst du mich jetzt etwa verarschen?«, schrie sie ihn schließlich an, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, worum es geht.«
»Geht es wieder um das Ding?«, fragte er und nickte in ihre Richtung.
»Die Narbe, ja, es geht wieder darum. Kannst du mir endlich mal sagen, was dich daran so stört, dass du dermaßen angeekelt bist und mich nicht mal mehr anfassen kannst!«
Statt zu antworten, wandte er nur seinen Blick ab.
»Jetzt sieh mich an und sag mir endlich, was los ist! Du wolltest doch reden, also fang endlich an!«
»Ich weiß doch auch nicht. Es ist nicht die Narbe an sich, sondern eher die Geschichte, die dahintersteckt.«
Sie schnappte entsetzt nach Luft, konnte und wollte ihren Ohren nicht trauen. »Ist das dein Ernst? Es geht dir wirklich darum, dass er …«
»Ja, verdammt. Bist du jetzt zufrieden? Jedes Mal, wenn ich sie sehe oder berühre, dann muss ich daran denken, was dieser Kerl dir angetan hat, wie er dich angefasst, dich beschmutzt hat.«
»Dann hör doch auf, daran zu denken! Ich tue es doch auch nicht.«
»Das ist aber nicht so einfach!«
»Natürlich ist es das.«
»Für dich vielleicht, aber nicht für mich. Verstehst du nicht, er hat uns unsere Zukunft genommen. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre alles anders gekommen.«
»Im Ernst jetzt? Ich fasse es nicht. Ich fasse es echt nicht. Suchst du die Schuld gerade allen Ernstes bei ihm?«
»Bei wem denn sonst? Sicherlich trägst du auch eine gewisse Schuld an der ganzen Sache. Schließlich hast du dich ihm ausgeliefert, obwohl du eigentlich mit so etwas hattest rechnen müssen.«
Ihr fehlten die Worte – sie brauchte einen Moment, um zu antworten. »Ich kann nicht glauben, was du da sagst. Denkst du auch nur einmal darüber nach, wie ich mich dabei fühle, wenn du mir solche Sachen an den Kopf wirfst? Auch wenn mir damals klar gewesen ist, dass so etwas passieren kann, hab ich mich ihm freiwillig ausgeliefert, um Izzy zu retten. Es ist ja nicht so, dass ich Spaß dabei gehabt hätte – oder es gar gewollt habe, so wie du.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, da war er schon auf hundertachtzig. »Ist klar, dass du das jetzt wieder auf den Tisch bringst. Hatten wir nicht gesagt, dass wir das, was in der Vergangenheit gewesen ist, hinter uns lassen und vergessen?«
»Ja, das hatten wir, aber du kannst es ja scheinbar auch nicht. Mit deinem Verhalten mir gegenüber …«
»Ach, jetzt bin ich wieder schuld? Das ist ja mal wieder typisch. Du legst dir immer alles so zurecht, dass immer die anderen an allem schuld sind.«
Ohne auf seine Worte einzugehen, stand Jana auf. Sie war wütend und enttäuscht, sogar richtig verletzt. Sich auch nur noch eine weitere Minute mit ihm auseinanderzusetzen, war undenkbar. Sie schaukelten sich gegenseitig nur immer weiter hoch, ohne wirklich weiterzukommen und das brauchte sie jetzt so rein gar nicht.
»Wo willst du hin? Wir sind hier noch nicht fertig«, meinte Mario und wollte sie festhalten, doch war sie einen Tick schneller und wich ihm aus, bevor sie sagte: »Und ob wir fertig sind. Ich gehe jetzt zu meiner Prüfung.«
»Ist das dein letztes Wort?«
»JA.«
»Okay, alles klar. Und wieder hat Madame ihren Kopf durchgesetzt.«
Sie schnaubte kurz auf und wollte ihm gerade etwas entgegnen, als die Schulglocke läutete. In nicht mal fünf Minuten würde der Unterricht und somit ihre letzte Prüfung beginnen. Wenn sie sich jetzt nicht beeilte, würde sie zu spät kommen und im schlimmsten Fall sogar von der Klausur ausgeschlossen werden. Das durfte nicht passieren, Izzy würde ihr den Kopf abreißen. In Windeseile lief sie los und ließ Mario einfach stehen.
In wirklich letzter Minute erreichte sie völlig außer Atem ihr Klassenzimmer und setzte sich, als Herr Maier auch schon begann die Arbeiten auszuteilen und sagte: »Ihr habt genau vier Stunden Zeit, keine Minute länger. Sobald die erste von euch die Prüfungsaufgaben abgegeben und den Raum verlassen hat, kann keiner mehr auf die Toilette. Wenn ihr zwischendurch etwas essen oder trinken möchtet, nur zu, verhaltet euch aber bitte leise. Alles klar? Na, dann wünsche ich euch allen viel Glück und gutes Gelingen. Ihr könnt die Arbeiten jetzt umdrehen und anfangen!«
Damit war also der Startschuss gegeben. In vier Stunden war alles vorbei, all der Stress, all die Lernerei. Dann hieß es nur noch, abwarten. Vier Wochen sollte es dann dauern, bis sie die Ergebnisse erfahren würden, bis sie erfahren würden, ob sie bestanden hatten oder durchgefallen waren und ob sie in die eine oder andere mündliche Prüfung mussten.
