Читать книгу Im Schatten der Lady Cumberland - Nina Hutzfeldt - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеFlensburg, April 2012
Die kühle Morgenluft kroch durch die Ritzen der Fenster und ließ Lara noch vor dem Weckerklingeln aufwachen. Sie zog sich die Bettdecke dicht um ihren Körper. Eigentlich wollte ihr Vermieter sich längst um die Renovierung des Hauses gekümmert haben, aber aus irgendeinem Grund schob er sie immer wieder auf. Lara hatte dafür kein Verständnis, schließlich wollte er die Miete ja auch immer pünktlich auf dem Konto haben. Am liebsten würde sie heute im Bett bleiben oder sich auf die Couch lümmeln und fernsehen. Doch die Arbeit rief, und ihre Chefin würde es nicht gutheißen, wenn sie zu spät käme – und die Kunden schon gar nicht. Deswegen schlug Lara kurzerhand die Decke weg, schlüpfte in ihre Hausschuhe, die sie im Ein-Euro-Shop günstig geschossen hatte, und trottete vom Schlafzimmer hinüber ins Bad. Das Badezimmer war so klein, dass sie über die Toilette steigen musste, um in die Dusche zu gelangen. Total blöde Konstruktion. Doch etwas Besseres konnte sie sich im Moment einfach nicht leisten. Das Gehalt einer gerade ausgelernten Friseurin ist nicht üppig genug, um in eine Stadtwohnung mit Blick auf die Förde ziehen zu können.
Lara knotete ihr langes Haar auf dem Kopf zusammen und ließ die Duschbrause über ihren Körper gleiten. Das Wasser war morgens auch ungenießbar, denn von den Bewohnern aller zwölf Mietparteien war Lara die einzige, die so früh aufstand und duschte, und das Wasser brauchte ewig, um warm zu werden. Innerlich sah Lara die Euros nur so von ihrem Konto fliegen. »Oh mein Gott, wann tut der Bastard endlich was?«, fluchte sie und rubbelte sich nach der Dusche mit dem viel zu harten Handtuch über den Rücken. Aus dem Spiegel im Bad blickten sie zwei müde Augen an. »Guten Morgen, Lara. Wie geht es dir?« Sie kniff sich in die Wangen. In manchen Nächten war die Kälte so beißend, dass Lara kaum Schlaf fand. Der doofe Vermieter musste doch endlich mal etwas unternehmen. Die Idee einer Unterschriftensammlung für die Renovierung ging ihr im Kopf herum. Doch etwas hielt sie davon ab, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Was wäre, wenn sie ihren Vermieter wütend machte und er ihr vielleicht mit Kündigung drohte? Das könnte sie sicher nicht gebrauchen. Sie würde auf der Straße sitzen. Ihre nächste Adresse wäre dann wohl: »Unter der Brücke 3«.
Als sie sich ihr Top über den Kopf zog, wäre es beinahe an der Kette hängengeblieben. Es war die Kette, die Marcel ihr zu ihrem zweijährigen Jahrestag geschenkt hatte. Es war damals Liebe auf den ersten Blick gewesen. Lara hatte mit ihrer Arbeitskollegin Christin und deren großer Schwester Janet in der Brauerei am Wasser gesessen und ein Feierabendbier getrunken, als Marcel mit seinen Kumpels an ihnen vorbeiging. Sein schiefes Lächeln fiel ihr sofort auf und beschleunigte ihren Puls. Fast, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Als die Kellnerin mit einem weiteren Bier an den Tisch kam und ihr erklärte, dass es von dem jungen Mann drei Tische hinter ihr kam, ging ihr das Herz auf. Lara hatte immer geglaubt, dass es so etwas Romantisches nur im Kino gab. Und jetzt geschah es wirklich
, vor ihren Augen. Ein Bier, das ihr ein junger Mann spendierte. Auf dem Untersetzer stand eine Handynummer. Natürlich schrieb Lara ihm sofort eine SMS, obwohl Christin und Janet ihr davon abrieten. Seine Kumpels verschwanden und auch Christin und Janet machten sich auf den Heimweg, schließlich mussten sie morgen wieder arbeiten. Aber Lara wäre jetzt noch nicht in der Lage gewesen zu schlafen. Sie sah Marcel noch auf seinem Platz sitzen, so schüchtern und nett lächelnd, dass sie schließlich ihr Herz in die Hand nahm, auf ihn zu ging und es vor ihn auf den Tisch legte. Von da an waren sie ein Paar.
Doch die Zeit hatte vieles verändert. Vor fünf Monaten, kurz vor Weihnachten – Lara hatte einen Adventskalender gebastelt und alle Geschenke für den Heiligen Abend gekauft – kam Marcel zu ihr. Sie lächelte und freute sich, denn sie mochte Überraschungen und Marcel konnte Überraschungen weiß Gott wie gut für sich behalten, gestalten und verschenken. Aber er sprach mit monotoner Stimme und da wusste Lara, dass etwas nicht stimme. Sie legte den Kopf schief, so wie Marcel es immer gemocht hatte, und wartete. Das Sprechen fiel ihm schwer, immer wieder musste er den Kloß im Hals herunterschlucken. Es war, als würde ein Sprinter immer wieder über seine eigenen Beine stolpern.
»Was ist denn los?«, hatte Lara gefragt und ihm behutsam eine Hand aufs Bein gelegt. Er nahm ihre Hand in die seine und zog sie an sich heran. Sie schliefen miteinander.
Als Lara aufwachte, war das Bett neben ihr leer. Nach dem Sex mussten sie eingeschlafen sein, denn die Sonne begann schon aufzugehen und sich dem neuen Tag entgegenzustrecken. Wie ein Fischer sein Netz warf sie ihre Strahlen über die eisige Oberfläche der Ostsee und ließ sie in die Tiefe gleiten.
