Читать книгу Keine Helden - Piraten des Mahlstroms - Nils Krebber - Страница 6

3. Kapitel

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Das Haus der Gräfin lag in Hochburg, dem Teil von Kammerbad, der auf den Rest der Stadt herabblickte wie der hochmütige Sohn eines Grafen auf die Schweinehirten in seinen Ställen. Die Villen waren durchgehend aus Stein und hatten zwischen drei und vier Stockwerken. Schwarze, rote und grüne Ziegel bedeckten die Spitzdächer, Adelswappen oder Gildenzeichen zierten die Giebel, um die Besitzer weithin anzupreisen.

Das Haus der Gräfin war eines der wenigen unmarkierten Gebäude, nur verziert mit den Symbolen von Heim und Herd. Entweder hatte die Gräfin noch keine feste Unterkunft erworben oder sie befand sich nur auf der Durchreise. Auf jeden Fall profitierte sie zur Zeit von der Gastfreundschaft Churuns, der Herrin des Friedens.

Eberhart und Aurelia trugen wieder Ihre feinen Kleider, allerdings hatte Aurelia einige Ihrer Accessoires ausgetauscht, um den Anschein zu erwecken, sie trage ein neues Kleid. Es war grade genug, dass es der Gräfin auffallen und Ihre Geschichte von den finanziellen Problemen unterstreichen würde. Keine Wachen standen an der Pforte des Hauses, allerdings war das in einem Viertel wie Hochburg auch kaum nötig. Genug Gardisten von anderen Adelshäusern patrouillierten so regelmäßig, dass die Häuser der Churun sicherer waren als die Banken in den unteren Vierteln.

Vor der Pforte atmeten die beiden Komplizen noch einmal tief durch und sahen sich an.

Eberhart grinste.

»Bist du bereit für unseren großen Auftritt, mein Schneckchen?«

Aurelias Hand traf ihn am Hinterkopf. »Aber natürlich, mein Geliebter.« Sie grinste ebenso unverschämt zurück. »Was soll schon passieren?«

Dann verwandelte sich Ihr Ausdruck in den einer gelangweilten, leicht angeekelten Trophäenfrau. Eberhart setzte den leidgeprüften Blick eines Mannes mit sowohl finanziellen als auch privaten Sorgen auf, ergriff den Ring und ließ ihn beherzt auf den bronzenen Türklopfer schlagen.

Als die Tür sich öffnete, stockte beiden der Atem. Ihnen gegenüber stand eine der furchterregendsten Erscheinungen, die das Imperium der Menschheit hervorgebracht hatte. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, zwei Steinschlosspistolen in der Schärpe und mit dem silbernen Hammer auf der Brust, offenbarte sich die Gestalt als Hexenjäger der heiligen Inquisition des Loknar. Keine Frau, kein Mann und kein Kind waren sicher vor der Verfolgung der Templer, deren heilige Pflicht über jedem weltlichen Gesetz stand. Keine Furcht war so tief verankert wie die, als Hexe oder Häretiker beschuldigt zu werden, denn so etwas wie einen Freispruch kannte die Inquisition nicht. Es war immer nur eine Frage, wie lange es dauerte, bis die Beschuldigten gestanden, und wie weit innerhalb der Familie und Freunde die Hexenjäger die Verderbnis verbreitet sahen. Jede Hexenjagd resultierte in einer Welle von Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen, und die einzigen Gewinner in diesen schlimmen Zeiten waren die Totengräber und Scharfrichter.

Der unbarmherzige Blick des Inquisitors bohrte sich in Eberharts Augen. Sein vernarbtes Gesicht trug die Spuren eines entbehrungsreichen Lebens. Die tiefen, dunklen Ränder unter den schwarzen Augen und die blasse Haut, die an Kopf und Kinn von grauen Stoppeln bedeckt war, ließen das Gesicht des Mannes wie einen Totenschädel wirken.