Nur noch diese eine Prüfung, dann kann ich mich endlich wieder aufs Eislaufen konzentrieren, dann ist alles andere vorbei – aus und vorbei, dachte Jana und drehte voller Elan ihre Seiten um.
Auf den ersten Blick schien es gar nicht so schwer zu sein, und das obwohl sie in Mathematik noch nie wirklich den Durchblick gehabt hatte. Vielleicht hatte sich die harte Arbeit und die viele Lernerei doch gelohnt. Die Aufgaben lösten sich fast von alleine, es war total einfach.
Einfach … Vorbei … Einfach … Vorbei… Warum kamen ihr ausgerechnet diese beiden Worte ständig in den Sinn. Ist er der einfache Weg oder der richtige?
Was sollte denn das jetzt? Sie musste sich auf die Arbeit konzentrieren und nicht wieder Fragen wälzen, auf die sie nach wie vor keine Antworten hatte. Raufend fuhr sie sich durch die Haare.
Und ob wir fertig sind … Ist das dein letztes Wort?… Ja …
Das waren die letzten Worte zwischen ihr und Mario gewesen. Jetzt, wo ihr das alles noch einmal durch den Kopf ging, schienen die Worte auf einmal einen ganz anderen Sinn zu ergeben. Und ob wir fertig sind – damit hatte sie doch nur den Streit gemeint, oder? Konnte es nicht auch sein, dass sie unterbewusst vielleicht doch ihre ganze Beziehung gemeint hatte? Wie hatte es Mario aufgenommen? Sie war es so leid, dieser ganze Ärger, der ständige Streit, die Versöhnung und wieder Streit. Sie wollte das alles nicht mehr. Waren sie wirklich fertig miteinander? Warum konnte sie nicht einfach nur glücklich sein, glücklich und zufrieden mit dem Mann, den sie liebte … Aber liebte sie ihn überhaupt? Nach jedem Streit, egal ob groß oder klein, tat ihr das Herz weh, also empfand sie etwas, aber war das wirklich Liebe? Reichten diese Gefühle aus, um ein gemeinsames Leben zu führen, mit allen Höhen und Tiefen, die noch kommen würden, oder machte sie sich die ganze Zeit nur etwas vor?
»Er hat uns unsere Zukunft genommen. Wenn er nicht gewesen wäre …«
Klar hatte er auch irgendwie recht. Wenn John nicht gewesen wäre, wäre so einiges anders gekommen, doch konnte man darüber so viel spekulieren, wie man wollte. Es war nun mal alles so gekommen, wie es gekommen war. Daran konnte sie nichts ändern, daran konnte er nichts ändern, daran konnte keiner etwas ändern. Man musste es eben akzeptieren und das Beste daraus machen. Sie hatte es geschafft, diesen Teil ihres Lebens hinter sich zu lassen. Warum schaffte es dann Mario nicht auch?
»Mario kennt deine Vorgeschichte, er wusste, was du alles hast durchmachen müssen und ich dachte er versteht und respektiert dich. Ich glaube kaum, dass es ihm nur um Sex ging, aber sollte das wirklich der Grund sein, dann hat er dich einfach nicht verdient«, kamen ihr nun auch noch Ralfs Worte in den Sinn.
Vielleicht hat er mich wirklich nicht verdient. Vielleicht haben wir uns die ganze Zeit nur etwas vorgemacht. Vielleicht habe ich mir nur etwas vorgemacht.
Plötzlich riss Ralfs Stimme sie aus ihren Gedanken: »Ihr solltet langsam zum Ende kommen! Ihr habt nur noch zehn Minuten.«
Zehn Minuten? Zehn Minuten? Das kann doch gar nicht sein. Die Prüfung hat doch eben erst angefangen. Zehn Minuten? Das muss ein Irrtum sein. Ich habe mich nur verhört, dachte sie und schaute panisch auf die Uhr. Doch hatte sie sich nicht verhört, es war bereits kurz vor zwölf.
Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, das darf jetzt nicht wahr sein. Wo ist die verdammte Zeit geblieben? Mit zitternden Fingern blätterte sie durch ihre Arbeit. Sie hatte gerade einmal die erste Seite gelöst, die zweite angefangen. Drei, nein, vier Seiten lagen noch vor ihr. Das war unmöglich noch zu schaffen, oder? Sie griff nach ihrem Kugelschreiber, doch zitterte ihre Hand so sehr, dass sie nicht eine Zahl leserlich hätte aufschreiben können. Sie hatte sich so sehr von ihren Gedanken ablenken lassen, sie hatte sich gehen lassen und würde jetzt die Konsequenzen tragen müssen – sie hatte versagt, kläglich versagt. Der Stift fiel ihr aus der Hand, rollte zum Tischende und fiel zu Boden, genau in dem Moment, als es zum Stundenende klingelte. Sie drehte ihre Arbeit um, stand auf und verließ den Raum.