Lara sprang auf und suchte Marcel, doch es war, als hätte er nie existiert.
Verschwommen erinnerte sie sich daran, dass er gesagt hatte, sie klammere zu stark und er brauche eine Auszeit. Mit dem Versprechen, sie in den nächsten Tagen anzurufen, hatte sie ihn gehen lassen. Das war gestern gewesen, nachdem er ein letztes Mal mit ihr geschlafen hatte.
War das eine Art Abschiedsgeschenk gewesen?
Auf einen Anruf wartete Lara bis heute. Innerlich wusste sie, dass die Beziehung keine Chance mehr hatte und dass Marcel sich nie mehr bei ihr melden würde. Aber die Hoffnung hält die Menschen am Leben. Ohne Hoffnung kein Überleben. Sie hatte ihn noch nicht aus ihrer Freundesliste bei Facebook entfernt, denn das würde die Trennung so real machen und ihr wie ein Strick um den Hals die Luft abschnüren. Aber die vielen Bilder, die er postete, von Partynächten mit fremden Mädchen in seinen Armen, raubten ihr den Schlaf. Vielleicht war es gar nicht die Kälte, die sie nicht schlafen ließ, sondern der andauernde Schmerz?
Mit weißer Bluse und schwarzer Hose verließ sie das Haus. Die Aprilstürme waren in diesem Jahr besonders stark und Lara hatte Mühe, ihre Haare zu bändigen.
»Bringst du mir ein Brötchen vom Bäcker mit?«, plapperte Christin fröhlich ins Handy, als Lara auf dem Weg zur Arbeit war. Auf ihrem Arbeitsweg gab es einen kleiner Bäcker mit den leckersten Brötchen der Stadt. Es war ein Familienbetrieb. Jeden Morgen stand die Tochter im Laden, was bedeutete, dass man immer zehn Minuten mehr einplanen musste, denn sie redete wie ein Wasserfall. Meistens über Belangloses, aber montags erzählte sie von ihren spannenden Wochenendtrips, bei denen man gar nicht anders konnte, als gebannt zuzuhören.
»Ja, kann ich machen, dann komme ich aber später.« Lara hielt ihren Regenschirm fester, denn der Wind kroch wie ein Angreifer vorbei, der ihn nutzlos machen wollte. »Ach, das macht nichts. Frau Schnick kommt heute sowieso etwas später.«
»Das blöde Aprilwetter«, fluchte Lara und versuchte, ihren umgeklappten Schirm zu bändigen. Jetzt war es doch passiert. Der April machte einfach, was er will. »Ich muss auflegen.«
Beim Bäcker herrschte reges Treiben. Annika stand hinter der Theke, tat ein Brötchen nach dem anderen in die Tüten und kassierte ab. Heute sagte sie nur, was gesagt werden musste. »Guten Morgen was kann ich für Sie tun? - Der Nächste bitte.« Alles total normal, bis Lara in ihr Blickfeld trat. »Huhu, Lara, wie geht es dir? Das Übliche?«
Die Menschen in der Schlange folgten Annikas Blick und starrten die junge Friseurin an.
Prompt fing die Bäckereifachverkäuferin an, ihr den neuesten Tratsch zu erzählen. »Endlich ein bekanntes Gesicht. Ich konnte heute morgen noch gar nicht richtig aus mir herauskommen. Irgendwie schlägt den Menschen das Wetter wohl tief in die Magengrube.« Zögerlich lächelte Annika. Ihr zotteliges Haar hing wie ein Vogelnest auf ihrem Kopf, während sie mit einer Zange die zwei größten Schokocroissants aus der Theke nahm. »Hast du das gehört? Ein Siebzehnjähriger wurde freigelassen, weil ein anderer Junge den Mord an dem jungen Mädchen gestanden hat.«
»Ja, ich weiß. Das habe ich in den Nachrichten gehört.« Lara warf einen prüfenden Blick auf die Wanduhr über der Tür mit der Aufschrift »Privat«.
»Ist das nicht unmöglich, dass sie den jungen Mann erst wie einen Schwerverbrecher in Gewahrsam genommen und ihn dann mit einer kleinen Entschädigung entlassen haben? Ich meine, wo leben wir denn hier? Er hat Morddrohungen bekommen, sein Name und der seiner Familie sind in den Schmutz gezogen worden. Also ich finde, das ist eine absolute Frechheit.«
»Ja, stimmt.« Lara wippte auf den Fußballen auf und ab, um Annika zu signalisieren, dass sie eigentlich gar keine Zeit hatte, doch das junge Mädel bemerkte es nicht und schmiss weiterhin mit Nachrichten um sich.
»Und weißt du, dass die Queen ihr sechzigjähriges Thronjubiläum hat? Ist das nicht aufregend? Ich habe mir schon Urlaub genommen, um auf die Grüne Insel zu fliegen. Dort werde ich mir die Adeligen mit eigenen Augen ansehen. Bestimmt kommen auch Prinzen aus fernen Ländern … Oh, ich bin ja so aufgeregt.« Annika klatschte in die Hände.
»Das ist ja schön. Mach dann mal schön viele Fotos. Wie viel schulde ich dir?« Sie klaubte das Portemonnaie aus der Tasche und ließ zwei Zwei-Euro-Stücke in Annikas Hand fallen.
»Wenn ich wiederkomme, müssen wir uns unbedingt zum Kaffee oder von mir aus auch zum Tee treffen, damit ich dir in aller Ruhe die Fotos zeigen kann.«
»Ja, das machen wir.« Schnell eilte Lara mit zwei Tüten in der Hand hinaus. Eine gefüllt mit Croissants, die andere mit Tratsch.