Читать книгу Einführung in die Systemtheorie - Niklas Luhmann - Страница 10

Zweite Vorlesung

Оглавление

Wie geht nun Parsons weiter vor? Was fängt er mit diesen Vorgaben an? Zunächst einmal bietet das Schema die Möglichkeit der Schwerpunktsetzung. Das hatte ich schon angedeutet. Wenn eine Handlung oder ein Handlungskomplex sich auf eine dieser Funktionen konzentriert, spricht Parsons von »functional primacy«, vom Primat einer Funktion. Dann bildet sich ein entsprechendes System aus, beziehungsweise differenziert sich ein entsprechendes System um eine einzelne Funktion. Im Fall der Konzentration etwa auf die Funktion »adaptation« im Bereich der sozialen Realisierung von Handlung bildet sich ein System für Wirtschaft.

Wie aber kann ein solches System »System« sein? Wie kann in einem solchen abgesonderten Komplex »Handlung« zustande kommen? Nach Parsons ist dies nur so möglich, dass wiederum auch in dem für »adaptation« reservierten Bereich alle vier Funktionen erfüllt sein müssen. Auch wirtschaftliches Handeln muss eigene adaptive Funktionen erfüllen, es muss ein eigenes goal attainment erreichen, also zum Beispiel befriedigenden wirtschaftlichen Ertrag, es muss integriert sein, und es muss die patterns, die eigenen Strukturen, im Zustand von Latenz erhalten, also durchtradierbare Strukturmuster schaffen können. Innerhalb des einzelnen ausdifferenzierten, funktionsspezialisierten Systems kommen alle anderen Funktionen noch einmal vor.

Das führt zu dem Gesamttheorem, dass das System in sich selbst wiederholt werden kann: dass aus jeder Box wiederum vier Unterboxen entstehen können: dass aus jedem Teilsystem wiederum vier und immer nur vier Teilsysteme entstehen können. Die Frage, wie weit das getrieben werden kann, ob auch ein Sechzehntelsystem wiederum in vier Boxen zerlegt werden kann, ist eine praktische Frage an die erreichbare Komplexität des Systems, an die erreichbare Komplexität der Handlungswirklichkeit. Lohnt es sich? Kommt es dazu? Ist genügend Material vorhanden, damit solche Untersysteme in immer größerer Verfeinerung gebildet werden können? Darüber braucht man kein endgültiges Urteil zu fällen, das lässt die Theorie gewissermaßen offen und überlässt es der sozialen Realität, das heißt, man muss nachsehen, ob sich und in welchen Gesellschaften sich ein Spezialsystem für Wirtschaft oder für Politik bildet oder nicht.

Man sieht hier, dass die Theorie eine erhebliche geschichtliche, evolutionäre Offenheit hat. Sie kann verschiedene Geschichtszustände unter dem Gesichtspunkt beschreiben, ob für spezifische Funktionen bestimmte Sondersysteme ausdifferenziert sind, ob es also Geldwirtschaft oder territorialstaatliche Politik gibt oder nicht; und entsprechend, wie weit in der Wirtschaft die dafür geeigneten Subsysteme ausdifferenziert sind. Von der Theorie her hat man zunächst einmal den Eindruck, dass dies eine schreckliche Komplexität wird: 4 mal 4 mal 4 ad libitum ohne von der Theorie vorgeschriebene Entwicklungsgrenzen. Aber in der Sache selbst kann Parsons immer antworten, dass wir nachsehen müssen, ob solche Chancen genutzt werden oder nicht. Die wirkliche Limitierung liegt darin, dass es immer nur vier Funktionen sein können, dass also alle Evolution auf dem vorgegebenen Gleis einer ganz bestimmten Differenzierung laufen muss, darin jedoch auch Disbalancierungen aufweisen kann, zum Beispiel die Wirtschaft stark ausdifferenzieren und die Integration vernachlässigen kann. Das wäre das Durkheimproblem der Solidarität in einer Gesellschaft mit hoher Arbeitsteilung. Aber solche Disbalancierungen, wiederum eine Hoffnung Durkheims, sind vorübergehend und erfordern irgendwann einmal korrektive Nachentwicklungen in den anderen Funktionssystemen. Diese auf den ersten Blick irritierende, auch störende Multiplikationsvorschrift des Systems in sich selber hat also durchaus auch historische, aktuelle, realistische Interpretationsmöglichkeiten. Parsons versucht auch, in seinen eher historischen oder entwicklungstheoretischen Überlegungen diese Möglichkeiten auszunutzen. Das kann nur in dem Maße gelingen, als es gelingt, die Boxen mit Namen oder mit Plausibilitäten zu versorgen, also jeweils immer angeben zu können, welche Realität hinter einer kombinatorischen Möglichkeit steckt. Dies scheint mir die wirkliche Schwierigkeit des Systems zu sein, da, wie bereits gesagt, dieses Problem nicht deduktiv gelöst werden kann, sondern durch inventorische, inventarisierende Fantasie gelöst werden muss, auch ein gutes Stück theoretischer Kreativität erfordert. Es lohnt, sich nachzusehen und im Einzelnen zu kontrollieren, wie Parsons vorgegangen ist, welche Namen welche Boxen erhalten und welcher Einsichtsgewinn und wie viel Realismus hinter dieser Verfahrensweise steckt. Das kann im Rahmen dieser kurzen Vorstellung der Theorie nicht geschehen. Ich muss mich damit begnügen, zwei Fälle durchzudeklinieren.

