Читать книгу Feuer und Siegelfluch - Nina Jolie - Страница 6
Kapitel 4
Оглавление„Renn!“ War alles, was ich hörte, bevor sich meine Beine, wie von selbst, in Bewegung setzten. Mein wutschnaubender Atem wurde zu einem prustendem Durcheinander. Der Kies knirschte unter meinen dicken Sohlen. Lucien sprintete dicht neben mir, während hinter uns die Männer höhnische Bemerkungen riefen und uns verfolgten. Geübt schob er zuerst mir und dann sich die Kapuzen über, als wir in ein belebteres Viertel eintauchten. „Wir müssen weiter!“
Da kamen die schäbigen Mietshäuser in Sicht. Jugendliche, die mit ihren Plastiktüten über dem Alkohol, an den Bordsteinen lungerten. Ihre gefärbten Haare leuchten im Dunklen wie Neonfarbe.
Zu meinem Erstaunen lief Lucien geradewegs auf sie zu. Wie ein Bollwerk hoben sie zusammen ihre Köpfe und ich stieß den Atem aus. Schnell verdrängte ich die Gedanken über Lucien. Jetzt musste ich funktionieren. Ein junges Mädchen mit langen, lilafarbenem Haar lächelte mich schelmisch an. Kleine Flügel ragten ihr aus dem zierlichen Körper und nur knapp verkniff ich mir einen Aufschrei.
„Ihr seid auf der Flucht ?“, lispelte es und zuckte mit dem Kopf. Zu den Füßen, der geflügelten Bestien, lag eine tote Taube. Mir wurde übel, als ich in die starren Augen des Tieres blickte.
„Hübsches Liebespaar auf der Flucht! Auf Flucht!“, kreischte das Mädchen mit rauer, hoher Reibeisenstimme.
„Wir sind kein Liebespaar“, stellte ich monoton fest, während Lucien sich zu ihr hockte. „Oh doch“, stieß das Untier aus, bevor es scheu vor ihm zurückzuckte. Es senkte die Stimme. „Was will großer Mann?“
Er öffnete seine Hand, so, dass ich nicht sah, was das Monster zum Quietschen brachte. Als ich über meine Schulter guckte, waberte dort ein milchig, weißer Schleier, der die Normalität, wie eine massive Mauer, von uns trennte.
„Ho“, stieß er fasziniert aus, „Wo hat großer Mann den Imbulus her?“
Er zuckte geheimnisvoll mit den Schultern. Misstrauisch stellte ich mich auf die Zehenspitzen. Selbst dann erkannte ich zu meiner wachsenden Frustration nichts. Was war das?
„Welchem Clan dienst du ?“, fragte Lucien.
Ihre verklebten Lider quollen auf, in der ihre schwarzen Pupillen unruhig auf und ab zuckten. Es wirkte so, als wolle er es ihm erzählen, so nervös wie seine langen Krallen klirrend aneinanderschlugen und mir eine Gänsehaut bescherten. Es klang wie kämpfende Schwerter.
„Einem Mann, der nicht dient, sondern knechtet; einer Frau, die hasst und nicht liebt, und einem Kind, das salzige Tränen weint, anstatt zu lächeln.“
„Wirst du uns gesehen haben?“
Seine Augen blitzten wie Rasierklingen. „Oh nein, nein“, säuselte er, ehe sein fiebriger Blick zu dem onyxfarbenen Etwas in Luciens Faust glitt.
„Wir brauchen einen Unterschlupf.“
„Das Liebespaar ist auf Flucht! Auf Flucht!“, schrien die Monster. Ich seufzte.
„Sag uns, wo wir hingehen können“, brummte Lucien matt, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
„Im Norden von hier, nicht weit, ein kleines Haus“, murmelte das Monster in einem trägen Singsang, als wäre es ein Lied, das ahnungslose Menschen nicht zu entschlüsseln vermochte.