»Wie, du hattest einen kompletten Blackout? Die Arbeit war doch voll leicht«, fragte Isabell wenig später Jana, die frustriert auf ihrem Bett saß.
»Ich hab mich kurz vor der Klausur mit Mario gestritten und das ist mir die ganze Zeit durch den Kopf gegangen. Ich glaub, ich hab nicht nur die Arbeit verhauen, sondern auch meine Beziehung.«
»Ach quatsch, red doch nicht so einen Blödsinn! Du wirst sehen, alles wird wieder gut. Lass uns einfach abwarten!«
Izzy hatte leicht reden, in ihrem Leben schien sich wirklich immer alles zum Guten zu wenden. Sie hatte einen tollen Freund, mit dem sie sich nie zu streiten und immer atemberaubend guten Sex zu haben schien, und hervorragende Noten hatte sie auch noch. So war es leicht, den Kopf frei zu haben und sich auf das konzentrieren zu können, was wichtig war. Ganz anders eben als bei Jana, deren Gedanken sich einfach ständig in ihrem Kopf zu überschlagen schienen. Woher nur nahm Izzy immer diese positive Energie? Egal wie schlecht die Situation war, sie sah in allem immer auch was Gutes. In einem Punkt behielt sie aber recht, die Sache mit Mario renkte sich wieder ein, auch wenn es fast zwei Wochen gedauert hatte, bis er zurück ins Internat gekommen war, eine Entschuldigung blieb auf beiden Seiten allerdings aus. Sie waren beide eben sture Dickköpfe.
»Siehst du, ich habe dir doch gleich gesagt, dass das alles nicht so schlimm war. Du siehst immer gleich so schwarz. Aber trotzdem schön, dass ihr euch wieder vertragen habt. Und wie war der Versöhnungs-…«
»Izzy!«, fiel ihr Jana ins Wort. »Das geht dich gar nichts an. Lass mir doch auch mal meine Privatsphäre! Ich frage dich schließlich auch nicht immer aus, wenn du von Chris zurückkommst.«
»Du bist gemein.«
»Und wenn schon. Es ist meine Sache. Respektier das doch bitte!«
Grummelnd verschwand Izzy im Bad und ließ Jana mit ihren Gedanken alleine. Es war doch wahr, diese ganze Ausfragerei ging ihr so gegen den Strich. Warum musste Isabell auch immer alles so genau wissen wollen? Neugierde hin oder her, was zu viel war, war zu viel. Außerdem gab es auch gar nicht so viel zu erzählen. Es war wie jedes vorherige Mal gewesen; sie hatten sich geküsst, dann hatten sie miteinander geschlafen und jetzt war sie auf ihrem Zimmer, anstatt bei ihm. Warum, wusste sie selbst nicht genau, aber es war ihr auch egal.
Auch die kommenden beiden Wochen verbrachte Jana jede Nacht auf ihrem Zimmer und in ihrem Bett, da Mario abends bis spät in die Nacht hinein mit Kollegen aus der Uni chattete oder telefonierte, zumindest war das die offizielle Erklärung für neugierig Fragende. Inoffiziell stand der große Streit immer noch zwischen ihnen, und solange keiner der beiden den ersten Schritt machen und einlenken würde, schliefen sie eben getrennt.
* * *
Schließlich kam der Tag – es war bereits Mitte Juni –, an dem die Ergebnisse der schriftlichen Abiturprüfungen bekanntgegeben werden sollten. Jana erwachte an diesem Morgen bereits mit Bauchschmerzen, sie hatte ein äußerst ungutes Gefühl, was sich keine zwei Stunden später tatsächlich bestätigte. Fassungslos starrte sie auf ihre Ergebnisse.
»Ach du Scheiße«, meinte Izzy nur und starrte auf Janas Prüfungsergebnisse.
»Ich sag doch, ich hatte einen Blackout, aber du wolltest mir ja nicht glauben«, blaffte Jana ihr Freundin an.
»In Mathe, ja, aber gleich eine Fünf? So durcheinander kannst ja selbst du nicht gewesen sein. Ich verstehe das nicht. Und was ist mit den restlichen Fächern? Hattest du da auch Blackouts?«
Jana konnte Izzys Frustration ja nachvollziehen, immerhin hatte sie in einigen anderen Fächern eine Vier, ab und an mal noch eine Drei oder eine Zwei, doch solange sie in einem Hauptfach eine Fünf hatte, war ihr Abschluss mehr als gefährdet.