Der erste Fall ist die allgemeinste Version der Systemtheorie, das heißt das Handlungssystem schlechthin. Der zweite Fall, ich hatte Beispiele daraus schon benutzt, ist der Fall des sozialen Systems. Parsons spricht im Übrigen von solchen Ebenen der Detaillierung oder von solchen Detaillierungsgraden der Theorie als »system references«. Eine seiner bemerkenswerten Einsichten ist, dass man immer Systemreferenzen unterscheiden muss, dass man also wissen muss, auf welcher Systemebene der Detaillierung des Gesamtkomplexes man argumentiert und bestimmte Mechanismen, bestimmte interchange-Möglichkeiten und so weiter ansetzen will.

Wir befinden uns also jetzt zunächst einmal auf der Ebene des allgemeinen Handlungssystems, der allgemeinsten Ebene, die in dieser Theorie vorgesehen ist, wenn man einmal die Spätentwicklung einer generellen Theorie der »human condition« außer Acht lässt. Also, Handlung als solche: Was garantiert die Möglichkeit von Handlung als solcher (Abb. 2)?

Abbildung 2: Das Handlungssystem. A = Adaptation, G = Goal Attainment, I = Integration, L = Latent Pattern Maintenance

Hier ist die adaptive Funktion (»adaptation«) durch etwas besetzt, was Parsons »behavioral organism« beziehungsweise »behavioral system« nennt. Damit ist nicht die gesamte Biologie gemeint, also die Zellchemie oder das, was wir über Hormone wissen, auch nicht die Anatomie des menschlichen Körpers und dergleichen, sondern immer nur das, was ein Organismus leisten muss, um Verhalten zu ermöglichen, das heißt, um die Verhaltenskomponente des Handelns zustande zu bringen. Sie sehen hier übrigens, dass das sogenannte Subjekt, der Handelnde, aufgelöst wird; ein Teil davon ist eben dieser »behavioral organism«. Warum und mit wie viel Fantasie der »behavioral organism« in diese Box platziert wird, also instrumentelle Funktionen und außengerichtetes Verhalten erzeugen soll, ist eine Frage, über die man verschiedener Meinung sein kann, wie alle diese Zuordnungen einen gewissen Spielraum für Kritik offen lassen. Parsons hat es zunächst einmal so gesetzt. Er sieht den Organismus als diejenige Komponente von Handlung, mit der das Handeln sich Außenbedingungen anpasst oder auch langfristige Gleichgewichte mit externen ökologischen Bedingungen sucht. Das ist gerade unter neueren Interessen an Beziehungen zwischen Handlung oder auch Gesellschaft und Ökologie nicht uninteressant. Es sagt uns nämlich, dass die Ökologie, die Umwelt, auf das Handeln nur in dem Sinne einwirkt, als sie den »behavioral organism« beeinflusst, also einen Aspekt, und zwar nicht den kulturellen Aspekt des Handelns, stört oder auf dieser Ebene Anpassungen erfordert. Die Gesellschaft kann als Handlungsgesellschaft nicht überleben, wenn nicht der Organismus die Möglichkeit bietet, sich den ökologischen Bedingungen laufend anzupassen, und dafür eingerichtet ist. So muss er in einem Beispiel, das Parsons gerne gibt, die Bluttemperatur konstant halten können, um sein Gehirn regelmäßig mit Blut versorgen zu können, und dies in Anpassung an Temperaturschwankungen der Umwelt.

Sobald man fragt, ob diese Box nicht auch ganz anders besetzt sein könnte, bekommt man Zweifel. Wenn man aber der parsonsschen Direktive folgt, findet man hohe Plausibilität und eigentümliche Einsichtsgewinne, die man sonst in der Soziologie vergebens suchen würde. Jedenfalls würde man sie nicht in einem Kontext finden, in dem es nicht auch andere Einsichtsgewinne gibt, das heißt in einem theoretisch-integrierten Kontext.

