Читать книгу Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 12

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»Willkommen, Schwester Katja! Wir sind froh, daß Sie unser Team wenigstens für eine Weile verstärken!«

Dr. Adrian Winter leitete die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin und streckte nun der zierlichen dunkelhaarigen jungen Frau, die vor ihm stand, die Hand entgegen. Dabei lächelte er sie freundlich an. Sie sah unglaublich jung aus. Ob sie überhaupt schon zwanzig war? Er hatte sich natürlich ihre Bewerbungsunterlagen angesehen, aber er erinnerte sich nicht mehr an ihr Alter. Ihre Zeugnisse waren jedenfalls hervorragend gewesen.

Hoffentlich war sie dem harten Dienst in der Notaufnahme gewachsen. Sie sah so zart und durchscheinend aus! Ihre dunklen Haare umrahmten ein fein gezeichnetes Gesicht mit grünen Augen, einer kleinen Nase und einem hübsch geschwungenen Mund.

»Danke, Herr Dr. Winter«, sagte sie schüchtern und erwiderte sein Lächeln. »Ich bin sehr froh, daß ich die Stelle hier an der Klinik bekommen habe.«

»Sie sind nicht aus Berlin, oder?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin erst vor kurzem hierher gezogen.«

»Hoffentlich gefällt es Ihnen bei uns – in der Klinik und in der Stadt, meine ich. Kommen Sie, ich mache Sie mit den Kolleginnen und Kollegen bekannt.« Er nahm ihren Arm und zog sie mit sich. »Bernd, dies ist Schwester Katja, sie verstärkt ab heute unser Team. Katja, das ist Dr. Schäfer, Assistenzarzt der Chirurgie.«

Bernd Schäfer versuchte verzweifelt, seinen Bauch einzuziehen, als er sich so unverhofft einer ausgesprochen hübschen jungen Frau gegenüber sah – doch seine Bemühungen blieben vergeblich. Er hatte in den letzten Wochen einfach zuviel gesündigt und seinem ohnehin nicht geringen Körpergewicht noch etliche Kilo hinzugefügt. Mit einem resignierten Seufzer gab er seine Versuche, schlanker zu erscheinen, auf und begrüßte die neue Kollegin.

»Willkommen bei den Verrückten, Schwester Katja«, sagte er. »Wieso wollten Sie eigentlich ausgerechnet bei uns in der Notaufnahme anfangen?«

Die junge Frau antwortete ernsthaft: »In der Notaufnahme arbeite ich am liebsten.«

Eine schlanke Brünette trat zu ihnen und fragte: »Wirklich? Da sind Sie aber eine große Ausnahme. Ich bin Julia Martensen, Internistin.«

»Sehr erfreut«, sagte Katja schüchtern und ergriff die ausgestreckte Hand. »Ich bin Katja Senkenberg, die neue Schwester.«

»Wir sind froh, wenn wir hier ein bißchen entlastet werden«, erklärte die Ärztin. »Nicht,

Adrian?«

»Ja, das kann man wohl sagen. Wo ist denn Moni?«

»Ich bin hier!« Die temperamentvolle Monika Ullmann kam im Eiltempo angelaufen und blieb überrascht stehen, als sie die kleine Versammlung sah. »Habe ich was versäumt? Gibt’s was zu feiern?«

»Schwester Katja, dies ist Schwester Monika, wie sie leibt und lebt. Sie wird Sie unter ihre Fittiche nehmen, und da sind Sie ganz bestimmt bestens aufgehoben. Moni, das ist unsere neue Kollegin Schwester Katja, die uns ab heute das Leben in der Notaufnahme erleichtern wird – wenn auch leider nicht für immer, sondern nur für einige Wochen.«

Monika schüttelte ihre dunklen Locken, streckte die Hand aus und sagte: »Hier sagen alle Moni zu mir. Ich schlage vor, du tust das auch.«

Katja wurde ein wenig rot, nickte und sagte dann: »Danke, gern.«

»Ist sonst noch jemand da, den wir vorstellen könnten?« erkundigte sich Adrian.

»Christian müßte hier irgendwo herumschwirren«, meinte Julia. »Jedenfalls habe ich ihn schon gesehen.«

»Er holt gerade ein Kind, das verkehrt liegt«, wußte Bernd zu berichten.

»Dr. Christian Halberstett ist unser Gynäkologe«, erklärte Adrian, zu Schwester Katja gewandt. »Sie werden ihn später kennenlernen. Und unsere anderen Kollegen ebenfalls. Und jetzt, meine Lieben, an die Arbeit. Oder ist etwa nichts zu tun?«

»Du bist gut! Das Wartezimmer platzt aus allen Nähten, wie fast immer«, sagte Schwester Monika. »Komm mal mit mir, Katja. Du kannst mir gleich helfen.«

Die beiden jungen Frauen verschwanden, und Bernd Schäfer murmelte: »Sie ist einfach wunderschön, Adrian. Hast du diese unglaublichen Augen gesehen?«

»Ja, habe ich«, erklärte Adrian. »Aber bist du nicht unsterblich in Moni verliebt?«

Bernd machte ein beleidigtes Gesicht. »Das geht dich überhaupt nichts an! Außerdem will sie ja nichts von mir wissen.«

Adrian lachte in sich hinein, sagte jedoch nichts. Bernd war ständig verliebt – und nie wurde etwas daraus. Er selbst war davon überzeugt, daß er nur schlank werden müßte, um endlich den gewünschten Erfolg bei Frauen zu haben. Adrian vermutete jedoch eher, daß es Bernds Schüchternheit war, die ihm im Wege stand. Er war zwar ständig verliebt, aber er traute sich einfach nicht an die Frauen heran. Und so schwärmte er mal für diese, mal für jene, aber er blieb immer allein.

»Du kannst es ja mal bei Schwester Katja versuchen«, meinte er. »Obwohl ich finde, daß sie ein bißchen jung für dich ist, meinst du nicht?«

»Ich bin doch erst zweiunddreißig!« entgegnete Bernd jetzt. »Ich bin noch nicht einmal im besten Alter. Das habe ich noch vor mir, wenn du es genau wissen willst.«

»Na, dann laß dich nicht abhalten, Bernd«, sagte Adrian. »Und jetzt komm, wir haben eine Menge zu tun.«

Seufzend folgte Bernd dem jungen Notaufnahme-Chef. Lieber hätte er noch ein wenig von den schönen grünen Augen der neuen Schwester geträumt.

*

Andreas Hollaender schaukelte seine kleine Tochter sanft hin und her. »Nicht mehr weinen«, summte er. »Nicht mehr weinen, Fränzchen. Jetzt mußt du schlafen und träumen – und wenn du wieder aufwachst, singe ich dir wieder etwas vor.«

Franziska war jetzt ein halbes Jahr alt und ein richtiger Sonnenschein. Er sagte immer »Fränzchen« zu ihr. Das hörte sie offenbar gern, denn wenn er es sagte, lachte sie ihr zahnloses Lachen, das ihn so entzückte. Sie hatte seine hellblonden Haare geerbt und seine blauen Augen auch, darauf war er sehr stolz.

Andererseits wäre mehr Ähnlichkeit mit ihrer Mutter auch nicht schlecht gewesen, denn diese war eine ausgesprochen schöne Frau. Aber so hatte er viel mehr das Gefühl, daß Fränzchen auch ein Teil von ihm war. Er war völlig vernarrt in seine kleine Tochter.

Dabei war Fränzchen der Anlaß für eine Menge Unglück gewesen. Sie wären ja niemals nach Berlin gezogen ohne das Kind, Katja und er. Katja war neunzehn gewesen, als Fränzchen auf die Welt kam, jetzt war sie zwanzig. Und er selbst war dreiundzwanzig. Sie waren nicht verheiratet, und in dem kleinen Ort, in dem sie bis dahin gelebt hatten, waren uneheliche Kinder noch immer eine Schande. Hinterm Mond, dachte er. Da leben sie noch hinterm Mond.

In Berlin war das anders, da kümmerte sich niemand darum, ob Katja und er verheiratet waren oder nicht. Aber auf der anderen Seite gab es hier auch niemanden, der ihnen half. Katjas Eltern hatten ihre Tochter vor die Tür gesetzt, als sie erfahren hatten, was los war. Er hörte Katjas Vater noch sagen: »Wenn du alt genug bist, ein Kind in die Welt zu setzen, dann bist du auch alt genug, für dich selbst zu sorgen.«

Ja, und seine Eltern hatten auch nicht begeistert reagiert. Katja und er waren beide gerade erst mit ihrer Ausbildung fertig gewesen. Er selbst hatte eine Schreinerlehre gemacht nach dem Abitur, weil er nicht studieren, sondern lieber handwerklich arbeiten wollte. Natürlich war das mit dem Baby nicht geplant gewesen, und es stimmte auch, daß es nicht gerade zu einer günstigen Zeit passiert war. Aber so war es im Leben schließlich oft: Die Dinge geschahen meistens dann, wenn man sie nicht gebrauchen konnte.

Und jetzt saßen sie also allein in diese Riesenstadt Berlin und versuchten, irgendwie über die Runden zu kommen. Sie bewohnten ein winziges Appartement, und Katja hatte diese Stelle in der Klinik bekommen – allerdings hatte sie ihr Kind verschwiegen, aus Angst, daß sie sie sonst nicht nehmen würden, als alleinstehende Mutter mit Baby. Dabei war sie ja gar nicht alleinstehend, aber das hätten sie ihr vielleicht nicht geglaubt, weil sie ja ledig war. Sie würden natürlich irgendwann heiraten, Katja und er. Aber nicht jetzt, das hätte wie Kapitulation vor den Eltern ausgesehen.

Eigentlich fühlte er sich auch noch zu jung dazu, wenn er ehrlich war. Und auch zu jung, um schon eine Tochter zu haben. Die anderen in seinem Alter flippten noch ziemlich ’rum, und manchmal beneidete er sie heftig. Aber es war nun einmal nicht mehr zu ändern, und jetzt hätte er Fränzchen sowieso nicht mehr hergegeben.

Er paßte jedenfalls auf sie auf und war für sie verantwortlich. Aber natürlich war das keine Dauerlösung. Er liebte Katja, und er liebte Fränzchen, aber er wollte nicht Hausmann bleiben. Er brauchte den Kontakt zu anderen Menschen. In diesem Punkt war er ganz anders als Katja. Die konnte gut allein sein und sich beschäftigen, während er lieber unter Menschen war.

Fränzchen schrie erbärmlich und wollte sich heute gar nicht beruhigen lassen. »Weißt du was?« sagte Andreas und stand auf. »Wir beide machen einen hübschen kleinen Spaziergang. Mir wird er auch gut bekommen, denn mein Magen fühlt sich heute irgendwie eigenartig an. Oder ist es der Bauch? Egal, ich weiß es nicht. Aber ein Spaziergang wird ihn beruhigen. Und dich auch! Ich schaukele dich ein bißchen im Kinderwagen durch den Park. Dann schläfst du ein und mußt nicht mehr schreien.«

Für einen Augenblick hielt das Kind inne und sah ihn aus seinen klaren blauen Augen an. Andreas gab ihr einen Kuß. »Ich bin verliebt in dich, Fränzchen, weißt du das?«

Franziska schloß die Augen, öffnete den Mund und schrie aus Leibeskräften.

*

Dr. Adrian Winter war todmüde, als er an diesem Abend, wieder einmal viel zu spät, nach Hause kam. Er hatte noch Überstunden machen müssen, denn der Ansturm auf die Notaufnahme war unglaublich gewesen. Zeitweise hatten sie geglaubt, es nicht schaffen zu können: Knochenbrüche, einige Herzinfarkte, Schlaganfälle, Brandverletzungen, eine Schießerei, zwei Messerstechereien – nichts war ihnen heute erspart geblieben.

Es war alles in allem ein schrecklicher Tag gewesen, von einem einzigen Lichtblick abgesehen: Schwester Katja. Sie redete nicht viel, aber sie konnte zupacken, und sie sah immer, wo eine helfende Hand fehlte. Ein wahrer Glücksgriff. Aber sonst…

»Da sind Sie ja endlich!« sagte eine besorgte Stimme hinter ihm, und er drehte sich lächelnd um.

»Guten Abend, Frau Senftleben, ja, da bin ich. Es war ein langer und ziemlich schrecklicher Tag, das kann ich Ihnen sagen. Ich war fast zu müde, um mich noch nach Hause zu schleppen.«

»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, das sehe ich auch so«, stellte seine Nachbarin fest. Ihre Stimme klang mütterlich besorgt. Sie bewohnte eine große Wohnung, seinem Appartement gegenüber, und hatte den jungen Arzt vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen. Diese Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, und merkwürdigerweise ging es ihm nicht auf die Nerven, daß sie sich um ihn sorgte und ihn gelegentlich zwang, eine ihrer schmackhaften Mahlzeiten zu sich zu nehmen.

Carola Senftleben näherte sich allmählich ihrem siebzigsten Geburtstag, doch das sah man ihr nicht an. Sie war eine zierliche, energische kleine Person, die früher eine große Schneiderei geleitet hatte. Ihre grauen Haare trug sie kurz und glatt, ihre porzellanblauen Augen blickten so unschuldig in die Welt, als sei sie noch immer ein kleines Mädchen. Doch dieser Eindruck täuschte. Hinter ihrem harmlosen Äußeren verbarg sich ein starker Charakter, und wer sich mit ihr anlegte, tat gut daran, sich warm anzuziehen.

Adrian und sie verband eine gute Freundschaft, die sie beide pflegten. Jetzt sagte sie kurz angebunden: »Sie haben ja doch wieder nichts Anständiges zu essen im Haus, wie ich Sie kenne, Adrian. Zufällig habe ich einen kräftigen Rindfleischeintopf gekocht. Der wird Ihnen jetzt guttun.«

Adrian lächelte breit. »Zufällig« hatte Frau Senftleben öfter gerade dann etwas gekocht, wenn es in der Kurfürsten-Klinik besonders hoch herging, und er fragte sich, woher sie das immer wußte. Oder hatte sie vielleicht auf Vorrat gekocht? Er hatte dieses Geheimnis bisher nicht ergründen können, aber eigentlich war es auch nicht wichtig. Er nahm ihre Einladungen in der Regel an, ohne sich lange zu zieren.

So war es auch diesmal. »Ich stelle nur schnell meine Sachen ab und kippe mir ein wenig Wasser ins Gesicht, Frau Senftleben«, sagte er. »Und dann nehme ich Ihre Einladung mit dem größten Vergnügen an, wenn Sie mir gestatten, eine Flasche Rotwein zum Essen beizutragen. Zufällig«, er betonte das Wort genau wie sie, »habe ich noch eine irgendwo herumstehen.«

»Gut, bis gleich«, sagte sie und verschwand in ihrer Wohnung. Die Tür ließ sie offen. Sie hatten, seit sie Nachbarn waren, bestimmte Gewohnheiten entwickelt, an denen sie festhielten.

Drei Minuten später betrat Adrian mit der bereits geöffneten Rotweinflasche Frau Senftlebens großzügige Wohnung und folgte schnuppernd dem Duft, der aus der Küche kam. »Hmh, Frau Senftleben, das duftet ja himmlisch.«

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Natürlich tut es das«, erklärte sie. »Was haben Sie denn gedacht? Kochen kann ich schließlich!«

Sie füllte ihm den Teller randvoll, während er den Wein einschenkte. Dann nahm sie ihm gegenüber Platz. Sie aßen immer in Frau Senftlebens Küche, weil es eine von diesen großen, altmodischen Wohnküchen war, in denen man so wunderbar gemütlich sitzen und essen konnte.

»Und nun erzählen Sie mal«, sagte sie. »Was war denn nun so schrecklich?«

Er berichtete ihr von den unzähligen Patienten, die heute in die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik geströmt waren. »Aber es gab auch etwas Gutes«, sagte er schließlich. »Wir haben eine neue junge Schwester bekommen, die unser Team in der Notaufnahme für einige Wochen verstärkt. Schwester Katja. Sie ist nicht nur schön, sondern auch eine Spitzenkraft. Dabei kann sie höchstens zwanzig sein. Bernd hat sich natürlich sofort in sie verliebt.«

Er mußte Frau Senftleben nicht erklären, daß Bernd sein Kollege Dr. Schäfer war – sie war bestens über alles informiert. Und so nickte sie jetzt auch nur wissend. »Natürlich«, sagte sie dann. »Das war ja vorherzusehen, wo er doch bei Schwester Moni nicht landen kann.«

»Es wird ihm bei Schwester Katja nicht anders gehen, aber er wird ja nicht klug«, erwiderte Adrian und streckte sich voller Wohlbehagen. »Meinen Sie, Frau Senftleben, daß von diesem köstlichen Eintopf noch etwas da ist? Ich könnte glatt noch einen Teller davon essen.«

Seine Nachbarin erhob sich mit einem zufriedenen Lächeln und füllte seinen Teller von neuem. Sie selbst aß nichts mehr, sondern begnügte sich damit, Adrian beim Essen zuzusehen. Sie war nie verheiratet gewesen, hatte keine Kinder gehabt, und so hatte sie den jungen Arzt »adoptiert«, wie sie manchmal im Scherz sagte.

»Wie geht’s Ihrer Schwester?« erkundigte sie sich. »Sie ist lange nicht mehr hier gewesen.«

»Sie kennen doch Esther«, antwortete er. »Die wirbelt durchs Leben, ohne auch nur gelegentlich Luft zu holen. Aber es ist gut, daß Sie mich an sie erinnern. Ich sollte sie unbedingt mal wieder anrufen.«

»Noch einen?« fragte Frau Senftleben, als Adrian auch den zweiten Teller geleert hatte.

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich würde gern noch, aber ich fürchte, es geht nichts mehr ’rein.«

Sie lachte und erhob ihr Glas. »Zum Wohl, Adrian. Sie sehen schon viel besser aus als vorhin.«

»Dank Ihrer Kochkunst und Ihrer reizenden Gesellschaft«, erwiderte er charmant.