Stille breitete sich aus wie ein Leichentuch. Eberhart hörte nur das Rauschen seines Blutes in den Ohren. Seine Gedanken rasten. Wie war man Ihnen auf die Spur gekommen? Hatten Sie im Suff geredet? Oder hatte doch jemand Aurelia erkannt, trotz der neuen Haarfarbe? Oder ging es gar nicht um sie? War die Gräfin eine Häretikerin? Eine Hexe? Oder hatte sie Feinde, die sie so sehr hassten, dass sie Ihr die Hexenjäger auf den Hals hetzten? Selbst wenn es nicht um Aurelia ging, war jede Sekunde, die sie zögerten, eine zuviel. Kalter Schweiß brach ihm aus und verzweifelt ging er die Möglichkeiten durch, wie er die Aktion jetzt und hier abbrechen konnte.

»Ihr wollt zur Gräfin?« Die Stimme des Mannes war leise und kratzig, als habe er Probleme zu atmen. Trotzdem lag eine derartige Drohung darin, dass Eberhart unfähig war, zu antworten.

Stattdessen fasste Aurelia sich ein Herz.

»Wenn es ungelegen ist, können wir später wiederkommen. Unsere Geschäfte sind nicht dringlich und wir würden niemals der Inquisition im Wege stehen wollen.« Ihre Stimme zitterte, und sie musste jede ihrer Muskeln anspannen, um nicht sofort die Flucht zu ergreifen.

»Keineswegs. Die Gräfin erwartet Euch.« Der Hexenjäger trat einen Schritt zurück und winkte sie herein. Aurelia und Eberhart wechselten einen Blick. Eberhart kniff kurz die Augen zusammen, dann nickte er einmal heftig und schritt über die Schwelle. Aurelia folgte ihm mit einem Schritt Abstand. Beide spürten die Präsenz des Templers als kalten Schauer, der Ihnen den Nacken herablief. Die Tür schloss sich mit einem endgültigen Schlag, und die beiden fragten sich, ob sie das Haus jemals wieder verlassen würden.

Der Flur war bedeckt mit dicken Teppichen, die jedes Geräusch ihrer Schritte verschluckten. Von den Wänden starrten ungnädige Heilige auf die beiden herab. Es war wie der Gang zum Galgen. Eberhart öffnete die Doppeltür am Ende des Flurs und sie betraten ein lichtdurchflutetes Empfangszimmer. Große verglaste Türen führten in einen üppigen Garten, weitere Fenster ließen das Tageslicht ungehindert in das Zimmer fluten. Die Strahlen spielten über Lüster, strategisch verteilte Spiegel und kristallene Karaffen und Weingläser, die auf einem großen Tisch drapiert waren.

Inmitten all des Lichtes wirkte die Gräfin selbst beinahe unwirklich. Eine Aurora von Sonnenstrahlen umschmeichelte ihre schlanke Gestalt und ließ die wertvollen Steine an Hals und Finger glitzern wie Tautropfen auf einer exotischen Orchidee. Ihr Kleid war aus hellgrauem Satin, dazu passende Handschuhe reichten bis zum Ellbogen. Sie stand an einem langen Tisch, auf dem diverse Dokumente ausgebreitet lagen, und wandte sich um. Es schien, als sei sie in das Studium vertieft gewesen und habe ihre Besucher vergessen, aber es dauerte nur einen Augenblick, bis ein verschmitztes Lächeln auf ihrem Gesicht erschien.

»Mein lieber Eberhart, teuerste Aurelia, Sie wirken , als hätten Sie einen Geist gesehen! Ist meine Erscheinung denn so schrecklich?«

Wieder rang Eberhart nach Worten, aber diesmal fing er sich rechtzeitig. »Keineswegs, holde Gräfin. Es ist nur so, dass der Aufstieg nach Hochburg für einen Mann meiner Statur doch anstrengender ist als erwartet. Was Aurelia angeht, so ist sie zum ersten Mal in einem Gasthaus der Churun und gewiss nur beeindruckt von der Erhabenheit der Umgebung.« Er deutete mit einer weiten Geste über den Raum. »Ein solches Patio wäre selbst in den Gildenhallen der Südmeergesellschaft undenkbar.«