Die nächste Box, die Box für »goal attainment«, ist durch »personality«, also durch »Persönlichkeit« besetzt. Hier sind die subjektiven – im Sinne von psychischen oder bewusstseinsmäßigen – Funktionen lokalisiert. Wieso hier und wieso diese hier? Offenbar kommt es Parsons darauf an, das psychische System als ein System einzuführen, das kontrolliert, ob Handlungen befriedigend (»consummatory«) ablaufen: also entweder im Vollzug der Handlung, im aristotelischen Sinne als »práxis«, befriedigen oder sich an Zielvorstellungen und am Zielerreichen erfreuen können, wenn man so will. Wiederum eine merkwürdige Sicht auf die Psychologie. Das Subjekt kondensiert gleichsam an der Funktion des Kontrolleurs von befriedigenden Zuständen des Handlungssystems, nicht nur des Subjekts selbst. Und es ist außenorientiert. Wieso dies? Vielleicht kann man sagen – aber das geht über das, was bei Parsons vorliegt, hinaus –, dass das psychische System in der Lage ist, ständig interne Präferenzen, also Selbstbewusstsein, Bewusstsein des Bewusstseins, mit externen Referenzen, also mit Wahrnehmung, zu vermitteln. Lässt man sich auf diesen Gedanken ein, sieht man, dass die eigentliche psychische Leistung sich im Unterschied zu einer langen europäischen Tradition vom Denken eher auf das Wahrnehmen verlagert und dass man die Umweltorientierung, die hier eine Rolle spielt und die in Bezug auf befriedigende Werte kontrolliert wird, in der psychisch ermöglichten Wahrnehmung sehen kann. Der »behavioral organism« hat ja nur die Möglichkeit, eigene Zustände zu kontrollieren. Das Nervensystem dient nur dazu, den Organismus oder vielleicht auch nur sich selber zu beobachten. Es ist komplett geschlossen und ist nur über Evolution, über evolutionäre Selektion, mit Umweltverhältnissen abgestimmt. Aber das psychische System kann unter dem Gesichtspunkt von Lust und Unlust – das ist übrigens ein parsonssches Forschungsthema aus den 50er-Jahren – sich selber in Bezug auf eine variable Umwelt kontrollieren.

Wir haben also wiederum einen merkwürdigen Doppeleffekt. Einerseits ist zu fragen, warum nun gerade diese Option für diesen Kasten wahrgenommen wird; andererseits hat man dann doch den Anreiz, zu versuchen herauszubekommen, was man mit dieser Option sehen kann. Ich meine, wenn man die Entscheidung trifft, psychische Systeme dominant über Wahrnehmung zu thematisieren oder auch nur ihren Handlungsbeitrag über die Wahrnehmungsmöglichkeit, über die Wahrnehmungswelt der Psyche, zu thematisieren, dass man dann der parsonsschen Option in dieser Ecke des gesamten Modells hohe Plausibilität abgewinnen kann.

Die nächste Box kombiniert konsumatorische und internale Richtlinien, Beziehungen, Funktionen, Variablen oder was immer. Hier setzt Parsons das »soziale System« ein. Auf den ersten Blick ist dies wiederum merkwürdig. Wieso dient das soziale System der Integration von Handlungen und warum wird Integration als Herstellung einer internen Ordnung unter konsumatorischen Aspekten, also unter Gegenwartsaspekten, verstanden? Der Gedanke von Parsons scheint zu sein, dass es darauf ankommt, die Handlungen verschiedener Organismen und Personensysteme zu koordinieren: dass es also darauf ankommt, Personen mit ihren Beiträgen in ein Handlungsnetz, das aus mehreren Personen besteht, einzufügen. Auffällig ist die deutliche Trennung von personalen Systemen und sozialen Systemen. Beide stehen unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zum Zustandekommen von Handlung nebeneinander. Beide sind füreinander im Kontext der internen Differenzierung des Handlungssystems Umwelt. Zieht man außerdem noch den »behavioral organism« mit in den Blick, dann sieht man, dass eine Dekomposition der Einheit des Menschen, der sichtbaren, wahrnehmbaren Einheit des Menschen, in drei Komponenten vorliegt. Alles wird unter dem Gesichtspunkt gesehen, welche Komponenten was zum Zustandekommen von Handlung beitragen. Es geht nicht um eine Anthropologie. Die immer wieder modische, immer wieder aufkommende Frage »Wo bleibt der Mensch in der soziologischen Theorie?« ist hiermit auf eine spezifische Weise beantwortet.

