Читать книгу Feuer und Siegelfluch - Nina Jolie - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеIch hatt das Gefühl unter Wasser zu sein. Nichts an Wörtern, an Geräuschen drang durch das stetige Rauschen meines Kopfes, in dem alles verzerrt war. Langsam fehlte mir die Luft in den Lungen. Meine Lippen teilten sich und für einen kurzen Augenblick bemerkte ich, wie Lucien diese Handlung verfolgte. Doch dann drehte er sich zur Seite und starrte auf die schachbrettartigen Fliesen unter uns.
„Ich bin also eine Hexe“, murmelte ich.
„Ja.“ Die Antwort war knapp, doch bestätigt so viel, dass ich mich am Geländer abstützte. „Was ist dann mit meinen Eltern?“
Meldete John mich als vermisst und galt unser Deal überhaupt noch?
„Woher soll ich das wissen?“
Die Antwort machte es nicht besser. Genervt verdrehte ich die Augen.
„Habt ihr ein Telefon?“
Unter seinen schweren Schritten quietschten die Dielen, dann zeigte er auf einen kleinen Tisch.
„Wir sind zwar Hexen, aber leben nicht hinter dem Mond.“
Eilig griff ich zum Hörer, doch als das Freizeichen erschien, spürte ich leise Zweifel an mir nagen. Was würde ich John jetzt erzählen? Wusste er, dass mit den Hexen und etwas über meine Eltern? Mein Magen formte sich zu einem Klumpen, während ich die Zahlen eintippte. Niemand hob ab. Mit einem unguten Gefühl legte ich das Telefon ab und folgte einem ACDC Song, der mich in eine heimelige Küche brachte. Auf dem massiven Kirschholztisch standen ein paar dampfende Pizzakartons, die von einem blonden Jungen komplett unbeachtet blieben. Zuerst zuckte ich zurück, weil ich an Nic dachte.
„Velvet hat nach ihrer Zickeneinlage keinen Hunger mehr. Ich habe ihr trotzdem was auf ihr Zimmer gebracht.“ Sein Blick richtete sich konzentriert auf das dicke Buch vor ihm, während Lucien sich ein Stück Pizza in den Mund schob.
„Ich werde dann jetzt gehen“, sagte ich und erwartete schon gar kein auf Wiedersehen, als die beiden Männer mich plötzlich geschockt ansahen. Was dachten sie denn? Dass ich mich von der Polizei, die John bestimmt schon informiert hatte, abholen ließ, wie eine Kleinkriminelle, die zu lange draußen war? Flüssig goldenen Augen musterten mich, als würde ich Velvet sehen.
„Ist das dein Ernst?“, erkundigte sich Lucien mit vorgebeugten Armen.
„Wieso sollte ich Witze machen?“
Er öffnete den Mund auf, um dann nur mit dem Kopf zu schütteln. Sein verächtliches Schnauben machte mich wütend. Sein Blick lag konsequent auf den krümeligen Teller vor ihm. „Du wurdest mit mir in der Bar gesehen. Sie werden dich jagen.“
„Aber was habe ich denn mit der ganzen Sache zu tun, dass ich in diesen Raum gesperrt wurde? Ich bin keine Hexe.“ Allein das Wort auszusprechen war merkwürdig.
Plötzlich mischte sich der Blonde ein. „Genau das wollen wir ja heraus finden. Mein Name ist übrigens Gaspar.“ Ich verschränkte die Arme vor meinem Oberkörper. „Ich bin ein Mensch.“
„Ich denke“, sinnierte Lucien mit erhobenen Augenbrauen, „dass wir diesen Punkt schon deutlich genug klar gestellt haben. Gab es keinerlei Anzeichen?“
Er wäre der Letzte, dem ich von meiner Vergangenheit erzählte. Ich wollte nicht, dass er wusste, wie oft ich umzog, weil es ihn verdammt noch mal nichts anging, „Nein“, antwortete ich knapp, ehe ich fragte: „Und wisst ihr, wer den Pub angezündet hat? Dann könnte man zur Polizei oder diesen Dämonen-.“
Lucien unterbrach mich. Gaspar starrte ihn so intensiv an, dass ich mich wandt.
„So funktioniert das nicht. Wieso glaubst du, verstecken wir uns wohl?“ Aus seinen grauen Augen sprach Verachtung, was ich ihm mit trotzig hervorgeschobenem Kinn entgegenbrachte.
„Was ist mit John? Er wird sich wundern, wenn ich einfach nicht mehr bei ihm auftauche.“
Das Seufzen von Lucien war laut. „Er ist nicht ans Telefon gegangen, als du ihn erreichen wolltest. Wenn du jetzt zu ihm gehst und dich einer der Dämonen verfolgt, die uns noch suchen, dann wirst du sie direkt zu deinem Haus führen.“
„Und hier her nicht, oder wie?“
„Im Gegensatz zu dir bin ich nicht tölpelhaft. Sie wissen nicht, wo wir uns aufhalten.“
Meine Verbindung zu diesen ganzen Tanten und Onkeln war spärlich- Grußkarten zu Weihnachten, wenn ich bei ihnen gewohnt hatte. Ansonsten kannte ich sie nicht. Sie waren Fremde. Also hatte ich auch kein schlechtes Gewissen, falls er sich überhaupt Gedanken um mich machte. Wir kannten uns nicht. Und doch schmerzte mein Brustkorb, bei der falschen Hoffnung auf ein normales Leben. Sie schwand dahin wie Nebel, an einem wärmer werdenden Tag.
„Nimm dir doch ein Stück“, sagte Gaspar freundlich und lächelte. Ich versuchte es nicht einmal, zu erwidern. Ich musste mir einprägen, dass anfängliche Nettigkeit nichts zu sagen hatte. Vor meinen inneren Augen sah ich Oliver und verkniff mir ein Schnauben nicht. Dann nahm ich mir ein Stück Salamipizza und ignorierte das Glucksen in meinem Bauch.