Die Gräfin ließ ein perlendes Lachen ertönen. »Und Ihr seid nicht im Geringsten davon beeindruckt, das Euch ein Mitglied der heiligen Inquisition an meiner Tür erwartet? Eberhart, Ihr seid ein wahrhaft schmeichelhafter Lügner. Adrian, komm herein und begrüße unsere Gäste, aber ohne die finstere Miene.« Der Templer schritt an Ihnen vorbei an die Seite der Gräfin. Seine Miene verzog sich zu etwas, das man mit Wohlwollen als Lächeln bezeichnen konnte. Es schien ihm beinahe körperliche Schmerzen zu bereiten.

»Adrian von Berg, Templer des Ordo Primus und Cousin zweiten Grades der Gräfin del Mar. Als ältester männlicher Verwandter unterliegt sie meiner Protektion, bis sie einen angemessenen Ehemann gefunden hat.« Er schaute gequält zu Ihr herüber. »Was wahrscheinlich bedeutet, dass die Hexen des Imperiums noch einige Zeit auf meinen Zorn verzichten müssen.«

Die Gräfin schlug ihm spielerisch mit dem Fächer auf die Schulter.

»Wenn du mal mit zu einem Ball kommen würdest, hättest du keinen Mangel an Hexen zu beklagen, Adrian.« Sie wandte sich ihren Gästen zu. »Entschuldigt den plumpen Scherz, aber ich mag es so, die Reaktion meiner Gäste auf Adrian zu sehen. Es sagt viel über jemanden aus, wie er sich dem Blick der Inquisition stellt.« Sie deutete mit dem Fächer an den Tisch. »Aber tretet näher, wir sind hier, um uns die Aufzeichnungen anzusehen, die Ihr freundlicherweise habt liefern lassen. Und ich denke, Ihr könnt auch eine Erfrischung gebrauchen, nicht wahr?«

Eberhart und Aurelia traten an den Tisch, und Adrian schenkte Ihnen einen leicht perlenden Wein ein, bevor er sich entschuldigte und zurückzog. Aurelia tauschte noch einige Komplimente mit der Gräfin aus, bevor Sie das Haus verließ, um im Garten zu lustwandeln.

Nun konnten sich Eberhart und die Gräfin in Ruhe den Papieren widmen. Sie bewies einen wachen Verstand und stellte präzise Fragen zu den Erklärungen, die Eberhart über die verschiedenen Aufzeichnungen abgab, vor allem, welche Rückschlüsse man über die Bewegungen des Korsarenfürsten treffen konnte. Schon nach kurzer Zeit holte die Gräfin diverse religiöse Texte aus Ihrer eigenen Sammlung hinzu, um Referenzen zu prüfen und Verbindungen herzustellen. Die Zeit verging wie im Fluge und beide waren überrascht, als Aurelia sich mit einem Räuspern zu Wort meldete.

»Entschuldigt, dass ich Eure Studien unterbreche – aber die Sonne wird bald untergehen.« Sowohl Ihre Stimme als auch Ihre Haltung zeugten von vollkommener Langeweile.

Eberhart warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »Bei Laros‘ stürmischen Gezeiten, du hast recht.« Hektisch begann er, seine Papiere einzusammeln. »Ihr müsst entschuldigen, Gräfin, aber Ihr wisst ja, dass Bürgerliche Hochburg zur Sperrstunde verlassen müssen.« Er verbeugte sich überschwänglich. »Es war eine wundervolle Erfahrung, und ich würde unsere Studien gerne vertiefen. Aber ...« Er stockte. »Ich werde wohl in näherer Zukunft nicht zur Verfügung stehen. Geschäftliche Verpflichtungen zwingen mich, die Stadt auf unbestimmte Zeit zu verlassen.« Er verbeugte sich ein weiteres Mal. »Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Bis dahin wünsche ich Euch viel Glück mit Euren wissenschaftlichen Forschungen. Aurelia, kommst du?« Aurelia verbeugte sich ebenfalls, und die beiden drehten sich um.