Danach blieb er nicht mehr lange, denn der harte Arbeitstag und das üppige Essen forderten ihren Tribut. Er hatte sich kaum ins Bett gelegt, als er auch schon fest eingeschlafen war.

Carola Senftleben jedoch war jetzt erst richtig munter geworden. Sie räumte ihre Küche auf, plante bereits das nächste Essen, das sie für ihren überarbeiteten Nachbarn kochen würde, schrieb noch einige Briefe, nähte einen Kissenbezug und ging schließlich gegen drei Uhr morgens zufrieden und müde ins Bett.

*

Dr. Esther Berger, Adrian Winters Zwillingsschwester, sauste im Eilschritt durch den Supermarkt. Auf den ersten Blick hätte man sie leicht für einen Teenager halten können: Sie war sehr schlank und zierlich, und ihr blonder Kurzhaarschnitt und ihre Kleidung taten ein übriges, um sie sehr viel jünger wirken zu lassen, als sie tatsächlich war, nämlich fünfunddreißig Jahre alt. Sie trug, wie meistens in ihrer Freizeit, Jeans, Pullover und Turnschuhe. Das fand sie bequem und praktisch, außerdem stand es ihr gut, wie sie sehr wohl wußte.

Fast wäre sie mit einem jungen Mann zusammengestoßen. »Oh, Entschuldigung!« sagte sie hastig. »Ich bin so schrecklich in Eile, aber ich wollte Sie natürlich trotzdem nicht umrennen.«

Er sah ein wenig erschrocken aus und hatte schützend die Arme gehoben. Jetzt erst stellte sie fest, daß er ein Baby trug. Es lag in einem Tuch, das er sich umgebunden hatte, und schlief selig.

»Ist etwas passiert?« fragte sie besorgt.

»Ich glaube nicht, sonst wäre sie aufgewacht und hätte geschrien«, meinte er und sah liebevoll auf das Kind hinunter.

»Ihre Tochter?« fragte Esther. Sie hatte völlig vergessen, wie eilig sie es hatte. Kinder übten eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie aus.

»Ja, sie ist jetzt ein halbes Jahr alt«, berichtete er voller Stolz.

Sie lächelte und fuhr der Kleinen sanft mit einem Finger über die Stirn. »Sie ist sehr

hübsch, und sie sieht Ihnen ähnlich.«

»Ja, nicht wahr? Sie müßten mal ihre Augen sehen, die hat sie auch von mir.«

Er war nett, fand Esther, wenn er auch fast noch zu jung war, um schon eine Tochter zu haben. Er war sicher kaum über zwanzig. Aber vielleicht war er auch älter, sie selbst wurde schließlich auch immer für jünger gehalten, als sie war. Jedenfalls schien er ein guter Vater zu sein, das zeigte ihr die Art, wie er das Kind ansah und wie er sofort schützend seine Arme gehoben hatte bei ihrem Fast-Zusammenstoß.

»Ich bin Kinderärztin«, sagte sie plötzlich, »und ich freue mich immer, wenn ich gesunde und zufriedene Kinder sehe. Ihre Tochter macht einen sehr zufriedenen Eindruck.«

Er lachte. »Sie hätten sie gestern mal hören sollen, da hätten Sie das bestimmt nicht gesagt. Sie hat wie am Spieß geschrien und sich erst beruhigt, als ich sie schon eine halbe Stunde durch den Park geschaukelt hatte. Ich dachte, sie wollte überhaupt nicht mehr aufhören.« Zärtlich fügte er hinzu, während er seine Tochter ansah: »Nicht, Fränzchen, du kannst einen ganz schön nerven, wenn du es drauf anlegst.«

Er war wirklich nett, Esthers Meinung stand nun fest. Und er sah auch nett aus mit seinen kurzen blonden Haaren, die nach allen Seiten abstanden, und den blanken blauen Augen. Er war eher mittelgroß und wirkte kräftig. Man konnte sich sicher auf ihn verlassen, wenn es darauf ankam. Hoffentlich war die Mutter des Kindes genauso nett – und hoffentlich wußte sie, was sie an ihm hatte.

»Fränzchen?« fragte sie. »Ist das ihr Name?«

»Eigentlich Franziska, den Namen fanden wir beide schön, meine Freundin und ich. Aber er ist zu erwachsen für sie, finde ich. Deshalb nenne ich sie immer Fränzchen. Das mag sie gern.«

Esther lachte. »Passen Sie bloß auf, sie wird noch so heißen, wenn sie schon dreißig ist, und dann wird es ihr nicht mehr gefallen. Ich hatte einen Schulfreund, der wurde nur ›Bubi‹ genannt – der heißt heute noch so, da kann er machen, was er will.«

Der junge Vater lachte ebenfalls. »Ich werd’s mir merken«, versprach er. »Wohnen Sie hier in der Nähe? Ich meine, eine Kinderärztin in der Nähe schadet ja bestimmt nicht.«

»Ja, gleich da drüben. Ich gehe oft hier einkaufen. Ich heiße Esther Berger.«

»Andreas Hollaender«, erwiderte er. »Freut mich, daß ich Sie kennengelernt habe, Frau Doktor.«

»War ja nicht ganz freiwillig«, sagte sie. »Ich habe übrigens keine Praxis, ich arbeite in der Charité auf der Kinderstation. Aber wenn Sie Probleme haben sollten, dann wissen Sie ja jetzt, wo Sie mich finden.«

Er nickte. »Ja, vielen Dank. Und jetzt müssen wir weiter, Fränzchen und ich. Sonst wacht sie mir doch noch auf und schreit, wenn sie Hunger hat. Da bin ich lieber mit ihr zu Hause. Außerdem«, jetzt grinste er Esther übermütig an, »hatten Sie es doch so wahnsinnig eilig.«

Sie warf einen Blick auf die Uhr und stieß einen erstickten Schrei aus. »Verdammt, die bringen mich um, wenn ich schon wieder zu spät komme. Tschüß – vielleicht bis demnächst!« Im Eiltempo rannte sie davon und entging nur knapp einem erneuten Zusammenstoß mit einem anderen Kunden des Supermarkts.

Andreas lachte und sagte: »Das ist eine Verrückte, Fränzchen, aber eine nette.«

Dann legte er erschrocken eine Hand auf seinen Bauch. Fing das etwa schon wieder an? Er konnte sich diese Schmerzen, die er ab und zu hatte, einfach nicht erklären. Und er fand sie ziemlich lästig – Schmerzen hatten bisher in seinem Leben nichts zu suchen gehabt. Na ja, beruhigte er sich gleich darauf. Es wird der Stress sein. Wir haben einfach ein bißchen viel um die Ohren im Augenblick.

*

»Andreas?«

Katja bekam keine Antwort, und ein Blick in das kleine Appartement genügte, um ihr zu zeigen, daß er nicht da war. Sie sah sich um und unterdrückte einen Seufzer. Das Appartement war wirklich winzig, und sie fragte sich manchmal, wie lange sie es zu dritt hier aushalten konnten, ohne sich entsetzlich auf die Nerven zu gehen.

Bisher klappte es recht gut, aber das lag auch daran, daß sie arbeitete und fast nie zu Hause war. Trotzdem war es hier viel zu eng für drei Personen. Und wenn Franziska erst einmal anfing zu krabbeln, dann würde es unerträglich werden.

Aber sie konnten sich nichts anderes leisten, sie kamen ja so schon kaum über die Runden und mußten noch froh sein, daß sie überhaupt hier untergekommen waren. Weder von ihren noch von Andreas’ Eltern war Unterstützung zu erwarten, sie mußten sehen, wie sie allein zurechtkamen. Und sie mußten es einfach schaffen.

Allerdings hatte sie manchmal Angst, daß Andreas das Leben, das die Verhältnisse ihm im Augenblick aufzwangen, nicht lange aushalten würde. Er war so lebenslustig, war gern mit Freunden zusammen, liebte es, Leute zu sich einzuladen. All das ging im Moment nicht. Sie hatten in Berlin noch gar keine Freunde und weder Platz noch das Geld, um Gäste zu bewirten. Manchmal hatte sie richtige Angst davor, daß sie eines Tages aufwachen würde, und Andreas wäre verschwunden. Weggelaufen, weil er das armselige Leben, das sie jetzt führen mußten, nicht mehr ertragen konnte.

Denn natürlich fehlte ihm auch seine Arbeit. Er hatte seine Lehre mit hervorragenden Noten abgeschlossen, und nun konnte er nicht arbeiten, weil das Baby da war. Noch war er meistens guter Dinge, aber sie fürchtete, daß das nicht mehr lange so bleiben würde.

Die Wohnungstür wurde aufgeschlossen, und Andreas rief: »Da bist du ja schon, Katja! Wie war’s in der Klinik?«

»Stressig, aber mir gefällt’s!« antwortete sie. Er gab ihr einen Kuß, und sie nahm ihm das Kind ab, das gerade hatte anfangen wollen zu weinen. Aber als es nun seine Mutter sah, lächelte es statt dessen.

»Na, Engelchen?« sagte Katja zärtlich. »Du siehst ja großartig aus!«

»Wir haben eine Kinderärztin im Supermarkt kennengelernt, die uns fast über den Haufen gerannt hat«, berichtete Andreas. »Nette Frau, ein bißchen verrückt. Sie wohnt schräg über die Straße. Wenn mal was mit Fränzchen ist, können wir zu ihr gehen, obwohl sie keine Praxis hat. Sie arbeitet im Krankenhaus.«

»Sag nicht immer Fränzchen!« wies Katja ihn zurecht.

»Das hat Frau Dr. Berger auch gesagt.« Andreas lachte und erzählte ihr von seinem Gespräch mit der Ärztin über dieses Thema.

»Da hat sie genau recht«, meinte Katja. »Nicht, Franziska, du willst nicht dein ganzes Leben lang Fränzchen heißen?«

Das Kind gluckste vergnügt, und sie legte es aufs Sofa zwischen zwei dicke Kissen.

»Ich glaube, sie ist nicht deiner Ansicht«, sagte Andreas und schlang seine Arme um Katja. »Du bist eine wunderschöne Frau, habe ich dir das heute schon gesagt? Wahrscheinlich sind bereits alle Ärzte an deiner Klinik in dich verliebt.«

»Bloß Dr. Schäfer«, erwiderte Katja und mußte lächeln, als sie an den fülligen Assistenzarzt dachte. »Aber er ist ständig verliebt, das hat also nichts zu sagen.«

»Soso«, sagte Andreas und spielte den Eifersüchtigen, »der soll sich bloß in acht nehmen und dich in Ruhe lassen.«

»Das macht er sowieso.«

»Und woher weißt du dann, daß er in dich verliebt ist?«

»Weil er immer so guckt, als fielen ihm gleich die Augen aus dem Kopf. Und wenn ich ihn dabei erwische, wird er knallrot. Er ist wirklich nett, Andreas.«

Aber Andreas war nicht mehr an weiteren Neuigkeiten über Dr. Schäfer interessiert. Er küßte Katja und ließ dabei seine Hände langsam ihren Rücken hinuntergleiten. Vergessen waren die Schmerzen in seinem Bauch, die ihn vor einer halben Stunde noch gequält hatten.

Doch gerade als Katja anfing, seine Zärtlichkeiten zu erwidern, fing Franziska empört an zu schreien. Schließlich war immer noch sie der Mittelpunkt der Welt – und das mußte sie ihren Eltern offensichtlich von Zeit zu Zeit in Erinnerung rufen.

*

Stefanie Wagner rauschte in beträchtlichem Tempo durch die Eingangshalle des Hotels King’s Palace. Das Hotel war ihr Arbeitsplatz, und so wütend, wie sie an diesem Abend war, war sie schon lange nicht mehr gewesen. Nur gut, daß sie jetzt nach Hause gehen konnte!

Den ganzen Tag hatte sie sich nur herumärgern müssen. Sie hatte ihren übellaunigen Chef ertragen, eine randalierende Rockband vor die Tür setzen lassen, ein mit dem Service unzufriedenes Ehepaar beruhigt, nebenbei eine Gruppe von Managern betreut, die gerade eine Tagung im Hotel abhielten, und zum guten Schluß noch einen Kellner des Diebstahls überführt – und nun fragte sie sich, wofür sie sich eigentlich überhaupt so quälte.

Sie war die Assistentin des Direktors, was für ihre einunddreißig Jahre eine bemerkenswerte Position war. Aber heute fand sie, daß sie für den Ärger, den sie Tag für Tag zu bewältigen hatte, bei weitem nicht gut genug bezahlt wurde. Und was das Schlimmste war, ihre Anstrengungen waren heute noch nicht einmal zur Kenntnis genommen worden.

Wenn das so weiterging, würde sie kündigen. Es konnte für sie, bei ihren Erfahrungen und Fähigkeiten, doch nicht schwierig sein, in einem anderen Hotel eine Stelle zu finden, wo man auch zu schätzen wußte, was sie leistete!

Wütend warf sie ihre langen blonden Locken nach hinten. Und dann trug sie noch dieses blödsinnige Kostüm mit dem kurzen Rock, der so eng war, daß sie sich kaum darin bewegen konnte, und dazu ihre allerhöchsten Absätze. Warum nur? Was war denn heute morgen in sie gefahren, als sie nach den Sachen gegriffen und sie, ohne nachzudenken, angezogen hatte? Es war doch klar gewesen, daß sie den ganzen Tag herumhetzen mußte, wieso also…

»Frau Wagner?«

Verblüfft blieb sie stehen und sah auf den blonden jungen Mann, der vor ihr stand. Bloß jetzt nicht noch mehr Ärger, dachte sie. Das ertrag’ ich einfach nicht.

»Ja?« fragte sie.

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, dann sagte er mit entwaffnendem Lächeln: »Sie sind total genervt, oder? Dann komm’ ich lieber ein anderes Mal wieder.«

Er wollte sich schon umdrehen, aber sie sagte: »Halt, hiergeblieben. Stimmt, ich bin total genervt. Aber neugierig bin ich trotzdem. Was wollen Sie denn von mir?«

»Der Personalchef hat mich zu Ihnen geschickt«, antwortete er. »Ich suche einen Job als Schreiner, aber nur einen Gelegenheitsjob, weil ich im Augenblick noch Hausmann bin.«

Er lächelte verlegen, doch als sie nichts sagte, fuhr er hastig fort: »Meine Freundin und ich, wir haben nämlich ein Baby, und meine Freundin hat hier in Berlin einen Job als Krankenschwester gefunden. Deshalb kann ich nur arbeiten, wenn sie zu Hause bei der Kleinen ist. Ach, Entschuldigung, ich sollte mich vielleicht mal vorstellen. Mein Name ist Andreas Hollaender.«

»Und warum schickt der Personalchef Sie zu mir?«

»Weil ich ziemlich gute Zeugnisse habe, die haben ihn beeindruckt. Und er sagt, es gibt hier im Hotel schon Arbeit für jemanden wie mich. Schließlich geht immer mal was zu Bruch.«

»Das kann man wohl sagen«, stellte Stefanie nüchtern fest. Sie dachte an den Schaden, den die Mitglieder der Rockband in der vergangenen Nacht angerichtet hatten. »Aber ich verstehe immer noch nicht, wozu Sie mich brauchen, wenn der Personalchef doch schon festgestellt hat, daß Arbeit für Sie da ist.«

»Das Problem ist, daß ich keine festen Arbeitszeiten einhalten kann«, gestand der junge Mann. »Verstehen Sie? Ich will ja auch gar nicht fest angestellt werden. Wenn ich sozusagen als freier Mitarbeiter einsteigen könnte…« Seine Stimme erstarb unter ihrem forschenden Blick.

Sie warf einen Blick in ihren Kalender. »Morgen früh um zehn Uhr in meinem Büro«, sagte sie kühl. »Mit sämtlichen Unterlagen, die Sie haben.«

»Aber da kann ich nicht, weil…«

»Bringen Sie das Baby mit, Herr Hollaender! Wo ist das Problem?« Sie nickte ihm noch einmal zu und rauschte aus der Halle. Draußen blieb sie erst einmal stehen und atmete tief durch. Endlich war sie frei, wenigstens für ein paar Stunden.

Sie drehte sich um und sah den jungen Mann, mit dem sie gerade gesprochen hatte, noch immer am selben Fleck stehen, als habe ihn der Schlag getroffen. Netter Junge. Mal sehen, dachte sie, ob er wirklich so ein guter Schreiner ist.

*

»Verstehst du denn nicht, Katinka? Ich habe einen Termin bei der engsten Mitarbeiterin des Direktors! Morgen früh um zehn. Und es kann gut sein, daß sie mich nehmen.«

Katja versuchte zu lächeln. Sie freute sich ja auch wirklich für Andreas, aber sie war so unendlich müde…

»Eine ganz tolle Frau ist das«, schwärmte Andreas weiter. »Die sind sowieso alle supernett im King’s Palace, und da kann ich ganz viel machen. Du glaubst gar nicht, wie gepflegt die Möbel sind. Da ist dauernd was zu tun, und der Personalchef hat mir gesagt, daß sie mit der Arbeit kaum nachkommen. Was meinst du?«

»Ich freue mich für dich, Andy«, sagte Katja lahm, und sie schämte sich dafür, daß das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie fürchtete sich einfach davor, daß sie dann gar nicht mehr zum Schlafen kommen würde. Denn immerhin war sie in diesem Fall mit Franziska allein zu Haus, während er arbeitete.