Schließlich der letzte, noch verbleibende Fall, der Fall der »latent pattern maintenance« auf der Ebene des allgemeinen Handlungssystems oder, anders gesagt, die Koordination von instrumenteller Orientierung – kein Verzicht, kein Fallenlassen von Strukturmustern in der Latenzphase – mit internalen Orientierungen, das heißt mit der Orientierung auf das Handlungssystem selbst und nicht auf die Umwelt. Hier setzt Parsons »Kultur« ein. Das scheint mir als Theorieentscheidung zunächst recht plausibel zu sein. Kulturmuster sorgen für die Reaktivierbarkeit von Verhaltensmustern, für die Reaktivierbarkeit etwa von Rollen und einzelnen Handlungstypen in zeitlich weit auseinander liegenden Situationen. Jedenfalls ist das eine von vielen möglichen Definitionen von Kultur. Parsons selbst ist mit diesem Kulturbegriff in Kontroversen geraten, die ich hier im Einzelnen nicht nachzeichnen kann, aber deren Interesse darin besteht, ausfindig zu machen, wie weit man in diesen Kulturbegriff technische Artefakte, zum Beispiel Handwerkszeug, Schrift und dergleichen, einbeziehen kann oder nicht. Innerhalb der Ethnologie, der Anthropologie, auch der Archäologie tendiert man manchmal dazu, alles für Kultur zu halten, was bei Ausgrabungen gefunden werden kann, und die semantische Komponente der Kultur zu unterschätzen oder wiederum nur als Werkzeug, das heißt nur über Sprache, zu thematisieren. Für Parsons ist dieser Unterschied weniger wichtig. Sein Kulturbegriff deckt auch die Wiederbenutzbarkeit eines Werkzeuges ab, die Wiederbenutzbarkeit sprachlicher Kombinationsmöglichkeiten, das heißt den Umstand, dass man sich an Wörter und an die Grammatik erinnert, die Wiederbenutzbarkeit eines Hammers, nachdem man ihn wochenlang nicht benutzt hat. Man weiß, wo er ist und wozu er dient. Dies alles benennt recht einleuchtend die Voraussetzung der Integrierbarkeit des gesamten Handlungssystems. Dabei wird Integrierbarkeit nicht im Sinne der spezifischen Funktion der Integration verstanden, sondern im Sinne der Systemintegration über Zeichen hinweg.

Das Theorieprogramm sagt nun, dass diese vier verschiedenen Teilsysteme oder Funktionssysteme evolutionär primär differenziert sein müssen, bevor es zu weiteren Unterdifferenzierungen innerhalb der einzelnen Funktionssysteme kommen kann. Ich möchte, um diese Problematik zu veranschaulichen, jetzt nur noch auf das soziale System eingehen und zu zeigen versuchen, wie sich Parsons hier eine Subdifferenzierung nach dem AGIL-Schema vorstellt. Dies ist auch die am stärksten entwickelte Teilseite der Theorie oder, wenn man so will, die früheste, da Parsons das ganze System schließlich für Zwecke der Soziologie entworfen hat (Abb. 3).

Abbildung 3: Das soziale System. A = Adaptation, G = Goal Attainment, I = Integration, L = Latent Pattern Maintenance

Abbildung 4 verdeutlicht, in welchem Feld wir uns inzwischen bewegen.4

Abbildung 4: Das soziale System im Handlungssystem des »General Paradigm of the Human Condition«. A = Adaptation, G = Goal Attainment, I = Integration, L = Latent Pattern Maintenance

Ich hatte bereits angedeutet, dass das adaptive Subsystem des sozialen Systems – oder, anders gesagt, das adaptive Subsystem des integrativen Subsystems des Handlungssystems – als Wirtschaft bezeichnet wird. Es kommt zur Ausdifferenzierung dieses Komplexes immer dann, wenn langfristiSge Adaptierung des Handlungssystems an Umweltsituationen eine Rolle spielt, also, grob gesagt, wenn es zu Kapitalbildungen kommt, das heißt, wenn ein Geldmechanismus eingeführt wird, der dafür sorgt, dass man immer auf noch unvorhergesehene Umweltsituationen reagieren kann, indem man Kapital einsetzt, sei es, um zu produzieren, sei es, um zu kaufen, sei es, um Ressourcen aus der Umwelt zu entnehmen, sei es, heute, um Abfall zu beseitigen. Der Realismus dieser Konzeption steckt, wie mir scheint, darin, dass der Geldmechanismus die entscheidende Rolle für die Ausdifferenzierung des Systems spielt, das heißt, dass die evolutionäre Errungenschaft Geld (Parsons spricht von einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium) überhaupt erst dazu geführt hat, dass sich Wirtschaft als Teilsystem ausdifferenziert hat und dass dadurch die Anpassungsbedingungen an die Umwelt verbessert, also die Langfristigkeit der Sicherung der Kontinuität des Handlungssystems garantiert werden kann.