»Verdammt, wir haben doch die ganze Zeit gelernt. Und dann das. Weißt du, was das heißt?«
»Ja verdammt, ich weiß, was das heißt. Ich muss definitiv in Mathe in die mündliche Prüfung, um mein Abi zu bestehen, vielleicht sogar noch in Englisch und Physik. Das heißt es. Oh Mann, ausgerechnet Mathe.«
»Das heißt aber auch, dass du dir unser gemeinsames Studium abschminken kannst, selbst wenn du in der mündlichen glänzen solltest. Mit dem Notendurchschnitt wird dich keine Uni annehmen, selbst wenn Hongo ein noch so gutes Wort für dich einlegt. Mensch Jana, warum hast du dich nur so gehen lassen?«
»Meinst du etwa, dass ich das mit Absicht gemacht habe?« Das schlug dem Fass den Boden aus! Wie konnte Isabell nur so etwas sagen? Sie wusste doch, was alles auf dem Spiel stand.
Was sollte sie denn jetzt nur tun? Sich auf mehrere mündliche Prüfungen vorbereiten, in der Hoffnung, ihren Notendurchschnitt vielleicht ein oder zwei Prozentpunkte zu verbessern oder sich letztendlich nur auf die Matheprüfung konzentrieren? Egal wie sie es drehte und wendete, das Ergebnis war eigentlich schon so klar, dass sie kaum etwas daran ändern konnte. Sie hatte nur die Wahl zwischen gar nicht bestehen und gerade so mit miesen Noten. Sie hatte zwar zwei Wochen Zeit zum Lernen, allerdings musste sie diese Entscheidung möglichst schnell treffen. Da sie aber im Treffen von Entscheidungen genauso mies war wie im Kopfabschalten warf sie einfach eine Münze.
Kopf – ich gehe in alle Prüfungen, Zahl – ich lerne nur für Mathe.
Das Geldstück tanzte wie in Zeitlupe durch die Luft und landete schließlich wieder in ihrer Hand.
Zahl
Oje, das würde Izzy garantiert nicht gefallen, aber der konnte man es sowieso kaum recht machen. Wenn sie sich in der Prüfung gut anstellte, würde sie vielleicht noch auf eine Drei minus kommen. Es war schwer, aber nicht völlig unmöglich. Dann hätte sie insgesamt zwar auch nur einen Notendurchschnitt von etwas über drei, aber das war besser als komplett durchzufallen und das Schuljahr wiederholen zu müssen. Jetzt hieß es also wieder: Lernen, lernen und noch mehr lernen.
* * *
»Ich hab das Gefühl, mein Kopf platzt gleich. Ich krieg einfach nichts mehr rein und trotzdem habe ich keinen Durchblick.« Die Prüfung war in nicht mal zwei Tagen, je näher sie rückte, desto frustrierter wurde Jana. Der Kampf schien immer aussichtsloser zu werden, doch Aufgeben war einfach keine Option.
»Du brauchst mal eine Pause, damit du abschalten, auf andere Gedanken kommen und neue Energie tanken kannst. Lass uns doch morgen auf die Party gehen!«, meinte Mario und massierte ihr die Schultern.
»Spinnst du? Ich kann doch morgen nicht mit auf die Party, wenn ich den Tag drauf meine Prüfung habe. Nur weil alle meine netten Klassenkameradinnen morgen schon alles hinter sich haben und sich besaufen wollen, heißt das nicht, dass ich das auch kann.«
»Und wieso nicht? Deine Prüfung ist doch erst um halb eins. Außerdem, wer sagt denn, dass du dich betrinken musst. Man kann auch so Spaß haben. Seit wann bist du eigentlich so verklemmt?«
»Du willst es scheinbar nicht verstehen. Es geht um meine Zukunft, da darf ich mir keinen weiteren Fehler erlauben. Wenn du auf die Fete gehen willst, dann geh doch, aber ohne mich.«
»Deine Zukunft? Seit wann ist es denn nur noch deine Zukunft?«
»Seit es auch nur noch deine Zukunft ist.«
Da Marios Gesichtsausdruck ihr verriet, dass er es nicht verstand, setzte sie nach: »Schon vergessen, wo DU dich in fünf Jahren siehst?«
Er verdrehte stöhnend die Augen und sagte: »Musst du eigentlich jedes meiner Worte auf die Goldwaage legen? Wenn du gefragt hättest, wo ich Uns in fünf Jahren sehe, hätte ich etwas ganz anderes geantwortet.«
»Hätte, hätte, hätte. Vielleicht wollte ich aber wissen, ob du nur an dich denkst oder eben an uns.«
»Manchmal bist du echt kindisch.«
»Wenn das so ist, kannst du ›beleidigt‹ gleich noch mit oben drauf setzen«, sagte sie schnippisch, sammelte ihre Unterlagen zusammen und verließ sein Zimmer. Kindisch? Dass ich nicht lache. Soll er doch sehen, was er davon hat.
