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1. Funktionalismus der Systemerhaltung

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Ich beginne mit dem Versuch zu skizzieren, was sich in den 40er- und 50er-Jahren in der Soziologie, und zwar vornehmlich, ja fast ausschließlich in den Vereinigten Staaten, als soziologische Systemtheorie herausgebildet hat. Dabei sind es im Wesentlichen zwei Bereiche, auf die man achten muss. Der erste Bereich läuft unter dem Titel Strukturfunktionalismus oder Bestandsfunktionalismus, und der zweite Bereich ist eine Eigenleistung von Talcott Parsons. In beiden Hinsichten ist es gegen Ende der 60er-Jahre zu einer erheblichen ideologischen Kritik des systemtheoretischen Ansatzes gekommen. Schon diese Kritik war eher ideologisch als substanziell theoretisch fundiert, aber sie hat ausgereicht, um die weiteren Arbeiten an einer soziologischen Systemtheorie mehr oder weniger auszuschalten.

Wenn man heute in die Vereinigten Staaten kommt und mit Soziologen diskutiert und sich zu einem systemtheoretischen Ansatz bekennt, hört man oft erstaunte Kommentare, so als ob man mindestens 20 Jahre hinter der Entwicklung des Faches zurück sei, während von mir aus gesehen gerade umgekehrt Soziologen, die die Systemtheorie für eine erledigte Sache halten, ihrerseits nicht wahrnehmen, was sich im interdisziplinären Feld inzwischen entwickelt hat.

Natürlich spielen dabei Disziplinbarrieren eine Rolle, aber sie müssen nicht unbedingt unüberwindlich sein. Kein Zweifel zunächst einmal, dass von heute aus gesehen die Ansätze, die in den 40er- und 50er-Jahren entwickelt worden sind, erhebliche Schwächen aufweisen. Ich will ganz kurz skizzieren, was man damals unter »Bestandsorientierung«, »Bestandsfunktionalismus« oder auch »Strukturfunktionalismus« verstanden hat.

Ausgangspunkt waren ethnologische, sozialanthropologische Forschungen, die mit bestimmten tribalen Settings arbeiten, also mit Stämmen, die irgendwie isoliert oder als Gegenstände der Forschung begrenzbar erschienen und zugleich in einer historischen Gestalt, in einem bestimmten Volumen, einer Größe mit bestimmten Strukturen und so weiter erkennbar und erforschbar waren. Von da aus kam man offensichtlich nicht zu einer allgemeinen soziologischen Theorie, also zu einer allgemeinen Frage, wie denn überhaupt soziale Ordnung möglich sei oder was ein soziales System, eine soziale Ordnung unterscheide zum Beispiel von psychischen oder biologischen Phänomenen.

Für diese Beschränkung auf einen vorgegebenen Gegenstand hat Talcott Parsons in dem Buch The Social System von 1951 eine plausible Erklärung gegeben. Der Soziologe müsse einen konturierten, begrenzten Gegenstand vor Augen haben, wenn er überhaupt anfangen wolle zu forschen. Es sei für die Soziologie bei dem momentanen Stand der Entwicklung schlechterdings unmöglich, sich eine Art newtonsches Variablenmodell vorzustellen, wonach bestimmte Variablen angegeben würden, aber die kombinatorischen Verhältnisse zunächst einmal ungeklärt blieben, denn im Bereich der Soziologie gibt es kein Äquivalent für Naturgesetze, auch nicht, vermutet Parsons, in einem rein statistischen Sinne. Deshalb brauchte man eine zweitbeste Theorie: eine Theorie, die sich bestimmte Systemstrukturen als Ausgangspunkt vorstellt und von dort aus zu erkennen versucht, welche Funktionen zur Erhaltung der Strukturmuster dienen. Das hatte Ende der 40er-Jahre und in den 50er-Jahren zu Fragen geführt wie zum Beispiel: Was sind die Bestandsvoraussetzungen eines sozialen Systems? Was sind insbesondere die Bestandsvoraussetzungen einer Gesellschaft? Welche Mindestanforderungen an Erhaltung und an Problemlösung müssen erfüllt sein, damit eine Gesellschaft überhaupt bestehen kann? Sie muss natürlich bestehen, wenn man sie erforschen will. Das hat dann allerdings bestenfalls nur zu einer Liste, zu einem Katalog von solchen Bestandsvoraussetzungen geführt, die theoretisch nicht weiter begründet werden konnten, sondern ad hoc eingeführt wurden und primär natürlich mit dem Hintergedanken, dass man bei einer Gesellschaftstheorie sowohl den Bereich der Wirtschaft als auch den Bereich der Politik, den Bereich der Familie, den Bereich der Religion und der grundlegenden Werte mit in die Theorie einbeziehen müsse.