Gaspar zog die hellen Augenbrauen zusammen, bevor er mich ganz genau musterte. Bei seinen glitzernden Löwenaugen rutschte ich unruhig auf dem Stuhl herum.
„Lucien erzählte, von einer anderen Dimension aus der er dich geholt hat.“ Wenn ich an die Vier Mauern dachte, spürte ich die Übelkeit zurückkommen. Ich dachte, dass ich sterbe.
„So ein Nic, der in der Bar gearbeitet hat, wollte mir ein Pflaster geben. Dann hat er mich in eine Abstellkammer eingeschlossen und kurz darauf war ich in diesem Raum.“
Lucien hörte für einen Augenblick auf zu essen und lehnte sich ernst ausschauend zu mir hinüber.
„Hör zu Avelina.“
Durch den Namen biss ich die Zähne zusammen, aber ich unterbrach ihn nicht, als er fortfuhr: „Du darfst niemandem von diesem Raum erzählen, verstanden?“
„Wieso? Weil ich sonst in der Psychiatrie lande?“
Diesmal war es Gaspar, der mir leise und geheimnisvoll zuflüsterte: „Nein. Aber es ist verbotende Magie. Wir denken, dass Nic ein Sklave der Jisarfen gewesen sein muss.“ Bei dem Wort erinnerte ich mich an die Nacht in der Bar. Lucien hatte mich beschuldigt, eine von Ihnen zu sein. Gut zu wissen, dass sie Sklaven hielten. „Und du musst sehr stark sein, wenn du in einem dieser Räume überlebt hast“, hängt er mit nachdenklicher Stimme hinzu.
„Sie leiten einen wichtigen Teil vom Schwarzmarkt in London“, erklärte er. „Ich werde Morgana einen Besuch abstatten.“
Da verzog Gaspar unwillig den Mund. „Du weißt, Teona“, murmelte er.
„Sie sind aber nicht hier“, sagte Lucien mit einem mörderischen Ausdruck im Gesicht. Ich straffte mein Rückgrat, blickte die beiden Jungs entschlossen an und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr es mich störte, dass ich nicht alles wusste. „Dann komm ich mit. Wegen mir gehst du da doch erst hin.“
Mit seinen gebräunten Fingern aß Lucien die Krümel von dem sonst sauberen Teller.
„Nein“, antwortete er knapp, bevor er sein Geschirr wegräumte und sich mit verschränkten Armen an der Theke anlehnte.
„Wieso?“ Je mehr ich wusste, desto besser konnte ich mich verteidigen. Umso schneller konnte ich mich dem allen vielleicht entziehen.
„Weil du, du bist. Und ich habe die leise Ahnung, dass du noch sehr viel mehr Ärger machen wirst. Die Antwort bleibt also Nein.“ Vor Wut werden meine Wangen heiß.
Mit einem lauten Ploppen schlug Gaspar sein Buch zu. „Das ist nicht meine Diskussion. Ich werde nach Will sehen.“ Als mich seine goldenen Augen fixierten, spürte ich eine Gänsehaut. „Wir werden uns sicherlich wiedersehen, Lina.“ Dann war ich mit dem Schwarzhaarigen allein. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie er sich verspannte. Dennoch hakte ich nach, was ich in der nächsten Sekunde bereute.
„Will?“
„Egal.“
„Sucht ihr jetzt nach denen, die den Brand gelegt haben?“
„Ist das etwa unsere Angelegenheit? Wenn ein Clan einen anderen Clan abfackelt, dann ist das deren Sache.“ In sein Gesicht trat ein merkwürdiger Ausdruck. „Es hat sogar eine gewisse Tradition für uns.“
„Und was ist dann eure Angelegenheit ?“, fragte ich zischend. Hexen waren Monster. Sich gegenseitig zu verbrennen, wie im Mittelalter.
„Wir müssen wissen, wer du bist.“
„Ich weiß, wer ich bin“, sagte ich mit Nachdruck. „Ich habe keine Zauberkraft.“ Die grauen Seen, in die ich schaute, waren undurchdringlich. Seine lockere Haltung in dem langärmligen Shirt war arrogant.
„Bist du dir da so sicher, Avelina?“
Auch wenn es nicht passieren sollte, machte mich die Frage auf eine merkwürdige Art und Weise nervös. Statt schnell zu antworten, schluckte ich, während ich meinen Teller ebenfalls zur Spüle brachte, um Zeit zu gewinnen.
„Ich will mit zu diesem Schwarzmarkt“, antwortete ich dann. Plötzlich kam mir Lucien furchtbar nah. Ich spürte den heißen Atem auf meiner Haut, als habe er Feuer in sich zu tragen und die Schatten in den Augen seine Seele schon längst verschlungen. Mein Magen sackte ab, während er sich zu mir beugte. Die Heiserkeit seiner Stimme sorgte für einen Schauer auf meinem Rücken.
„Und ich habe Nein zu dir gesagt, Kratzbürste.“ Das Porzellan schepperte, als ich es ein wenig zu fest auf die Theke legte. Doch er sagte: „Akzeptier´s.“ Dabei steckte er sich einen Keks in den Mund und grinste mir anschließend ins Gesicht. Wie konnte man so dreist sein?