»Warten Sie, Eberhart. Ich habe von Ihren ... geschäftlichen Verpflichtungen gehört. Nach Eurem Abschied von der Ausstellung wart Ihr schnell das Gespräch des Abends. Und es wäre mir ein Gräuel, wenn ein Mann von Eurem Intellekt und Eurer Begeisterungsfähigkeit im Schuldturm darben müsste.« Die Gräfin warf Aurelia einen bedeutungsschweren Blick zu.

Eberhart blickte zu Boden und zerknitterte seine Kappe zwischen den Händen.

»Gräfin, Ihr solltet nicht auf solche Gerüchte hören. Das ist unter Eurer Würde. Und meine geliebte Frau sollte ihre Zunge hüten, wenn Sie in der Öffentlichkeit ist.« Aurelia zuckte nur gelangweilt mit den Schultern.

»Seid ehrlich zu mir, Eberhart. Wie viel schuldet Ihr den Schiffsbauern?« Sie verschränkte ihre Hände ineinander und schaute ihn unverwandt an. Eberhart schaute zu Aurelia, die ihm zunickte. Er fasste sich ein Herz und blickte sie an. »Eintausend Goldkronen. Es ist ja noch nicht mal so, dass ich das Geld nicht habe, aber meine Ladung hängt irgendwo im Süden fest. Und keine der Banken hier ist bereit, einem gildenlosen Händler einen Kredit einzuräumen. Wir haben schon alles versetzt und beliehen, was man beleihen kann, aber«, er hob die Hände, »es reicht nicht. Ich bin mir sicher, die Schiffer sind von der Handelsgilde aufgehetzt. Sie wollen keine Freihändler in Kammerbad. Ich hätte niemals herkommen dürfen. Das Imperium ist kein Ort für Freigeister.«

Die Gräfin hob Ihren Fächer, um ein Lächeln zu verbergen. »Aber, aber, mein lieber Eberhart. Solch verräterisches Gerede kann Euch noch viel länger ins Gefängnis bringen als ein paar Goldkronen Schulden.« Sie schritt langsam zu den beiden herüber.

Eberharts Schultern sackten herunter. »Verzeiht meinen Ausbruch, aber es kann frustrierend sein, immer und überall auf seine Worte zu achten. Heute hatte ich zum ersten Mal seit Monaten das Gefühl, ein vernünftiges Gespräch zu führen, ohne überall imperiale Spione vermuten zu müssen. Und außerdem finden sie bestimmt einen Grund, mich einsperren zu lassen. Meine Einstellung ist weithin bekannt, und jetzt, wo ich in finanziellen Nöten bin, holt mich mein Hochmut ein. Es ist, wie mein Vater immer sagte: ›Der Arm des Gesetzes hängt an einem rostigen Scharnier, das mit Gold geschmiert werden muss‹.« Er strich sich mit der Kappe über die verschwitzte Stirn.

Aurelia schaute verächtlich auf ihn herab.

»Wartet einen Moment.« Die Gräfin schritt zur Tür und rief Ihren Cousin zu sich. Dann reichte sie dem Hexenjäger einen kleinen, silbernen Schlüssel aus einem Beutel an Ihrem Gürtel.

»Bring mir bitte die Schatulle aus dem Geschäftszimmer.« Adrian schaute sie einen Moment mit seiner steinernen Miene an. Sie nickte scharf, dann nahm er den Schlüssel und verschwand. Wenige Augenblicke später kam er zurück, unter dem Arm eine eiserne Kiste und stellte sie vorsichtig ab. Die Gräfin umrundete den Tisch, öffnete sie und begann, einen kleinen Beutel nach dem anderen herauszuheben. Als zehn Stück vor ihr lagen, verschloss die Gräfin die Schatulle wieder und reichte sie an den Hexenjäger.

Adrian warf Aurelia und Eberhart einen unmissverständlich missbilligenden Blick zu, dann trug er die Kiste hinaus.

Die Gräfin deutete auf die Beutel.