„Zeig uns den Weg.“ Durch den Dämons Körper ging ein unwilliges Zucken, doch auf seinem Gesicht glomm das Interesse, wie glühende Holzscheite, auf. „Und dann der Imbulus ist Mein?“
„Wenn du uns sicheres Geleit versprichst.“
Unwillkürlich fragte ich mich was dieser schimmernde Stein so besonderes an sicht hatte.
„Kommt!“, krächzte er. Dann schlugen seine zerfledderten Flügel, die wie dünnes, altes Pergament schimmerten auf und hoben sich in die Luft. Sie zerteilten den nebelartigen Schleier.
„Was ist das ?“, fragte ich, als ich den Kopf zu den weißen Ausdünstungen drehte.
„Smog. Er entsteht, wenn wir kämpfen oder dreckige Magie beschwören. Sagt dir der Londoner Smog in den neunziger Jahren etwas?“
„Klar“, murmelte ich. Augenblicklich färbten sich meine Wangen rot, denn Geschichte ist nie mein Ding gewesen. So wie Luciens schalkhaftes Lächeln seine Züge, wie die eines Raubtieres, aussehen ließ, wusste er genau, dass ich schwindelte. Wenigstens sagte er es nicht, sodass wir dem geflügelten Etwas still folgten. Wie ein aufsteigender Drache im Herbst trudelte es über die eingefallenen Dächer und Backsteinmauern, während die Gegend immer kahler und dunkler wurde. Den anderen Clan schienen wir tatsächlich abgeschüttelt zu haben.
„Hunderte Menschen sind in dem dichten Nebel verreckt. Es war kein echter Smog. Durchaus mag es ebenfalls eine Rolle gespielt haben, aber der eigentliche Grund war ein Hexenkrieg. Zu viel Zauber bedeutet zu viel Rauch, und der kann dann für Menschen tödlich sein.“ Durch seine emotionslose Stimme verschränkte ich die Arme vor dem Brustkorb und musste wieder an das Pub und die Leute denken.
„Ein richtiger Krieg ?“, krächzte ich.
„Einer der schlimmsten in den letzten neunhundert Jahren.“
„Und was hast du dann dem Ding da oben versprochen, dass dieser böse Smog entsteht?“
„Er entsteht auch, wenn sich ein Imp in seine ursprüngliche Form verwandelt“, erklärte er. „Für jeden Zauber, den sie ausführen, schulden sie ihrer beherrschenden Hexe einen Wunsch. Mit dem Handel habe ich das ausgeglichen.“
„Was ausgeglichen?“ Langsam wurde ich wütend. Seine stürmenden Augen setzten meinem in Wallung gekommenen Herzen einen Riegel vor, mit einem einzigen, vernichtendem Blick. Als würden zwei Weltmächte aufeinandertreffen, die ein schwarzes Loch entstehen ließen.
„Du hast keine Ahnung, wie verkorkst unsere Gattung ist.“ Obwohl er bei der bitteren Feststellung seltsam ausdruckslos klang, lag in ihr so viel unterdrückte Bedeutung, dass sich mein Innerstes zusammenzog.
