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Kapitel 2

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Als Lara patschnass im Laden ankam, stand Christin schon hinter dem Stuhl und ließ ihren Kamm durch das Silberhaar einer alten Dame gleiten.

Der Salon war rot gestrichen, hatte helle Deckenleuchten und dunkelbraune Möbel. Frau Schnick liebte es, den Laden zu schmücken. Sie tat alles dafür, dass die Leute auf den Gehwegen stehenblieben und in das Schaufenster blickten. Es sollte den Passanten den Atem rauben, sie unwiderstehlich in den Salon ziehen, damit sie sich dort einen neuen, bezahlbaren Haarschnitt gönnten. Lara ging in den Aufenthaltsraum, legte die Brötchentüte auf den Tisch und nahm sich ein Handtuch. Vorsichtig tupfte sie sich die regennasse Stirn trocken.

»Guten Morgen, ihr Hübschen«, rief Frau Schnick und trat in den Salon. »Hattet ihr ein schönes Wochenende?« Lara konnte ihre Schuhe auf dem blank polierten Laminat klappern hören. »Oh. Hallo, Lara. Ist deine Kundin noch gar nicht da?« Frau Schnick legte den Kopf schief.

»Nein, sie muss immer mit dem Bus fahren. Und da die heute doch streiken.« Lara zuckte mit den Schultern.

»Wirklich? Davon habe ich gar nichts mitbekommen.«

»Das hat Verdi auch kurzfristig festgelegt.«

»Ach so.« Frau Schnick rümpfte die Nase, als hätte jemand einen stinkenden Pups gelassen. »Und sonst. Wie geht es dir?« Sie ordnete ihre kurzen blonden Haare mit den braunen Strähnen.

»Ganz gut.« Was war mit ihrer Chefin los? Frau Schnick hatte sich noch nie um das Privatleben ihrer Mitarbeiter geschert.

»Ich finde, du bist im Moment nicht sehr aufmerksam.« Sie setzte sich auf einen der Stühle. Die Hände auf dem Tisch, ineinander verschränkt.

»Wie darf ich das verstehen?« Lara legte das Handtuch zur Seite und lehnte sich gegen die Tür.

»Na ja, du machst deine Arbeit gut. Aber irgendwie bist du anders. Das haben mir mehrere deiner Kunden erzählt. Sie meinten, du hättest dein Lächeln verloren. Stimmt irgendwas in deiner Familie nicht?«

»Nein, es ist alles in Ordnung.« Lara griff nach ihrer Kette. Natürlich war gar nichts in Ordnung. Marcel hatte sie verlassen, ihre Schwester Janet hatte sie schon seit Monaten nicht mehr gesehen – und ihre Mutter. An die mochte sie gar nicht denken. Es hatte immer wieder verzwickte Situationen gegeben, in denen sie einfach nicht zueinanderfanden. Laras Familie hatte es schwer gehabt. Irgendwann war damals das Jugendamt gerufen worden und Lara wurde ihrer Mutter weggenommen. Und das nur, weil ihre ältere Schwester beim Schließen der Wohnungstür geschlampt hatte. Die Tür war nicht richtig verriegelt und sprang auf. Wie der Teufel es wollte, kam gerade die Hausmeisterfrau vorbei und schickte ihren neugierigen Blick auf Wanderschaft. Überall in der kleinen Wohnung türmten sich Berge von Müll. Essensreste, Zeitungen und ungewaschene Kleider versperrten den Durchgang. Lara war mal wieder frech gewesen und wurde gerade von ihrer Mutter auf das Übelste beschimpft. Die Hausmeisterfrau blickte sich mit einem Ich-weiß-was-was-du-nicht-weißt-Blick um und rief sofort die Polizei. Und da war es geschehen. Der erste Dominostein war gefallen und er nahm viele weitere mit sich. Das Jugendamt, die Männer in den weißen Kitteln und Laras Erzeuger, der auch der Vater ihrer Schwester war, wurde gerufen. Da ihm nicht viel an seinen Kindern lag, ließ er die beiden Teenager in einem Heim unterbringen. Von dort aus hatte Lara sich ihren Weg selbst erkämpft und war zu einer guten Friseurin geworden.