Da in der Woche der mündlichen Prüfungen für die Schülerinnen der dreizehnten Jahrgangsstufe kein Unterricht stattfand, konnte Jana am nächsten Morgen ein klein wenig länger schlafen – sie hatte erst gegen halb fünf ihre Schulsachen beiseite gelegt und brauchte jetzt jede Minute der Erholung, auch wenn ihr Zeitplan recht straff durchstrukturiert war. Um zehn Uhr schließlich weckte Isabell ihre Freundin. »Du kannst schlafen, wenn du tot bist. Also raus aus den Federn und auf zum Joggen!«
Wie eine Marionette folgte Jana der Anweisung, verschwand für knapp zehn Minuten im Bad und war dann bereit für die ihr bevorstehende Tortur. Zuerst stand eine halbe Stunde joggen auf dem Plan, gefolgt von einer halben Stunde Krafttraining, danach lernen bis zum Umfallen, bis sie ab vier Uhr die Eishalle für anderthalb Stunden geblockt hatten, um ein wenig an ihren Küren zu arbeiten. Der Tag hatte noch nicht mal richtig begonnen und sie sehnte schon dessen Ende entgegen.
Nach der ersten Trainingseinheit schleppte sich Jana ausgepowert auf ihr Zimmer, als Mario sie plötzlich wie aus dem Nichts heraus am Arm packte, in sein Zimmer zog und anfing sie zu küssen. »Nicht, hör auf! Ich bin total verschwitzt und will erst mal unter die Dusche«, sagte sie und wollte ihn von sich schieben, doch ließ er nicht von ihr ab, drängte sie sogar gegen die Wand. »Ich meine es ernst, Mario! Bitte. Außerdem tust du mir weh.«
»Duschen kannst du danach immer noch.«
Was war bloß in ihn gefahren? So kannte sie ihn gar nicht. Hatte er etwa getrunken? Das würde zumindest sein Verhalten erklären. Sie wollte ihm gerade etwas erwidern, als er sie wild küsste und sie so zum Schweigen brachte, bevor er anfing, ihr die Klamotten vom Körper zu zerren.
Als sie den Tisch im Rücken spürte, hauchte er ihr ins Ohr: »Beug dich da drüber!«
»Aber …«
»Hör doch endlich mal auf, alles ständig zu hinterfragen und mach einfach, was man dir sagt!«, knurrte er, packte sie leicht im Genick und drückte sie mit dem Oberkörper voran auf den Tisch.
Der Tisch war kalt und hart, richtig unbequem, doch konnte sie nichts weiter sagen, da er schon hinter ihr stand, ihre Beine mit seinen spreizte und in sie eindrang. Sie zog scharf die Luft ein und gleich noch einmal, als er anfing hart und unerbittlich zuzustoßen. Das hatte nichts mit Zärtlichkeit zu tun, rein gar nichts, es tat sogar ein klein wenig weh, was ihn aber so überhaupt nicht zu kümmern schien. Keine fünf Minuten später stöhnte er laut auf und kam zum Höhepunkt, sackte für einen kurzen Moment über ihr zusammen, zog sie aber gleich danach in seine Arme und küsste sie leidenschaftlich.
»Wow, das war echt gut. Davon könnte ich mehr gebrauchen«, meinte er atemlos und abgehackt, gab ihr einen Klaps auf den Hintern und fügte schmunzelnd hinzu: »Jetzt kannst du duschen gehen. Jetzt lohnt es sich wenigstens.« Dass er nicht seine Dusche meinte, wurde ihr ziemlich schnell bewusst, als er ihre Sachen aufsammelte, ihr in die Arme drückte und sie Richtung Tür schob.
»Kann ich mich wenigstens noch anziehen oder willst du mich nackt rauswerfen?«, blaffte sie ihn an und schlüpfte schnell in ihren Slip.
»Stell dich doch nicht so an, es sind keine vier Schritte bis in dein Zimmer!«
Ihr fehlten die Worte. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Sein übermütiger und auffordernder Gesichtsausdruck ließ jedenfalls nichts Gegenteiliges erkennen.
»Wenn das so ist. Hauptsache du hattest deinen Spaß, was?«, konterte sie ohne ihn eines Blickes zu würdigen, nahm ihm ihre restlichen Sachen ab und ging.
»Ach du je, was ist denn mit dir passiert?«, kicherte Izzy, als Jana so splitterfasernackt an ihr vorbei ins Bad huschen wollte.
»Frag nicht!«
»Sag bloß, er hat dich nach dem Sex einfach rausgeworfen?«
»Wenn du es schon weißt, was fragst du dann noch?«, sagte sie lauter als beabsichtigt und knallte die Badezimmertür hinter sich zu.
»Es tut mir leid, Jana. Hörst du?«, hörte sie Izzy sagen, doch kümmerte sie das momentan so gar nicht.
Zitternd stand sie vor dem Spiegel, aber nicht weil ihr kalt war, sondern vielmehr weil sie sich so schmutzig und missbraucht vorkam – wie damals – und ihr einfach nur zum Heulen zumute war. Was hatte sich Mario nur dabei gedacht, sie so zu behandeln? Sie drehte die Dusche auf, zog sich ihren Slip aus, stellte sich unter das wohltuende warme Wasser und brach fast augenblicklich in Tränen aus.