„Glaub mir“, sagte ich, nachdem mein Herzschlag wieder in einem ruhigeren Takt schlug, „das gegenseitige Anzünden und Töten hat mir einen sehr sympathischen Eindruck hinterlassen.“
„Dann musst du erstmal unsere Geschenke für dich abwarten. Du weißt schon“, sagte er mit spöttisch verzogener Augenbraue, „Wo du doch jetzt endlich zu den Erwachsenen gehörst und von uns weißt.“
„Euer Schwätzchen ist amüsant“, frohlockte der geflügelte Dämon aus der Höhe, „sicher, dass Liebespaar nicht ein, zwei Stunden ohne Eltern verbringen will? Muss deine kleine Freundin etwa bis zur Hochzeit warten?“
Bei dem Scherz verkrampfte sich Lucien so arg, dass seine Sehnen an den Armen, wie der Sand, bei Ebbe, zum Vorschein traten. „Zeig uns den Weg und halt den Mund. Ich hab keine Sightseeingtour mit Unterhaltung gebucht.“
„Wie Meister Imbulus befiehlt“, murmelte es. Nach weiteren unangenehmen zehn Minuten krachte das Ding zu Boden. Es rollte sich unbeholfen ab, was mich an den Sportunterricht und die missglückten Bodenrollen aus meiner Grundschulzeit erinnerte. Aus dem unförmigem Kopf sprießen wieder lilafarbene Wellen, die ihre verschmierten Augen von der Mascara ummantelten. Die milchweißen Perlen starrten mit einem lüsternen Grinsen auf mich. Schließlich wurden auch die Krallen zu dreckigen, abgekauten Nägeln, bis auf den Daumen, der in einer unnatürlichen Verkrümmung sofort auffiel. Vor uns stand ein Punk – Girl. So eins, dass auch auf jeder Straße hätte sein können. In ihrer blassen Unterlippe schimmerte ein schwarzer Ring. „Ich zeig Meister Imbulus, wo es reingeht.“
„Wieso nennst du ihn denn jetzt Meister ?“, murmelte ich in die Schatten. In der Hoffnung, dass ich niemand gehört hatte, wisperte Lucien: „Eifersüchtig?“ Im Gehen steuerten wir die morsche Eingangstür eines großen Herrenhauses. Durch die Kälte platzte die braune Farbe ab und die riesigen Risse in der Hauswand erinnerten an feine Spinnennetze. Von der verwahrlosten Villa ging eine Düsternis aus, die selbst noch die des Sakral übertraf, mit den schiefhängenden Rollläden über den zerbrochenen Fenstern und den Schatten, die der hereinbringende Abend über das zerstörte Bauwerk warf.
„Ich nenne ihn so, weil ich keine Namen wissen darf. Weil ich mir kein Gesicht einprägen darf“, mischte sich die Lilafarbene ein. „Die Geister werden dich unterbewusst rufen.“
„Die gibt es auch ?“, rief ich überrascht aus und sah mich hektisch um.
„Du musst nur an die richtigen Orte gehen, und du wirst alles auf der Welt finden, Kratzbürste. Sie werden uns nichts tun. Höchstens den Nerv rauben“, brummte Lucien. „Bis zum Morgengrauen. Dann werden wir verschwinden. Sie können nicht ins Sonnenlicht.“
Meine Stimme klang kühl und monoton, aber ich konnte es nicht ändern. Ich bereute die Frage im gleichen Augenblick, als mein Mund sie aussprach. „Was hast du ihnen angetan?“ Statt zu antworten, erkannte ich an seinem Rücken, wie er einen tiefen Atemzug machte. Langsam drehte er sich zu mir um, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht einschätzte. Während wir uns ansahen, flackerte grauen Augen, als hätte man den Schein einer Kerze bedroht. Dann riss er an dem maroden Eingang, der mit einem ächzenden Geräusch einen eingebrochenen, durchnässten Dielenboden zeigte. Wie ein Teppich hatte sich das grüne Moos niedergelassen. Aus dem Raum drang ein furchtbarer Geruch von Modder und süßlicher Verwesung, der mir in der Nase brannte. Spöttisch hob Lucien die Hand, um mich hereinzuwinken, wie ein Kellner in einem vornehmen Restaurant. Mit arroganter Lässigkeit zeigte er ins zwielichtige Innere. „Warst du schon mal in einem Geisterhaus?“
„Natürlich.“ Das war wieder gelogen. Wenn ich tatsächlich bei meinen Eltern gewesen bin, spielten wir im Haus Karten oder verbrachten die Zeit im Garten. Weder habe ich je einen Rummelplatz besucht, noch erzählte man mir Märchen.
„Hier“, sagte Lucien, und reichte den matten Stein an das verrückt grinsende Dämonenmädchen. Vielleicht dachten die Leute, auf der Straße sie sei ein Junkie, mit ihren eingefallenen Wangen und dem viel zu hellem Teint. Aber sie war mehr als nur eine auf der Straße wohnende Seele. Das Mädchen war ein Dämon. „Turteltäubchen jetzt alleine lassen. Gerettet vor Flucht für einen Imbulus!“, quiekte sie freudig. Dann schlüpfte sie aus der Tür, so schnell, dass bloß ihre polternden Füße über den Dielenboden zu hören waren.