»Du hast Angst, daß es zuviel wird, nicht?« fragte Andreas leise. »Aber du mußt keine Angst haben, wirklich nicht. Wenn sich herausstellt, daß es nicht zu schaffen ist, höre ich sofort wieder auf, das verspreche ich dir. Es ist nur so, daß ich auf Dauer verrückt werde, wenn ich immer hier zu Hause bin – nur mit einem Baby als Gesellschaft.«

Da lächelte sie. »Das verstehe ich. Wir schaffen es schon irgendwie, Andy.«

Er strahlte. »Klar schaffen wir es. Du mußt mich mal ins Hotel begleiten, Katinka. Und dir die schöne Frau Wagner ansehen. Mann, die sieht aus wie ein Model aus einer Illustrierten. Lange blonde Haare und ganz blaue Augen, fast ein bißchen violett. Wahnsinn, sag’ ich dir. Wenn die durchs Hotel läuft, dann kriegen alle Männer große Augen.«

»Du auch?«

Er hörte nicht, daß sich ein kleiner Unterton in ihre Stimme geschlichen hatte. »Klar«, antwortete er. »Schließlich bin ich ein Mann. Und schöne Frauen sieht man ja nicht jeden Tag.« Er lachte übermütig. »Nur ich, denn ich habe eine zu Hause.«

Das sorgte dafür, daß sich Katjas Gesichtszüge wieder ein wenig entspannten. Aber eine kleine steile Falte, die sich auf ihrer Stirn eingegraben hatte, war noch immer zu sehen.

In diesem Augenblick fing Franziska an zu weinen, und das brachte ihre Eltern zunächst einmal auf andere Gedanken.

*

»Bleibt es nun dabei?« fragte Schwester Monika.

»Wobei? Daß wir noch was trinken gehen?« fragte Adrian zurück. »Ich denke doch. Die anderen gehen alle mit.«

»Dann geh’ ich schon mal«, meinte Monika. »Ich bin nämlich fertig und habe richtig Lust auf ein Bier. Bis gleich, Adrian.«

»Bis gleich«, sagte er und verabschiedete sich von seinem letzten Patienten. Müde verließ er die Kabine. Ein Bier in fröhlicher Runde war jetzt genau das Richtige. Und danach würde er ziemlich schnell nach Hause gehen.

»Ist noch etwas?« fragte Schwester Katja, die ihm aus einer anderen Kabine entgegenkam. »Sonst würde ich jetzt verschwinden.«

»Was machen die Glassplitter?« fragte Adrian.

»Alle entfernt, dem kleinen Mädchen geht’s schon wieder besser. Sie sollten es sich nur noch einmal ansehen.«

»Das kann ich gleich machen, und dann sind wir fertig für heute, Schwester Katja.« Er folgte ihr zu der Kabine, in der das kleine Mädchen lag, sah sich aufmerksam die Hand an, die Schwester Katja behandelt hatte, und nickte dann anerkennend. »Saubere Arbeit, besser hätte es niemand machen können. Sie können sie verbinden, und dann darf die junge Dame mit ihrer Mama nach Hause gehen.«

Katja machte sich sofort an die Arbeit. Als sie einige Minuten später die Kabine verließ, rief der Arzt ihr zu: »Wir wollen noch ein Bier zusammen trinken, einige Kollegen und ich. Haben Sie nicht Lust mitzukommen?«

»Vielen Dank, aber das geht leider nicht«, antwortete sie. »Ich habe etwas anderes vor.«

»Schade!« sagte Adrian. »Dann viel Spaß. Bis morgen.«

»Bis morgen!« Eilig verließ Schwester Katja die Notaufnahme.

»Sie hat immer was anderes vor«, stellte Julia Martensen fest und runzelte die Stirn. »Ich muß sagen, Adrian, daß ich noch nie eine so zurückhaltende junge Frau erlebt habe.«

Er nickte. »Stimmt, daß sie sehr zurückhaltend ist. Aber ich muß sagen, daß ich das angenehmer finde als andersherum. Erinnerst du dich noch an diese Klatschtante, die wir mal hier hatten?«

Julia schüttelte sich. »Ja, natürlich, wer könnte die jemals vergessen?«

»Na, siehst du, Julia!«

»Trotzdem!« Seine Kollegin wollte das Thema noch nicht fallenlassen. »Sie schweigt sich so beharrlich über ihr Privatleben aus, daß ich manchmal schon gedacht habe…«

Er unterbrach sie mit vorwurfsvollem Blick. »Soll das heißen, du glaubst, sie hat etwas zu verbergen?«

Julia Martensen zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Aber es interessiert mich einfach, wie sie lebt. Ob sie ganz allein ist hier in Berlin, oder ob sie Freunde hat…«

»Oder einen Freund«, ergänzte Adrian. »Ich wußte gar nicht, daß du so neugierig bist.«

»Nicht neugierig«, korrigierte sie. »Aber ist dir denn wirklich noch nicht aufgefallen, wie blaß sie immer ist? Und daß ihr manchmal vor Müdigkeit fast die Augen zufallen?«

»Doch«, gab er zu. »Das ist mir schon aufgefallen, aber es geht uns ja nicht anders, oder? Unser Dienst ist anstrengend, das weißt du selbst.«

Sie war trotzdem nicht überzeugt. »Da steckt noch etwas anderes dahinter, glaube ich. Wart’s ab, eines Tages wird es sich herausstellen. Gehen wir?«

»Ja, gleich, ich muß nur meine Sachen noch zusammensuchen.«

Sie hatte ihn gegen seinen Willen beunruhigt, gestand er sich nun ein. Ihm waren die

dunklen Ränder unter Katjas Augen auch schon aufgefallen, aber er hatte sich beharrlich gesagt, daß ihn das nichts angehe, solange sie ihre Arbeit gut machte. Und das tat sie, ohne jeden Zweifel.

Aber natürlich konnte er sie gelegentlich einmal fragen, ob sie vielleicht Kummer oder Sorgen hatte. Vielleicht würde er sogar eine Antwort auf seine Fragen bekommen.

Mit diesem guten Vorsatz verließ er die Notaufnahme und begab sich mit Julia zu den Kollegen, die ihnen in »ihrer« Kneipe das erste Pils bereits bestellt hatten.

*

Die kommende Woche wurde hart. Katja hatte Nachtdienst, und Andreas fuhr fast jeden Nachmittag ins King’s Palace und arbeitete dort. Er tat es mit großem Vergnügen, und es verging kein Tag, an dem er nicht von seiner neuen Beschäftigung schwärmte.

Insgeheim war Katja fast ein wenig neidisch auf ihn. Er war frei in der Wahl seiner Arbeitszeit, außerdem verdiente er auch noch sehr gut. Und dann waren wohl auch die Leute, mit denen er zu tun hatte, ziemlich nett. Von dieser Frau Wagner, die seine Beschäftigung befürwortet hatte, sprach er ja immer voller Begeisterung.

Außerdem schien ihm die edle Umgebung im Hotel gut zu gefallen. Manchmal fragte sich Katja, ob er sich nicht vielleicht bald zu sehr daran gewöhnen würde. Und dann? Wie würde er es in ihrem winzigen Appartement aushalten, in dem man niemals für sich sein konnte? In dem alles billig und selbstgemacht war und auch so aussah? Sie hatten ja nicht einmal Geld, um sich das Nötigste zu kaufen, da blieb für ein hübsches Möbelstück natürlich erst recht nichts übrig.

Aber wenn sie ehrlich war, dann beunruhigte sie die Sache mit der vornehmen Umgebung weniger als dieses ständige Schwärmen von der schönen Assistentin des Direktors. Manchmal hörte sich das so an, als sei Andreas richtig verliebt in sie. Wenn sie in ihren Überlegungen so weit gekommen war, verbot Katja sich regelmäßig, weiterzudenken. Sie wußte, daß sie dazu neigte, eifersüchtig zu sein. Aber wenn sie damit erst einmal anfing, dann konnte sie gleich einpacken!

Heute hatte sie gar nicht mitbekommen, daß Andreas ins Hotel gegangen war. Er war zuerst mit Franziska spazierengegangen, danach hatte er sie gefüttert und ins Bett gebracht. Katja hatte in dieser Zeit fest geschlafen. Aber nun drang etwas in ihr Bewußtsein, das ihre Ruhe störte.

Franziska schrie, und es dauerte eine Weile, bis Katja sich endlich aus den Tiefen des Schlafs emporgekämpft und begriffen hatte, daß sie nicht träumte. Es war mitten am Nachmittag, sie brauchte ihren Schlaf dringend, denn sie würde auch heute wieder Nachtdienst haben. Aber Andreas war ja im Hotel, und so quälte sie sich aus dem Bett, um zu sehen, warum Franziska weinte.

Theoretisch war die Lösung, die Andreas mit seinem »Gelegenheitsjob« im King’s Palace gefunden hatte, großartig, das fand auch Katja. Aber praktisch war sie eine Katastrophe. Denn irgendwie schien Franziska es zu spüren, wenn ihre Mutter besonders müde war und ihren Schlaf noch dringender brauchte als ohnehin schon. Und genau dann schrie sie wie am Spieß und war kaum zu beruhigen, so daß Katja Stunden damit verbringen mußte, ihre Tochter zu beruhigen, statt zu schlafen.

Oft genug fand Andreas die beiden im Sessel sitzend vor, wenn er von der Arbeit nach Hause kam: Franziska schlief selig im Arm ihrer ebenfalls schlafenden Mutter. Auch heute war es wieder so. Als er das Appartement betrat, zufrieden und gut gelaunt, weil die Arbeit ihm wieder einmal großen Spaß gemacht hatte, sah er sofort Katjas erschöpftes blasses Gesicht, während das Baby in ihren Armen rund und rosig aussah.

Vorsichtig nahm er Franziska hoch und legte sie in ihr Bettchen. Sie schlief weiter, und auch Katja rührte sich nicht. Leise setzte er Wasser für einen Tee auf, und davon wachte sie dann auf.

»Da bist du ja«, sagte sie.

Er setzte sich auf den Rand des Sessels und strich ihr über das Gesicht. »Ich wollte dich nicht wecken, Katinka.« Er gab ihr einen Kuß. »War’s wieder so schlimm?«

Sie nickte. »Über eine Stunde lang hat sie gebrüllt, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Sie macht mich fertig, Andreas. Wenn ich bedenke, daß ich eine Nachtschicht durchstehen muß, dann weiß ich nicht, wie ich das machen soll!« Unvermittelt fing sie an zu weinen.

Erschrocken rutschte er von der Sessellehne, kniete sich vor sie und schlang beide Arme um sie. »Katinka!« sagte er. »Nicht weinen, wir schaffen das schon. Wenn es überhaupt nicht geht, muß ich eben wieder aufhören im Hotel.«

»Aber wir brauchen das Geld, und du kannst auch nicht nur zu Hause hocken«, schluchzte sie. »Sonst wirst du nämlich noch verrückt.«

»Und wenn wir so weitermachen wie jetzt, dann wirst du verrückt«, erwiderte er. »Wir haben also die freie Auswahl. Gnädige Frau, möchten Sie gern verrückt werden? Oder darf ich das für Sie erledigen?«

Es war ihm gelungen, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern, und erleichtert atmete er auf. »Na, so gefällst du mir schon besser. Wir werden doch nicht vor den ersten kleinen Schwierigkeiten gleich kapitulieren!«

»Kleine Schwierigkeiten!« sagte sie und putzte sich die Nase. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so müde, Andy! Wenn ich könnte, würde ich eine Woche lang schlafen, das kannst du mir glauben.«

»Superfit bin ich auch nicht«, gestand er, »aber ich muß ja auch keinen Nachtdienst machen und kann immer mal zwischendurch schlafen. Außerdem gefällt es mir super im King’s Palace , das macht natürlich viel aus. Heute ist Frau Wagner gekommen und hat gesagt, sie will demnächst mal etwas sehen, das ich ganz allein gemacht habe. Ist das nicht klasse?«

Sie nickte. Alles, was Frau Wagner tat oder sagte, war klasse, daran hatte sie sich jetzt schon gewöhnt. Und sie war außerdem eine Schönheit und furchtbar nett und klug und…

»Was sollen wir denn jetzt machen?« fragte Andreas, der das angespannte Gesicht seiner Freundin wohl bemerkte. Wie froh war er, daß er ihr nichts von diesen merkwürdigen Bauchschmerzen erzählt hatte, die sich in letzter Zeit immer mal wieder meldeten. Ein paarmal war ihm auch schon richtig schlecht geworden, und manchmal fühlte er sich schwindelig. Aber alldas hatte er Katja gegenüber bisher mit keinem Wort erwähnt. Dann hätte sie sich zu allem Überfluß auch noch Sorgen um ihn machen müssen. Er war davon überzeugt, daß diese Beschwerden von selbst wieder verschwinden würden.

»Tee trinken«, antwortete Katja auf seine Frage. »Und ich muß noch etwas essen, bevor ich gehe.«

»Ich mach’ dir was!« Er sprang auf und lief in die winzige Küche, in der das Teewasser bereits kochte.

Katja lehnte sich müde zurück, und im nächsten Augenblick war sie schon wieder eingeschlafen.

*

»Ja, ja, schon gut, ich kann schließlich nicht fliegen«, murmelte Carola Senftleben, als jemand bei ihr Sturm klingelte. »Ich komme!« rief sie, trocknete sich schnell die nassen Hände ab, verließ ihre Küche und ging zur Tür, um zu öffnen. Ihr Unmut verflog sofort, als sie sah, wer davorstand. »Ach, Sie sind’s, Frau Dr. Berger«, sagte sie lächelnd. »Kommen Sie herein. Ihr Bruder ist nicht da.«

»Das habe ich gemerkt!« Esther war ganz außer Atem, so schnell war sie die Treppen hinaufgelaufen. Das tat sie meistens, statt den Fahrstuhl zu nehmen. Es hielt sie fit, behauptete sie, und wahrscheinlich stimmte das auch. »Wissen Sie zufällig, wo er sich herumtreibt, Frau Senftleben?« Sie folgte

Adrians Nachbarin in die Wohnung.

»Er hat Nachtdienst. Sie haben wohl schon lange nicht mehr mit ihm gesprochen? Sonst müßten Sie das doch wissen!«

Esther machte ein schuldbewußtes Gesicht. »Bei mir war so viel los in der letzten Zeit. Ich wollte ihn schon einige Male anrufen, aber irgendwie ist mir immer etwas dazwischen gekommen.« Sie schnupperte. »Hmhm, kochen Sie? Es duftet himmlisch.«

»Lammgulasch«, sagte Frau Senftleben. »Ist aber noch längst nicht fertig, sonst hätte ich Sie gerne eingeladen. Oder Sie warten, bis wir essen können, und trinken in der Zwischenzeit ein Glas Wein mit mir.«

Esther schüttelte den Kopf. »Normalerweise liebend gern, Frau Senftleben, aber heute geht’s ganz schlecht. Ich hätte auch bei Adrian nicht lange bleiben können. Aber ich war ohnehin gerade hier in der Gegend, und da dachte ich, ich sage ihm wenigstens guten Tag. Das hat ja nun leider nicht geklappt.«

»Ich sag’s ihm, daß Sie hier waren, Frau Berger. Er freut sich bestimmt, daß Sie an ihn gedacht haben.«

»Sie sind ein Schatz, Frau Senftleben. Warum kann ich nicht auch eine Nachbarin wie Sie haben?«

Carola Senftleben lachte ver­gnügt. »Ziehen Sie doch hierher, ich würde mich sehr darüber freuen.«

»Das geht nicht, Sie wissen doch: Ich gehöre nach Kreuzberg. Da fühle ich mich wohl.«

»Dann müssen Sie eben weiterhin auf eine Nachbarin wie mich verzichten. Oder Sie kommen öfter mal vorbei. Wir haben neulich über Sie gesprochen, Ihr Bruder und ich. Ich glaube, er hatte auch ein schlechtes Gewissen, daß er sich so lange nicht bei Ihnen gemeldet hat.«

»Dann ist es ja gut«, meinte Esther ganz zufrieden. »Vergessen Sie ja nicht, ihm auszurichten, daß ich hier war.« Sie verabschiedete sich herzlich von Frau Senftleben und rannte im nächsten Augenblick schon wieder die Treppe hinunter.

»Du verrückte Nudel«, sagte

Adrians Nachbarin freundlich und verschwand in ihrer Küche. Dr. Adrian Winter liebte Lammgulasch, und sie freute sich schon auf sein Gesicht, wenn sie es ihm vorsetzen würde.

*

Stefanie Wagner sah sich den Schrank, der mitten im Zimmer stand, aufmerksam von allen Seiten an. »Nicht schlecht«, urteilte sie.

»Danke«, sagte Andreas bescheiden. »Es ist ja nichts Großartiges, aber das wollten Sie ja auch nicht.«

Sie setzte sich und bat ihn mit einer Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen. »Auch sonst habe ich gehört, daß die Kollegen mit Ihrer Arbeit zufrieden sind«, fuhr sie fort. »Von mir aus können wir unser kleines Experiment also fortsetzen.«

Er nickte, ließ aber den Kopf hängen.

»Was ist, Herr Hollaender?« fragte sie. »Ist das nicht genau das, was Sie wollten, als Sie mich vor einiger Zeit angesprochen haben?«

»Doch, Frau Wagner. Aber…« Er stockte. Als er aufsah, blickte er direkt in ihre veilchenfarbenen Augen, die aufmerksam auf ihn gerichtet waren, und auf einmal dachte er, wenn ich es ihr nicht sagen kann, dann kann ich es niemandem sagen. Er holte tief Luft und erzählte ihr, wie schwierig es im Augenblick mit Fränzchen war und daß seine Freundin Katja nicht mehr lange durchhalten würde, wenn es so weiterging.

»Und nun?« fragte sie. »Für dieses Problem weiß ich, offen gestanden, im Augenblick keine Lösung. Es sei denn, Sie würden jemanden finden, der zumindest zeitweise auf die Kleine aufpaßt, daß Ihre Freundin sich einmal wieder richtig ausschlafen kann.«

»Vergessen Sie’s«, meinte er. »Das können wir uns nicht leisten. Bei uns ist es sowieso schon eng genug mit dem Geld, das können Sie sich doch vorstellen.«

Stefanie nickte. Ja, das konnte sie, obwohl sie Tag für Tag in einem Luxushotel arbeitete und ständig von Menschen umgeben war, die sehr viel mehr Geld verdienten als der Durchschnitt. Aber ihre Eltern hatten früher auch nur das Nötigste gehabt, und an diese Zeiten würde sie sich immer gut erinnern.