Die »goal attainment«-Funktion wird bei Parsons im Bereich des sozialen Systems als Politik definiert. Auch das hat zu Kontroversen geführt, die in sich selbst sehr interessant sind, die ich aber hier nicht ausreichend behandeln kann. Das waren Kontroversen über den Kontrast, sei es mit klassischen, also aristotelischen, alteuropäischen und so weiter Politikvorstellungen, die in der Politik die Funktion der Realisierung des eigentlich Menschlichen erwarten, sei es mit kritischen Theorien, die Politik nur als Annex von Wirtschaft sehen. Für Parsons ist das politische System ein eigenständiges System im sozialen System des Handlungssystems. Die Besonderheit der Politik liegt in der Sicherung konsumatorischer, also in sich gegenwärtig befriedigender Zustände. Auch das kontrastiert auf eigentümliche Weise mit einem Politikbegriff, der für uns normal ist und in dem die Politik als eine instrumentelle Einrichtung gesehen wird, die immer bessere Leistungen, immer bessere Sozialzustände zu erreichen versucht. Für Parsons stellt sich die Frage, ob das wirklich der Sinn von Politik ist. Parsons formuliert, dass er die Funktion für Politik im spezifischen Sinne als »collectively binding decision making« beschreibt. Das heißt, die Politik muss in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen, die, wie ich sagen möchte, im Moment der Entscheidung kollektiv binden, die also anerkannt werden, die Unterstützung finden, die insofern befriedigen, die auch auf Vertrauen in die Fähigkeit und in die Richtigkeit von Entscheidungen, vielleicht auch in die Autorität des Politikers beruhen und die in diesem Sinne konsumatorisch sind, obwohl es immer, das ist die zweite Komponente, um externe Funktionen, also um das Verhältnis System und Umwelt geht.

Während diese beiden nach außen gerichteten Funktionskomplexe »adaption« und »goal attainment« sozusagen bekannte Namen haben und dadurch Parsons in Kontroversen mit üblichen Vorstellungen in der Wirtschaftstheorie oder in der Politiktheorie verstrickt haben, sind die beiden anderen Kästchen mit innovativen und relativ unsicheren Bezeichnungen formuliert. Warum hier terminologische Defizienzen auftreten, ist schwer zu sagen. Vielleicht liegt das an der Einseitigkeit der Perspektive der modernen Sozialwissenschaften oder generell der modernen Gesellschaftstheorie, die immer sehr stark auf die Unterscheidung von Staat und Wirtschaft oder Staat und Gesellschaft, wie man im 19. Jahrhundert gesagt hat, Wert legte und die anderer Bereiche demgegenüber vernachlässigt hat, also nicht zusätzlich noch auf Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Recht und so weiter in der gleichen Ranglage Wert gelegt hat. Parsons jedenfalls steht vor der Notwendigkeit, diese Dichotomie von Politik und Wirtschaft, Staat und Gesellschaft durch zwei verschiedene weitere Funktionen zu ergänzen, und mehr darf es dann auch nicht geben.

Die Integrationsfunktion wird für den Bereich des sozialen Systems durch das erfüllt, was Parsons »Gemeinschaft« nennt oder mit Ausdrücken wie »communal system«, mit affektiv-emotional ansprechenden Ausdrücken, besetzt, ohne dass diese Komponente theoretisch wirklich herausgearbeitet und stark gemacht wird. Man muss sehen, dass hier die merkwürdige Komposition auftritt, dass es sich um die Integrationsfunktion innerhalb der Integrationsfunktion handelt. Das soziale System dient ja schon der Integration des Handlungssystems, und jetzt wiederholt sich diese Funktion in dieser Funktion. Dies ergibt sich aus der Frage, wie das soziale System selber integriert wird, das heißt, wie das soziale System für sich selbst dazu kommt, für rein soziale Funktionen Handlungen zu motivieren – und dies, obwohl Personen beteiligt sind, die lieber im eigenen Namen oder auf eigene Rechnung handeln möchten, oder obwohl Kultur beteiligt ist, die unter eigenen Konsistenzproblemen, unter eigenen Konsequenzen bestimmter semantischer Schemata operieren möchte und auf die sozialen Konsequenzen gar keine Rücksicht nimmt. Man denke an die theologischen Streitigkeiten des Mittelalters, die zur Reformation geführt haben und die, als der Buchdruck hinzukam, sozial nicht mehr aufgefangen werden konnten.