Stille kehrte ein, in der ich mich eingeschüchtert in dem Spukhaus umsah und in der dunklen Ecke etwas schimmerte. Vorsichtig trat ich näher. Um im nächsten Augenblick in die matten Augen einer Porzellanpuppe zu sehen. Vor Schreck griff ich nach Luciens Unterarm, um mich wie eine Katze an ihm festzukrallen, während die starren Augen der Puppe weiterhin durch die verstaubten Spinnennetze hämisch in unsere Richtung schielten. Luciens raues Gekicher trieb mich zur Weißglut. „Geisterbahnen sind wahrscheinlich auch nicht so dein Ding?“
„Halt die Klappe!“, fauchte ich ihn an, bevor ich mich hastig von ihm löste. Gefasster als zuvor glitt ich ein Stück in den Raum hinein, wobei ich die zerstörte Einrichtung so gut es ging ausblendete. Ein zerfranstes Sofa stand in der Mitte des Raumes, dessen verdreckte Polster von den Motten zerfressen waren. Die donnernden Stiefel von Lucien folgten mir, bis er die ramponierten Schranktüren aufriss und mit einer diebischen Selbstverständlichkeit krachend die Sachen durchsuchte.
„Denkst du nicht, dass das ziemlich unhöflich ist?“
Es war mir egal, dass ich gerade wie ein Lehrer klang, aber Lucien zuckte nur desinteressiert mit den Schultern, als er erneut hineingriff. Sein langes Shirt verfing sich an einem hervorstehendem Nagel und das Shirt hing am Rost fest. Etwas Silbernes blitzte auf. Fluchend zog er den zerfransten Stoff nach unten und ich rieb mir einmal über die Augen, bis ich wieder klar sah. Das Knacken des Holzschrankes schreckte mich auf, im gleichen Moment wie ich seine weiß anlaufenden Finger von ihm betrachtete.
Plötzlich hörte ich ein Heulen. Augenblicklich dachte ich an die Geister und rutschte an die kalte Wand, damit wenigstens niemand hinter mir auf mich lauerte. Tief ausatmend legte ich den Kopf gegen die verbliebene Tapete und beobachtete Lucien dabei, wie er mit missbillig verzogenem Mund, leere Alkoholflaschen aus dem Schrank kramte.
„Gin“, stellte er mit Blick auf die erbleichte Etikette fest und furchte die Stirn zu einer dicken Falte.
„Natürlich haben sie nur noch den. Ich hasse Gin.“
„Dann trink ihn doch nicht.“
Sofort lugte sein Kopf zu mir herum.
„Anstatt, dass ich meine Familie warne, dass uns irgendwelche kranken Arschlöcher jeglichen Scheiß anhängen, sitze ich mit dir in diesem Haus fest“, knurrte er. „Irgendwie hab ich das Gefühl, dass ich den dringend brauchen werde.“
„Du hast den Pub angezündet“, warf ich ihm dann vor. Die Anschuldigung traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, in dem sich seine Augen überrascht weiteten. Dass er es nicht abstreitet, reichte mir. „Wieso machst du so etwas?“ Ich hoffte, dass er die Verachtung heraushörte, denn er verdiente sie.
„Du hast Unschuldige umgebracht! Hast du Oliver und Sophie auch verbrannt?“ Seufzend fasste er sich an die Nasenwurzel, ehe er zu mir hinübersah mit so einem kalten Ausdruck, in den eingefrorenen grauen Seen, dass ich mich enger an die golden Blümchentapete drückte.