»Und was wollen Sie nun tun?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Es ist eine richtige Zwickmühle. Entweder ich werde verrückt, weil ich immer zu Hause sitze und nur mit dem Baby reden kann. Oder Katja wird verrückt vor Schlafmangel und Erschöpfung.«

»Ich denke noch einmal darüber nach«, versprach Stefanie. »Vielleicht finden wir ja doch eine Lösung. Aber was machen wir bis dahin?«

»Die nächsten zwei Wochen komme ich sowieso, weil soviel zu tun ist und weil wir das so ausgemacht haben«, sagte Andreas. »Das habe ich auch mit Katja besprochen. Ich überlege eben nur, ob ich danach wieder zu Hause bleibe. Sie ist so dünn und blaß, ich mache mir Sorgen um sie.«

»Sie sind ein richtiger Bilderbuch-Mann«, sagte sie lächelnd. »Weiß Ihre Freundin das auch zu schätzen?«

Nun strahlte er. »Sie ist auch eine Bilderbuch-Frau! Sie müßten sie mal sehen, Frau Wagner!«

»Ich hoffe, wir lernen uns bei Gelegenheit kennen. Und in zwei Wochen sprechen wir uns wieder – ich hoffe, wir finden eine Lösung. Wir sind nämlich sehr froh, daß Sie für uns arbeiten, Herr Hollaender!«

Er strahlte noch mehr. »Danke! Sie sind auch große klasse, Frau Wagner!«

Lächelnd sah sie ihm nach. Er war wirklich ein ausgesprochen netter Kerl. Sie mußte ihm einfach helfen, wenn das möglich war.

*

»Schwester Katja!« Die Stimme schien von weither zu kommen. »Schwester Katja, wo stecken Sie denn nur?«

Katja fuhr zusammen und wurde kreidebleich, als sie begriff, daß sie auf ihrem Stuhl eingeschlafen war. Hastig sah sie sich um, aber sie hatte noch einmal Glück gehabt: Niemand war in der Nähe und hatte sie gesehen!

Hastig stand sie auf und rief: »Ich komme!« Sie eilte aus dem Raum und warf dabei einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr. Wie lange hatte sie geschlafen? Zehn Minuten? Zwanzig Minuten? Oder nur ganz kurz?

Wie hatte das nur passieren können? Sie war in den Aufenthaltsraum gegangen, weil sie sich etwas zu trinken holen wollte, daran konnte sie sich noch ganz genau erinnern. Und dann hatte sie sich ganz kurz auf einen der Stühle gesetzt, weil sie so schrecklich müde gewesen war…

Sie rannte Dr. Winter, der nach ihr gerufen hatte, fast um. »Tut mir leid, ich hatte solchen Durst«, stammelte sie. »Ich wollte mir nur schnell etwas zu trinken holen.«

»In Ordnung«, erwiderte er, ließ sie jedoch nicht aus den Augen. »Aber jetzt kommen Sie bitte, wir brauchen Sie dringend.«

Sie folgte ihm in eine der Notfallkabinen, wo Dr. Julia Martensen eine junge Frau untersuchte, die offenbar einen schweren Unfall gehabt hatte und vor Schmerzen schrie. Sie hatte mehrere heftig blutende Wunden.

»Geben Sie ihr Kochsalzlösung, Katja«, sagte sie knapp. »Sie muß in den OP, sobald sie stabil ist.«

Katja bemerkte den Blick nicht, den die beiden Ärzte wechselten, als sie sich an die Arbeit machte. Sie legte rasch und geschickt die Infusion an und half danach, die Blutungen zu stillen. Die beiden Ärzte brachten die Patientin selbst in den OP.

»Wo war sie?« fragte Julia leise, als Adrian und sie im Aufzug standen.

»Im Aufenthaltsraum«, antwortete er. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist sie dort eingeschlafen.«

»Meinst du, sie hat vielleicht noch einen anderen Job?« fragte Julia stirnrunzelnd.

»Ich hoffe nicht«, antwortete er und seufzte. »Aber ausgeschlossen ist das heutzutage ja auch nicht mehr.«

Der Aufzug hielt, und eilig schoben sie ihre Patienten hinaus.

In der Notaufnahme war Katja unterdessen in den Waschraum gegangen und hielt ihr Gesicht unter das eiskalte Wasser. Nach einigen Minuten hatte sie das Gefühl, daß ihre Lebensgeister wieder erwacht waren. Sie trocknete sich ab und sah ihr Gesicht aufmerksam im Spiegel an. Lange würde sie dieses Leben nicht mehr durchhalten, das ahnte sie.

*

»Fränzchen, heute mußt du mich in Ruhe schlafen lassen«, murmelte Andreas, als das Baby anfing, leise zu jammern. »Die Mama arbeitet, und ich fühl’ mich gar nicht gut, verstehst du? Also sei ruhig!«

Aber Franziska jammerte weiter, und schlaftrunken stand er auf, blieb aber erschrocken stehen, als er den ersten Schritt getan hatte. Er hatte in der letzten Zeit ja öfter mal unter Bauchschmerzen gelitten, doch diesmal waren sie wirklich deutlich schlimmer. Aber warum nur?

Vorsichtig ging er zum Kinderbettchen, hob seine Tochter hoch und tapste zurück zu seinem eigenen Bett. »Kommst du eben mit zu mir«, murmelte er. »Ich bin zu müde, um dir jetzt etwas vorzusingen. Außerdem habe ich Schmerzen, da kann man wirklich nicht gut singen. Komm, wir schlafen beide wieder ein.«

Tatsächlich schlief Franziska nach wenigen Minuten selig in seinem Arm, während er selbst immer wacher wurde. Er fühlte sich elend und überlegte, ob er etwas Verdorbenes gegessen haben könnte. Aber ihm fiel nichts ein. Warum also fühlte er sich dann so schlecht?

Andreas war bisher noch nie richtig krank gewesen. Krankheiten waren etwas für andere, nicht für ihn. Und Bauchschmerzen waren natürlich auch keine Krankheit! Er erinnerte sich, was ihm als Kind geholfen hatte, wenn er sich mal den Magen verdorben hatte. Eine Wärmflasche! Sicher, eine Wärmflasche war doch nie verkehrt.

Vorsichtig ließ er Franziska aus seinem Arm gleiten, baute einen Wall aus Kissen um sie herum, damit sie nicht aus dem Bett fiel, und stand wieder auf. Die Schmerzen waren jetzt so stark, daß er ein wenig gekrümmt gehen mußte. Außerdem war ihm auch noch schwindelig.

Dann merkte er, daß ihm schlecht wurde. So schnell er konnte, ging er ins Bad und übergab sich. Danach fühlte er sich besser. Was immer es gewesen ist, dachte er, jetzt ist es wenigstens draußen. Aber er fühlte sich nach wie vor ziemlich schwach auf den Beinen.

Er ging langsam zurück in die Küche, fand nach einigem Suchen die Wärmflasche, füllte sie mit heißem Wasser und schlich sich zurück ins Bett. Nach einer Weile ließen die Schmerzen tatsächlich nach, und er schlief wieder ein.

*

»Schwester Katja«, rief Dr. Adrian Winter. »Warten Sie einen Augenblick. Ich würde gern noch mit Ihnen reden.«

Er hatte sich bereiterklärt, für einen Kollegen einzuspringen, der an diesem Vormittag einen dringenden Termin hatte, und so war sein Dienst nach dieser Nacht leider noch nicht beendet. Dabei wäre er jetzt liebend gern, wie seine Kollegen auch, nach Hause gegangen und hätte sich ins Bett gelegt.

Katja blieb stehen, doch ihr war anzusehen, daß ihr das gar nicht recht war. Sie schien es eilig zu haben, wie immer. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen und biß sich auf die Lippen.

Er tat, als bemerke er das nicht. Freundlich lächelnd sagte er: »Kommen Sie, ich begleite Sie ein Stück. Es dauert nicht lange.«

Sie nickte nur schweigend und fragte sich, ob er etwas Bestimmtes von ihr wollte. Aber er ließ sich Zeit, und allmählich wurde sie nervös. Was hatte er vor? Hatte er am Ende doch gemerkt, daß sie geschlafen hatte?

Endlich fing er an zu sprechen. »Ist etwas nicht in Ordnung, Katja? Oder geht es Ihnen nicht gut? Ich wollte Ihnen sagen, daß ich anfange, mir Sorgen um Sie zu machen. Sie sind sehr blaß, und ich habe den Eindruck, die Ringe unter Ihren Augen werden immer dunkler.«

Sie errötete heftig und suchte nach einer Antwort. Schließlich sagte sie leise: »Mir fehlt nichts, Herr Dr. Winter, wirklich nicht. Ich bin nur müde.«

»Das sehe ich«, erwiderte er trocken. »Müde sind wir alle, besonders, wenn wir Nachtschicht haben, das ist normal. Aber Sie sehen krank aus, Katja. Haben Sie Kummer?«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, überhaupt nicht. Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt, ich bin nur müde, das ist alles.«

Sie würde ihm also nichts erzählen, dabei war es offensichtlich, daß es mehr war als ihre Müdigkeit, was ihr zu schaffen machte. Aber er konnte sie nicht zwingen, mit ihm zu reden. »Schon gut«, erwiderte er. »Ich wollte Sie nicht bedrängen, Katja. Aber wenn Sie Kummer haben, dann kommen Sie bitte zu mir und erzählen Sie mir davon. Ich bin im Augenblick Ihr Chef, und vielleicht kann ich Ihnen helfen – wobei auch immer.«

Er sah ihr völlig verschlossenes Gesicht und lächelte. »Nun gucken Sie nicht so böse. Sie haben mir gesagt, daß alles in Ordnung ist, und das habe ich verstanden. Aber sollte sich daran jemals etwas ändern, dann wissen Sie, daß Sie mich ansprechen können. In Ordnung?«

Sie nickte stumm.

»Also, dann schlafen Sie sich richtig aus«, sagte er freundlich. »Bis morgen, Katja.«

»Bis morgen«, erwiderte sie leise, und dann rannte sie los. Nur schnell weg hier, bevor sie vielleicht doch noch in Versuchung kam, dem netten Dr. Winter zu erzählen, daß sie nicht nur müde, sondern auch verzweifelt war, weil sie das Gefühl hatte, dem Leben, das sie im Augenblick führen mußte, überhaupt nicht gewachsen zu sein.

Die harte Arbeit, der Schlafmangel, der Streit mit ihren Eltern, das anstrengende Kind, die räumliche Enge, die ständige Geldknappheit – all das war mehr, als sie ertragen konnte. Und wenn Andreas dann noch anfing, von dieser sagenhaften Frau Wagner zu schwärmen, hatte sie außerdem noch Angst, ihn zu verlieren!

*

Als Andreas auf die Uhr sah, erschrak er. Katja mußte gleich nach Hause kommen, und er lag immer noch im Bett. Sein Bauch hatte sich zum Glück ein wenig beruhigt. Und wie durch ein Wunder schlief Franziska noch immer selig – das hatte Seltenheitswert.

Vorsichtig stand er auf, ging unter die Dusche und setzte Wasser auf, um Tee zu kochen. Brot war noch im Haus, so daß er für ein Frühstück mit Katja nichts einkaufen mußte. Er hatte sich gerade angezogen, als sie kam. Ihrem Gesicht sah er sofort an, daß etwas passiert sein mußte.

Er umarmte sie zur Begrüßung. »Was ist los, Katinka?« fragte er.

Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Schläft Franziska?«

»Ja, laß sie ruhig liegen. Sie hat heute nacht geweint, ist aber bald eingeschlafen. Wir sollten es genießen, daß sie uns mal ein bißchen Ruhe gönnt.«

Sie nickte, schlich auf Zehenspitzen zum Bett, betrachtete das Baby liebevoll und kehrte zurück. »Sie hat bei dir im Bett geschlafen?«

»Ja, ich war einfach zu müde, um aufzubleiben und sie in den Schlaf zu singen«, gestand er. »Schimpf nicht, ich weiß, daß man gar nicht erst damit anfangen soll, weil sie dann immer in unser Bett will, aber wie gesagt: Ich war einfach zu müde. Und jetzt erzähl mir endlich, was los war.«

»Dr. Winter hat mich gefragt, ob ich Kummer habe. Ach, Andy, ich bin einfach eingeschlafen, als ich mal kurz im Aufenthaltsraum war. Ich wollte mir nur was zu trinken holen, und ich bin erst wach geworden, als sie mich gerufen haben.« Schon wieder kamen ihr die Tränen, das passierte in letzter Zeit häufig.

»Hat dich jemand gesehen?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Aber wahrscheinlich haben sie doch etwas gemerkt. Ich weiß ja nicht mal, wie lange ich da in dem Raum gesessen habe.«

»Ist das denn wirklich so schlimm?« fragte er. »Das passiert doch wahrscheinlich jedem mal, oder nicht?«

»Aber es war soviel zu tun«, erklärte sie leise. »Sie hatten eine Frau eingeliefert, die einen schweren Unfall gehabt hat – und die mußte dringend versorgt werden. Dr. Winter hat selbst nach mir gerufen. Das war schrecklich unangenehm.«

»Jetzt frühstücken wir erst einmal«, sagte er. »Ich gehe heute erst nachmittags ins Hotel.« Er grinste vergnügt. »Ich glaube, die schöne Frau Wagner fährt richtig auf mich ab und auf das, was ich mache.« Er hatte es einfach so dahingesagt und merkte zunächst gar nicht, wie Katja darauf reagierte.

Erst als er sich ihr gegenübersetzte, sah er, daß sie die Lippen fest zusammenpreßte. »Was ist los?« fragte er beunruhigt. »Habe ich was Falsches gesagt?«

»Du redest ziemlich viel von dieser Frau Wagner«, erklärte sie. »Sie scheint dich ja sehr zu beeindrucken. Und du beeindruckst sie wohl auch.«

Im ersten Augenblick wußte er nicht, was er darauf antworten sollte. Schließlich platzte er mit der Frage heraus: »Sag mal, bist du eifersüchtig?«

»Na und?« Kampflustig sah sie ihn an. »Du erzählst dauernd, wie schön sie ist, wie nett und charmant und wie sie wohl diesen stinkvornehmen Laden schmeißt – du merkst es ja selbst gar nicht, wie oft du von ihr redest.«

Er schwieg betroffen. Es war ihm in der Tat nicht aufgefallen, wie oft er von Stefanie Wagner gesprochen hatte, seit er diesen Job im Hotel angenommen hatte. »Aber das hat doch mit uns nichts zu tun«, sagte er dann. »Ich finde sie nett, das stimmt. Und schön ist sie auch, ehrlich. Und ich habe Vertrauen zu ihr. Freu dich doch, daß ich einen solchen Menschen gefunden habe, der uns hilft.«

»Dir«, verbesserte sie. »Sie hilft dir. Mich kennt sie gar nicht.«

»Trotzdem hilft sie uns, weil sie nämlich weiß, daß ich das Geld nicht für mich brauche, sondern für uns. Das habe ich ihr erzählt. Ich liebe dich, Katinka – nicht Frau Wagner. Außerdem bist du mindestens genauso schön.«

Nun liefen bei Katja wieder die Tränen, und er mußte sie umarmen, um die Tränen zu trocknen.

Aber sie befreite sich abrupt aus seinen Armen. »Trotzdem«, schluchzte sie. »Ich fühle mich einfach gräßlich. Ich bin dauernd müde, wir haben ein schreckliches Appartement, in dem wir wohnen müssen, weil wir uns nichts anderes leisten können, und alles um uns herum ist häßlich! Ich kann mir nicht mal was Schönes zum Anziehen kaufen, und du gehst ständig in dieses Hotel und bist von reichen Leuten umgeben, die mehr Geld verdienen, als sie jemals in ihrem Leben ausgeben können. Und wahrscheinlich ist deine Frau Wagner auch noch ganz toll angezogen.«

»Sie ist nicht meine Frau Wagner«, erklärte er geduldig. »Ja, sie ist toll angezogen. Aber was soll das alles, Katinka? Wir werden nicht ewig in diesem Appartement sitzen, und du wirst dir irgendwann auch wieder Klamotten kaufen können. Nur im Augenblick eben nicht, aber das ist doch auch gar nicht so wichtig! Du siehst in Jeans und T-Shirt sowieso am besten aus!«

Aber Katja war nicht zu beruhigen. Sie weinte weiter, und irgendwann gab Andreas seine Beruhigungsversuche auf. So war sie noch nie gewesen, er verstand sie einfach nicht. Man drehte doch wegen solcher Kleinigkeiten nicht plötzlich durch! Sicher, er verstand, daß sie müde und erschöpft war, aber das ging ihm selbst ja auch nicht anders. Bisher hatten sie sich trotzdem ganz gut durchgeschlagen, fand er. Warum nur konnte sie das nicht auch so sehen?

Katja aber fühlte sich durch seinen Rückzug in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Früher hätte er keine Ruhe gegeben, bis er es geschafft hätte, sie zu trösten. Und jetzt? Er zog sich zurück. Das konnte nur eins heißen: Sie war ihm nicht mehr so wichtig!

Erst als sie sich ins Bett legte, um zu schlafen, kam er und sagte leise: »Katinka, mach uns das Leben nicht schwerer, als es ist, ja?«

Am liebsten hätte sie ihre Arme um ihn geschlungen und ihn ganz fest gehalten. Aber sie konnte ihm nicht so schnell verzeihen, daß er sie einfach hatte weinen lassen. Und so sah sie ihn böse an. »Du machst das, nicht ich. Du schwärmst doch immer von dieser blöden Frau Wagner und läßt mich spüren, daß ich mit so einer tollen Frau überhaupt nicht konkurrieren kann.«

Sie schlief schon halb, das sah er, und deshalb beschloß er, sie in Ruhe zu lassen. Wenn sie geschlafen hatte, würden sie besser miteinander reden können. So schnappte er sich schweigend seine mittlerweile hellwache Tochter, die erstaunlicherweise die ganze Zeit über nicht geschrien hatte, und verließ die Wohnung.