»Tausend Goldmünzen, in imperialen Greifen. Betrachtet es als eine Investition in Euer Geschäft. Genaugenommen«, sie blickte Eberhart tief in die Augen, »in Euch. Ich brauche jemanden mit Eurem Verstand für meine weiteren Forschungen. Enttäuscht mich nicht!«

Eberhart hob abwehrend die Hände. »Das kann ich unmöglich annehmen, meine ...« Aurelias Ellbogen traf ihn in die Seite. Ihr Blick sprach Bände. Dann wandte sie sich selbst an die Gräfin.

»Eure Großzügigkeit wird nicht vergessen werden, Eure Hoheit. Mein Mann ist vielleicht zu stolz, um dieses Geschenk anzunehmen. Aber als Frau in dieser Gesellschaft habe ich Eines gelernt: Niemals sollte dummer Stolz dem Wohlergehen der Familie im Wege stehen.« Sie nahm die Beutel an sich, verstaute sie in Eberharts Gürteltaschen, verbeugte sich und trat zurück.

Eberhart schaute zu Boden. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Noch nie war jemand so ... selbstlos zu uns.« Er schaute auf, und in seinem Gesicht zeigte sich feste Entschlossenheit. »Was immer Ihr braucht, Eure Hoheit, wie auch immer ich Euch helfen kann – es soll euch gehören.« Er griff sich ans Herz. »Das schwöre ich auf das Grab meiner Mutter.«

Die Gräfin lächelte. »Ich danke Euch für Eure freundlichen Worte. Doch nun sputet Euch, Ihr sollt meinetwegen nicht noch mehr Schwierigkeiten bekommen.«

Unter den aufmerksamen Blicken Adrians verließen die beiden das Haus. Sie hielten die Fassade noch aufrecht, bis sie die Tore nach Hochburg passiert hatten. Dann konnten sie nicht mehr und fielen sich in die Arme. Eberhart prustete.

»Vor unseren Augen! Sie hat die Schatulle vor unseren Augen geöffnet!« Er konnte sich kaum halten. »Sag mir, dass du was mit dem Schlüssel anfangen kannst!«

»Mit einem Zwölfer Markus und Brüder? Ganz ehrlich, sie hätte die Kiste auch gleich auflassen können. Und er war viel zu kurz weg, um im Obergeschoss gewesen zu sein, also bleiben ganze zwei Räume, in denen sie sein kann. Beide Fenster sind schon präpariert. Du hast ja alle Register gezogen bei deiner Vorstellung. Was du dir da aus dem Ärmel geschüttelt hast, mein Dickerchen – Respekt.« Sie knuffte ihn an die Schulter.

Eberhart wurde etwas nachdenklich.

»Tatsächlich musste ich gar nicht so viel dazu erfinden. Es ist schon ein bisschen unheimlich, aber diese ganzen Südmeergeschichten – das sind alles Sachen, die ich wirklich recherchiert habe. Du weißt doch, für meine Handelsroute.« Er winkte ab. »Egal, auf jeden Fall hat es gewirkt. Ich wäre ja fast interessiert, was sie mit der ganzen Geschichte anfangen will.«

Aurelia schaute gen Himmel. »Viel interessanter ist, dass die Außenmauer des Gartens keine Herausforderung darstellt. Der einzige Unsicherheitsfaktor ist unser neuer Freund – Inquisitor Adrian vom Berg. Was hältst du von ihm? Und dieser merkwürdigen Familiengeschichte.« Während sie sprach, rollte sie die Handschuhe ab und stopfte sie in eine Tasche.