„Stehst du auf ihn?“ Die Frage traf mich so unvorbereitet, dass ich beinahe ein Lachen ausstieß. „Nein!“ Lucien fiel gegen das Regal und glitt ebenfalls zu Boden, sodass wir uns gegenüber sitzend betrachteten. „Ich habe dir gesagt, dass das eine Tradition ist. Wir nennen es Siegelfluch.“ Ich rieb mir über die Arme, um die Starre loszuwerden. Innerlich fragte ich mich, wie man so blutrünstig sein konnte und ob die beiden noch lebten. Von der anderen Seite des Zimmers hallten ein paar träge Worte durch das Rauschen in meinen Ohren zu mir hinüber. „Ist dir kalt?“
Überrascht zuckte mein Kopf zu ihm. Ich verstand diesen Hexer nicht. „Nein.“
„Sieht aber so aus.“
„Dann schau nächstes Mal einfach besser hin.“
Selbst von da hinten im unbeleuchteten Dunkeln sah ich, wie sich seine vollen Lippen zu einem trägen, ironischem Grinsen verzogen. „Hab ich´s dir nicht gesagt? Wir sind eben verkorkst. Tut jemand etwas nicht so Angenehmes, dann verpassen wir diesem Clan einen Siegelfluch, von unserem eigenem Clan. Vielleicht hast du es in der Bar ja sogar gesehen.“ Dabei öffnete er mit geübten Fingern den dünnen Schraubverschluss und feuerte ihn nachlässig in eine verdreckte, mottenzerfressene Gardine.
„Der Rabe,“ murmelte ich. Deswegen hatte die Frau nicht gewollt, dass ich es abzeichnete. Lucien nickte zustimmend.
„Egal wo sie sich dann auch verstecken mögen, das Feuer findet sie alle.“ Der Vorhang musste einmal ein schönes, warmes Orange gewesen sein, der durch den Zahn der Zeit zu einem leblosen Grau alterte. Man stellte sich kaum vor, dass diese Baracke ein schönes Zuhause gewesen sein muss.
„Wieso spukt es hier drin?“ Unwohl beäugte ich die schiefen und kaputten Bilderrahmen auf den Kommoden. Jetzt, wo es so ruhig war, bildete ich mir ein, dass über uns ein Geräusch war. Absätze einer Frau. Leise Stimmen. Schaudernd wollte ich die Stille beenden, als Lucien die Flasche, in seiner Hand, schwenkte.
„Ein guter Freund von mir vermutet, dass eine Familie hier gewohnt hat. Man sieht den Vater manchmal an Fenster stehen und die Mutter geht zur Wiege ihres Kindes.“ Dabei klang seine Stimme merkwürdig hohl, während sein Blick einen unwichtigen Punkt, zu meinen Schuhen, auf dem zerfransten Teppich, fixierte. Bei dieser Vorstellung umschlang ich mich fester. Unwillkürlich betrachtete ich die abgeblätterten Fenster, von denen ich sofort abrückte.
Doch er sah es und hob die Brauen. „Schiss?“
„Was bist du jetzt wieder für ein Ekelpaket?“
Plötzlich hob er den schwarzen Schopf. Seine beängstigende Maske geriet ins Wanken. Nur kurz funkelte eine andere Regung in dem Blick, die so kurz andauerte, dass ich sie mir sicherlich einbildete. Denn seine Miene gefror sofort zu Eis. Allerdings ballten sich seine Fäuste auf den Oberschenkeln.
„Vielleicht bist du einfach nur zu zimperlich.“
„Oder du zu egomanisch.“
Ein tiefes Seufzen entfloh seiner Brust.
„Ich brauche wohl doch noch mehr Gin.“
„Du willst jetzt ernsthaft trinken?“ Trotzig verschränkte ich die Arme.
„Siehst du doch“, sagte er und griff nach der Flasche. Es ist mir so peinlich, dass ich rote Wangen bekam, aber so, wie er nachlässig den Alkohol an seine vollen Lippen setzte, mit der Lederjacke und dem Piercing im Ohr, erinnerte er mich an einen verruchten Rockstar.
„An was denkst du ?“, fragte er geheimnisvoll. Während er das Getränk in der einen Hand hielt, schlich er, wie ein Tiger, auf mich zu.
„Wieso haben sie dich Feuerteufel genannt?“
„In der Mythologie ist Luzifer der Herr der Hölle. Der gefallene Engel, der nicht hören will, der in Ungnade fällt und das Feuer regiert. Er wurde zu einem Spitznamen, den mir die Jisarfen in meiner Anfangszeit gaben.“ Luciens harte Augen taxierten mich. Ich verbot mir, vor ihm zurückzuweichen. Hartnäckig reckte ich ihm das Kinn entgegen. Er gab es zu.