Katja aber weinte sich unglücklich in den Schlaf und hatte schreckliche Träume von bösen, sehr schönen blonden Frauen und zusammenbrechenden Möbeln.

*

Esther Berger stand mitten auf dem Gehweg und studierte stirnrunzelnd den Einkaufszettel, den sie geschrieben hatte. Warum hatte sie nur keinen Stift dabei, um alles auszustreichen, was sie bereits erledigt hatte? Der Zettel war von oben bis unten vollgekritzelt, und sie verlor allmählich die Übersicht!

Jemand rempelte sie an und sagte unfreundlich: »Warum stellen Sie sich nicht gleich mitten auf die Straße? Da wären Sie als Verkehrshindernis noch besser!«

»Unhöflicher Kerl!« schimpfte sie wütend hinter ihm her. Als sie sich wieder umdrehte, stand ein junger Mann mit einem Baby vor ihr und sagte ernsthaft: »Recht haben Sie. Aber ganz unrecht hatte er auch nicht.«

»Ach, Sie sind das«, lachte Esther. »Herr Hollaender, richtig?«

»Richtig«, bestätigte Andreas.

»Hab’ ich mir gut merken können wegen Ihrer blonden Haare«, erklärte Esther. »Sie könnten leicht als Holländer durchgehen, finde ich.« Sie beugte sich über das Baby. »Hallo, Franziska.«

»Sie haben ein gutes Namensgedächtnis, Frau Dr. Berger.«

»Sie doch auch«, gab Esther lächelnd zurück. »Und? Sind Sie gerade auf dem Weg zum Supermarkt?«

»Wir sind heute noch etwas unentschlossen«, gab er zu und brachte ein mühsames Lächeln zustande.

Sie wurde aufmerksam. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte sie. »Irgendwie wirken Sie heute nicht so vergnügt wie neulich.«

»Bin ich auch nicht«, gab er zu.

»Außerdem sind Sie blaß«, stellte Esther fest. »Vielleicht sind Sie krank.«

Normalerweise hätte er gelacht, aber heute war ihm nicht danach zumute. Die Schmerzen meldeten sich wieder – dieses Mal heftiger als zuvor. Er wollte ihr trotzdem eine flapsige Antwort geben, als er auf einmal erschrocken nach Luft japste. Im nächsten Augenblick krümmte er sich und stöhnte laut.

»Herr Hollaender, was ist los?« fragte Esther erschrocken.

»Mein Bauch…«, brachte er mühsam heraus. »Tut so weh… schon seit Tagen. Und schlecht… ist mir.«

Franziska fing erschrocken an zu weinen.

»Geben Sie mir das Kind«, sagte Esther und streckte die Arme nach dem Baby aus. »Sie haben Schmerzen? Und Ihnen ist schlecht?«

»Ja«, preßte er hervor.

Franziska schrie nun empört, weil diese fremde Frau sie einfach auf den Arm genommen hatte, aber niemand kümmerte sich um sie.

»Was noch?« fragte Esther knapp. Sie schaukelte das Baby, um es zu beruhigen. Zuvor hatte sie bereits ihr Handy aus der Tasche gezogen. Die ersten Leute blieben stehen, um zu sehen, was vor sich ging.

»Schlecht und schwindelig«, murmelte Andreas, und wieder stöhnte er laut.

»Haben Sie noch einen Blinddarm?« fragte Esther knapp.

»Ja… warum?« Andreas konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

»Kommen Sie mit zu der Bank!« sagte Esther. »Legen Sie sich dahin!« Dann wandte sie sich an die drei oder vier Passanten, die stehengeblieben waren. »Und Sie können ruhig weitergehen, hier gibt’s nichts zu sehen, hören Sie!« Sie machte dabei ein so angriffslustiges Gesicht, daß die Leute sich hastig abwendeten und tatsächlich ihren Weg fortsetzten.

Franziska war plötzlich wie auf Kommando verstummt, als hätte sie gemerkt, daß es sehr unpassend gewesen wäre, jetzt zu weinen. Ängstlich sah sie von der fremden Frau, die sie noch immer auf dem Arm hielt, zu ihrem Papa, der zusammengekrümmt auf einer Bank lag.

»Sie müssen ins Krankenhaus, Herr Hollaender. Ich glaube, Sie haben eine Blinddarmentzündung«, sagte Esther ruhig. »Ich würde gern Ihren Bauch abtasten.«

Sie streckte die Hand aus, aber er zuckte erschrocken zurück. »Bitte nicht!« flüsterte er. »Es tut so weh!«

»Ich bin ganz vorsichtig«, versprach Esther. Das war sie auch, aber dennoch schrie er unterdrückt auf vor Schmerzen.

»Wie lange haben Sie diese Beschwerden schon, Herr Hollaender?«

»Ein paar Tage«, antwortete er. »Aber das war… nichts Ernstes… echt nicht. Richtig schlimm…«, er unterbrach sich und biß sich heftig auf die Lippen. Erst nach einigen Sekunden konnte er weitersprechen. »Richtig schlimm ist es erst heute nacht geworden. Ich… habe mir dann… eine Wärmflasche auf den Bauch gelegt. Danach bin ich eingeschlafen.«

»Auch das noch«, murmelte Esther entsetzt. Eine Wärmflasche bei Blinddarmentzündung! Sie wählte rasch eine Nummer, wartete auf Antwort und sagte dann: »Einen Rettungswagen, schnell bitte. Verdacht auf Peritonitis.«

Sie sah sich um und gab ihren genauen Standort an. Dann fügte sie hinzu: »Der Patient ist eben zusammengebrochen, er liegt jetzt auf einer Bank.« Noch einmal hörte sie zu. »Ja, ich bin Ärztin. Dr. Berger, Charité.« Danach war das Gespräch beendet.

Andreas stöhnte laut, sein Gesicht war mittlerweile wachsbleich und schweißbedeckt. »Fränzchen«, murmelte er. »Was wird denn mit Fränzchen?«

»Machen Sie sich darüber jetzt keine Gedanken«, sagte Esther. »Sie werden in eins der Krankenhäuser gebracht – je nachdem, welche Notaufnahme noch Kapazitäten hat, und dann…«

»Kurfürsten-Klinik«, sagte Andreas. »Dahin will ich!« Er schloß die Augen und krümmte sich erneut. Sein Stöhnen war diesmal so laut und klang so furchterregend, daß Franziska erneut anfing zu weinen.

»Schtscht!« machte Esther. »Nicht weinen, Schätzchen, bald geht’s dem Papa ja besser.«

Franziska verstummte jetzt tatsächlich, aber in ihren Augen standen dicke Tränen. Esther streichelte ihre Wange. »Wird alles wieder gut, du mußt nicht weinen!« Sie beugte sich über Andreas. »Herr Hollaender! Wieso wollen Sie denn in die Kurfürsten-Klinik? Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«

»Ja, meine Freundin«, murmelte Andreas. Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick hielt der Rettungswagen. Sofort sprangen zwei Sanitäter mit einer Trage heraus. Esther winkte ihnen zu.

»Ist er das?« fragte einer der beiden Männer.

»Ja, sein Name ist Andreas Hollaender. Er will unbedingt in die Kurfürsten-Klinik, aber ich habe noch nicht herausbekommen, warum eigentlich«, sagte Esther leise.

»Da bringen wir ihn tatsächlich hin, Frau Doktor. Die haben sich bereiterklärt, ihn zu nehmen. Er kann von Glück sagen…«

»Kurfürsten-Klinik«, flüsterte Andreas. »Meine Freundin, sie ist da…«

Esther und die Sanitäter wechselten einen Blick, Esther hob ratlos die Schultern. »Beeilen Sie sich«, flüsterte sie. »Er hat die Beschwerden schon seit mehreren Tagen.«

»Okay, Frau Doktor!«

Sie machten sich daran, Andreas Hollaender vorsichtig auf die Trage zu heben. Dennoch stöhnte er laut vor Schmerzen.

»Wiedersehen, Herr Hollaender, alles Gute!« sagte Esther.

Aber der Patient hörte sie nicht. Er hatte das Bewußtsein verloren. Die Männer liefen im Eilschritt zurück zum Wagen, und sie hatten bereits wieder Platz genommen, als Esther plötzlich verdutzt auf das Kind in ihren Armen sah. »Halt!« schrie sie. »Das Baby! Das ist seine Tochter!«

Doch es war zu spät. Das Martinshorn erklang, der Wagen setzte sich in Bewegung und war Sekunden später bereits ihren Blicken entzogen.

»Und nun, Fränzchen?« fragte Esther ratlos und sah das Kind an, das den Blick erwiderte. »Was mache ich denn jetzt mit dir? Und warum wollte dein Papa in die Kurfürsten-Klinik? Wegen deiner Mama? Die wird doch nicht auch krank sein und dort liegen?«

Franziska verzog das Gesicht, aber sie weinte nicht. »Du kommst erstmal mit mir in die Charité«, beschloß Esther. »Dann rufe ich meinen Bruder an, der arbeitet nämlich in der Kurfürsten-Klinik. Und danach sehen wir weiter. Hoffentlich geht mit deinem Papa alles gut.«

Franziska zeigte überraschend ein niedliches, zahnloses Lächeln. Sie hatte ihren Kummer, so schien es, zumindest vorübergehend vergessen.

*

»Wir bekommen einen Patienten mit Verdacht auf Peritonitis!« rief Schwester Sara, die in dieser Woche tagsüber Dienst in der Notaufnahme hatte.

»Peritonitis?« fragte Adrian. »Wer sagt das, der Notarzt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er ist auf der Straße zusammengebrochen, eine Ärztin war bei ihm, sie hat die Rettung angerufen. Angeblich hat er die Beschwerden schon ein paar Tage.«

»Ach, du liebe Zeit«, sagte Adrian. Gemeinsam eilten sie in eine der Notfallkabinen. »Kochsalz und Antibiotika«, sagte

Adrian. »Und benachrichtigen Sie vorsichtshalber einen OP. Wissen Sie, wie alt der Mann ist, Sara?«

»Jung, glaube ich«, antwortete sie.

Die Türen flogen auf, zwei Sanitäter stürmten herein. »Ist das die Peritonitis?« fragte Adrian.

»Ja, Doktor. Sein Name ist Andreas Hollaender, er ist dreiundzwanzig Jahre alt, hat seit einigen Tagen unklare Bauchschmerzen, Schwindel, Erbrechen, Bauchspannung, äußerst druckempfindlich. War zwischendurch bewußtlos.«

»Herr Hollaender?« fragte Adrian und tastete äußerst vorsichtig den Bauch des Patienten ab, der sofort lauf aufstöhnte. Sonst sagte er nichts. Adrian rief: »Sara!«

Die Schwester kam atemlos herein.

»Die Infusion, schnell! Und dann muß er nach oben, wir haben keine Sekunde zu verlieren. Ist der OP benachrichtigt?«

»Ja, einen Raum haben wir, einen Anästhesisten auch – Herr Dr. Roloff ist zum Glück frei –, aber sonst steht kein Team zur Verfügung. Sie müssen selbst operieren, Herr Dr. Winter.«

»Ich habe eine lange Nachtschicht hinter mir!« sagte Adrian.

Wieder stöhnte der Patient laut auf.

Die Sanitäter verabschiedeten sich. »Der nächste Einsatz, Doktor, bis bald.«

»Bis bald, danke«, sagte Adrian und wandte sich wieder an Schwester Sara. »Er hätte einen ausgeruhten Arzt verdient.«

»Aber es ist keiner da«, antwortete sie.

Adrian nickte. »Herr Hollaender, können Sie mich hören?«

»Ja«, kam die Antwort.

»Wir müssen Sie operieren, haben Sie das verstanden?«

»Ja. Blinddarmentzündung, oder?«

»Ja«, antwortete Adrian ernst, »und ich hoffe sehr, daß er noch nicht durchgebrochen ist.« Er wandte sich an Schwester Sara. »Los, worauf warten wir noch? Sie werden mir assistieren müssen.«

Sie nickte. »Ich habe den anderen schon Bescheid gesagt, Dr. Winter.«

»Gut, dann los!«

In diesem Augenblick schrie Andreas Hollaender laut auf und krümmte sich unwillkürlich zusammen. Seine Augen waren auf das Gesicht des Arztes gerichtet, und Adrian las die Angst darin. »Bitte, helfen Sie mir!« flüsterte der junge Mann. »Ich sterbe sonst.«

»Ich helfe Ihnen, und Sie sterben keineswegs«, sagte Adrian mit fester Stimme. »Ich werde Sie jetzt operieren, Herr Hollaender, und danach geht es Ihnen besser, Sie werden sehen.«

Im Eiltempo schoben sie den Patienten über den Gang in den nächsten Aufzug. Hoffentlich geht das gut, dachte Adrian, während Schwester Sara eine Hand von Andreas Hollaender hielt und beruhigend auf ihn einredete.

*

Als Katja aufwachte und einen Blick auf die Uhr warf, wunderte sie sich, daß sie nun schon seit einigen Stunden ungestört im Bett lag. Sie hatte tief und fest geschlafen, kein Kind hatte geweint, kein Andreas sich leise zurück in die Wohnung geschlichen. Es herrschte wunderbare, paradiesische Ruhe. Und das bedeutete, daß Andreas offenbar noch immer mit Franziska unterwegs war.

Zufrieden drehte sie sich auf die andere Seite. Sie würde einfach weiterschlafen, und in der kommenden Nacht würde niemand sich über sie beklagen können, weil sie im Aufenthaltsraum eingeschlafen war während ihres Nachtdienstes. Topfit würde sie sein!

Dann erst fiel ihr wieder ein, daß sie sich mit Andreas gestritten hatte, und mit einem Mal war sie hellwach. Es war ihre Schuld gewesen, ganz allein ihre Schuld, weil sie eifersüchtig gewesen war auf diese Frau Wagner, von der er immer so schwärmte.

Wie dumm sie doch gewesen war! Und nun lief er draußen herum, weil er sich nicht wieder nach Hause traute. Sie schämte sich und überlegte, ob sie aufstehen und ihn suchen sollte. Er blieb ja meistens hier in der Nähe, die Chancen, ihn zu finden, waren nicht so schlecht. Vielleicht war er in den kleinen Park gegangen…

Aber während sie darüber nachdachte, wurde sie erneut schläfrig. War es denn wirklich nötig, jetzt aufzustehen? Nein, fand sie, eigentlich nicht. Sie hatte zwar ein schlechtes Gewissen wegen des dummen Streits, aber wenn sie noch ein bißchen schlief, dann würde es ihr viel leichter fallen, sich mit Andreas wieder zu versöhnen. Sie würde nicht mehr eifersüchtig sein, sondern ihn ein wenig aufziehen mit seiner Schwärmerei für Frau Wagner. Für Eifersucht gab es natürlich gar keinen Grund, und wenn sie eingeschlafen war, wußte sie das auch ganz genau. Nur wenn sie übermüdet war, dann sah sie die Dinge manchmal in einem wirklich ganz falschen Licht.

Also mußte sie jetzt unbedingt schlafen, und später würde Andreas ihr ganz bestimmt verzeihen. Und ihre Versöhnung würden sie sogar ein bißchen feiern!

Sie rollte sich auf die Seite, schloß die Augen und war im nächsten Moment schon wieder eingeschlafen.

*

Dr. Adrian Winter sah entsetzt in die offene Bauchhöhle seines jungen Patienten. Wieso nur war Andreas Hollaender nicht zu einem Arzt gegangen wegen seiner Beschwerden? Da hatte er sich tagelang mit Schmerzen und Übelkeit herumgequält – und nun auf einmal war er in Lebensgefahr mit seinen dreiundzwanzig Jahren. Denn auch heute noch konnte man an einem durchbrochenen Blinddarm sterben, während eine rechtzeitig durchgeführte Operation eine reine Routineangelegenheit war.

Andreas Hollaenders entzündeter Blinddarm war tatsächlich aufgebrochen, Eiter und Bakterien hatten sich im Bauchraum ausgebreitet. Es würde also nicht ausreichen, den entzündeten Wurmfortsatz des Darms abzuschneiden, sondern vor allem mußte der Bauchraum gründlich gereinigt werden – und das sehr schnell.

Zunächst führe er die eigentliche Operation durch, das ging rasch und komplikationslos. Erst dann wurde die Sache schwierig, und Adrian Winter stand bald der Schweiß auf der Stirn, den Schwester Sara ihm von Zeit zu Zeit abtupfte.

Sie machte ihre Sache gut. Zwar war sie nervös, aber dennoch sehr konzentriert bei der Sache. Sie sagte kein Wort, wofür er ihr dankbar war. Überhaupt herrschte im OP völlige Ruhe, wenn man vom Klicken der Instrumente und vom Summen der Maschinen einmal absah.

Er war froh, daß ihm mit dem Anästhesisten Werner Roloff, der bereits auf die Sechzig zuging, ein hervorragender Arzt zur Verfügung stand, den er außerdem auch menschlich sehr schätzte. Sie arbeiteten schon lange zusammen und mußten nicht viel reden, um sich zu verständigen.

»Lassen Sie im Labor eine Kultur von dem Eiter anlegen, Sara«, bat er. »Hier, entnehmen Sie etwas davon – damit wir bei einer Bauchfellentzündung wissen, mit welchem Medikament wir sie gezielt bekämpfen können.«

Sara nickte und befolgte seine Anweisung rasch und geschickt.

Während er den Bauchraum säuberte, warf Adrian seinem Kollegen Werner Roloff immer wieder fragende Blicke zu, die dieser bisher mit knappem Nicken beantwortet hatte. Das hieß soviel wie: »Es sieht nicht besonders gut aus, aber du kannst weitermachen.«

Und der junge Notaufnahmechef machte weiter, doch es erwies sich als nahezu unmöglich, den Bauchraum vollständig zu säubern. Der Eiter schien sich bereits überall ausgebreitet zu haben.