»Deine Kundin ist da.« Christin riss sie aus ihrer Trance. Zum Glück, dachte Lara. So konnte sie sich aus dem Gespräch mit Frau Schnick stehlen, ohne sich eine Notlüge ausdenken zu müssen.

»Hallo Frau Meinert. Wie geht es Ihnen heute?« Lara trat zu einer älteren Dame, die sie mit dicken Brillengläsern musterte. Vorsichtig nahm die junge Friseurin Frau Meinert die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Lara und lächelte gezwungen.

»Ja, einen schwarzen Kaffee und ein Glas Leitungswasser, bitte.«

»Sehr gerne.« Im Rücken spürte Lara den Blick ihrer Chefin. Sie hasste es, beobachtet zu werden, aber gab sich alle Mühe, sich zusammenzureißen.

»Bitte sehr.« Lara stellte den Kaffee und das Wasser auf die Ablage. Sofort nahm Frau Meinert das Leitungswasser und lächelte Lara zufrieden an. »Was darf ich denn heute für Sie tun?«

»Ich möchte ein bisschen Farbe in meinem Haar. Es sieht so trostlos aus.« Frau Meinert griff sich ins Haar, als würde sie eine Prise Salz in den Kochtopf tun.

»An was haben Sie denn gedacht?«

»Beraten Sie mich. Was würde mir stehen? Im Supermarkt gibt es einen neuen Fleischer der wirklich nett aussieht.« Lara schmunzelte und begann Farbpaletten auszubreiten. Dabei plapperte Frau Meinert fröhlich, während Lara geduldig zuhörte. Ab und zu beteiligte sie sich am Gespräch, widmete sich ansonsten ihrer Arbeit.

Kurz bevor Frau Meinert fröhlich den Laden verließ, steckte sie Lara einen Zehn-Euro-Schein zu.

»Danke.«

»Kaufen Sie sich etwas Schönes. Ich sehe einfach wundervoll aus.« Sie tastete vorsichtig ihr frisch frisiertes Haar.

»Ja, Sie sehen schick aus. Bestimmt wird der Fleischer ein Auge auf Sie werfen.« Lara lächelte. Sie hielt ihrer Kundin noch die Tür auf, spannte der älteren Frau den Schirm auf und winkte ihr zum Abschied zu. Danach räumte Lara den Stuhl auf und fegte die Haare zusammen. Frau Schnick war gerade mit einer schwierigen Kundin im Gespräch und Christin kassierte ihre Kundin ab, als die Türglocke läutete. Zwei junge Männer traten ein und blickten sich um. Ohne Weiteres traten sie auf Lara zu, obwohl Christin viel näher bei ihnen stand.

»Guten Tag. Haben Sie Zeit, meinem Freund die Haare zu schneiden?«

»Aber natürlich.« Der Freund, dessen Namen Lara nicht kannte, lächelte. Seine Hände hatte er in den Taschen vergraben. »Setzen Sie sich doch bitte.« Lara zeigte auf den Stuhl neben dem, auf dem Frau Meinert gesessen hatte. Der Kunde setzte sich, nachdem sein Begleiter ihm die Aufforderung ins Englische übersetzt hatte.

»Wissen Sie, mein Freund spricht kein Deutsch. Wir kommen aus England.«

»Oh, das ist wirklich sehr interessant. Wir haben ja nicht jeden Tag Gäste von der Insel. Wie ist es dort? Ich meine, Flensburg ist ja ein Dorf verglichen mit London.«

»Ja, es ist sehr ruhig. Aber schön.« Der junge Mann fuhr sich durch die zurückgekämmten Haare.

Vielleicht mag er aus England kommen, aber seine Vorfahren mussten Türken oder Albaner sein. Er hatte gebräunte Haut und pechschwarzes Haar.

»Übrigens: Ich bin Lara.«

»Oh, wie unhöflich.« Der Begleiter legte sich eine Hand auf die Brust. »Ich bin Timur. Und mein Kumpel heißt Daniel.« Als Daniel seinen Namen hörte, verzog er seine Lippen zu einem Grinsen und hob grüßend die Hand. Lara stellte sich hinter den Stuhl und fuhr Daniel durch die viel zu lange Mähne. Dabei musterte die junge Friseurin ihren neuen Kunden. Er hatte dunkelblondes Haar, blaue Augen und einen durchtrainierten Körper. Er trug ein Shirt, das den Blick auf seine Tattoos an den Armen freigab.