„Komm, ich zeig dir dein Zimmer“, murmelte er dann, als er sich einen weiteren Keks von der Theke stibitzte und wir die Stufen wieder hinauf gingen. Dieses Mal fiel mir erst auf, wie viele Abzweigungen es gab. Überrascht blickte ich mich um, aber stellte fest, dass alles identisch aussah. Die gleichen kleinen Lampen, die gleichen schmalen, braunen Türen, das endlos lange Parkett. Nicht allzu weit von der Treppe öffnete er mit einem Heben seines Armes ein dunkles Zimmer. Es roch nach frischer Bettwäsche und Lavendel, eine Mischung, die mich an meine Granny erinnerte. Genießerisch schloss ich die Augen, bis mir die Präsenz von Lucien wieder bewusst wurde. Mein Räuspern trübte die Stille. „Entschuldige.“
Er zog seine dunklen Augenbrauen zusammen. „Wofür?“
„Nicht so wichtig“, murmelte ich und blickte auf das monströse Bett. Eine hölzerne Kommode stand neben einem kleinen Schreibtisch, während die Vorhänge eine Bühne für die Landschaft hinter dem Fenster bildeten. Durch das offene Fenster wehte mir die frische Luft direkt um mein Haar, als ich mich an der kalten Fensterbank anlehnte. In der stockdunklen Nacht leuchtete die Innenstadt gleißend hell. Doch das Licht reichte nicht bis hier her. Ich betrachtete den Garten und dessen dunkle Äste und Streuscher. Hinter mir hörte ich schwere Schritte und ich dachte schon, dass er ging, bis seine muskulöse Gestalt direkt neben mir erschien. Zusammen blickten wir auf die stille Szenerie, während es nach verbranntem Holz und Rauch duftete. Meine Gedanken fühlten sich merkwürdig taub an, als ich daran dachte, wo ich jetzt war. Was ich jetzt sein sollte.
„Deine Wunde ist gut verheilt, als du geschlafen hast, aber du musst trotzdem vorsichtig sein.“ Ich spürte meine Wunde beim Bücken oder Drehen, aber wenn das alles war. Wir schwiegen eine Zeit lang.
„Ich weiß nichts über euch und schlaf jetzt unter eurem Dach“, murmelte ich. Wie hatten sie mich dazu gebracht, zuzustimmen? Mit einem blitzendem Schalk in den Augen sah Lucien mich herausfordernd an, als wisse er, worüber ich nachdachte. „Frag mich was. Ich beantworte es dir.“
Zuerst zögerte ich, doch dann nutzte ich die Chance. „Wie alt bist du?“
Da lachte er. „Ist das dein Ernst? Du kannst mich alles fragen, und deine erste Frage ist, wie alt ich bin?“
Ich stieß mich vom Fenster ab. „Vergiss es. Wie konnte ich denken-.“
Sofort umfasste er meinen Arm und zwang mich damit zum Stehenbleiben. „17. Ich bin 17 Jahre alt.“ Nachdem er etwas zu langsam den Griff löste, runzelte er die Stirn. „Und du?“
„Ich bin 16 geworden.“ Das kommentierte er nicht.
„Geht ihr eigentlich zur Schule?“
Da stieß er wieder dieses halbe Lachen aus. „Sogar auf die Gleiche wie du.“ Überrascht blickte ich ihn an. „Du hast mich schon mal gesehen ?“, stieß ich zweifelnd aus. Lucien nickte, während er aus dem Fenster sah.
„Wurdest gleich in die Clique der Superleute aufgenommen.“ Er lachte, diesmal höhnisch, während er den Kopf schüttelte. „Du weißt, dass da alles Schein statt Freundschaft ist?“
Plötzlich fühlte ich mich nackt. Es war mir peinlich, dass er die Leute so enttarnt hatte, während ich das nicht geschafft hatte.
Ich weiß, dass sie auf mich steht. Das ist unser Date. Deswegen habe ich dich eingeladen.
Nur ein normales Leben, mehr wollte ich nicht. War das die Normalität? War das die Freundschaft, die man unter Menschen führte?
„Wie ...“, ich kam mir unheimlich dämlich vor. Als würde jeden Moment ein Kameramann aus dem Wandschrank springen, und schreien: „Verarscht!“ Aber ich riss mich zusammen und holte stattdessen tief Luft. Ich wusste nicht, wann ich das nächste Mal solch eine Gelegenheit bekam.
„Wie weiß ich denn, was meine ... Zauberkraft ist?“, stotterte ich. Darüber schmunzelte er. „Es ... kommt einfach aus dir heraus. Es ist ein bisschen Übung dafür nötig.“
„Und was ist deine?“
Darauf antwortete Lucien mir nicht. Stattdessen drehte er sich zu mir um und fragte: „Wie fühlst du dich jetzt eigentlich als Hexe?“
„Merkwürdig.“
„Das bist du auch, Kratzbürste.“
„Dann muss das wohl an unserer Art liegen.“
Sein raues, heiseres Lachen sorgte für eine Vibration in meinem Körper, sodass sich die feinen Härchen auf den freien Armen aufstellten. In der Hoffnung, dass er es nicht bemerkte, rieb ich schnell darüber.
„Ist dir kalt?“
„Nein“, wiegelte ich hastig ab. „Es ist angenehm.“
Um sich zu Besinnen hielt ich den Kopf aus dem Fenster, bis meine Wangen taub wurden, und die frische Luft in der Lunge brannte. Nur in der weiten Ferne rauschte der Verkehr und unsere beiderseitig gleichmäßigen Atemzüge trübten die gespenstische Stille, hier, auf dem mystischem Anwesen. Als würde ein Schild, wie eine unsichtbare Kuppel, das Grundstück verzerrt widerspiegeln und es wie eine andere Welt darstellen. Vielleicht, weil es genau das war.
„Hast du dir je ein anderes Leben gewünscht ?“, hauchte ich. Dabei sahen wir uns nicht an, sondern blickten beide auf den unteren Garten, wo die mammutgroßen Bäume unheimliche Schatten warfen und die vermoosten Statuen unerschütterlich in der Nacht Spalier standen. Jeder war in seine eigene Welt versunken. Im hinteren Teil erkannte ich eine eingesunkene, nur leicht verhüllte Frau, auf einem gerußten Sockel, die mit ihren kauernden Schultern eingeschüchtert wirkte. Als fürchtete sie sich vor ihrer Umgebung. Unweigerlich dachte ich an mich und biss mir auf die Wangeninnenseite.