Eberhart fuhr sich durch die fettigen Haare. »Gute Frage. Die ganze Geschichte stinkt irgendwie. Ein Templer des Loknar, der die Familie vor die Kirche stellt? Und trotzdem im vollen Habit herum läuft? An der Geschichte ist mehr dran. Die einzige Frage ist, hat er dich erkannt? Wie beeinflusst er unseren Plan?«

»Unwahrscheinlich. Ich sehe nicht, was er davon hätte, abzuwarten. Dementsprechend beeinflusst er unseren Plan kaum. Ich hatte sogar mit mehr Bediensteten gerechnet, und er kann ja nicht überall sein. Solange er nicht auf der Geldschatulle hockt, interessiert er mich nicht.« Sie kratzte eine Narbe auf ihrem Unterarm. »Was ich mich frage, ist: Haben wir einen Köder für ihn? Können wir ihn irgendwie aus dem Haus bekommen? Da wäre die Ideallösung.« Sie schaute zu den Kuppeln des Loknartempels herüber. »Womit locken wir einen Hexenjäger aus seinem Loch ...«

Nacht legte sich über die Dächer von Hochburg wie eine samtene Decke. Der Wind wehte gerade so stark, dass sich die Fahnen sachte in den Wind legten und die Rauchfahnen der Schornsteine leicht zerfaserten. Jetzt, da die Sonne fort war, konnte man die letzte Kälte des jüngst vergangenen Winters noch spüren – die Hitze des Sommers hatte sich noch nicht in den Steinen der Häuser festgesetzt, sodass sie rasch abkühlten.

Aurelia hockte auf dem Giebel eines Hauses, zwei Straßen von der Unterkunft der Gräfin entfernt. Ihre Haare wurden von einem dunkelbraunen Tuch gebändigt, der Rest Ihrer Kleidung war ebenfalls in verschiedenen Erdtönen gehalten. Ein schmales Seil war um Ihren Oberkörper gewickelt und eine große Tasche hing eng an Ihrer Seite, gesichert durch verschiedene Schnüre und Riemen. Sie beobachtete die Gruppe von Gardisten, die sich im Schein Ihrer einzigen Laterne langsam durch die Straße bewegte. An der nächsten Biegung wartete eine kleine Überraschung auf die drei.

Ein markerschütternder Schrei schallte durch die Straße. Eine blutbeschmierte Gestalt taumelte aus einer Seitengasse auf den Anführer mit der Laterne zu. Sie klammerte sich an den Mann und schüttelte ihn. »Es ist grauenhaft! Grauenhaft! Die Tore des Abgrunds, sie öffnen sich! Rettet Euch, RETTET EUCH!« Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die nächtliche Stille, dann ein grässliches Kreischen. Gelblicher Rauch quoll aus der Gasse hervor. Die Gestalt riss sich los und schlug dabei dem Wächter die Laterne aus der Hand. Dann stolperte sie davon. »Rettet Euch, die Dämonen des Abgrunds sind los. Rettet Euch!«

Das war zu viel für die armen Gardisten - sie schlugen Alarm. Ein dreifacher Hornstoß ertönte, der alsbald in der Ferne beantwortet wurde. Gleichzeitig rannte einer der Wächter in Richtung von Aurelias Zielobjekt.

Zufrieden lächelnd begleitete sie ihn von Dach zu Dach bis zum Eingang des Gasthauses. Schon nach kurzer Zeit konnte sie beobachten, wie sich Adrian, einen Mantel hastig über die Schultern geworfen, dem panischen Wächter anschloss.

Aurelia hob das Seil von ihrer Schulter und befestigte einen dreifingrigen, metallenen Haken an einem Ende. Mit wenigen Umdrehungen holte sie Schwung und ließ ihn in weitem Bogen über die Straße, die angrenzende Mauer und schließlich in die Baumkrone eines der kleinen Obstbäume fliegen, in deren Schatten sie noch vor wenigen Stunden gelustwandelt war. Sie prüfte mit ein paar kräftigen Rucken den Halt des Seils, dann verzurrte sie das Ende am Kamin neben Ihr. Sie spähte noch einmal in die Tiefe der Gasse, warf einen Lederriemen über das gespannte Seil, ergriff ihn mit der anderen Hand und sprang mit Anlauf vom Dach. Es gab einen kurzen Moment des freien Falls, dann einen heftigen Ruck, und schon sauste sie an dem Seil entlang in Richtung des Gartens. Über der Mauer musste sie kurz die Beine anziehen, dann ließ sie den Riemen fahren und duckte sich zusammen, um den Sturz abzufangen. Sie landete heftig im weichen Rasen und rollte einmal, zweimal, bevor sie kurz vor den Rosen auf die Beine kam.