Mehr als eine Stunde war vergangen, als sie endlich wieder aus dem Bad kam. Es hatte lange gedauert, bis sie das Gefühl gehabt hatte, endlich wieder sauber zu sein, doch sprachen ihre rot umrandeten Augen Bände.
»Du hast geweint? Was hat er dir bloß angetan?«, fragte Izzy besorgt.
»Lass gut sein!«, antwortete Jana beinahe abwesend, ging an ihr vorbei und setzte sich aufs Bett.
»Von wegen! Das würde dir so passen.« Isabell ließ nicht locker, setzte sich zu ihrer Freundin und nahm ihre Hand. »Du kennst mich, ich gebe erst Ruhe, wenn ich es weiß. Raus mit der Sprache!«
Das stimmte wahrlich, Jana würde nicht eher ihre Ruhe haben, bis Izzy alles wusste. Sie seufzte tief, schloss die Augen und begann zu erzählen. Sie erzählte ihr einfach alles, alles, was ihr in diesem dunklen Kellerloch vor all den Jahren widerfahren war, woran Mario sie mit seinem Benehmen erinnert hatte. Während sie sprach, sah sie nicht ein einziges Mal auf. Nicht weil sie sich schämte, sondern weil sie Angst davor hatte, wie Izzy sie ansehen würde, mitleidig und angeekelt. Kaum hatte sie den letzten Satz beendet, entzog Isabell ihr die Hand und Jana rechnete damit, dass sie jeden Moment aufstehen und weglaufen würde, doch nichts dergleichen geschah. Ganz im Gegenteil sogar, denn nur den Bruchteil einer Sekunde später schloss Izzy die Arme um ihre Freundin, drückte sie ganz fest an sich und fing an zu schluchzen: »Es tut mir so unendlich leid.«
»Ist schon gut. Du kannst ja nichts dafür.«
Dass sie das mehr aus dem Affekt heraus gesagt hatte, war wohl beiden klar, da sie beide sich noch ganz genau an ihr Gespräch im Krankenhaus erinnern konnten, als sie sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben versucht hatten.
»Aber, wenn ich …«, fing Izzy an und wurde sofort unterbrochen.
»Hör sofort auf! Ich will nicht hören, was hätte anders laufen können. Es ist so, wie es ist. Wir können daran nichts mehr ändern.«
Als Jana das tränenüberströmte Gesicht ihrer Freundin sah, musste sie plötzlich lachen.
»Was ist denn jetzt los?«
»So schnell kann sich eine Situation ändern. Eben noch bin ich am Heulen und jetzt du.«
»Haha, sehr komisch. Hast du es Mario jemals erzählt?«
Ihr plötzliches Schweigen war Antwort genug.
»Du musst es ihm sagen! Nur dann wird er dich verstehen!«
»Das kann ich nicht. Du bist die Erste, der ich alles erzählt habe. Na ja, abgesehen von dem Kommissar damals. Wenn ich es Mario sage, wird er mich doch nie wieder anfassen. Du weißt doch, wie sehr ihn schon die Narbe stört.«
»Und wenn er wieder …«
»Bitte, Izzy, versuch es gar nicht erst! Es ist mir schon schwer genug gefallen, es dir zu erzählen. Und bitte schwöre mir, dass du es ihm auch nicht sagst!«
Als Jana wenig später auf dem Eis stand und ihrer Leidenschaft nachging, schaffte sie es endlich, ihre Gedanken abzuschalten und an nichts zu denken, für nichts anderes zu leben als für diesen einen Moment, doch kaum hatte sie ihre Schlittschuhe zwei Stunden später abgelegt, kamen die Gedanken zurück und legten sich über sie wie ein dunkler Schatten.
Komm schon, reiß dich zusammen! Es ist nur noch morgen, dann hast du es geschafft. Nur noch diese eine Prüfung, dann kannst du …
JA, was konnte sie danach? Weggehen und ein neues Leben anfangen? Nein. Bis zu den Zeugnissen waren es selbst nach morgen noch vier Wochen, und außerdem stand Ende November noch die Weltmeisterschaft an. Bis dahin musste sie hier an der Schule bleiben. Und wohin sollte sie danach schon gehen? Es war abwegig zu denken, dass sie irgendwo anders ganz neu und von vorne anfangen und glücklich werden könnte. Hier war ihr Zuhause, hier in Neustadt, hier im Internat. Hier bei …
Seufzend betrat sie ihr Zimmer und stellte sofort verwundert fest, dass überall Kerzen aufgestellt worden waren, die den ganzen Raum in ein warmes flackerndes Licht tauchten. Sie stellte ihre Tasche leise und vorsichtig neben der Sitzecke ab und ging neugierig weiter. Neben dem lieblichen Duft der Kerzen konnte sie einen leichten Hauch von Erdbeeren wahrnehmen.