»Achtung, Adrian«, sagte Werner Roloff leise, »Blutdruck fällt ab.«

»Werner, ich bin noch nicht fertig. Ein bißchen muß er noch durchhalten. Ich kann ihn nicht wieder zumachen, wenn es immer noch Stellen gibt, an denen alles voller Eiter ist.«

Der erfahrene Anästhesist nickte. Er blieb völlig ruhig, zumal er spürte, daß das in diesem Fall besonders wichtig war. Er veränderte die Dosierung des Medikaments, das dem Patienten zugeführt wurde, und meldete wenige Sekunden später: »Alles wieder stabil.«

Adrian warf ihm einen zugleich dankbaren und erleichterten Blick zu und setzte seine Arbeit fort. Mit zusammengepreßten Lippen tupfte er weiterhin Eiter aus der Bauchhöhle des jungen Mannes. Endlich, nach langer Zeit, hatte er den Eindruck, den bakterienverseuchten Inhalt des Wurmfortsatzes so gründlich wie möglich entfernt, die Bauchhöhle vollständig gesäubert zu haben.

»Sehen Sie noch etwas, das ich übersehen habe?« fragte er Schwester Sara.

»Nein«, antwortete sie, »ich habe aufgepaßt, aber es ist wirklich nichts mehr zu sehen.«

»Er wird trotzdem eine Bauchfellentzündung bekommen«, sagte Adrian mit einer gewissen Erbitterung in der Stimme. »Er hätte wirklich viel früher einen Arzt aufsuchen müssen.«

Er wandte sich nun an den Anästhesisten. »Alles okay, Werner? Ich mach’ ihn jetzt wieder zu.«

»Wird auch Zeit, würde ich sagen«, antwortete sein Kollege ruhig. »Ich möchte nämlich nicht gern, daß mir der Junge hier doch noch schlapp macht. Viel Reserven hat er nicht mehr.«

»Ich beeile mich«, versicherte Adrian, denn er wollte nicht nur diesen jungen Mann retten, sondern sehnte sich auch danach, endlich nach Hause zu kommen, um wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen, bevor sein nächster Nachtdienst beginnen würde. Der Kollege, für den er eingesprungen war, war sicherlich längst eingetroffen und freute sich, daß er diese Operation nicht hatte übernehmen müssen.

*

Als Katja das nächste Mal aufwachte, war es noch immer ruhig in der Wohnung. Und nun wurde sie mit einem Schlag hellwach. Etwas stimmte nicht! So lange war Andreas mit Franziska noch nie weggeblieben. War er noch immer böse auf sie – oder wollte er, daß sie endlich einmal genug Schlaf bekam?

Sie grübelte nicht lange darüber nach, sondern stand auf, ging unter die Dusche, zog sich eilig an und verließ die Wohnung. Sie würde ihn schon finden, ihn und die Kleine. Wahrscheinlich waren sie in den nahegelegenen Park gegangen, da gab es einen Teich mit Enten, die ihre Tochter sehr liebte. Stundenlang konnte sie den Tieren zusehen. Ganz bestimmt waren sie dort.

Sie rannte fast, jetzt hatte sie es sehr eilig. Bald hatte sie den Teich erreicht. Viele Mütter und Väter waren mit ihren Kindern dort und fütterten die Enten, aber Andreas und Franziska waren nicht darunter.

Katja lief wieder zurück. Dann war Andreas vielleicht in ein Café gegangen? Atemlos lief sie von einem zum andern, doch nirgends saß er und winkte ihr fröhlich entgegen.

Mittlerweile ahnte sie, daß sie ihn nicht finden würde. Jetzt ging sie langsamer, dachte noch einmal nach. Es war unsinnig, hier herumzulaufen und ihn zu suchen – er konnte schließlich auch die U-Bahn genommen haben und weiter weggefahren sein. Woher wollte sie das wissen?

Oder er war längst zu Hause und wunderte sich, wo sie war. Schließlich war er absichtlich so lange spazierengegangen, damit sie in Ruhe schlafen konnte. Und was machte sie? Sie verließ die Wohnung und suchte ihn.

Fast mußte sie lachen. Sie war wirklich dumm! Jetzt würde sie auf dem schnellsten Weg nach Hause gehen, und schon auf der Treppe würde sie ihn mit Franziska hören. Und dann würden sie nicht mehr streiten und dumme Dinge sagen.

Sie würde in Zukunft ihre Eifersucht bekämpfen und ihre schwarzen Gedanken, wenn wieder einmal alles drohte, ihr über den Kopf zu wachsen. Andreas hatte recht: Sie waren jung und hatten das ganze Leben noch vor sich. Da ließ man sich nicht von den ersten kleinen Schwierigkeiten gleich einschüchtern!

Aber als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hochstieg, hörte sie keinen Laut. Und sie wußte schon, bevor sie die Tür aufgeschlossen hatte, daß niemand zu Hause sein würde.

*

»Seit wann hast du denn ein Kind? Die Kleine steht dir aber gut, Esther!« »Warum hast du uns dein Baby verschwiegen?« So oder so ähnlich lauteten die Kommentare, als Dr. Esther Berger mit Franziska in der Charité eintraf.

»Ihr müßt ja nicht alles wissen«, war ihre Antwort gewesen. »Was gehen euch meine Kinder an?«

Das hatte für Verblüffung und Getuschel gesorgt, aber es kümmerte Esther nicht. Sie amüsierte sich sogar darüber. Sie hatte bereits mehrfach versucht, Adrian zu Hause zu erreichen, aber er hatte sich nicht gemeldet. Dabei hatte er doch, wenn sie sich nicht irrte, im Augenblick Nachtdienst. Er mußte also zu Hause sein! Aber er meldete sich nicht.

Eine der Schwestern von der Säuglingsstation hatte sich erboten, Franziska für diesen Vormittag zu betreuen. Sie war voller Mitleid gewesen, als sie gehört hatte, was passiert war. Die Kleine war hungrig und müde gewesen und hatte vor sich hin geweint, aber nachdem sie getrunken hatte, war sie friedlich und völlig erschöpft eingeschlafen.

Esther rief in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik an, um etwas zu erfahren, aber sie hatte Pech: Erstens herrschte dort Chaos wegen eines großen Unfalls ganz in der Nähe, und zweitens kannte sie keinen der diensthabenden Ärzte. Sie bekam also auch dort keine Information. Adrian war jedenfalls nicht mehr da, er hatte tatsächlich Nachtdienst gehabt und mußte längst zu Hause sein.

»Mist!« schimpfte sie leise vor sich hin. »Wozu hat man einen Zwillingsbruder? Wenn man ihn braucht, ist er nicht da!«

»Auf wen schimpfst du denn so heftig?« fragte einer ihrer Kollegen amüsiert. Er stand im Türrahmen und beobachtete sie offenbar schon eine ganze Zeitlang.

»Auf meinen Bruder«, antwortete sie mißmutig. »Ich muß mit ihm reden und erreiche ihn nicht. Aber jetzt ist es sowieso zu spät, denn mein Dienst beginnt. Nun muß das arme Kind eben bis heute abend auf der Säuglingsstation bleiben.«

»Welches Kind?« fragte er verblüfft.

Sie stand auf. »Franziska«, antwortete sie freundlich und tätschelte ihm im Vorbeigehen die Wange. Er hatte eine Schwäche für sie, wie sie wußte. Aber sie hatte keine für ihn, nur begriff er das leider nicht. »Franziska ist ein halbes Jahr alt, und ich mußte sie heute leider mit hierher bringen. Du kannst dir sicher vorstellen, daß das einige organisatorische Probleme verursacht.«

Er starrte ihr mit offenem Mund nach. »Aber Esther, ich wußte ja gar nicht, daß du… ich meine, also, daß du…«

»Du weißt vieles nicht, Heinz!« rief sie, ohne sich noch einmal umzudrehen. Leise vor sich hin lachend lief sie weiter. So ein Baby konnte offenbar sehr hilfreich sein im Umgang mit unliebsamen Verehrern.

*

Adrian fühlte sich völlig ausgelaugt, als er endlich nach Hause kam. Es war bereits Mittag, und ihm blieben nur wenige Stunden, bis er wieder in der Klinik sein mußte. Hoffentlich konnte er überhaupt schlafen. Es war ihm in der letzten Zeit öfter passiert, daß er wachgelegen hatte, weil es ihm nicht gelungen war abzuschalten. Das konnte er heute nicht gebrauchen.

Aber natürlich ging ihm An­dreas Hollaender noch immer im Kopf herum. Er hatte im OP getan, was er konnte, aber er war keineswegs sicher, daß das in diesem Fall auch genug gewesen war. Noch immer war er fassungslos darüber, daß der junge Mann sich ohne Not in Lebensgefahr gebracht hatte.

Er war sofort nach der Operation auf die Intensivstation gelegt worden, wo man direkt begonnen hatte, ihn mit Antibiotika zu behandeln, um die stark drohende Bauchfellentzündung eventuell doch noch zu verhindern.

»Adrian, wieso kommen Sie denn erst jetzt?« fragte Frau Senftleben. »Sie hatten doch Nachtdienst!« Sie stand in ihrer Wohnungstür, und er sah, daß sie sich wieder einmal Sorgen um ihn gemacht hatte.

»Ich bin für einen Kollegen eingesprungen heute morgen, Frau Senftleben, und dann kam ein Notfall, den ich leider selbst operieren mußte. So ist das ja meistens. Und jetzt bin ich fix und fertig.«

»Ihr Frühstück ist auch fix und fertig«, sagte sie. »Kommen Sie rein, essen Sie – und dann gehen Sie sofort ins Bett!«

Er widersprach nicht. Etwas essen mußte er, und Frau Senftleben ließ ihn in Ruhe, wenn sie spürte, daß er nicht reden wollte. Er folgte ihr in die Wohnung. Als er den gedeckten Tisch in der Küche sah, lächelte er unwillkürlich. »Verraten Sie mir eins, Frau Senftleben: Wieso ist das Frühstück jetzt fertig, wenn Sie doch damit rechnen mußten, daß ich im Morgengrauen nach Hause komme – zu einer Zeit, wo Sie ja immer wie ein Murmeltier schlafen?«

»Intuition«, sagte sie. Dann lachte sie und fügte hinzu: »Ich bin, ehrlich gesagt, erst um elf aufgestanden, und ich wußte gar nicht, daß Sie nicht zu Hause sind. Ich wollte eben frühstücken, und nun finde ich es sehr nett, wenn ich dabei Gesellschaft habe.« Schnell stellte sie ein zweites Gedeck auf den Tisch und bat ihn, Platz zu nehmen.

Das tat Adrian, und als er die erste Tasse Kaffee getrunken und das erste Brötchen gegessen hatte, fühlte er sich bereits viel besser. Schließlich erzählte er Frau Senftleben von dem jungen Mann, den er hatte operieren müssen. »Der Patient hatte eine Blinddarmentzündung, er hätte längst operiert werden müssen.«

»Und das ist so gefährlich?« fragte Frau Senftleben verwundert.

»Ja, das ist es«, bestätigte

Adrian. »Wenn man nicht rechtzeitig operiert wird, kann es dazu kommen, daß der entzündete Teil des Darms aufbricht und den gesamten Bauchraum mit Bakterien überschwemmt. Und genau das ist in diesem Fall passiert. Das kann eine Entzündung des Bauchfells hervorrufen, und die kann, je nachdem, wie schwer sie ist, auch heute noch lebensgefährlich sein.«

»Ich dachte immer, eine Blinddarmentzündung ist harmlos«, meinte sie nachdenklich.

»Das denken viele. Blinddarm – da winken alle ab, das ist reine Routine. Aber eben nur, wenn es rechtzeitig gemacht wird.«

»Aber dieser junge Mann muß doch Schmerzen gehabt haben, oder?«

»Sicher, aber er hat sie wohl nicht ernst genommen. Oder er hat sie nicht wahrhaben wollen.«

»Wie alt ist er, sagten Sie?«

»Dreiundzwanzig«, murmelte Adrian etwas niedergedrückt. »Dreiundzwanzig Jahre, und jetzt schwebt er in Lebensgefahr, das muß man sich einmal vorstellen.«

Frau Senftleben schob ihm noch ein Brötchen hin. »Hier, bitte. Essen Sie. Sie müssen bei Kräften bleiben.«

»Keine Sorge, Frau Senftleben. Wer eine Nachbarin wie Sie hat, hat keinerlei Chancen, entkräftet zusammenzubrechen.«

»Das wäre ja auch noch schöner«, sagte sie empört, aber ihre blauen Augen lächelten.

Er blieb noch eine Viertelstunde, dann verabschiedete er sich. »Danke, Frau Senftleben, ich weiß gar nicht, wie ich mein Leben organisiert habe, bevor ich Sie kannte!«

Das hörte sie gern, und ihr fröhliches Lachen folgte ihm bis in seine Wohnung.

*

Andreas kam nicht zurück. Und Franziska hatte er einfach mitgenommen. Mittlerweile war Katja davon überzeugt, daß Andreas sie verlassen hatte. Offenbar war ihr Streit für ihn doch ernster gewesen, als sie zunächst angenommen hatte.

Jedenfalls war er weg. An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken gewesen, als sie von ihrer erfolglosen Suche nach Hause zurückgekehrt war. Zuerst hatte sie sich noch eingeredet, nun müsse er aber wirklich jeden Augenblick kommen, doch das glaubte sie jetzt nicht mehr. Er würde nicht zurückkommen, und das hatte sie ganz allein sich selbst zuzuschreiben. Warum hatte sie auch mit dieser blöden Eifersucht angefangen? Das hatte ihn natürlich genervt, schließlich waren sie beide im Augenblick ein bißchen durcheinander. Allein in Berlin, in einer zu kleinen Wohnung, mit einem lebhaften Baby…

Und dann wußte sie auf einmal ganz genau, wo Andreas war: Er war ins King’s Palace gegangen und hatte der schönen Frau Wagner erzählt, was passiert war. Und die war bestimmt total verständnisvoll gewesen, hatte ihn bedauert, daß er so eine zickige Freundin hatte. Und dann hatte sie sich liebevoll um Franziska gekümmert…

Katja fing an zu weinen. Diese Vorstellung war mehr, als sie ertragen konnte. Warum tat Andreas ihr das an? Wie konnte er nur?! Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, daß sie ja gar nicht sicher wußte, ob er wirklich ins Hotel gegangen war. Ihre Phantasie hatte ihr wieder einmal einen Streich gespielt.

Jedenfalls war er nicht zu Hause. Sie mußte bald in die Klinik und fragte sich, wie sie das aushalten sollte. Sie hatten kein Telefon in dieser Wohnung, so daß sie nicht einmal versuchen konnte, Andreas zwischendurch anzurufen. Und dann fiel ihr ein, daß er vielleicht nur abwartete, bis sie das Haus verließ – weil er sie nicht sehen wollte.

Sie weinte wieder. Es gab so viele Möglichkeiten, warum er nicht nach Hause kam. Noch nie war sie so unglücklich gewesen wie jetzt, und sie schwor sich, nie wieder leichtfertig mit ihm zu streiten. Doch im Augenblick half ihr dieser Vorsatz leider wenig.

*

»Ja?« fragte Adrian mit schlaftrunkener Stimme. Wieso rief ihn jemand mitten in der Nacht an? Er hatte doch höchstens eine Stunde geschlafen!

»Adrian, endlich!« rief Esther. »Was ist denn bloß los? Erst kommst du nach deiner Nachtschicht nicht nach Hause – und jetzt klingst du, als schliefst du noch! Dabei müßtest du dich doch schon wieder auf den Weg machen, oder?«

»Wieso?« fragte er verwirrt.

»Weil die nächste Nachtschicht bald anfängt«, erklärte sie freundlich, und da endlich warf er einen Blick auf die Uhr. Schlagartig war er hellwach, und nun fiel ihm auch wieder ein, was passiert war und weshalb er nur so wenig Zeit zum Schlafen gehabt hatte.

»Ich bin für einen Kollegen eingesprungen«, erklärte er hastig, während er aus dem Bett stieg. »Und dann mußte ich noch einen durchbrochenen Blinddarm operieren…«

»Du hast das gemacht?« rief sie. »Es war also wirklich Peritonitis? Verdammt, ich hatte gehofft, er käme vielleicht noch rechtzeitig…«

»Wovon sprichst du, Esther?«

»Von Andreas Hollaender! Deshalb rufe ich dich ja an,

Adrian, weil ich gehofft hatte, du könntest mir etwas über ihn sagen! Du hast ihn also operiert?«

»Ja, habe ich, aber was hast du denn damit…«

»Erklär’ ich dir gleich. Wie geht’s ihm?«

»Nicht besonders, das kannst du dir ja sicher vorstellen. Er muß die Beschwerden schon recht lange gehabt haben…«

»Hat er auch«, sagte sie. »Aber er hat sie nicht ernst genommen. Was heißt das, es geht ihm nicht besonders? Schwebt er in Lebensgefahr?«

»Das werde ich wissen, wenn ich auf der Intensivstation nach ihm gesehen habe«, erklärte

Adrian. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie es in seinem Bauch ausgesehen hat.«

»Doch, kann ich«, widersprach Esther. »Ich habe zufällig Medizin studiert, weißt du?«

»Entschuldige, willst du mir nicht endlich sagen, was du mit Andreas Hollaender zu tun hast?«

»Er ist zusammengebrochen, als wir gerade miteinander sprachen. Und ich habe sein Baby mitgenommen.«

»Sein Baby?« fragte Adrian verblüfft. »Er hat ein Kind?«

»Ja, hat er.«

»Und was ist mit der Mutter?«

»Das weiß ich nicht, ich kenne ihn kaum. Ich habe ihn einmal im Supermarkt fast umgerannt, so haben wir uns kennengelernt. Er wohnt bei mir um die Ecke, und er ist ein besonders netter junger Mann. Er wollte unbedingt in die Kurfürsten-Klinik, aber ich weiß nicht, warum. Er hat es nur mehrfach wiederholt und irgendwas von seiner Freundin gesagt, die da ist. Vielleicht liegt sie bei euch, und ich habe sie deshalb noch nie gesehen. Er ist nämlich immer allein mit dem Kind unterwegs.«

»Ein Baby«, murmelte Adrian. »Er ist erst dreiundzwanzig, ich hätte nicht gedacht, daß er schon Vater ist.«

»Ja, er war schneller als wir beide«, erwiderte Esther jetzt trocken. »Kann ich ihn besuchen?«

»Nicht heute«, wehrte Adrian ab. »Aber ich rufe dich nachher an und sage dir Bescheid, wie es ihm geht.«

»Ja, bitte, tu das. Und was mache ich mit Fränzchen?«

»Fränzchen?« wiederholte er fragend.