»Ich werde am Hinterkopf etwas mehr wegnehmen.« Lara nahm die Haarschneidemaschine. Sie schnitt und prüfte, schnitt und prüfte … »So. Fertig.« Lara tat etwas Gel auf die Hand und massierte es in die frische Frisur ein.

»That´s wonderful.«

Zum ersten Mal konnte Lara Daniels Stimme hören. Sie war rau, als befände er sich im Stimmbruch. Aber er hatte wohl nur einen Frosch im Hals.

»Er findet es wunderschön«, übersetzte Timur.

»Ja, ich weiß. Ein wenig Schulenglisch ist hängengeblieben«, lächelte Lara.

Timur blinzelte ihr zu. »Wie viel bekommen Sie von uns?«

»Ich gehe kurz zur Kasse und rechne es aus.«

Timur und Daniel folgten der jungen Friseurin.

»Sechzehn Euro bitte.« Lara verlagerte ihr Gewicht auf einen Fuß. Daniel holte sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und zog einen Fünfzig-Euro-Schein. Dann sagte er etwas zu Timur.

»Der Rest ist für dich«, übersetzte Timur und Lara glaubte, sich verhört zu haben.

»Entschuldigen Sie. Aber das ist zu viel. Das kann ich nicht annehmen.«

Daniel winkte ab, als Lara ihm das Wechselgeld reichte. »Doch. Er besteht darauf«, lächelte Timur.

»Hey Daniel, I´m sorry. But I can´t...«

Lara versuchte noch, ihrem Kunden verständlich zu machen, dass das viel zu viel Geld war, aber da waren die beiden schon aus der Tür.

»Goodbye, Miss Lara«, hörte sie Daniel noch sagen.

»Das kann doch nicht sein.« Sie blieb an der Tür stehen und blickte hinaus. Der Regen hatte immer noch nicht aufgehört.

»Was ist denn passiert? Waren die beiden Herrschaften nicht zufrieden?«, fragte Frau Schnick und trat zu Lara.

»Doch, doch.« Lara hielt die Faust mit dem Trinkgeld fest verschlossen.

»Und warum schaust du ihnen denn hinterher? Es gibt hier genug zu tun.«

»Ja, Frau Schnick. Sofort.« Leise atmete Lara aus und begann ihren Stuhl aufzuräumen. Danach suchte sie die benutzten Handtücher zusammen, um sie in die Waschmaschine zu geben.

Die Türglocke läutete erneut und Annika stand mit einer durchsichtigen Plastiktüte, in der sich eine Papiertüte vom Bäcker befand, an der Rezeption.

»Guten Tag Frau Lauch. Was kann ich für Sie tun?«, fragte Frau Schnick, Kamm und Schere in der Hand.

»Ich habe Ihnen, Christin und Lara ein Stück Kuchen mitgebracht. Ich dachte, das würde Sie freuen.« Annika war verunsichert. Frau Schnick schien heute nicht besonders gut gelaunt. Doch als Annika Lara mit einem Staubwedel auf sich zukommen sah, hellte sich ihre Miene sofort wieder auf.

»Hallo. Was machst du denn hier?«

»Ich habe Kuchen für euch. Ich hoffe ihr mögt ihn.«

»Das ist ja lieb.« Lara schielte kurz in die Tüte. »Mm, lecker. Apfelstrudel.«

»Wann hast du Pause? Ich muss dir unbedingt etwas erzählen«, sagte Annika mit vorgehaltener Hand. »Ich komme nachher zu dir in den Laden. Dann kannst du mir alles berichten.«

»Geht doch nach hinten und macht eine kurze Pause«, schlug Frau Schnick vor. »Ich habe doch nur noch diese eine Kundin und Christin ist auch gleich fertig.« Die Friseurmeisterin bedachte Lara mit einem herzlichen Lächeln. Wenn mich nicht alles täuscht, ist sie in den Wechseljahren, dachte Lara. Diese Stimmungsschwankungen. Aber wäre sie dafür nicht noch zu jung? Wie alt ist sie eigentlich?

»Lara, kommst du? Ich weiß den doch Weg gar nicht.« Annika holte sie aus ihren Gedanken zurück. »Mir ist so was Aufregendes passiert. Mein Herz hämmert immer noch total. Nun komm.« Annika winkte Lara zu.