Im sozialen System wird demnach einerseits die Integration für das Handlungssystem geleistet, aber andererseits muss das soziale System dann auch selber Integrationsfunktionen leisten können, das heißt innerhalb der sozialen Komponenten wie Wirtschaft, Politik und so weiter wiederum Integrationsfunktionen erfüllen können. Dies wird durch den Ausdruck »social community«, soziale Gemeinschaft und dergleichen besetzt.

Schließlich gibt es den vierten Fall, dass innerhalb des sozialen Systems wiederum »latent pattern maintenance functions« zu erfüllen sind. Auch in der sozialen Ordnung stellt sich das Problem der Erhaltung von Strukturmustern in ihrer Latenzphase. Parsons nennt diesen Bereich »Treuhandsystem« (»fiduciary system«) in dem Sinne, dass er sich eine Kultur vorstellt, die eigendynamisch ist, die sich zum Beispiel in sehr viel längeren Wellen – oder vielleicht auch in kürzeren Wellen, wenn es um Mode geht – ändert, als dies im sozialen System kopiert werden kann, sodass es im sozialen System Beziehungen zur Kultur gibt, die auf Umformulierung, auf Internalisierung von Kultur in soziale Muster, auf Einbau von Kultur in soziale Muster abgestimmt sind.

An dieser Stelle taucht die Frage auf, welchen Sinn es überhaupt haben kann, zwischen Kultur und sozialen Systemen zu unterscheiden. Dies ist eine eher unübliche Unterscheidung, da man sich kaum soziale Operationen vorstellen kann, die präzise auf rein kulturelle Aspekte gerichtet sind, und andererseits auch kaum soziale Handlungen vorstellen kann, die ganz ohne diese Funktion der »latent pattern maintenance« auskommen. Dennoch hat Parsons die Möglichkeit im Blick, dass so etwas geschieht, dass eine Spezialisierung von sozialen Funktionen und sozialen Handlungsbereichen für Treuhandfunktionen in Richtung auf die Kultur möglich ist. Er hat ein ganzes Buch über die amerikanische Universität primär unter diesem Gesichtspunkt geschrieben. Das heißt, es gibt soziale Systeme, die die Kultur, was immer der Rest dieser Kultur dann noch sein mag, für soziale Funktionen aufbereiten, akzeptierbar machen. Eine der interessanten Versionen dieses Konzeptes ist es, dass es offenbar »Intellektuelle« gibt, die sich der Aufgabe annehmen, Kultur sozial zu vertreten.

Ich möchte es bei diesen beiden Analysen des Handlungssystems im Allgemeinen und des sozialen Systems im Besonderen belassen. Es kommt hier nur darauf an, Ihnen die Argumentationskapazität einer solchen Theorie vorzuführen: zu zeigen, in welche selbst verursachten Schwierigkeiten sie gerät und wie das Nachdenken, die Auseinandersetzung mit den selbst geschaffenen Schwierigkeiten auf innovative Wege führt, jedenfalls wenn man ein Theoretiker von der Kreativität ist, wie es Parsons gewesen ist. Zugleich zeigt sich damit jedoch eine gewisse Hermetik des Theoriekonzeptes. Die Begriffe werden immer nur innerhalb des Viererschemas definiert. Die Notwendigkeit, Boxen plausibel auszufüllen, leitet die Theorieentscheidungen. Es hat dann immer weniger Sinn, sich zu überlegen, wie der parsonssche Kulturbegriff mit dem der Kulturanthropolgie oder mit den Hermeneutikproblemen à la Gadamer und so weiter zusammenhängt. Theorievergleiche werden immer schwieriger, je deutlicher ein spezifisches Theoriemuster hervortritt.

Wenn Sie den bisherigen Überlegungen gefolgt sind, könnten Sie nun der Meinung sein, dass Parsons’ Theorie sich im Wesentlichen mit der Definition, Ausfüllung und Anplausibilisierung dieser Boxen beschäftigt. Das wäre jedoch ganz verkehrt. Zumindest trifft das nur einen Aspekt dieser Theorie. Ein wesentlicher Teil der hinzukommenden theoretischen Überlegungen hat es mit der Beziehung zwischen diesen Boxen zu tun, mit der Beziehung zwischen den Teilsystemen. Alle weiteren Theoriemittel sind auf Konsequenzen der funktionalen Differenzierung angesetzt. Das gibt der Theorie einen bemerkenswerten Stil. Sie behandelt die Differenzierung des Handlungssystems und die Konsequenzen einer immer weiter gehenden Differenzierung und steht damit durchaus im Zusammenhang mit durkheimschen Vorstellungen von Arbeitsteilung oder überhaupt mit der soziologischen Tradition, die die moderne Gesellschaft als differenzierte Gesellschaft beschrieben hat.