„Wer sind die Jisarfen?“
So nah spürte ich seine Wärme, die in Zorneswellen von ihm weg schwappte. Zusammen mit dem Rauch an seiner Kleidung, gemischt mit dem herben Parfum und dem scharfen Alkohol, aus seinem Atem. Das bildete einen berauschenden Cocktail.
„Sie sind Schönheitstäuscher“, flüsterte er rau. Sein Daumen strich nur ganz kurz über meine Wange. „Sie verzaubern Wesen mit ihrem aussehen.“
Ein sarkastisches Schnauben verkniff ich mir nicht. Mit dem Daumen glättete er mir wieder die Stirn, bevor er mich mit schräg gelegtem Kopf musterte.
„Was bist du nur für ein komisches Mädchen.“ Dabei spürte ich seinen Atem auf der Haut.
„Und du für ein komischer Junge.“
„Ich bin kein Junge mehr.“
Dabei haftete seiner Stimme eine unheimliche Schwere an, die ewig in der Stille verklangen. Beide sahen wir uns an. Meine Stimme war nur ein Flüstern.
„Und was bist du dann?“
Zögerlich hob Lucien seinen Zeigefinger an die Lippen. Zuerst schnappte ich genervt nach Luft, doch dann vernahm ich das tiefe Knarzen. Die aufgeregten Schritte fegten unordentlich über uns hinweg, als würde die Person im Kreis rennen. Mein Magen zog sich zusammen, im gleichen Augenblick, wie wir beide verstanden. Die harschen Schritte schlichen nun zum Untergeschoss. Da, wo wir beide uns für die Nacht deponiert hatten.
„Krabbel nach da!“, wisperte er. Doch es war zu spät. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen flog die Tür gegen die Wand. Jemand schrie gellend auf. Ein Tisch fegte an die Wand, nur ein paar Zentimeter an meinem Kopf vorbei. Plötzlich packte mich Lucien heftig an den Armen und schubste mich zu Boden. Die Luft drückte sich aus meiner Lunge, während das Adrenalin den Schmerz des Sturzes vergessen machte. Über mir wird Luciens Schatten immer größer. Wieder krachte es so laut, dass ich mir die Hände an die Ohren presste. Vorsichtig rappelte ich mich auf. Da spürte ich die besitzergreifende Hitze auf meinen Armen und als ich mich dem heißen Sog entgegen drehte, erkannte ich Lucien mit erhobenen Armen. An ihnen züngelte blaues, funkelndes Feuer empor. Es passte zu ihm. Zu dieser düsteren Aura, so wie das Licht sein Gesicht in Schatten hüllte, als wären sie Blutsbrüder. Zum ersten Mal entdeckte ich unter seinen leeren Augen fahle Ringe, ein Anzeichen von Menschlichkeit.
„Na los!“, schrie er in den Raum hinein und schlich über den rauen Teppichboden.
„Zeig dich!“
Das heizte den Geist an. Die Schränke klapperten und Flaschen zersprangen an den verdreckten Tapeten. Panisch sah ich mich um. Es heulte, als wenn ein Fenster undicht war und einen Wirbelsturm durch jede marode Ritze sauste. Plötzlich fühlte ich eine trostlose Leere in meinem Innern. Ein Loch, das alles in sich aufsaugte und mit ihm jegliche Kraft in meinem Körper, der sich auf einmal merkwürdig taub anfühlte. Wie ein Kartenhaus im Wind gaben meine Beine nach, ehe mein Inneres wie eine Feuerwerksrakete explodierte. „Was zum -“ mit einem Satz packte Lucien mich, bevor ich auf dem Boden aufschlug. Seine Hände fühlten sich noch so warm an, von dem nun erloschenem Feuer. Jetzt war es wieder dunkel. „Das bist du gewesen“, murmelte er dumpf. „Du hast Magie angewandt.“
Schnell nahm der Schwindel ab, doch verkrampfte ich mich, genau wie Lucien, der mich noch immer hielt. Ich ignorierte ihn. Das war eine einfache Schwindelattacke gewesen, denn ich war ein Mensch. Plötzlich roch ich diesen unverwechselbaren Kupfergeruch.