»Ja, warte.«

Annika setzte sich auf einen der Stühle im Aufenthaltsraum, während Lara Teller und Gabeln aufdeckte. »Was bist du denn so aufgeregt?«

»Mir ist gerade etwas so Geiles passiert.« Annika wedelte mit ihren Händen herum, als wären sie aus Gummi.

»Na, und was?« Lara wand sich ihrer Freundin zu.

»Also, pass auf. Ich bin auf dem Weg zu euch und stoße an der Ecke mit einem total süßen Typen zusammen.«

Christin kam herein und Annika schwieg für einen Moment.

»Das ist ja toll. Und hast du seine Nummer?«, fragte Lara, um die Spannung der Situation zu brechen. Christin war nicht so gut auf Annika zu sprechen. Sie redete ihr einfach zu viel. So viel Information auf einmal konnte Christin einfach nicht aufnehmen. Außerdem war sie ein wenig eifersüchtig, weil Lara sich eigentlich ganz gut mit Annika verstand.

»Oh Gott, nein. Wenn ich die hätte, wäre die Hälfte der Frauen und Mädchen in England neidisch auf mich.«

Christin setzte sich. »Warum in England?«

Lara runzelte die Stirn.

»Weil ich nicht mit irgendjemandem zusammengestoßen bin, sondern mit Daniel Cumberland.«

»Okay? Und wer soll das sein?«, fragte Christin genervt. Sie hatte ihren Ellbogen auf dem Tisch abgestützt und wiegte das Kinn in der Hand.

»Das ist Lord Daniel Cumberland von Somerset. Er ist supersüß und hat einen richtigen Schlag bei Frauen.«

Lara überlegte. Könnte es sein, dass der Daniel, dem sie die Haare geschnitten hat, der gleiche war, mit dem Annika zusammengestoßen ist? »War er allein?«, fragte Lara.

»Nein, sein bester Kumpel Timur war bei ihm. Wieso fragst du?«

»Ach, war das der Typ, dem du vorhin die Haare geschnitten hast?«, fragte Christin und klaubte sich einen Apfelstrudel aus der Tüte. »Ich darf doch?«

»Ja, natürlich«, antwortete Annika schüchtern. »Du hast Daniel die Haare geschnitten? Wow. Wo ist die Schere? Wo saß er?« Aus Annika sprudelten massenweise Fragen, auf die Lara keine Antwort wusste. Nach der zweiten Frage schaltete sie ab.

»Lara. Schau mal hier.« Frau Schnick betrat den Aufenthaltsraum. In der Hand hielt sie einen großen Blumenstrauß. »Der ist für dich abgegeben worden.«

»Für mich?«

»Ja, ist der nicht hübsch?« Sie drehte den Strauß einmal in der Hand herum, um ihn dann Lara zu geben.

»Da ist sogar eine Karte drin«, sagte Christin und deutete mit der Hand unter eine der Rosenblüten.

»Oh ja, mach sie auf. Heute ist echt der perfekte Tag. Erst schneidest du Daniel Cumberland die Haare, dann stoße ich mit ihm zusammen. Wie er mich angesehen hat....« Annika schmolz dahin.

Lara holte die Karte aus dem Umschlag. »THANK YOU«, stand dort in Großbuchstaben. »Liebe Lara, ich wollte mich für den tollen Haarschnitt bedanken. Dein Daniel«, las Lara vor und musste unwillkürlich an Daniels Lächeln denken. Annika hatte Recht. Er hatte echt etwas an sich. Unbewusst biss sie sich auf die Unterlippe.

»Darf ich mal sehen? Das kann doch nicht sein. Für so ein Dankeschön würden tausend Mädchen sterben.«

»Oh Mann, Annika. Wir wissen es.« Christin legte den Kopf zwischen ihre Hände.

»Ach, Chrissy. Lass sie doch. Es ist doch süß, wenn man einen Schwarm hat.«

»Wenn du meinst.«

»Hier ist noch ein länglicher Briefumschlag befestigt.« Frau Schnick öffnete die Schleife und gab Lara den Umschlag.