»Das Baby heißt Franziska, er nennt das Kind immer Fränzchen.«

»Kann es nicht wenigstens bis morgen bei euch bleiben?« fragte er. »Wir müssen ja zuerst die Mutter finden, Esther!«

»Such sie bei euch in der Klinik«, riet sie.

»Wie denn? Sie heißt ja offenbar nicht Hollaender. Und wenn sie als Patientin hier ist, dann wundert sie sich vielleicht, daß die beiden sie nicht besucht haben – aber sie wird wohl kaum die Polizei verständigen, oder?«

»Dann frag’ ihn, wie sie heißt, sobald er wieder klar ist.«

»Ja, sicher. Ich ruf’ dich an, Esther.«

Sie legten gleichzeitig auf, und Adrian raste in Windeseile ins Bad. Danach fand er noch ein Stück Brot und einen Marmeladenrest – den Kaffee würde er in der Klinik trinken müssen, dazu blieb jetzt wirklich keine Zeit mehr. Mit wehendem Mantel rannte er die Treppen hinunter. Wenn er sich sehr beeilte, dann würde er sogar noch rechtzeitig kommen.

*

Stefanie Wagner verbiß sich einen ungeduldigen Kommentar, als es kurz klopfte und gleich darauf der Personalchef vor ihrem Schreibtisch stand. Was wollte er nur schon wieder? Sie wußte nicht, wo ihr der Kopf stand, und er kam ständig mit irgendwelchen Kleinigkeiten, die er ihrer Meinung nach sehr gut allein entscheiden konnte. Sie mußte bei Gelegenheit mal mit dem Chef reden, ob dieser Mann wirklich der richtige für seinen Posten war.

»Tut mir leid, Frau Wagner, daß ich Sie schon wieder behelligen muß, aber Sie haben doch befürwortet, daß wir mit Herrn Hollaender einen Sondervertrag schließen…«

»Ja, und?« fragte sie kühl. »Soviel ich weiß, leistet er ausgezeichnete Arbeit. Ich habe mir das neulich selbst angesehen und fand es überzeugend. Wir müssen neue Wege gehen, wir können nicht alle Leute fest anstellen, das wissen Sie doch genausogut wie ich!«

»Ja, ja, sicher, Frau Wagner, aber darum geht es mir im Augenblick gar nicht.«

»Sondern?« Sie trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, um ihm klarzumachen, daß er ihr ihre kostbare Zeit stahl. Denn das tat er wirklich. Sie mußte noch die neuen Gäste…

»Er ist heute nicht gekommen, obwohl das so vereinbart war. Und da er keine Telefonnummer angegeben hat, konnte ihn auch niemand erreichen. Die Schreinerei ist wirklich entsetzlich im Druck im Augenblick, das wissen Sie ja, und deshalb…«

»Dann schicken Sie jemanden bei ihm zu Hause vorbei und lassen Sie herausfinden, was los ist«, unterbrach sie ihn. »Das kann doch nicht so schwer sein, oder? Vielleicht ist sein Baby krank, und er hat in der Aufregung vergessen, uns zu benachrichtigen.«

»Aber er muß dringend…«

»Dann schaffen Sie ihn hierher! Aber erzählen Sie mir nicht die ganze Geschichte, denn ich hole ihn bestimmt nicht persönlich ab, nur weil ich befürwortet habe, daß er hier arbeitet!«

Ihre Stimme war mittlerweile nicht mehr kühl, sondern eisig, und mit einer gemurmelten Entschuldigung verschwand der Mann. »Idiot«, sagte Stefanie wütend. Sie haßte es, wenn Leute nicht selbst Ideen entwickelten, was in einem Notfall zu tun war.

Aber zugleich war sie auch beunruhigt. Denn tatsächlich fühlte sie sich, auf eine nicht genau bestimmbare Art, für Andreas Hollaender verantwortlich. Und wenn er nicht kam, obwohl er sein Kommen zugesagt hatte, dann gefiel ihr das ganz und gar nicht. Sie würde ein deutliches Wort mit ihm reden, wenn sie ihn das nächste Mal sah.

Dann zwang sie sich, nicht mehr an ihn zu denken. Sie hatte jetzt anderes zu tun. Energisch griff sie zum Telefon und fing an, die Liste abzuarbeiten, die ihre Sekretärin ihr hingelegt hatte.

*

»Nanu, Katja, fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Dr. Julia Martensen freundlich, als sie einen Blick in das blasse Gesicht der neuen Schwester geworfen hatte. »Sie sind so blaß! Sie werden uns doch nicht krank werden? Wir brauchen Sie hier wirklich ganz dringend, das wissen Sie doch.«

»Ich habe nicht gut geschlafen«, antwortete Katja. Sie versuchte zu lächeln, aber es mißlang ihr kläglich.

»Das ist besonders schlimm, wenn man Nachtdienst hat«, erwiderte Julia ruhig. »Aber vielleicht wird es eine ruhige Nacht, und Sie können sich zwischendurch sogar ein wenig hinlegen – das kommt auch schon mal vor.«

Ihre Freundlichkeit trieb Katja die Tränen in die Augen, und sie wandte sich hastig ab. Wenn es nur jemanden gäbe, mit dem sie über ihren Kummer hätte reden können! Dr. Winter vielleicht, dachte sie. Er hat es mir ja selbst angeboten, und zu ihm könnte ich Vertrauen haben.

Aber was sollte sie ihm sagen? Daß ihr Freund mit ihrer gemeinsamen Tochter verschwunden war, weil sie sich gestritten hatten? Dann würden alle wissen, daß sie bereits ein Kind hatte. Und dann würde sie wahrscheinlich nicht einmal die Probezeit hier in der Klinik überstehen. Nein, das war auch keine Lösung. Sie mußte allein sehen, wie sie mit ihren Problemen fertig wurde.

Trotzdem fragte sie: »Kommt Dr. Winter nicht?«

»Er ist schon da, obwohl er gestern länger geblieben ist, weil er für einen Kollegen eingesprungen ist. Und dann hat er einen Notfall operieren müssen, einen Mann mit Peritonitis. Es geht ihm ziemlich schlecht, er liegt auf der Intensivstation. Dr. Winter ist zu ihm gegangen, um nach ihm zu sehen. Die Operation muß sehr schwierig gewesen sein.«

Katja nickte. Das konnte sie sich vorstellen. »Kann ich schon etwas tun?« fragte sie.

Julia Martensen nickte. »Ja, bitte kommen Sie mit mir. Ich brauche Hilfe bei einer älteren Dame, die sich einen Fuß verstaucht hat.«

Katja folgte ihr. Sie war froh, daß sie arbeiten konnte. Das würde sie hoffentlich von ihren Gedanken ablenken. Denn sonst würde sie sich doch nur vorstellen, daß sie morgens nach Hause kommen und erneut eine leere Wohnung vorfinden würde…

*

Andreas war froh, daß er sich nicht mehr vor Schmerzen krümmen mußte, aber richtig gut fühlte er sich dennoch nicht. Etwas in seinem Bauch tat immer noch weh, und sein Kopf fühlte sich merkwürdig an. Er wollte gern wissen, was eigentlich passiert war, aber er konnte den Mund nicht öffnen, um zu fragen. Und nachdenken konnte er auch nicht.

Das fand er unangenehm. Zugleich aber war es gut, hier ganz ruhig zu liegen und sich um nichts zu kümmern.

Er hörte leise Stimmen und hätte gern gewußt, wer da sprach, aber er war zu müde, um die Augen zu öffnen. Das mußte noch ein wenig warten.

Eine leise Männerstimme sagte in diesem Augenblick: »Er wird bald aufwachen.« Andreas kannte die Stimme nicht und fragte sich, woher der Mann das wohl wußte, wo er doch seine Augen fest geschlossen hatte.

»Herr Hollaender?« Das war noch eine Männerstimme, aber eine andere. »Können Sie mich hören, Herr Hollaender?«

Ja, dachte Andreas, das kann ich, aber ich bin zu müde, um es zu sagen.

Was war nur passiert? Er hatte schreckliche Schmerzen gehabt, das wußte er noch. Und Fränzchen hatte auf einmal geweint. »Fränzchen!« murmelte er. Ob sie hier war? Sicher war sie hier, wo sollte sie sonst sein? Katinka arbeitete ja. Er sagte: »Katinka.«

»Was hat er gesagt?« fragte die eine Stimme.

»Ich habe es nicht genau verstanden, aber es klang wie ›Fränzchen‹ und ›Tinka‹.«

»Fränzchen ist seine Tochter.«

»Er hat eine Tochter? Er ist doch gerade mal Anfang Zwanzig…«

Andreas schlief wieder ein. Er war zu müde, um den beiden Männern noch länger zuzuhören.

*

»Na?« fragte Julia Martensen, als Adrian Winter in die Notaufnahme zurückkehrte. »Wie geht’s dem Patienten?«

Sie stand mit Schwester Katja auf dem Gang und schlürfte eilig einen Becher Kaffee.

»Er ist noch nicht über den Berg. Ich mache mir nach wie vor große Sorgen um ihn«, antwortete Adrian. »Wenn ich bloß nicht so müde wäre.«

»Tu dich mit Schwester Katja zusammen, sie hat auch schlecht geschlafen.«

»Ich habe nicht schlecht geschlafen, sondern nur viel zu kurz! Was hat Ihnen denn den Schlaf geraubt, Katja?«

Sie errötete und wich seinem Blick aus. »Ich weiß es nicht genau. Irgendwie sind mir so viele Sachen durch den Kopf geschwirrt, daß ich auf einmal hellwach war. Und dann konnte ich nicht mehr einschlafen.«

»Das kenne ich«, sagte er lächelnd. »Autogenes Training, kann ich nur sagen. Wenn man das kann, wirkt es Wunder.«

»Ich bin einfach zu ungeduldig dafür«, gab Katja zu.

»Oder zu jung«, meinte er lächelnd. »Irgendwie werden wir diese Nacht schon durchstehen.«

»Das hat Dr. Martensen auch gesagt, aber die Patienten wissen wohl noch nichts davon. Alle zehn Minuten kommt ein neuer.« Es tat Katja gut, hier zu stehen und zu reden, als sei nichts Besonderes vorgefallen. Dann kam sie wenigstens nicht in Versuchung, darüber nachzudenken, ob Andreas wohl mittlerweile zu Hause war.

»Ich möchte später noch einmal nach dem Patienten sehen«, sagte Adrian. »Jedenfalls, wenn unsere Arbeit hier es zuläßt. Guck nicht so, Julia! Ich weiß, daß ich nicht mehr für ihn zuständig bin und daß die Kollegen auf der Intensivstation hervorragende Mediziner sind…«

»Dann ist es ja gut«, erwiderte sie. »Solange du das nicht vergißt, muß ich dich nicht daran erinnern.«

»Nein, mußt du nicht. Aber ich werde trotzdem noch einmal nach dem Patienten sehen. Es läßt mir einfach keine Ruhe, daß ein so junger Mann vielleicht sterben muß, nur weil er nicht rechtzeitig zum Arzt gegangen ist.«

»Wie alt ist er denn?« erkundigte sich Katja.

»Dreiundzwanzig«, antwortete Adrian bekümmert. »Stellen Sie sich das einmal vor, Schwester Katja! Erst dreiundzwanzig. Da fängt das Leben doch erst richtig an.«

Wie Andreas, dachte sie. Der Patient ist so alt wie Andreas. Aber Andreas hatte keine Blinddarmentzündung, das wußte sie. Wenn sie auch sonst im Augenblick über ihren Freund nicht so genau Bescheid wußte.

*

Andreas schwamm in einem Meer aus dichtem grauem Nebel. Vergeblich versuchte er, in dieser trüben Suppe etwas zu erkennen, aber es gelang ihm nicht. Merkwürdig fand er, daß ihm gleichzeitig heiß und kalt war. Wieso eigentlich? Er wollte an sich hinuntersehen, um festzustellen, was für Kleidung er anhatte, aber komischerweise konnte er seinen Kopf nicht bewegen.

Das war lustig und beängstigend zugleich, und er kicherte leise. Das beruhigte ihn und vertrieb die bösen Geister, die sich bestimmt in dieser dicken Nebelsuppe versteckten. Er fragte sich plötzlich, welcher Tag heute war. Wie lange schwamm er schon dieser Suppe herum, ohne etwas zu sehen? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Aber als er danach fragen wollte, wurde es auf einmal wieder schwarz um ihn, und er konnte gar nicht mehr nachdenken.

»Er phantasiert«, sagte Werner Roloff, der zusammen mit Adrian Winter auf der Intensivstation neben Andreas Hollaenders Bett stand. »Er hat hohes Fieber, und er phantasiert, aber das war ja zu erwarten nach dem, was du alles aus seinem Bauch holen mußtest.«

Adrian nickte. »Ich hoffe, er hält durch. Die Kulturen, die wir von seinem Eiter haben anlegen lassen, sind fertig, habe ich gehört. Jetzt können die Antibiotika ganz gezielt zusammengestellt werden. Hoffentlich bringt das den gewünschten Erfolg.«

»An dir hat es jedenfalls nicht gelegen, Adrian«, sagte Werner Roloff mit warmer Stimme. »Du hast ausgezeichnete Arbeit geleistet.« Seine freundlichen braunen Augen waren voller Zuneigung auf den jungen Kollegen gerichtet.

»Danke«, murmelte Adrian. »Wenn er stirbt, wird mir das allerdings nur ein sehr unzureichender Trost sein, Werner.«

»Das verstehe ich. Aber wenn du dir zusätzlich auch noch Vorwürfe machen müßtest, wäre es sicherlich noch schlimmer.« Der Anästhesist fuhr sich mit beiden Händen durch seine wilde graue Mähne, die so etwas wie sein optisches Markenzeichen war. Er war ein sehr großer, überschlanker Mann, den man wegen seiner außergewöhnlichen Silhouette schon von weitem erkennen konnte.

»Er hat ein Baby, Werner«, sagte Adrian. »Eine Tochter von einem halben Jahr.«

»Woher weißt du das?« fragte Werner Roloff verblüfft. »Das kann er dir doch unmöglich selbst gesagt haben.«

»Hat er auch nicht. Ich weiß es von Esther.« In wenigen Worten berichtete er, was seine Schwester ihm erzählt hatte.

»Und was ist mit der Mutter des Kindes?«

»Solange ich ihn nicht fragen kann, wie sie heißt, werden wir sie nicht ausfindig machen können. Das Kind ist jedenfalls noch in der Charité, die kümmern sich zumindest bis morgen um sie.«

»Arme Kleine«, murmelte Werner Roloff. »Und Esther glaubt, die Freundin von Herrn Hollaender liegt in unserer Klinik?«

»Er soll so was gesagt haben – das würde auch erklären, warum er hierher wollte.«

»Vielleicht sollten wir auf den Stationen Bescheid sagen – falls irgendwo eine junge Frau liegt, die sich wundert, warum sie auf einmal keinen Besuch mehr von ihrem Freund und ihrer kleinen Tochter bekommt.«

»Gute Idee«, stimmte Adrian zu. »Ich schreibe es auf, und dann kann es in jeder Station ans Schwarze Brett gehängt werden.«

»Hoffentlich brauchst du dafür keine Genehmigung von der Verwaltung«, meinte sein älterer Kollege, und zum ersten Mal wich der ernste Ausdruck von seinem Gesicht und machte einem breiten Lächeln Platz.

»Machst du Witze? Genehmigung? Das wäre ja das Allerneueste.«

»Mir scheint«, meinte Werner Roloff, »du bist nicht ganz auf dem Laufenden, Adrian. Wir haben seit einigen Tagen einen neuen Verwaltungsdirektor. Er heißt Thomas Laufenberg und soll ein ganz scharfer Hund sein.«

»Ist mir egal«, sagte Adrian. »Wenn er was will, kann er ja kommen und meckern. Tschüß, Werner, ich muß zurück. Dringend sogar.«

»Ich auch«, seufzte Werner Roloff. »Anästhesisten sind offenbar zur Zeit Mangelware an dieser Klinik. Ich war schon lange nicht mehr so gefragt wie im Augenblick. Tschüß, Adrian, ich hoffe, das nächste Mal ist es ein leichterer Fall, bei dem wir zusammenarbeiten können.« Er klopfte Adrian aufmunternd auf die Schulter und eilte mit wehender Mähne davon.

*

»Esther?«

»Wie geht’s ihm?« Esther Berger hatte Adrians Stimme sofort erkannt und offenbar bereits auf seinen Anruf gewartet, so schnell hatte sie sich gemeldet.