Ich kann hier auf die einzelnen Versuche, zwischen den Teilsystemen Beziehungen herzustellen, nicht im Detail eingehen. Ich nenne nur die prinzipiellen Ansätze dafür. Ein erster Ansatz ist die Vorstellung einer Kontrollhierarchie. Die Systeme werden hierarchisch im Sinne einer doppelten Hierarchie von unten und von oben, AGIL und LIGA, geordnet.5 Die Kultur steuert das System »kybernetisch«, wie Parsons sagt, insofern sie mit geringer Energie soziale Systeme beeinflusst, diese dann personale Systeme und diese wiederum ihren Organismus beeinflussen. Das erfordert jeweils größeren Energieeinsatz, je weiter man nach unten kommt, aber das Steuerungsmittel selbst ist Information. In der umgekehrten Perspektive geht es um Konditionierungen, das heißt um die Bereitstellung von Energiemöglichkeiten für das Zustandekommen von Handlung, also etwa körperlicher Bewegungsmöglichkeiten, sensomotorischer Fähigkeiten, dann motivationaler Energien aufseiten des personalen Systems und Verständigungskapazitäten, wenn man so will, im Bereich des sozialen Systems und schließlich die damit gegebenen Grundlagen für die Vermittlung und Weiterreichung von Kultur. Das ist die Idee einer Kontrollhierarchie.

Dann gibt es, was vielleicht wichtiger ist, die Vorstellung symbolisch generalisierter Tauschmedien: Zwischen den Systemen gibt es »interchange«-Beziehungen (Parsons meint sogar »double-interchange«-Beziehungen) auf einer allgemeineren und einer konkreteren Ebene, und jedes System besitzt eigene Medien, um diese Tauschbeziehungen zu steuern, das Wirtschaftssystem beispielsweise Geld, das politische System Macht, das soziale System der Gemeinschaft »influence«, Einfluss, Autorität und das Kultursystem des sozialen Systems »value commitments«, Bindungen an bestimmte Werte. Es gibt eine sehr elaborierte Theorie der Konstruktion solcher Tauschmedien nach«vergleichbaren Kriterien.6 Ich halte das für einen der großartigsten Versuche, Vergleichsmaßstäbe zu finden, also Identität und Verschiedenheit innerhalb eines Theorierahmens gleichzeitig unterzubringen. Im Übrigen ist dies auch ein interessanter Versuch, das Rationalitätsproblem, das Max Weber pauschal für Handlung als solche gestellt hatte und dann in die Typen, die nicht weiter begründet waren, dekomponiert hatte, jetzt auf dieses differenzierte System zu beziehen und zu sehen, dass im ökonomischen Bereich, im politischen Bereich, im community-Bereich, im Treuhandbereich und überhaupt in allen Systemen, die Medien ausbilden, ganz verschiedene Kriterien der Rationalität fungieren.

Schließlich gibt es noch einen weiteren Versuch, Beziehungen herzustellen, ebenfalls mit sehr interessanten Zusatzeinsichten, der unter dem Titel »interpenetration« läuft.7 Danach gibt es Beziehungen zwischen den Systemen, die auf partieller Überschneidung beruhen, auf Einfügung der komplexen Leistungen anderer Teilsysteme in das jeweils rezipierende. Dieser Begriff der Interpenetration macht es möglich, Theoriestücke, die ganz getrennt angefallen sind, zu integrieren. Die Interpenetration der L-Funktion in die I-Funktion, also der »latent pattern maintenance« und der »integration« oder der Kultur in das soziale System läuft zum Beispiel über »Institutionalisierung«: Die Kultur muss institutionalisiert werden, das heißt sozial aufbereitet, sozial verwendbar gemacht werden. Die Interpenetration der Kultur in das personale System läuft über »Sozialisation«: Personen müssen im sozialen Kontakt sozialisiert werden, damit sie ihren Beitrag am Handlungssystem erbringen können, und, das finde ich interessant, die Interpenetration des personalen Systems mit dem »behavioral organism« läuft über den Begriff des Lernens. Der Körper muss lernen, dem personalen System zu gehorchen, also sich aufrecht zu halten, sich ordentlich zu benehmen, genau die Bewegungen auszuführen, die ihm psychisch kommandiert werden und so weiter.