Abgesehen von dieser Schwäche, die mir bis heute nicht eigentlich korrigierbar zu sein scheint, gab es aber als zweites Problem, dass die Begriffsarbeit durch den strukturfunktionalen Ansatz beschränkt war. Es machte wenig Sinn, nach der Funktion von Struktur zu fragen oder Begriffe wie Bestand, Bestandsvoraussetzung, Variable oder den ganzen methodologischen Apparat weiter aufzulösen. Das heißt, die begriffliche Arbeit an einer Theorie wurde beschränkt durch die Annahme, dass ein bestimmter strukturierter Gegenstand vorgegeben sei.

Und schließlich kam es zu dem dritten Einwand, dass keine klaren Kriterien für einen Bestand angegeben werden können. Es war von vornherein klar, dass eine solche Theorie zwei Dinge einbeziehen musste, nämlich einerseits Abweichungen von vorgegebenen Normen oder Strukturmustern. Der ganze Bereich der Devianz, des abweichenden Verhaltens, der Kriminalität, der Dysfunktionen gehört in diese Theorie hinein und kann nicht als etwas außerhalb des sozialen Systems beiseitegelassen werden. Gravierender noch war andererseits die historische Frage, das heißt die Frage, in welchem Zeitraum eigentlich ein Bestand identisch gehalten wird und welches Ausmaß an Strukturänderungen den Soziologen oder den Beobachter oder auch den Teilnehmer eines sozialen Systems dazu veranlassen würde, ein anderes soziales System zu unterstellen, also eine Identitätsveränderung anzunehmen.

Man kann sich dieses Problem am Begriff oder auch am Phänomen der Revolution verdeutlichen: War die europäische Gesellschaft vor der Französischen Revolution eine andere als hinterher? Oder: Wird sie nach der Revolution, von der die Marxisten erwarten, dass sie irgendwann einmal eintreten wird, eine andere Gesellschaft sein als vorher? Wird die Auflösung der kapitalistischen Ordnung der Produktionsverhältnisse eine andere Gesellschaft herbeiführen, wie im Allgemeinen gesagt wird? Aber welches Ausmaß an Änderung muss eintreten, damit Beobachter einstimmig sagen können: Die alte Gesellschaft ist so und so beschaffen; die neue Gesellschaft hat die und die andersartigen Strukturen?

Dieses Problem der Bestandskriterien wurde auch im Blick auf die Biologie diskutiert, und dort sah man, dass Bestand oder Nichtbestand für einen lebenden Organismus durch die Möglichkeit des Todes klar definiert ist. Solange der Organismus lebt, ist sein Bestand erhalten. Das Lebende reproduziert sich aus eigenen Mitteln, aber der Tod beendet dieses System, und das ergibt eine klare Identitätsschranke mit nur geringen Zweifelszonen, angesichts deren man nicht genau weiß, ob ein Lebewesen noch lebt oder schon tot ist.

Für die Soziologie fehlen derartig klar geschnittene Kriterien. Das kann bedeuten, dass die Frage der Identität eines Systems im System selber und nicht durch einen Außenbeobachter gestellt und beantwortet werden muss. Ein System muss die Entscheidung darüber selbst herbeiführen, ob es sich im historischen Verlauf in der Veränderung von Strukturen so weit verändert hat, dass es nicht mehr dasselbe ist.

Wir können mit dieser Modifikation verstehen, weshalb in den 50er- und frühen 60er-Jahren die Differenz zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften eine solche Rolle gespielt hat. Man stellt sich vor, dass die moderne Gesellschaft nicht mehr diejenige ist, die wir als traditionale Gesellschaft beschreiben. Aber zugleich hat man dann auch wieder Modernisierungsüberlegungen angestellt. Man hat überlegt, welche Planungen nötig seien, um traditionale Gesellschaften, die auf dem Erdball noch zu finden sind, in moderne Gesellschaften zu überführen. Und das hat wiederum unklar gemacht, wo eigentlich die Grenze der Identität eines Systems ist. Das Konzept des Bestandsfunktionalismus oder des Strukturfunktionalismus führt vor diese Frage. Wenn man dieser Frage nur mit Inanspruchnahme einer Selbstbeschreibung, einer internen Thematisierung der Identität des Systems im System, beantworten kann, hat man Probleme der Selbstreferenz, die in diesem klassischen Rahmen nicht behandelt werden, auch nicht theoretisch bewusst geworden sind. Dies alles waren, wenn man so sagen darf, Schwächeerscheinungen der ersten Typik von soziologischer Systemtheorie, die durchaus diskutiert wurden und in den 60er-Jahren als Literatur, als lesbare Ansicht vorlagen. Das allein hat aber offenbar nicht ausgereicht, um die Systemtheorie prinzipiell als theoretischen Ansatz abzulehnen, denn schließlich gab es eine ganze Menge von fruchtbaren und gewinnbringenden Erkenntnissen, gerade auch im Sektor von Devianz und Dysfunktionen, gerade auch in Fragen der strukturellen Widersprüche, der Wertkonflikte und der Behandlung von Wertkonflikten innerhalb des sozialen Systems und gerade auch in Fragen der Behandlungen des Strukturwandels, der Veränderung und der Grenzen der Veränderung von Strukturen innerhalb gesellschaftlicher Ordnungen.