Mit wild pochendem Herzen trat sie aus dem kleinen Flur ins größere Schlafzimmer und musste schmunzeln, als sie Mario auf ihrem Bett sitzen sah, neben sich auf dem Nachttischschränkchen zwei Gläser, eine Flasche Sekt und eine rote Rose. Wenn er ihr schon Blumen schenkte, selbst wenn es nur eine einzelne war, musste er wirklich ein schlechtes Gewissen haben. Lächelnd ging sie auf ihn zu. Als er seinen Blick hob und sie ausdruckslos ansah, erstarb ihr Lächeln fast augenblicklich.
»Eigentlich hatte ich mich wegen vorhin bei dir entschuldigen wollen. Eine kleine Party nur für uns zwei.«
Eigentlich? Wieso eigentlich? Was ist hier los?
»Dann habe ich das hier gefunden«, meinte er und hielt ein kleines schwarzes Büchlein in die Höhe, ihr Tagebuch.
Eiskalte Schauer liefen ihr den Rücken hinunter, sie zitterte am ganzen Körper und sah ihn entsetzt an. »Nein, das hast du nicht?«, brachte sie nur leise über ihre Lippen und schüttelte langsam den Kopf.
»Und ob …«, begann er, doch sie fiel ihm wutentbrannt ins Wort: »Sag mal, spinnst du eigentlich? Was fällt dir ein, an meine Sachen zu gehen? Schon mal was von Privatsphäre gehört?«, schrie sie und versuchte, an ihr Buch zu kommen, an das Buch, in dem alle ihre Träume, Wünsche, Ängste und Geheimnisse standen.
»Privatsphäre? Dass ich nicht lache? Ich habe ja wohl ein Recht darauf, sowas zu erfahren. Wann bitteschön wolltest du es mir sagen?«
»Um was geht es denn?« Oh nein, der Kuss. Der Kuss zwischen ihr und Ralf. Der Kuss, der eigentlich nichts zu bedeuten hatte und doch alles für sie bedeutete. Spielte er etwa darauf an? Es musste darum gehen. Warum sonst war er so wütend? Sie setzte alles auf eine Karte, als sie sagte: »Es war nur ein Kuss und der hatte absolut nichts zu bedeuten. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren war. Das musst du mir glauben. Das hatte wirklich nichts zu bedeuten.«
»›Ich habe mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht‹ … ›ich liebe ihn so sehr, dass es mir das Herz zerreißt, ich kann mir einfach kein Leben ohne ihn vorstellen‹ … ›wenn es nur die Möglichkeit gäbe, dass er mich so sieht, wie ich ihn, wäre ich bereit, alles dafür zu geben‹ … Ach, und dann hier, meine Lieblingsstelle … ›Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es wieder tun, ich würde ihn wieder küssen, da dieser eine Kuss, diese winzige Berührung mir mehr bedeutet, als alles andere auf dieser Welt‹. Es hatte also nichts zu bedeuten?« Seine Stimme strotzte nur so vor Verachtung, doch stieg auch ihre Wut weiter ins Unermessliche.
»Wenn du es schon liest, dann lies wenigstens richtig! Hast du mal darauf geachtet, wann ich diese ganzen Sachen geschrieben habe? All diese Gefühle, dieser Kuss, das stammt alles aus der Zeit, als wir getrennt waren. Es hat nichts mehr zu bedeuten.«
»›Ich kann es nicht länger leugnen, er wird immer meine große Liebe sein. Ich weiß nicht, ob ich Mario jemals so lieben kann, wie ich ihn liebe‹. Willst du mich etwa verarschen? Das hast du vor nicht mal drei Monaten geschrieben, und da waren wir schon wieder zusammen.«
»Jetzt mach mal nen Punkt! Meine Gedanken und das alles, was ich da aufgeschrieben habe, sind eine Sache, aber meine Gefühle, die, die wirklich und tatsächlich sind, eine ganz andere.«
»›Auch wenn ich es mir ganz fest vornehme, wird Mario immer nur der einfache Weg sein‹ … Denkst du eigentlich, ich bin blöd? Das hast du erst vor ein paar Tagen geschrieben. Du willst mich echt für dumm verkaufen, was? Der einfache Weg. Dass ich nicht lache. Auf tausenden Seiten schreibst du, wie sehr du ihn liebst, wie sehr du ihn willst und dass du dir nichts sehnlicher wünschst, als dass auch er dich so liebt.«
Sie atmete hörbar tief ein, bevor sie sagte: »Ja, okay, das habe ich erst vor ein paar Tagen geschrieben, aber auch nur, weil du mir so unglaublich wehgetan hast. All diese Einträge sind immer dann entstanden, wenn ich enttäuscht oder traurig war und mich einfach in eine Wunschwelt geflüchtet habe. Doch war es nichts weiter als ein Traum.«
Er schnaubte abfällig. »Dann war der Kuss wohl auch nur ein Traum.«
Sie ließ die Schultern hängen, fühlte sich mit einem Mal so entsetzlich müde und sagte: »Nein, das war es nicht. Ich will auch nicht abstreiten, dass mir der Kuss etwas bedeutet hat, nur eben …« Sie brach mitten im Satz ab, als ihr etwas bewusst wurde. Mario wusste jetzt von dem Kuss, er wusste auch von ihren Gefühlen, aber wusste er auch, dass das alles Ralf betraf? Sie hatte seinen Namen doch kein einziges Mal erwähnt, oder vielleicht doch? Wie viel hatte Mario gelesen? Wie viel wusste er wirklich?