»Ja, danke.« Nachdem Lara den Umschlag geöffnet hatte, ließ sie sich rücklings auf einen Stuhl neben sich plumpsen. »Oh mein Gott«, nuschelte Lara und fuhr sich mit der Hand übers Haar. »Was ist denn?«, fragte Christin und nahm ihrer Kollegin den Umschlag aus der Hand. »Ich werde verrückt. Da sind ja zwei Flug- und Zugtickets drinnen.«

»Wie? Das kann doch nicht sein.« Annika nahm sich die Dankeschönkarte und betrachtete sie von allen Seiten. »PS: Es wäre schön, dich wiederzusehen.« Annika lächelte. »Wahnsinn. Er möchte dich wiedersehen. Oh mein Gott. Und das schon an diesem Wochenende. Der Hinflug ist am Freitag.«

»Ja, und der Rückflug?« Lara zog die Stirn kraus.

»Am Sonntagabend.«

»Na super. Und was soll ich jetzt machen?« Lara stand auf, nahm die Karte und las sie selbst. »Was habe ich denn Aufregendes gemacht? Ich habe ihm doch nur die Haare geschnitten. Ich kann dort nicht hin.« Unwillkürlich musste sie an Marcel denken. Marcel, der gutaussehende Marcel mit den vielen Facebook-Fotos. »Ich muss Freitag und Samstag arbeiten.« Lara legte die Tickets auf den Tisch und ging zurück in den Salon.

»Sie wird fliegen.« Christin tauschte einen kurzen Blick mit ihrer Chefin und mit Annika.

Am Donnerstagabend packte Lara ihre Tasche für den Flug zu Daniel. Eigentlich wollte sie gar nicht fliegen, doch Christin hatte sie am Montag, am Dienstag und am Mittwoch so genervt, dass sie nicht anders konnte, als zuzusagen. Frau Schnick schenkte ihr den Freitag und den Samstag. Je näher die Stunde X kam, desto aufgeregter wurde Lara. In der Nacht tat sie kaum ein Auge zu und als sie ihre nackten Füße auf den Holzfußoden setzte, bohrten sich sogleich etliche Splitter in ihre Sohlen. »Scheiße, verdammter Mist.« Der Vermieter musste unbedingt diesen Fußboden erneuern. Es konnte nicht sein, dass sie sich andauernd Splitter aus den Füßen ziehen musste. Die Wohnung war die reinste Bruchbude. Sie ging ins Bad und erleichterte sich, um sich danach kalt abzuduschen.

»Du wirst auf die Insel fliegen«, sagte Christin und hechtete kurz vor Feierabend hinter ihrer Kollegin her.

»Ich kann nicht.« Lara fegte den Boden und säuberte die Spiegel.

»Aber Lara, du wirst sonst deines Leben nicht mehr froh. Du musst es tun, sonst werde ich noch verrückt.« Christin fuchtelte mit dem Armen herum.

»Ich muss arbeiten und Urlaub kann ich mir nicht leisten.«

»Ich springe für dich ein.«

»Witzig ...« Lara wandte sich ihrer Kollegin zu. »... du musst ja selber arbeiten.«

»Ich würde dir den Schlüssel geben und du könntest deine Stammkunden am Montag in den Salon bestellen«, schlug Frau Schnick vor.

»Du musst es tun, für dich und für uns.« Christin lächelte und legte ihre Haare hinters Ohr. Mit ihren schwarzen Strähnen im rötlichen Haar sah sie ein wenig crazy aus.

»Ich kann nicht«, seufzte Lara und legte den Schwamm auf die Ablage. »Es hat mich noch nie jemand zu so einer großen Sache eingeladen und außerdem ist es doch viel zu teuer.« Doch eigentlich drehten sich ihre Gedanken gar nicht um die Kosten, sondern darum, dass sie Marcel betrügen würde.

»Lara, hör mir zu. Mach es. Du musst es einfach machen. Wenn du irgendwann älter bist, wirst du es sicher bereuen.«

»Ich kann nicht. Ich ...« Tränen stiegen Lara in die Augen.

»... du kannst Marcel nicht betrügen?« Christin hatte erraten, was Lara die ganze Zeit auf der Seele gelegen hatte. »Versteh es doch endlich: Er wird nicht zu dir zurückkommen.«

Nach der kühlen Dusche rubbelte Lara sich ab und zog sich eine leichte Strickjacke über das dünne Top. Die Haare ließ sie locker über die Schultern gleiten. In ihre kleine Reisetasche war nur das Nötigste eingepackt. Ein Rock, ein Pullover, eine dickere Strickjacke, Kulturtasche, Socken und neue Unterwäsche.