Man konnte diese Theorie im normalen Duktus eines wissenschaftlichen Fortschrittes nicht gut mitsamt ihren Forschungserfolgen einfach ad acta legen, ohne einen angemessenen Ersatz zu beschaffen, also ohne das, was man in diesem Rahmen erforscht hatte, in einen neuen Theorierahmen zu überführen. Das ist dann jedoch nicht geschehen, und deshalb ist mein Eindruck, dass wir bestimmte Dinge verloren haben, das heißt, dass wir mit dem Verzicht auf den Strukturfunktionalismus, auf die Limitierung von Forschung durch Bestandsvoraussetzungen, gewisse Erkenntnisse einfach aufgegeben haben und dass wir noch nicht wieder in der Lage sind, diese Gewinne in einen anderen Theoriesatz einzubauen. Die Soziologiegeschichte hat es deshalb nicht nur mit ihren Klassikern zu tun, die das Fach, wenn man so sagen darf, begründet haben, sondern auch mit einer relativ erfolgreichen, auch interdisziplinär angesehenen Forschungsweise, die in den 40er-, 50er-Jahren vor allem in Amerika gepflegt worden ist.

Die Gründe, weshalb das aufgegeben worden ist, waren denn auch mehr ideologischer Art als, sagen wir, theorietechnischer Art. Die Schwächen der Theorie waren, wie gesagt, bekannt, aber die Ablehnung der Theorie hatte andere Wurzeln. Die Ablehnung beruhte vor allem auf der Vermutung, dass man von diesen Theoriegrundlagen aus nicht zu einer hinreichend radikalen Kritik der modernen Gesellschaft kommen würde. Die Normalisierung der sozialen Zustände nach dem Zweiten Weltkrieg hatte zunächst einmal positive Aspekte ermöglicht, das heißt, man vertraute auf Möglichkeiten, innerhalb der generellen Struktur moderner Gesellschaft Zustände zu verbessern. In den 60er-Jahren und dann in den 70er-Jahren wurde jedoch mehr und mehr deutlich, dass dies nur mit erheblichen Kosten oder auch mit Randzonen der vollständigen Unmöglichkeit zu haben sei. Im Bereich der Entwicklungspolitik und der Modernisierung von Entwicklungsländern sah man, dass mehr und mehr Projekte fehlschlugen, mehr und mehr Verelendung, Armut sichtbar wurde und mehr und mehr die Frage aufkam, ob in der Struktur der modernen Gesellschaft Faktoren eine Rolle spielen, damals sprach man vom »Kapitalismus«, die es unmöglich machten, zu einer gerechten Verteilungsordnung, zu einem die gesamte Bevölkerung der Erde erfassenden Fortschritt zu kommen. Natürlich konnte man auch innerhalb von Industriegesellschaften solche Beschränkungen des Positiven leicht beobachten. Auch hier blieben Klassenphänomene erhalten, auch hier war an eine gleichmäßige Verteilung von Wohlstand nicht zu denken. Auch hier war Demokratie zwar eingerichtet, aber sie war zu einer Parteiendemokratie geworden, die unfähig war, alle Impulse, die politisch an das System herangetragen wurden, wirklich in Politik umzuformen. Auch hier war gerade von der Soziologie aus sichtbar geworden, dass es bei aller Forschungsoffenheit des politischen Systems oder anderer Anwendungssysteme doch mehr oder weniger unmöglich war, soziologisches Wissen und vor allen Dingen kritisches Wissen in die Praxis hereinzutragen.

Es gab vielerlei im Rückblick auch verständliche Gründe dafür, dass der Bedarf für eine sehr viel radikalere, kritische Theorie aufkam und mehr und mehr Aufmerksamkeit und Intellektuelleninteressen an sich zog. Das ließ es dann als überflüssig erscheinen, sich mit den Details, mit den Verdiensten und Schwierigkeiten, mit den Vorteilen und Nachteilen einer systemtheoretischen Behandlung sozialer Fragen noch eingehend zu befassen. Das System wurde, und dies nicht ohne Grund, als etwas eher technisches, als ein Planungsinstrument, als ein Instrument der Modellierung sozialer Institutionen verstanden, als ein Hilfsinstrument für Planer, die doch nichts anderes im Sinn hatten, als die herrschenden Verhältnisse zu wiederholen, zu verbessern, zu rationalisieren.

Es gab, um dies zusammenzufassen und abzuschließen, mithin verschiedene Gründe für einen Stopp in der Weiterentwicklung des Bestandsfunktionalismus oder der strukturfunktionalen Theorie, einerseits immanente Schwächen, aber andererseits, und das war das Dominierende, eben auch eine ideologische Kritik, einen Bedarf an einer modernen Verhältnissen entsprechenden kritischen Gesellschaftstheorie – der dann aber nur mit relativ kruden Rückgriffen auf marxistisches Gedankengut eingelöst wurde.

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