„Was verstehst du unter gewünscht? Daran gedacht? Oft.“ Seine Stimme klang gleichbleibend monoton, als hätte er sich jegliche Emotion aus dem Herzen gerissen. Geübt, genau für solche Fragen. „Gewünscht? Ich gebe mich keiner Illusion hin, die ich nicht haben kann.“ Er drehte das Spiel um. „Hast du dir denn je gewünscht etwas anderes als ein Mensch zu sein?“
„Früher“, erklärte ich. „Ich wollte nichts lieber als eine richtige Familie. Bei meinen Eltern bleiben. Ich habe vielleicht drei Jahre bei ihnen gewohnt, sonst immer bei irgendwelchen Tanten oder Onkeln. Ich wollte Normalität und gleichzeitig besonders sein. Hab mir die Haare bunt gefärbt und Batik getragen.“ Zum Ende des Satzes fing ich an zu lachen und auch Lucien grinste.
„Batik ist doch cool“, murmelte er. Ich lachte und für den Moment bildeten wir eine angenehme Einheit, ein Licht in der umhüllenden Ungewissheit. „So viele denken, dass Normalität langweilig ist, aber wenn es dann so weit ist, dass man etwas anderes hat, bemerkt man erst, was man verloren hat.“ Es klang nach Erfahrung, aber ich wollte keine traurigen Geschichten mehr hören. Für einen Augenblick sollte wieder alles heil und in Ordnung sein.
„Hast du oft so klugscheißerischen Glückskekssprüche auf Lager?“ Da lachte er. In meinem Bauch loderte es für einen Moment heiß und kribbelig.
„Vielleicht hast du´s ja einfach geahnt“, mutmaßte er und sah mir direkt in die Augen.
In ihren hellen, grünen Augen spiegelte sich die gesamte Innenstadt wider. Doch da lag mehr in ihnen, so viel, dass er drohte daran zu ersticken, wenn er nicht wegsah. Doch, statt sich abzuwenden, drehte sie ihren schmalen Körper zu ihm, sodass sein gleichmäßiger Atem aus dem Takt geriet. Aber alles was er tun konnte, war die vorherige Distanz wieder zu schaffen. Die Mauern aufrecht erhalten. Sie schützen.
Denn der Preis für seine Sünden hätte ihnen beiden teuer zu stehen kommen können.
„Nur damit wir uns verstehen. Du bist nicht mein Typ.“
Aus dem Nichts schlug mir der Satz wie eine Bombe entgegen. Meine Finger krallten sich in den Fensterrahmen. „Habe ich je behauptet du würdest meinem entsprechen?“ Es war nicht seine Meinung, die für diesen unangenehmen Druck in der Brust verantwortlich war, sondern der gesamte Tag, der plötzlich wie eine unüberwindbare Mauer vor mir aufragte. Und der einzige Freund, den ich an meiner Seite geglaubt hatte, verschwand so schnell, er gekommen war. Zuerst glaubte ich, er wollte noch etwas sagen, doch dann drehte er sich zur Tür. Ich merkte, dass ich auf mich allein gestellt war. Er nickte mir zu. „Dann gute Nacht.“
Um den Schein zu wahren, legte ich mich in mein Bett und wartete mit geschlossenen Augen ab. Das Brennen im Hals verstärkte sich mit jeder Sekunde, in der ich die letzten Stunden durch meinen Geist jagte. Noch nie hatte ich mich so hohl und leer gefühlt. Ich zog die dicke Decke höher und verkroch mich tiefer, bis ich glaubte, dass jeder in den Schlaf geglitten war. Zumindest hoffte ich es, als mich vor den Spiegel stellte und mir einen provisorischen Zopf flocht. Wenn ich erst einmal mit John geredet hatte, war alles wieder normal. Ich könnte zur Schule gehen, einen Abschluss machen, mir überlegen, als was ich arbeiten wollte. Und, das Haus vergessen, mitsamt all seinen Bewohnern. Leise öffnete ich meine quietschende Tür. Langsam setze ich die Füße auf den Flurboden. Zum Glück gab das Parkett kein Geräusch von sich, sodass ich hastiger die Stufen zum Eingang nahm. Durch die Schwärze sah ich nur schemenhaften Umrisse, den Kerzenständer, bevor ich mich hinausschlich. Kalte Luft schlug mir entgegen, die ich tief einatmete. Das schwere Holz glitt ins Schloss. Dann knallte ich gegen eine harte Brust. Schnell sorgte ich zischend für Abstand zwischen uns, bis ich den wütenden Ausdruck auf Luciens im Schatten liegendes Gesicht wahrnahm. Mir gefror das Blut in den Adern. Mein Herz pochte wild. Mit gesenkten Lidern fasste er sich an die Nasenwurzel.
„Sag mir, was du hier machst.“
„Es ist Samstagabend. Ich kann Ausgehen.“ In seinen Augen blitzte es raubtierartig, während sich seine Muskeln anspannten.
„Und wohin treibt dich dein Weg?“
„Raus eben.“
Er baute sich vor mir auf, sodass er noch größer wurde, als er die Arme in der dunklen Lederjacke kreuzte. „Ah, weil das Wetter so toll ist?“
Angriffslustig reckte ich ihm das Kinn entgegen. Wir sind uns schon wieder so nah. Adrenalin rauschte aufgeregt durch mein Blut, während mir sein herbes Aftershave in die Nase stieg. Und der Ruß, dass ihn wie ein Freund begleitete.