Die Zugfahrt verlief ohne weitere Komplikationen. Es dauerte zwar fast zwei Stunden, doch sie hatte sich genügend Zeitungen gekauft, um sich nicht zu langweilen. Am Bahnhof musste sie in ein Taxi umsteigen, das sie direkt vor dem Flughafenterminal absetzte.

Am Schalter legte sie ihr Ticket und ihren Ausweis vor. Sie beobachtete einen der Mitarbeiter dabei, wie er ihre Reisetasche mit einer Nummer versah und auf ein Laufband stellte.

»Sie gehen zum Oberdeck und halten sich an die Ausschilderung.« Die Dame hinter dem Schalter lächelte sie mit schiefen Zähnen an. Ihr strähniges Haar hatte sie unter einer Kappe verschwinden lassen, so dass sie nicht allzu unansehnlich wirkte.

»Danke.« Lara tat, wie ihr geheißen, und folgte der Ausschilderung bis zum Flieger. Durch den Metalldetektor kam sie ohne Probleme.

Mit offenem Mund starrte eine der Stewardessen sie an, als sie nach ihrem Sitz fragte. »First Class?« Sie zog die Stirn in Falten, als würde sie fragen: Wie hast du dir das Ticket denn erschlafen? Aber Lara ignorierte ihre Anspielung und wartete, bis ihr ein Platz zugewiesen wurde. Der Start war holprig und Lara wurde langsam mulmig zumute. Es war, als würde eine fremde Hand sie führen. In eine neue Welt, in ein Abenteuer, das sie nie vergessen sollte. Lara machte sich Gedanken darüber, wie sie sich verständigen sollte. Ihr bisschen Schulenglisch, das sie vor längerer Zeit gelernt hatte, reichte nicht mal aus, um sich etwas zu trinken zu bestellen, geschweige denn, nach dem Weg zu fragen.

Erst als der Kapitän die Landung ankündigte, blickte Lara von ihrer Zeitschrift auf. Obwohl die Sonne schien, legte sich der Smog wie eine dicke Luftblase um London. Es sah aus, als ob er die Stadt zu ersticken drohte. In einer Stadt dieser Größenordnung gab es mehr Abgase, mehr Müll. Es würde anders sein als in Flensburg. Lara bekam Angst. Was wäre, wenn Daniel sie nicht abholte oder er überhaupt nicht der nette Mann von nebenan war? Vielleicht war er auch ein Mörder, ein Schlepper, der sich auf diesem Weg junge Frauen einlud, um sie an Unterhändler zu verkaufen? Junge, frische Jungfrauen. Aber dafür war Lara ja schon zu alt.

Das Flugzeug hielt an und Lara schloss sich der Masse an, die dicht gedrängt zu den Laufbändern watschelte. Ihre kleine Reisetasche fuhr einige Runden im Kreis, bis Lara sie erreichte. Mit prüfendem Blick zählte sie die Sachen im Inneren nach, um auszuschließen, dass sich Plünderer ans Werk gemacht hatten.

»Oh Mann, Lara. Bist du so paranoid oder tust du nur so?«, hörte sie ihre Schwester Janet sagen. Und da fiel ihr das Treffen am Sonntag ein. Seit langem wollten die beiden Schwestern ihre Mutter in ihrer kleinen Einzimmerwohnung besuchen, auch weil sie sich schon so lange nicht mehr gesehen hatten. Und nun würde Lara nicht dabei sein können.

Sie konnte Janet nicht einmal mehr absagen, denn eine SMS würde zu teuer werden. Vielleicht hatte Daniel Internetzugang, so dass Lara Janet über Facebook eine Nachricht zukommen lassen konnte. Warum überlegte sie eigentlich? Daniel musste einen Internetzugang haben. Er soll doch schließlich reich sein. Lara musste an Annika denken und an ihre Aufregung. Am liebsten hätte sie ihr die Tickets in die Hand gedrückt und gesagt, dass sie doch fliegen sollte, aber das wollte sie dann doch nicht tun. Annika hatte ihr Aufträge erteilt und Lara wollte versuchen diese, so gut es ging, zu erledigen.

Im Schatten der Lady Cumberland

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