Sie musste mit aller Macht einen Triumphschrei unterdrücken. Nichts machte so viel Spaß, wie sein Leben bei einer unnötig riskanten Akrobatikeinlage zu riskieren! Sie schaute sich schnell um und überprüfte, aus welchen der Fenster noch Licht schien. Erster Stock rechts, Erdgeschoss Terrasse. Wie sie vermutet hatte, war die Gräfin bei dem Tumult ebenfalls erwacht und saß im beleuchteten Empfangsraum, ein Buch auf den Knien. Aurelia machte sich keine Sorgen, dass sie etwas gesehen haben mochte. Der Raum war mit zwei Lampen und mehreren Kerzen beleuchtet, der Garten stockdunkel.

Auf leisen Sohlen stahl sich Aurelia an eines der danebenliegenden Fenster, hinter denen kein Licht auszumachen war. Dahinter lag einer von zwei möglichen Räumen, aus denen der Inquisitor die Schatulle geholt haben konnte. Der andere in Reichweite war die Küche – nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich. Aurelia schob einen schmalen Haken zwischen die Fensterläden und hob den Riegel an, den sie am Tag vorher gelockert hatte. Mit einer geschmeidigen Bewegung war sie im Inneren. Vorsichtig tastete sie sich bis zur Wand vor, wo sie eine Öllampe fand, und entzündete den Docht. Schnell warf sie Ihren Umhang vor die Tür, damit niemand im Vorbeigehen Schatten durch den Spalt erspähen würde. Dann machte sie sich daran, das Zimmer zu inspizieren. Ein Schreibtisch, ein Wandschrank, Gemälde, Wandbehänge, eine Truhe. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass in den Gasthäusern der Churun irgendwelche komplexen Geheimfächer eingebaut waren. Schreibtisch und Wandschrank waren schnell durchsucht, blieb die Truhe. Ein aufwändig gearbeitetes Stück mit diversen Verzierungen, die Meeresungeheuer, Tritonen und andere Figuren aus dem Mahlstrom darstellten. Aurelia nahm die Öllampe aus der Halterung, um die Details des Verschlusses näher zu untersuchen. Ein schweres Schloss, wahrscheinlich nordländisch oder sogar eine zwergische Auftragsarbeit. Wer in so etwas investierte, beließ es wahrscheinlich nicht dabei.

Vorsichtig strich Aurelia die Verzierungen am Deckel entlang und hielt gleichzeitig Ausschau nach abgenutzten Stellen oder verräterischen Lücken. Hier war eine Schnitzerei etwas locker, aber das war nur ein Transportschaden. Da! Der Dreizack des Laros, wie symbolisch! Aurelia hielt den im Dreizack verborgenen Schalter gedrückt, während sie mit der linken Hand die verschiedenen Werkzeuge ausprobierte, bis sie einen passenden Dietrich fand. Vorsichtig drehte sie den Nachschlüssel, bis sie ein Klicken hörte und die leichte Bewegung am Dreizack spürte. Sie wollte gar nicht wissen, was für eine unangenehme Überraschung auf sie gewartet hätte, wenn sie den Schalter nicht gefunden hätte. Giftdorne, Säurespritzer, sie hatte schon alles Mögliche gesehen, was Adelige so in Ihre kleinen Geheimverstecke einbauten. Langsam, in Erwartung weiterer gespannter Drähte oder ähnlichen Mechanismen, hob sie den Truhendeckel an.

Der Anblick der Beute zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen.

Als sie zurück über die Dächer huschte, konnte Aurelia einen Ausruf der Freude kaum unterdrücken. Sie waren reich! Reich! Keine Sorgen mehr. Keine kleinen Betrügereien mit irgendwelchen Matrosen oder schmierigen Beamten – völlige Freiheit. Es gab so viel, das sie mit diesem Geld tun konnte.