„Ich werde zu John fahren. Ihr lasst mich doch auch nirgendwo mit. Wieso sollte ich euch dann an meinen Sachen teilhaben lassen?“
„Weil es hier um mehr geht, als kindlichen Trotz, verdammt!“ Ich erkannte, dass er die Arme an den Seiten ballte. Mit voller Absicht rempelte ich ihn an, als ich mich an ihm vorbei zwang, um die kleinen Stufen der Veranda hinunter zu steigen. Das Anwesen war so viel größer, als ich bis jetzt gedacht hatte, dass ich kurz überlegte, stehen zu bleiben. Fluchend stapfte Lucien an mir vorbei. Der Mond schimmerte durch die riesigen Bäume auf uns hinab. Wo auch immer er gewesen war, seine Schuhe strotzten vor Dreck. „Kommst du jetzt, oder was, Kratzbürste?“
„Nenn mich nicht so!“, fauchte ich, folge ihm aber. Ohne ihn würde ich den Weg nicht hinausfinden. Denn so verworren und versteckt wie der schmale Steinweg war, der zu einem großen, verrosteten Tor führte, wusste ich, dass ich niemals hinausgefunden hätte. Lucien stieß mit seiner Schulter kräftig gegen das Metall, auf dessen leicht zerbeulten Oberfläche ein Rabe prunkte. Es war das gleiche Zeichen wie in der Bar. Aber wieso?
Misstrauisch schielte ich zu ihm hinüber, aber er lief nur schweigend die Straßen entlang.
***
Sie bemerkte den Schatten gar nicht, der ihr anhaftete, wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle, als sie Straße um Straße die Stadt durchquerten. Es verunsichert ihn, dass alles so schnell lief. Er spürte rege Zweifel in sich aufkommen, ob dies der richtige, wahrhafte Weg sei, doch er wurde gelenkt. Von seiner Angst, vor dem Versagen. Er dufte nicht zu lassen, dass etwas in die Quere kam. Dass das Einzige, was ihm in all den Jahren zu Schulden gekommen war, ihn zerstörte. Zermalmte, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Er fragte sich, ob sie es schon wussten, ob sie vor ihren mächtigen Kugeln saßen und vor Wut über sein Versagen die Finger krümmten. Jedes Mal, wenn er daran dachte, brach ihm von Neuem ein dünner Schweißfilm auf der unnatürlich hellen Stirn aus. Jedes Mal zog sich sein Leib, wie ein zuschnürender Sack, schmerzhaft überrumpelnd, zusammen. Nein, er musste dafür sorgen, dass er nicht verunglimpfte. Dass die Wolken der Vergangenheit nicht die Sonnenstrahlen der Gegenwart verdeckten und so ließ er die beiden Hexen mit einem unguten Gefühl ziehen.
Wenn ich ehrlich war, schlotterte mein Kiefer nicht nur, weil der Wind mir schonungslos durch die Kleider wehte. Wie die letzten Male schienen die prächtigen, Messinglöwenköpfe, die die Tür verzierten, mich zu durchbohren und mit ihren offenen Mäulern zu verhöhnen. Noch einmal stieß ich vehement gegen die Tür. Es machte keiner auf. Nachdenklich trat ich von einem aufs andere Bein, während Lucien noch einmal mit der Faust das Holz beinahe brach. Als er mich fragend musterte, zögerte ich. Was, wenn er gleich wieder kommen würde? Allerdings passierte momentan so viel Unmögliches, das diese Möglichkeit viel zu absurd schien. Entschlossen nickte ich und im nächsten Moment trat er die Tür ein. Es knackte, als Holz splitterte. Und dann sah ich den Ort, an dem ich gedacht hatte, vielleicht ein normales Leben führen zu können. Wie vor ein paar Tagen lag der hohe Flur in Dunkelheit und mündete in einer einladend großen Küche. Bedenken schlichen sich in meinen Hinterkopf und wisperten immer wieder vor sich her, sodass ich unruhig die Hände rang. Lucien wartete, bis ich aus meiner Starre erwachte und mich der Realität ergab. Zusammen durchquerten wir die ruhigen Räume, die aussahen, als wäre ihr Besitzer im Urlaub. Das Sofa stand haargenau an seinem Platz und die Tagesdecke ordentlich zusammengefaltet auf eine der hohen Lehnen. Eine alte, zerbrechliche Pfeife lag auf dem Tisch und ich erkannte sie von meinem ersten Treffen mit John.
„Wo hat er sich die meiste Zeit aufgehalten?“
„Ich geh in sein Arbeitszimmer.“ Dort hatte ich ihn zum ersten Mal gesehen, vor nicht einmal zwei Wochen. Obwohl ich ahnte, dass es komplett sinnlos war, schrie ich in der oberen Etage nach ihm. Aber kein Geräusch versetzte der Luft ein Leben. „Bist du da?“
Langsam wurde mir die Stille unheimlich. Mit bedächtigen Schritten schlich ich auf seinen massiven Schreibtisch zu, auf dem ein Cognacglas funkelte. Das ungute Gefühl in meiner Brust schnitt mir die Luft zu Atmen ab, als ich unter ihm ein dünnes Papier entdecke. Ich schluckte. Mit Klauen und Zähnen riss die böse Vorahnung an meiner mäßig aufrechterhaltenden Fassade, als ich mit weißen Fingern unter das teueraussehende Glas griff. Es wackelte gefährlich in meiner Hand, ehe ich den Umschlag aufriss. Ich wollte das nicht lesen. Meine Bauchschmerzen wurden mit jedem Augenblick schlimmer, bis ich den Brief aus dem Umschlag nahm.
Lina,
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Meine Last ist groß, die Schuld dir gegenüber noch viel größer. Gehe den Weg, den du für richtig hältst, denn wir alle tappen im Dunkeln, vor dem Bösen. Bleib bei Ihnen. Ich weiß, dass es schwer sein wird, doch niemand kann dir besser helfen, als Sie. Wisse, dass deine Eltern freiwillig gegangen und in Sicherheit sind. Ich muss fort. Ich muss wichtige Dinge erledigen – Unser Deal ist leider nicht mehr möglich, aber, Lina, du bist für mehr bestimmt, als Normalität.
Merk dir das.