»Nur eben, was?«, fragte er mit vor Wut zitternder Stimme.
»Nur eben ihm nichts, wollte ich sagen. Das hat er mir ganz deutlich zu verstehen gegeben und hat mich aus diesem Wunschdenken herausgeholt.«
Er sah sie einen Moment argwöhnisch an, warf das Tagebuch aufs Bett und fragte mit gespenstisch leiser Stimme: »Wer ist es?«
Ihr stockte der Atem. Das war genau die Frage, die sie befürchtet hatte. Was sollte sie denn jetzt sagen? Die Wahrheit etwa und damit wahrscheinlich Ralfs Leben zerstören, obwohl er nie etwas falsch gemacht hatte? Nein, dass durfte sie nicht zulassen. »Das spielt doch gar keine Rolle.«
»Und ob das eine Rolle spielt. Also, wer ist es? Der Typ aus der Schweiz?«
Sie lachte spöttisch auf: »Sven? Mach dich doch nicht lächerlich! Wir sind nur Freunde.«
»Ich mache mich also lächerlich? Ist klar. Du liebst ihn also immer noch und denkst, ihn beschützen zu müssen. Ach ja, ich vergaß. Er wird ja immer deine große Liebe bleiben und ich bin nichts weiter als der ›einfache Weg‹? Hörst du dir eigentlich selbst zu? Wem versuchst du hier, etwas vorzumachen? Dir oder mir? Ich bin doch nicht blöd. Du hast mich die ganze Zeit belogen und betrogen und tust es noch immer.«
»Belogen und betrogen? Das ist doch überhaupt nicht wahr. Gut, ich habe dir nichts von dem Kuss erzählt, weil ich wusste, dass du so ein Riesending draus machen würdest, und das obwohl wir zu der Zeit nicht mal zusammen waren. Habe ich dich einmal gefragt, mit wem du zusammen warst, wen du geküsst oder befummelt hast, als wir getrennt waren. Nicht einmal, weil ich dachte, wir wollten die Vergangenheit hinter uns lassen. Du tust ja so, als sei der Kuss ein viel größeres und schlimmeres Vergehen als dein Fehltritt.«
»Immer wieder die gleiche Leier. Immer wieder bringst du das auf den Tisch. Verdammt noch mal, es war ein Fehler, das ist mir bewusst, also belass es doch einfach mal!«
»Du bist so ein Heuchler, weißt du das eigentlich? Du verlangst von mir, dass ich vergesse, wie weh du mir getan hast und dass ich dir wieder vertraue, dabei schaffst du es nicht einmal, über diesen einen Kuss hinwegzusehen?«
Er schwieg einen Moment, stand vom Bett auf und meinte: »Der Unterschied ist, dass ich nichts empfunden habe, du aber schon. Außerdem hast du es gewusst. Ich musste es aus deinem Tagebuch erfahren.«
Sie sah ihn fassungslos an: »Ist das dein Ernst? Ich habe es nur gewusst, weil ich euch in flagranti erwischt habe, nicht weil du es mir gestanden hättest. Also, tu ja nicht so, als seist du so wahnsinnig ehrlich. Und spiel bloß nicht den unschuldigen Moralapostel. Wer weiß schon, ob du überhaupt den Arsch in der Hose gehabt hättest, es mir zu sagen. Und in meinem Tagebuch rumzuschnüffeln ist schon schlimm genug, das dann aber noch als Rechtfertigung zu nutzen, geht gar nicht.«
»Aber nur so habe ich die Wahrheit erfahren.«
»Welche Wahrheit denn? Du drehst es doch nur so, wie du es brauchst, damit ich hier die Böse bin. Wenn wir uns gegenseitig so wenig vertrauen können, dass noch nicht mal ein Tagebuch tabu ist, dann weiß ich auch nicht.«
»Und wer sagt mir, dass du nicht gleich mit ihm ins Bett springst, wenn er dir doch mal schöne Augen macht? Du sagst zwar, beteuerst regelrecht, dass du nichts mehr für ihn empfindest, aber …«
»Aber mein Wort reicht dir nicht. Du vertraust mir nicht?«
»Nein.«
»Dann wäre es wohl besser, wenn wir uns trennen«, sagte sie traurig.
»Ja.«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ er ihr Zimmer, verließ sie.