Auf der vergilbten Tapete schimmerte es tiefrot, während es noch nässlich in dem blauen Licht von Lucien glitzerte. Nun tanzte es auf seiner Handfläche. Wie mit einem Instrument schien er mit dem Feuer eine eigene Sprache zu sprechen. Dann sah ich wieder auf die obszönen Symbole, die für mich keinen Sinn ergaben. Lucien neben mir furchte seine Stirn. Plötzlich wurde er ganz blass und spannte sich bis zur Gänze an. „Das ist Latein. In Blut steht geschrieben, für Fehler büßt man bis in alle Ewigkeit.“
„Was will der Geist uns damit sagen ?“, flüsterte ich. Suchend drehte ich mich nach einer Person um. Als ich auf das Chaos blickte, stellten sich meine Nackenhaare auf. „Wenn er uns tatsächlich etwas hätte sagen wollen, dann stünde da jetzt kein verdammtes Rätsel dran“, brummte er missmutig. Im Vergleich zu vorher wirkte es nun gespenstisch ruhig. Das zersplitterte Glas auf dem Boden reflektierte das Blut an der Wand, sodass der ganze Untergrund in einem dunklen Rot, wie auf einem Kriegsfeld, schimmerte. An den kahlen Tapeten erkannte man die seit Jahrzehnte nicht verschobenen, gerußten Umrisse der Schränke. Jetzt lagen sie in Einzelteilen herum. Und die Wandverkleidung, die der blutroten, zähflüssigen Nässe nicht lange standhielt, wellte sich. Geschockt griff ich mir an den Mund.
„Es ist egal, wie es aussieht.“
Es war nicht in Ordnung. Dieses Haus hatte einmal jemandem gehört. „Wieso hat der Geist das gemacht? Wenn das doch sein Haus ist.“
„Ich bin kein Geisterflüsterer, okay? Ich weiß es nicht“, knurrte Lucien und ballte seine Hände.
„Erst du, dann dieser Clan und jetzt das.“
„Ich habe damit nichts zutun!“, wehrte ich mich heftig. Glaubte er tatsächlich, dass mir dieses Leben lieber war? „Wer würde euch denn noch schaden wollen ?“, fragte ich dann in einem besonnenen Tonfall. Plötzlich bebten Luciens Schultern. Erst dachte ich, dass er weinte, sodass ich tief ausatmend auf ihn zu trat. Bis ich merkte, dass das Schütteln einen ganz anderen Grund hatte: Er lachte.
„Was ist daran so komisch?“
„Du hast keine Ahnung.“ Langsam drehte er sich zu mir um und ich erkannte, dass in seinem Blick ein tödlicher Ernst lag, der sich rasant zu funkelndem Spott entwickelte. Arroganz triefte ihm aus jeder Pore, als er sich mit verschränkten Armen vor mir aufrichtete. „Wir kennen kein Erbarmen. Für keinen von uns.“
Jetzt fühlte sich mein Mund ganz trocken an. Mir wollte keine Erwiderung einfallen, zu sehr drückten die Tränen, zu dick war mit einem Mal der Kloß in Hals, während Luciens eisige Augen in diesem widersprüchlichen Grau meinen Geist gefangen hielten.
In Luciens Welt gab es keine Nächstenliebe. Sie war hart und jeder kämpfte für sich und seinen Clan, soweit man eben gehen mochte. Plötzlich schloss er mit einem ernüchterten Seufzer die Lider und lockerte seine angespannten Schultern ein Stück. „Entschuldige“, murmelte er dumpf.
„Ich brauch dein Mitleid nicht!“, fauchte ich, aus meinen dunklen Gedanken geschreckt. Ich blickte auf das blutige Omen. Wie ein Damoklesschwert schwebte die ominöse Warnung über unseren Köpfen und trübte jeden Impuls in etwas vorsichtiges.