John Arse
Schnaubend zerknüllte ich die Nachricht. Das edle Glas zersplitterte am Boden. Gleich darauf spürte ich tauben Schmerz in mir, die ersten Schuldgefühle für das kaputte Chaos auf seinem Boden. Er bat um Verzeihung. Aber anstatt mir wirklich zu helfen verschwand er, innerhalb von zwei Tagen. Er ließ mich mit ein paar Zeilen zurück und verbrannte meine Hoffnung, wie das Feuer den Pub. Erste Tränen bildeten sich, die zu meiner Frustration aus ihrem Gefängnis ausbrachen. Da gaben meine Beine nach, sodass ich auf dem teuren Teppich auftrumpfte, als wäre ich ebenfalls nur ein Gegenstand, den John ab und zu benutzte. Allerdings spürte ich nichts. Wieder und wieder schluckte ich die bittere Galle hinunter, während mein Blick apathisch in ein Nichts abdriftete. Der Deal war also geplatzt? War das jetzt offiziell mein Ende in der menschlichen Welt, weil John dachte, mein Leben sei für mehr bestimmt? Ich wusste nicht, wie lange ich so da saß, zu sehr auf das Fixieren eines unscharfen Punktes in der Ferne konzentriert. Die Hoffnung auf ein Leben, mit einem echten Zuhause, mit leckerem Essen wenn man von der Schule kam und dummen Geschichten, die man seinen Eltern erzählte. Die Ruhe in meinem Innern war so unecht, dass man mit einem Fingernagel all die brennend, heißen Gefühle aufgekratzt hätte, wie bei einem Stück Schorf. Aber lieber wollte ich unter dem Deckmantel des falschen Friedens aus dem Fenster blicken und an ein normales Leben in der Zukunft denken und den Sonnenaufgang beobachten. Bis ein Poltern zu hören war. Schritte. Völlig egal was da kam. Nichts war in diesem Augenblick von Bedeutung.
„Avelina?“
Ich reagierte nicht, sondern blieb stumm, wie ein Häufchen Verzweiflung.
„Verdammt Lina, bist du zum Gespenst mutiert?“
„Nein. Zumindest sagt ihr mir ständig, dass ich eine Hexe bin.“
Der Anflug eines zaghaften Lächelns zupfte an seinen vollen Lippen. Allerdings zerfiel es, als er sich auf die Knie und damit direkt in das Meer aus Scherben hockte. Durch die dicken Stiefel brach das Glas erneut und schabte über das Parkett.
„Was ist los?“ Beinahe klang er sanft. Ich zeigte auf das Knäul.
„Er ist weg.“
„Weg ?“, erkundigte sich Lucien beim Aufstehen. Geschmeidig wie ein Panter nahm er sich den Zettel und verbog beim Lesen die Augenbrauen. Seine umwölkten Augen blickten auf mich zurück, dann auf den Zettel.
„Komm. Wir packen deine Tasche.“
Als er mir seine Hand hinstreckte, rappelte ich mich alleine auf und schnaubte. Augenblicklich dachte ich an gestern Abend und seine Abfuhr, als hätte ich ihm wie ein liebeskranker Teenager hinterhergesabbert. Du bist nicht mein Typ. Beschämt drehte ich mich weg, weil diese Situation so peinlich gewesen war. Und wie gestern Abend machte es mich auch jetzt noch fuchsteufelswild. Dachte er etwa, er wäre mein Typ? „Nein, alles bestens.“
„Was willst du denn tun? Hat dir die Verletzung nicht gereicht?“
„Ich werde nicht bei euch schlafen.“
„Wo dann? Du schaffst das alles nicht allein.“
Mein Schweigen brachte ihn zum Grinsen. Ohne ein Wort lief ich zackig in mein Zimmer, in dem noch alles so kahl war, wie bei meinem Einzug. Meine orangene Reisetasche stand noch immer auf meinem ordentlich gemachten Bett und mein Zeichenblock daneben. Erst beim zweiten Mal bemerkte ich die neuen Stifte. John musste sie mir geschenkt haben. Statt sie einzupacken, sammelte ich meine kurzen Stifte zusammen, bevor ich alles andere in die Tasche packte.
Das Schloss rastete hinter mir ein. Luciens Oberkörper lehnte lässig gegen die Häusermauer, während sein Gesicht nachdenklich still den ordentlichen Garten musterte. Er blickte mich an, als er sich aus einer halbleeren Zigarettenpackung einen giftigen Glimmstängel ansteckte. Meinen verachtenden Tonfall änderte ich nicht.
„Du rauchst?“
Er zuckte mit den Achseln, bevor er kurz ins Stocken geriet. Dann klopfte er sich die Taschen ab, bis er ein Feuerzeug fand.
„Manchmal.“
„Das ist aber tödlich.“
„Denkst du nicht auch, dass die Wahrscheinlichkeit, für mein Leben, in einem Brand zu sterben nicht deutlich höher liegt, als Lungenkrebs zu bekommen?“
„Nicht unbedingt.“ Sein Blick strahlte pure Arroganz aus.
„Dann stell doch mal´ne Statistiken auf.“ Der übelriechende Rauch stieß sich wie bei einem Drachen aus seiner Nase, wobei Luciens Augen angriffslustig funkelten. Das Kratzen in der Lunge ignorierte ich und versuchte flach durch den Mund zu atmen. Wie konnte sich eine Gemütslage, in so kurzer Zeit, so drastisch ändern?
„Können wir dann ?“, brummte ich. Nickend ging er voraus. Wir liefen durch die Stadt, wobei ich den ekelhaften Ausdünstungen der Zigarette auswich und jedes Mal, wenn ich mit der Hand vor meinem Gesicht wedelte, freute ihn das. Zu meinem Glück und gleichzeitigem Groll rauchte er die Zigarette schnell auf, sodass wir normal neben einander hergehen konnten. Die spärlich gepackte Reisetasche stieß bei jedem Schritt nervend gegen meine Hüfte, bis Lucien irgendwann eine große Hand ausstreckte und mich abwartend von der Seite taxierte.
„Gib mir deine Tasche“, sagte er, mit einem tiefen Seufzen.