Sie hielt kurz inne, während sie auf einem Wasserspeier balancierte. Was würde sie mit diesem Geld tun? Soweit hatte sie nie geplant. Aurelia ließ sich von dem Wasserspeier fallen und rutschte das Schrägdach hinab, um sich dann über die Häuserschlucht zu katapultieren. Eigentlich war es ihr immer nur darum gegangen, sich an den Reichen und Mächtigen zu rächen. Am Imperium, das ihren Bruder getötet hatte. An den Pfaffen, die Ihre Familie daraufhin in die Fänge bekommen hatten. An den Gilden, die Ihr verwehrt hatten, sich um Ihre Familie zu kümmern. Sie wollte Ihnen nur zeigen, dass all Ihre Regeln lächerlich waren. Aurelia landete im vollen Lauf auf dem nächsten Flachdach. Weiter! Sie wich einigen Taubenkäfigen aus und balancierte über eine Leine, die zwischen zwei Häusern gespannt war.

Und jetzt? Was sollte sie mit all diesem Geld? Einer von ihnen werden? Eberhart hatte seine Pläne: Ein Schiff kaufen, eine Expedition in den Süden starten. Aber was hatte sie damit zu tun? Sie hasste das Meer fast ebenso, wie sie das Imperium hasste. Einen Moment blickte Aurelia an der Mauer nach unten – sie war am Hafen angekommen. Sie überlegte, ob sie nicht einfach den ganzen Sack mit der Beute ins Hafenbecken werfen sollte. Es hätte etwas symbolisches, die Macht des Adels in das Reich Ihres elenden Gottes zu werfen. Sollten Sie sehen, ob Laros ihn wieder hergab. Ihren Bruder hatte er behalten. Trotz all der Gebete und Spenden, die Ihre Familie seiner Priesterschaft in den Rachen geworfen hatte. Trotz all Ihrer Schwüre im Kloster, Ihrem Flehen.

»Laros ist ein harter Gott. Er belohnt nur die Würdigen. Wie Siobhan Sturmgeboren, die den Schreckenskapitän zurück in den Mahlstrom trieb. Ist dein Bruder würdig, ein Sturmgeborener zu sein?«, hatten sie gesagt. Aurelia spuckte ins Meer. Nein, Laros würde diesen Reichtum gewiss nicht auch noch bekommen. Sollte Eberhart ihn nutzen, um dem Sturmgott ein Schnippchen zu schlagen mit seiner Flotte!

Sie sprang in Richtung der Takelage eines der Marineschiffe und seilte sich aufs Deck ab. Bevor die Wache reagieren konnte, war sie schon über die Reling verschwunden und huschte zwischen den diversen Kisten und Ballen am Dock hindurch. In der Holzgasse verlangsamte sie ihren Schritt. Als Aurelia das Licht in Eberharts Fenster sah, fiel Ihr ein Stein vom Herzen, den sie da gar nicht dort vermutet hatte. Das Dickerchen hatte es nach Hause geschafft. Wenn er wollte, konnte er ganz flink sein, und ein Hexenjäger auf den Fersen schien die richtige Motivation zu bieten.

Die Tür zur Schreinerei war offen. Das war zwar nicht verabredet, aber vielleicht hatte Eberhart das Abschließen in seiner Eile, nach Hause zu kommen, vergessen. Aurelia huschte durch die verlassene Werkstatt und die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Mit einem breiten Grinsen marschierte sie hinein, den Beutesack vor sich wie einen Jahrmarktpreis. Eberhart saß zusammengesunken an seinem Schreibtisch.

Aurelia runzelte die Stirn. »Was ist los, Dickerchen? Wir haben gewonnen!«

Er drehte sich um, und sein zerschlagenes Gesicht drückte in gleichen Maße Angst und Enttäuschung aus. »Es tut mir leid«, kam über seine geschwollenen Lippen, dann traf Aurelia etwas Hartes am Hinterkopf und ihre Welt wurde schwarz.

Keine Helden - Piraten des Mahlstroms

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