„Du solltest schlafen gehen“,murmelte Lucien dann in die Stille hinein.
„Du doch genauso“, antwortete ich entkräftet. Morgen sprach ich ihn auf das Feuer an. Auf ihre sonderbaren Traditionen. Aber heute würde ich nur noch die Augen schließen.
„Ich werde Wache halten. Ich brauche nicht so viel Schlaf wie du.“
Entkräftet stapfte ich mit hölzernen Schritten über die gläserne, scharfe Decke aus zerbrochenen Erinnerungen einer Familie, die uns nicht hier haben wollte und setzte mich auf die modrige Couch. „Wer sagt das?“ Trotz meines aufgekratzten Tons sah Lucien so entspannt zu der umfunktionierten Bettstatt, dass er, mit den versteckten Händen und den eisigen Augen überlegen wirkte.
„Zaubern macht müde.“ Da war schon wieder dieser kalte Hauch, etwas, das bedrohlich zwischen uns aufragte, wie eine Mauer, die uns beide trennte. Die Kluft wuchs, als ich an meinem kaputten Ärmel spielte. Tatsächlich brannten meine trockenen Augen. Ich fühlte mich müde, als hätte ich eine ganze Nacht gezeichnet. Irgendwo in den dunklen, dreckigen Ecken kratzten hecktische Pfoten über den Boden. Aus der Ecke kommen nun hohe, weinerliche Wehklagerufe. Vor Panik zog ich schnell die Füße hoch, ehe ich realisierte, dass es sich diesmal um eine Maus handelte. Im Schatten zuckten die zwei großen, neongelben Knopfaugen und ab und an silberfarbene Schnurrhaare. Vorsichtig ging ich darauf zu. Da schrie das winzige Nagetier auf und schlüpfte hastig in ein Wandloch. „Sie können die Magie spüren“, murmelte Lucien vom anderen Ende des Zimmers. Seine tiefe Stimme hallte in dem hohen Raum wider. „Was meinst du?“
„Deine Magie. Mäuse können die dunklen Seelen von uns erkennen. Nahezu jedes Tier kann das, doch bei manchen Arten ist es besonders stark ausgeprägt.“
„Unsere dunklen Seelen?“ Der Zweifel war meiner Stimme deutlich anzuhören.
„Ja.“ Er schlenderte um die Couch herum, um sich anschließend mit dem Oberkörper auf seinen Knien abzustützen. „Der Okkultismus in unserem Herzen, die böse Seite. Nenn es, wie du willst, es gibt unzählige Varianten an der Ausdrucksweise der Verschmähung uns gegenüber.“
Man dachte, die Zeit hielt an, so erwartungsvoll blickten wir uns an. „Denkst du auch so über dich? Über deine Art?“ Wieder erinnerte ich mich an das Feuer im Pub.
„Vielleicht.“ Durch meine Gänsehaut zitterte ich. „Wir sind die Bösen, Avelina. Damit musst du dich abfinden.“ Vor den inneren Augen sah ich den Brief von John und fragte mich, was er sich dabei dachte.
„Mich hat, als ich sieben war ein Hund angegriffen. Seitdem habe ich Angst vor denen. Wenigstens weiß ich jetzt, woran es lag.“
Wenn ich auf ein leichtes Lächeln von ihm hoffte, enttäuschte er mich, mit seiner verzogenen Stirn. Langsam schwoll die Atmosphäre zu einer peinlichen Stille, weshalb ich mir über die Oberschenkel rieb und mich hinlegte.
„Wir können uns abwechseln“, schlug ich vor.
„Nein. Ich brauche keinen Schlaf.“
„Jeder braucht Schlaf.“
„Ich bin immun.“ Er griff nach der Flasche auf dem Tisch. Doch entgegen meiner befürchteten Erwartung schob er sie weiter in die Tischmitte, ehe er seine schweren Stiefel auf die erzitternde Holzplatte stemmte.
„Wieso das?“
„Weil ich ohne nicht zickig werde. Und jetzt schlaf.“