Diese drei Aspekte der Zwischensystembeziehungen – kybernetische Kontrollhierarchie, Kommunikationsmedien oder Interchangemedien und Interpenetration – sind in sich schlecht integriert und sind auch mit der Innenaufteilung der Systeme in jeweils vier Boxen schwer zu integrieren. Parsons hat in diese Frage viel Arbeit gesteckt und mehr oder weniger plausible, aber dann sehr komplexe Lösungsversuche vorgeführt, aber daran zeigt sich schon, dass er sich in der Ausarbeitung seiner Theorie immer stärker in selbst geschaffene Zwänge verstrickt, immer stärker von dem üblichen Sprachgebrauch abweicht, immer stärker auf eigene Probleme reagieren muss und immer mehr den Kontakt mit dem soziologieüblichen Jargon verliert. Abgesehen von der ideologischen Kritik der Theorie, die nie argumentativ Kontakt gesucht hat, also nie in die Theorie eingestiegen ist, scheint mir diese in gewisser Weise kleinformatige Selbstdisziplinierung der Arbeit an dieser Theorie eine der Hauptschwierigkeiten zu sein und vor allen Dingen die Schwierigkeit, die den Schülerkreis von Parsons behindert hat oder sehr stark reduziert hat, der vor der Anforderung stand, sich auf einzelne Boxen oder auf einzelne Spezialprobleme dieser Theorie zu konzentrieren oder anderenfalls nicht mitmachen zu können.

Es hat sicherlich keinen Sinn, schlicht zu sagen, die parsonssche Theorie sei gescheitert, oder es seien grundlegende Fehler in die Theorie eingebaut, die man heute erkennen könne, aber sie war in gewisser Weise doch eine Sackgasse in der Entwicklung einer spezifisch soziologischen Systemtheorie. Nie zuvor und nie später ist in einem so durchkonstruierten Rahmen so viel an soziologischer Einsicht zusammengefasst worden. Andererseits zeigt sich an der Hermetik der Theorie, dass man von da aus den interdisziplinären Fortschritten der Systemtheorie im Allgemeinen nicht mehr folgen kann.

Parsons hat wie kein anderer Soziologe zu seiner Zeit nichtsoziologische Theorieleistungen integrieren können. Das gilt für die ökonomische Theorie, aber auch für Freud. Das gilt auch für die Input-Output-Sprache der Systemtheorie, für Aspekte der Linguistik, für Aspekte der Kybernetik und so weiter. Aber in dem Maße, in dem die Systemtheorie auf Selbstreferenz umschaltet, zeigt sich, dass die parsonssche Theorie nicht mehr rezeptionsfähig ist. Deshalb scheint mir hier eher das Auslaufen einer eigenständigen soziologischen Theorieentwicklung vorzuliegen, und das gibt uns alle Gründe, uns zunächst einmal im interdisziplinären Raum näher umzusehen.

1 In seinem Aufsatz Wie ist soziale Ordnung möglich?, in: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 195–285, hier: S. 260, zitiert Luhmann den Satz »Action is system«, allerdings ohne Anführungsstriche, aus Talcott Parsons’ Aufsatz The Position of Identity in the General Theory of Action, in: Chad Gordon und Kenneth J. Gergen (eds.), The Self in Social Interaction, Bd I. New York: Wiley 1968, S. 11–23, hier: S. 14.

2 Nach Talcott Parsons, A Paradigm of the Human Condition. In: ders., Action Theory and the Human Condition. New York: Free Press 1978, S. 352–433, hier: S. 361. Ich habe die anderen drei Felder offen gelassen, weil Luhmann nur ihre Funktion benennt, aber inhaltlich nicht auf sie eingeht. Parsons benennt sie als »Telic System« (L), »Physico-Chemical System« (A) und »Human Organic System« (G).

3 So David Lockwood, Social Integration and System Integration. In: Georg K. Zollschan und Walter Hirsch (eds.), Social Change: Explorations, Diagnoses, and Conjectures. Boston: Houghton Mifflin 1964, S. 244–257.

4 Ergänzung d. Hrsg.

5 Siehe hierzu Parsons, A Paradigm of the Human Condition (siehe Fußnote 2), insbesondere S. 362 ff. und 374 ff.

6 Siehe hierzu Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, hrsg. von Stefan Jensen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1980.

7 Siehe etwa Talcott Parsons, Social Systems. In: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory. New York: Free Press 1977, S. 177–203.

Einführung in die Systemtheorie

Подняться наверх