„Nein, geht schon“, antwortete ich knapp angebunden. Lieber hätte ich morgen überall blaue Flecken am Körper.
Sobald die nächste Ampel auf grün wechselte, tauchten wir in einer Masse aus Menschen ein. Beim Gehen beugte er sich zu mir herüber.
„Sie sieht aber schwer aus und bis wir bei uns sind, dauert das noch.“
„Ist sie aber nicht.“ Wieso auch immer, hatte Lucien sich ganz deutlich für den Fußmarsch zu ihm nach Hause ausgesprochen.
„Du bist so stur!“ Achselzuckend blickte ich weiter geradeaus und murrte:„Am Ende denkst du noch, ich sehe das als Einladung mir den Hof zu machen.“ Dachte er tatsächlich, dass ich nichts Besseres zu tun hatte, als mir über seinen Mädchengeschmack Gedanken zu machen? Auf den Ausdruck in seinem Gesicht war ich allerdings nicht vorbereitet. Mein Bauch krampfte sich zusammen, ehe ich meine geöffneten Lippen ruckartig schloss. Erst jetzt bemerkte ich, dass er mir auf den Mund starrte. Nur kurz, dann waren seine Augen wieder in meinen. Aus dieser Entfernung konnte ich die kohlrabenschwarzen Wimpern von ihm zählen. Wenn ich denn wollen würde. Nicht zu lang, aber füllig, sodass sie in dem morgendlichem blau spitzkantige Schatten auf seine hohen Wangenknochen warfen. Das Piercing in seinem oberen Ohr funkelte.
„Wieso hast du´s dir stechen lassen?“
Erstaunt wendete er den Blick zu den Passanten. Ich sah, wie er sich unter der Lederjacke anspannte.
„Stimmt was nicht ?“, erkundige ich mich. Lucien fuhr sich durch die Haare. Aus der Ferne hörte ich ein Vogelkrächzen.
„Es ist nur ... Nein, nicht so wichtig“, unterbrach er sich. „Es ist interessant, dass du das fragst. Die meisten sehen es schmerzverzerrt an und fragen, ob´s wehgetan hat.“ Täuschte ich mich, oder hörte ich Flügelschläge? Es war so verdammt nah, dafür dass die Tauben auf der anderen Straßenseite gurrten.
„Oh“, entgegnete ich freimütig. „Ich bezweifel keine Sekunde, dass es teuflisch wehgetan haben muss.“
„Es geht. Wenn du alkoholisiert bist, tut vieles nicht so weh.“
„Also ein Ausrutscher, ja ?“, versuchte ich, das Thema in weniger gefährliche Bahnen zu leiten.
„Eine Wette“, gab er schulterzuckend zu.
„Hast du sie wenigstens gewonnen?“
In sein Gesicht trat ein lebendiger Funke, dem ich innerlich dankte. „Sozusagen.“
Plötzlich spannte er sich wieder an. Plötzlich landete ein Rabe auf Luciens Schulter. Dieser seufzte genervt.
„Was ist los?“
„Ein anderer Clan“, sagte er, bevor er knurrte. Vor Panik zog sich mein Magen zusammen. Ich hatte erst einen Kampf hinter mir, der mir für den Rest meines Lebens reichte.
„Was machen wir jetzt ?“, flüsterte ich so leise, dass es hoffentlich niemand von den umliegenden Menschen verstand. Vor meinem inneren Auge tauchten die toten Leute und rußgefärbten Wände auf und zu meiner Schande dachte ich erst jetzt an Oliver und Sophie. Lebten sie noch? Mein Brustkorb zog sich zusammen, bei der Vorstellung, als Nächstes in solch einem Raum zu liegen.
Trotz Luciens wachsender Unruhe lief er zielgerichtet durch die Straßen und beugte sich dabei zu mir herüber. Seine Blicke wanderten nach rechts und links, als er beim harschen Weitergehen flüsterte: „Sie werden uns verfolgen. Bieg nach rechts ab!“ Doch die Aufforderung kam gleichzeitig, mit seinen Händen, die sich plötzlich um meine Schultern schlangen und in die vorgegebene Richtung dirigierten. Mein Herz raste, noch schneller, als unsere Füße durch die leeren Gassen gingen. Nach wie vor spürte ich seinen warmen Arm um meinen Rücken und den Druck, mit dem Lucien mich eng an seine raue Jacke drückte. Aus dieser Nähe roch ich den Zigarettenqualm, der sich zwar an ihn haftete, doch so zaghaft war, dass er einer fernen Erinnerung glich. Für Außenstehende wurde mir unter roten Wangen bewusst, mussten wir wie ein frischverliebtes Paar aussehen.
„Lass mich los!“, zischte ich. Bei dem Versuch, mich von ihm zu lösen, drückte er mich nur noch fester an seine warme Seite. Mein Herz hüpfte, als er mir gegen mein Haar murmelte und es aussehen ließ, als würde er mich auf den Kopf küssen. „Hör mir zu, sie verfolgen uns. Ich weiß nicht was sie von uns wollen. Zwei links, zwei rechts, möglicherweise hinter oder vor uns. Wenn du überleben willst, rate ich dir, auf mich zu hören.“
Bei dieser versteckten Drohung schluckte ich erst einmal.
„Was ist dein Plan?“ In mir legte sich eine merkwürdige Ruhe über mein angespanntes Nervenkostüm, sodass ich nur meinen wildschlagenden Puls beruhigen musste. Ich wollte nicht sterben.
„Wir werden nicht zum Sakral fahren, dann wüssten sie, wo wir wohnen. Wir müssen sie abschütteln und uns gedeckt halten.“ Nach kurzem Zögern fragte er: „Kriegst du das hin?“
„Ja.“ Doch statt der gewohnten Häme drückten seine warmen Finger sich in mein Schulterblatt, während er ohne die Lippen zu bewegen die Passanten vor sich musterte. „Woran erkenn ich eine Hexe ?“, wisperte ich, damit die Sterblichen nichts mitbekamen. Für einen Moment kam ich mir selbst merkwürdig vor. Schnell schüttelte ich das Gefühl ab, um die trägen Massen zu durchsuchen.
„Ihre Augen.“
Je in diesem Augenblick schlenderte ein jüngerer Mann mit breitem Oberkörper und fast bläulich schimmerndem Haar auf uns zu. Durch sein nach unten gestrecktes Kinn wirkte er noch beängstigender, sodass selbst die Menschen eine Schneise, für den aufgepeitschten Bullen, bildeten. In seinen gelben Augen stand der nackte Hass geschrieben. Meine Lippen teilten sich. Sobald Lucien den Hexer entdeckte, griff er mich fester und zog mit mir in eine harsche Kurve ein, die uns von den umliegenden Leuten eine Menge Beschimpfungen einbrachte. Bis sie Lucien entdeckten und auf magische Weise verstummten. Ich wurde immer nervöser. Plötzlich war ich um den Halt, der sein Griff mir bot, dankbar, auch wenn ich es ihm niemals gesagt hätte. „Sie werden uns doch nicht mitten im Handgemenge angreifen, oder ?“, keuchte ich stattdessen in sein Ohr. Bei seinem unbeteiligten Gesichtsausdruck krampfte sich mein Bauch zusammen. Wir mussten hier raus. Sonst gab es noch mehr unschuldige Tote.
Plötzlich lichteten sich die Passanten. Die Häuser wurden älter, die interessierten Blicke wichen unbeteiligtem Ignorieren oder alkoholisierter Nachrufe. Die Nacht wurde immer kälter, wobei sich weiße Wölkchen um mein ausatmendes Gesicht legten und ich die zwickenden Schatten im Nacken spürte. Das Dröhnen in meinem Kopf wurde durch das Widerhallen der Fußschritte, vom Asphalt, nur lauter. Immer kleiner wurde der Abstand zwischen den beiden Gruppen, obwohl ich mich zwang, nicht über die Schulter zu linsen. Lucien spannte sich bis zum Zenit an. Seine Zähne drohten unter der permanenten Belastung zu zerbrechen, doch die Wut loderte ihm aus den Augen, wie das Feuer im Pub gewütet hatte. Vernichtend. Ohne jegliches Bedauern. „Bleib hier stehen“, wies er mich an. Er drehte sich zu der Gruppe um, die angriffslustig ein paar der spitzen Kieselsteine vom Weg kickten. Über uns zitterte die marode, Graffiti verdreckte Brücke unter dem Gewicht eines Autos. Wie auch schon bei unserer ersten Begegnung streckte er die Arme aus, als würde er alten Freunden begegnen. Dagegen glich seine Stimme der Eiszeit.
„Na meine Lieben, was kann ich für euch tun?“ Sein Ton triefte vor hohlem Spott, was die Männer in ihren edlen Hemden ignorierten. Ihre Jacketts und die Lackschuhe passten nicht zu diesem Ort.
„Wir sind nicht in Stimmung um zu Scherzen“, brummt ein kleiner Mann und schob sich vor die Menge. Für einen Augenblick fixierte er mich so intensiv, dass es mich schüttelte. „Das freut mich zu hören. Schließlich will ich euch nicht unterhalten“, entgegnete Lucien und richtete sich auf. „Was wollt ihr?“
Die Männer schlichen ein Stück näher. Aber Lucien wich nicht einen Millimeter zurück, was mich die Fäuste ballen ließ. Mit ihren Blicken stierten sich die beiden an.
„Du hast ziemlich viel Scheiße angestellt, Feuerteufel“, murmelte der Glatzköpfige. Über den Namen verwirrt sah ich zu Lucien, der sich plötzlich verkrampfte.
„Von was reden wir hier überhaupt?“ Mit verschränkten Armen wartete er ab, doch die Aufmerksamkeit des Fremden lag nun auf mir. Ich wandt mich unruhig auf der Stelle.
„Verkauf uns nicht für dumm, Feuerteufel. Wir haben von euren Abenteuern in den letzten Tagen gehört.“
„Sprich deutlicher“, erwiderte er und trat einen Schritt näher. Mit deutlich ruhigerer Stimme sagte er: „Mein Leben ist so interessant, da gab es einiges.“
Der Hexer knurrte, was ihm einige seiner Leute nachahmten, sodass der tiefe Ton an dem Beton der Brücke widerhallte. „Ein neues Spielzeug hast du auch gefunden.“
„Sie ist nicht so leicht zu händeln, wie du vielleicht denken magst, Carnifex.“ Entrüstet schnappte ich nach Luft. „Es trägt deine Handschrift“, sagte er dann. Das verstand Lucien offenbar, denn ein Ruck ging durch seinen Körper. Der Mann fuhr fort: „Ohne Siegelfluch, zwanzig Mann, dahingerafft.“ Ich verstand Carnifex nicht. „Du hast sie verbrannt!“, kreischte einer der Männer hinter ihm aufgebracht. Mein Kopf rauschte, während ich mir an die Stirn fasste. Sprachen sie etwa von der Bar?
„Wovon redet ihr da?“,erwiderte Lucien zerknirscht. Der fremde Hexer lachte. „Drei Orte, in den letzten fünf Tagen. Glaubst du, das ist Zufall? Wir wissen, dass du es gewesen bist.“ Er formte die länglichen Augen zu Schlitzen. „Ich kenn deine Handschrift von früher.“
Lucien baute sich vor mir auf, wobei ich überrascht war, dass er mir plötzlich so nah war. Am liebsten hätte ich ihn fort geschubst. Hatte er wirklich so viele Morde begangen?
„Was wollt ihr ?“, fragte er erneut.
Da legte Carnifex seinen kahlen Kopf schräg und taxierte uns für eine Weile, ehe er ganz ruhig erwiderte: „Wir wollen euren Tod, Feuerteufel.“