»Nicht gut«, antwortete er ehrlich. »Er hat Fieber und phantasiert. Die Antibiotika, die er zuerst bekommen hat, haben nicht angeschlagen, jetzt ist die Zusammensetzung verändert worden – wir hatten ja Kulturen anlegen lassen. Ich hoffe, er schafft es.«

Es war einen Augenblick still, so daß er sich schon fragte, ob die Verbindung unterbrochen worden war, aber dann hörte er seine Schwester leise sagen: »Er muß es schaffen, Adrian! Meine Güte, ich kenne ihn kaum, aber die Vorstellung, daß er vielleicht an einer ordinären Blinddarmentzündung stirbt, ist so ungeheuerlich! Daran stirbt man heute einfach nicht mehr.«

»O doch«, widersprach er, »das tut man auch heute noch. Manche Leute gehen zu spät oder überhaupt nicht zum Arzt, wenn ihnen etwas fehlt – und zu diesen Menschen scheint Herr Hollaender zu gehören. Ich bin fast wütend auf ihn gewesen, als ich ihn operiert habe, weil das alles so unnötig ist. Verstehst du das?«

»Ja, sicher«, antwortete sie hilflos. »Ich kenne dieses Gefühl, wenn ich denke, daß man eine Gefahr hätte vermeiden können. Aber es ist ja nun zu spät, ändern läßt sich das nicht mehr.«

»Ja«, bestätigte er, und seine Stimme klang bitter. »Jetzt kann man nur noch hoffen.«

»Er ist noch so jung, Adrian«, flüsterte sie. »Und dieses Baby ist so niedlich, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Die Schwestern sind alle verliebt in das kleine Mädchen.«

»Hier tun alle, was sie können, um ihn durchzubringen, Esther!« Adrian räusperte sich. »Ich muß Schluß machen, die Notaufnahme ist wieder einmal total überfüllt. Morgen melde ich mich wieder.«

»Oder früher – sobald es ihm bessergeht, ja?« bat Esther.

»Gut, mach’ ich. Bis dann!« Er legte auf und blieb gedankenverloren stehen. Erst als er hörte, daß man ihn rief, wachte er aus seiner Versunkenheit auf und eilte zu seinen Kolleginnen und Kollegen zurück.

*

»Na, sehen Sie, Schwester Katja«, sagte Julia Martensen am frühen Morgen freundlich, »nun ist die Nacht vorbei, und Sie haben sie doch besser überstanden als befürchtet – oder nicht?«

»Doch«, gab Katja zu. Es war tatsächlich so viel zu tun gewesen, daß sie nicht mehr zum Nachdenken gekommen war – zum Glück. Aber jetzt rückten ihr ihre Probleme wieder näher. Gleich würde sie sich auf den Heimweg machen und kurz darauf wissen, ob ihre Welt wieder in Ordnung war oder nicht. Wenn sie es nicht war… Aber daran wollte sie nicht denken. Andreas und Franziska würden wieder zu Hause sein, sie selbst würde sich entschuldigen, und dann würde sie die ganze Sache so schnell wie möglich vergessen.

»Sie können bestimmt gut schlafen nachher«, meinte Julia Martensen tröstend.

»Hoffentlich«, sagte Katja schüchtern. »Vielen Dank, Frau Dr. Martensen.«

»Wofür denn?« fragte Julia.

»Für Ihre Unterstützung«, sagte Katja schlicht. »Ich geh’ dann mal. Herr Dr. Winter ist wohl noch einmal auf die Intensivstation geeilt, um nach seinem Patienten zu sehen?«

»Ja, es geht ihm leider gar nicht gut. Er hat hohes Fieber und phantasiert. Die Kollegen hoffen jetzt, daß die neue Zusammensetzung von Antibiotika bald anschlägt.«

»Ich hoffe für Dr. Winter, daß sich der Patient bald erholt«, sagte Katja. »Er würde es sonst sehr schwer nehmen, glaube ich.«

»Ja, da haben Sie recht«, stimmte Julia ihr zu. »Ich kenne kaum einen Arzt, der so hartnäckig um das Leben eines Menschen kämpfen kann wie Dr. Winter. Er kämpft noch, wenn andere schon längst aufgegeben haben.«

Katja nickte. Genauso hatte sie Dr. Winter auch eingeschätzt. »Auf Wiedersehen, Frau Dr. Martensen«, sagte sie.

»Auf Wiedersehen, Schwester Katja. Ich gehe jetzt auch. Schlafen Sie gut!«

»Ich versuch’s«, versprach Katja, und dann rannte sie los.

*

»Herr Hollaender? Können Sie mich hören?«

Die Augenlider des Patienten flatterten wie Schmetterlingsflügel, doch sie hoben sich nicht.

Adrian seufzte, und der junge Stationsarzt, der neben ihm stand, sagte: »Es geht ihm schon viel besser, Herr Winter, wirklich. Die Antibiotika wirken, und das Fieber ist seit zwei Stunden nicht mehr gestiegen.«

»Trotzdem wäre mir wohler, wenn ich ein paar Worte mit ihm gewechselt hätte«, erwiderte Adrian. »Ich werde keine Ruhe finden, wenn ich jetzt nach Hause gehe, das weiß ich genau.«

Der andere nickte verständnisvoll. »Ich kenne das, daß man seine Fälle mit nach Hause nimmt und sich nicht von ihnen lösen kann. Sie haben ihn selbst operiert, nicht wahr?«

»Ja, und es war eine schreckliche Angelegenheit, weil es viel zu spät war. Er müßte jetzt nicht hier liegen und um sein Leben kämpfen, wenn er rechtzeitig einen Arzt aufgesucht hätte.«

»In dem Alter denkt man, daß man unsterblich ist, Herr Winter.«

Adrian sah auf und lächelte unwillkürlich. »Sehr viel älter als der Patient sind Sie doch auch nicht! Halten Sie sich für unsterblich?«

»Nein, aber ich bin Arzt, und das ist etwas anderes, glaube ich.«

»Da mögen Sie recht haben«, gab Adrian zu. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleibe ich noch ein bißchen hier. Wie gesagt, zu Hause könnte ich doch nicht schlafen.«

»Natürlich macht es mir nichts aus, im Gegenteil. Ich bin froh, wenn ihn jemand im Auge behält. Wir sind hier ohnehin überlastet, da ist uns jeder willkommen, der uns Arbeit abnimmt.« Der junge Kollege nickte Adrian noch einmal zu und verließ den Raum.

Los, Andreas Hollaender, dachte der Arzt, nun mach endlich deine Augen auf, damit ich weiß, daß du über den Berg bist. Ich glaube es nämlich sonst nicht! »Herr Hollaender?« fragte er laut und erschrak fast über seine eigene Stimme.

Aber der bleiche junge Mann rührte sich nicht, und auch seine Lider flatterten dieses Mal nicht. Sein Atem war flach, seine Brust hob und senkte sich kaum sichtbar. Nur seine Hände zuckten ab und zu unruhig über die Bettdecke.

Adrian seufzte und lehnte sich zurück, während er den Patienten nicht aus den Augen ließ. Er würde bleiben – und wenn er vor Müdigkeit vom Stuhl fiel. Er konnte jetzt einfach nicht gehen.

*

»Was ist denn nun schon wieder los?« fragte Stefanie Wagner ungeduldig, und ihre Stimme klang so unfreundlich, daß sie selbst erschrak.

Gut, sie konnte den Personalchef nicht leiden, doch das mußte sie ihn ja nicht unbedingt bei jedem ihrer Treffen so deutlich spüren lassen. Aber nun war sie extra früh ins Hotel gekommen, um liegengebliebene Arbeiten zu erledigen – und schon wieder stand dieser unfähige Mann vor ihr, der sie außerdem auf eine Art und Weise anhimmelte, die sie auf den Tod nicht ausstehen konnte. Je unfreundlicher sie war, desto mehr bewunderte er sie. Und was tat er überhaupt um diese frühe Uhrzeit schon hier?

»Es geht noch einmal um Herrn Hollaender, Frau Wagner.«

Das also war’s – um halb acht Uhr morgens!

»Was hat er zu seiner Entschuldigung vorgebracht?« fragte Stefanie, und dieses Mal achtete sie darauf, daß ihr Tonfall ruhig und beherrscht war. »Ich möchte übrigens selbst auch noch einmal mit ihm sprechen. Es geht nicht, daß solche Sachen einreißen. Bestimmte Regeln müssen wir schließlich alle einhalten.«

»Da stimme ich vollkommen mit Ihnen überein«, erklärte der Personalchef mit verbindlichem Lächeln. »Leider konnten wir bisher mit Herrn Hollaender keinen Kontakt aufnehmen, denn bei ihm zu Hause haben wir niemanden angetroffen.«

»Wirklich niemanden angetroffen? Aber er hat ein Kind, das muß regelmäßig gefüttert werden, und schlafen muß es auch – er muß also öfter mal zu Hause sein.«

»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, erwiderte der Personalchef würdevoll. »Wir haben es zu verschiedenen Zeiten probiert, aber uns wurde nicht aufgemacht.«

»Ich hoffe, Sie haben ihm wenigstens eine Nachricht in den Briefkasten gesteckt, daß er sich schleunigst hier melden soll?«

»Jawohl, Frau Wagner. Bisher ist jedoch keine Kontaktaufnahme erfolgt.«

Er machte sie wahnsinnig mit seiner gestelzten Art zu reden, aber sie beherrschte sich eisern. Am liebsten wäre sie ihm über den Mund gefahren, doch das würde sie in dieser Angelegenheit auch nicht weiterbringen. Hoffentlich war Andreas Hollaender nichts passiert. Sie fing an, sich Sorgen um ihn zu machen.

»Danke für die Information«, sagte sie knapp. »Bleiben Sie dran und geben Sie mir Bescheid, wenn Sie ihn gefunden haben.«

»Selbstverständlich«, sagte er und verließ ihr Büro.

Sie lehnte sich aufatmend zurück. Endlich war sie den Kerl los – bis zum nächsten Mal. Denn er würde schon bald etwas anderes finden, das er auch wieder ganz dringend mit ihr besprechen mußte, obwohl es eigentlich ganz allein seine Sache war.

Sie wollte sich gerade den unerledigten Arbeiten auf ihrem Schreibtisch zuwenden, als das Telefon klingelte. »Ja?« fragte sie, schon wieder mit Unwillen in der Stimme. Wollte man sie denn an diesem Morgen überhaupt nicht arbeiten lassen?

»Frau Wagner, ich habe eine Frau Senkenberg am Apparat, die ganz dringend mit Ihnen sprechen möchte. Katja Senkenberg. Sie sagt, es geht um einen Herrn Hollaender.«

»Stellen Sie durch«, bat Stefanie die Frau in der Zentrale.

*

Katja raste wie eine Verrückte zurück zur Kurfürsten-Klinik. Sie hatte zum Glück gleich eine U-Bahn erwischt, den Rest des Weges rannte sie, als wolle sie einen Rekord aufstellen.

Diese Frau Wagner war wirklich nett gewesen am Telefon und hatte ihr gesagt, daß Andreas im Hotel auch schon vermißt worden war! Sie hatte ihr sogar Hilfe angeboten, aber wie sollte sie ihr schon helfen? Sie kannten einander ja nicht einmal.

Andreas war also mit Franziska verschwunden, und allmählich fragte sie sich, ob den beiden nicht vielleicht etwas passiert war. Allerdings glaubte sie das eigentlich nicht, Andreas konnte nichts passieren, davon war sie im Grunde ihres Herzens überzeugt. Er war immer so stark und unerschütterlich!

Aber als sie die leere Wohnung vorhin betreten hatte, war ihr doch fast das Herz stehengeblieben. Sie hatte sich auf dem Weg nach Hause so fest eingeredet, daß er bereits mit dem Frühstück auf sie warten würde, daß es ein richtiger Schock gewesen war, ihn nicht anzutreffen. Und Franziska? Bei dem Gedanken stiegen ihr unwillkürlich wieder Tränen in die Augen. Sie vermißte ihre kleine Tochter, und sie war ganz sicher, daß es dem Kind ebenso erging. Wo steckte Andreas nur?

Sie hatte kurz überlegt, die Polizei einzuschalten, diesen Gedanken aber schnell wieder von sich geschoben. Das war ja einfach lächerlich! Sie konnte förmlich hören, was man ihr sagen würde: »Junge Männer mit Babys gehen nicht so leicht verloren, Frau Senkenberg. Gehen Sie mal schön nach Hause und waren Sie auf ihn. Er wird schon wieder auftauchen.«

Nein, danke, das konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. Sie wollte mit Dr. Winter reden, zu ihm hatte sie Vertrauen. Sie hätte auch mit Frau Dr. Martensen sprechen können, die in der vergangenen Nacht wirklich sehr freundlich zu ihr gewesen war, aber die hatte die Klinik ja bereits verlassen.

Dr. Winter dagegen war noch bei diesem Patienten gewesen, den er operiert hatte. Hoffentlich erwischte sie ihn noch, bevor er ebenfalls ging. Er war ja sicher auch müde und wollte nach Hause. Sie versuchte, nicht daran zu denken, daß Dr. Winter ihr wahrscheinlich nicht helfen konnte. Aber er würde ihr zuhören und ihr wenigstens einen Rat geben können, was sie nun tun sollte.

Keuchend erreichte sie die Klinik und stürzte zuerst in die Notaufnahme. »Ist Dr. Winter noch da?« rief sie.

»Hier ist er nicht«, kam die Antwort. »Sein Dienst ist längst zu Ende.«

»Das weiß ich doch«, erwiderte Katja. »Als ich ging, war er noch auf der Intensivstation und hat nach einem Patienten gesehen. Ist er danach nicht noch einmal hiergewesen?«

»Nein, ist er nicht«, kam die trockene Antwort von einer bereits jetzt völlig erschöpft aussehenden Ärztin.

Katja überlegte nicht lange, lief zu den Fahrstühlen und drückte ungeduldig auf einen der Knöpfe. Dann mußte sie ihn eben auf der Intensivstation suchen. Wenn er nur noch da war! Die Vorstellung, mit ihrem Problem vielleicht völlig allein zu bleiben, war unerträglich.

*

Andreas öffnete die Augen und erschrak. Neben ihm saß ein Mann, den er nicht kannte, der schlief. Und er lag in einem Raum, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte.

Was tat er hier? Was war passiert?

Als hätte der Mann gespürt, daß Andreas ihn ansah, öffnete er die Augen. Er machte ein ungläubiges Gesicht, dann lächelte er. Er lächelte so strahlend, daß er auf einmal überhaupt nicht mehr müde aussah, und sagte: »Guten Tag, Herr Hollaender. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß Sie endlich wach sind.«

»Wer… sind Sie… denn?« fragte Andreas leise.

»Dr. Adrian Winter, ich leite die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. Sie sind gestern mit einem durchgebrochenen Blinddarm hier eingeliefert worden. Können Sie sich nicht daran erinnern?«

Andreas dachte nach, das heißt, er versuchte es. Das war schwer, weil sein Kopf sich noch immer dumpf anfühlte und nicht arbeiten wollte. »Ich hatte Schmerzen«, sagte er schließlich. »Große Schmerzen.«

»Ja, das stimmt. Und das ist auch kein Wunder. Die müssen Sie auch vorher schon gehabt haben, aber leider sind Sie deshalb nicht zum Arzt gegangen. Sie haben großes Glück gehabt, wissen Sie das überhaupt?«

»Glück?« fragte Andreas verständnislos.

Adrian beschloß, dem jungen Mann ein anderes Mal zu sagen, wie nah er dem Tod gewesen war. Jetzt war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt.

»Ja, Glück«, wiederholte er, gab aber keine nähere Erklärung dazu ab.

Andreas Hollaender fielen bereits wieder die Augen zu, und Adrian sagte hastig: »Ihrer kleinen Tochter geht es gut, Herr Hollaender, das wollte ich Ihnen noch sagen.«

»Fränzchen«, murmelte der Patient und lächelte.

»Aber Sie müssen mir noch den Namen Ihrer Freundin mitteilen, damit wir sie benachrichtigen können. Sie weiß noch gar nicht, was passiert ist.«

»Katinka«, sagte Andreas Hollaender und schlief wieder ein.

Adrian überlegte, ob er ihn noch einmal wecken sollte, schließlich nützte ihm ein Vorname nicht viel, aber dann dachte er, daß es auf eine Stunde mehr oder weniger auch nicht ankam. Es war wichtig, daß Andreas Hollaender schlief, damit sich sein Körper erholen konnte. Er würde dem jungen Kollegen Bescheid geben, daß er den Patienten bei der nächsten Gelegenheit nach dem Namen seiner Freundin fragen sollte.

Er selbst würde jetzt endlich nach Hause gehen und schlafen. Einen anderen Wunsch hatte er im Augenblick nicht.

*

»Ist Herr Dr. Winter noch hier?« fragte Katja den jungen Arzt, der ihr auf dem Flur der Intensivstation entgegenkam.

»Ja«, antwortete dieser. »Er ist noch bei einem Patienten, den er gestern operiert hat.«

»Danke!« sagte sie und rannte weiter.

»Da kommt er ja!« rief der junge Arzt ihr nach. »Herr Winter, Sie haben Besuch!«

Adrian Winter war sichtlich erstaunt, sie zu sehen. »Katja, was machen Sie denn noch hier? Ihr Dienst ist doch längst zu Ende!«

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Herr Dr. Winter. Bitte, es ist wichtig.«

Er sah ihr blasses Gesicht, ihre flehenden Augen und unterdrückte einen Seufzer. Er war hundemüde und wollte in sein Bett! Aber er brachte es nicht übers Herz, sie abzuweisen.

»Kommen Sie«, sagte er. »Aber dann brauche ich einen Kaffee, sonst falle ich nämlich einfach um.«

»Danke!« sagte sie. »Aber wenn ich jetzt nicht mit jemandem sprechen kann, dann werde ich verrückt.«

»Na ja, Katja«, meinte er. »So schnell wird man nicht verrückt.«

Sie hatten das kleine Café im Erdgeschoß der Klinik erreicht und nahmen Platz.

»Haben Sie eine Ahnung«, widersprach Katja. »Man kann schneller verrückt werden, als man denkt.«

Sie bestellten jeder einen Kaffee und ein Brötchen, dann sagte Adrian: »Also, was ist denn nun so schrecklich, daß Sie meinen, Sie müßten verrückt werden?«

»Mein Freund ist weg, seit gestern – und niemand weiß, wo er ist. Wir hatten uns gestritten, danach ist er gegangen und nicht wiedergekommen.«

Du lieber Himmel, dachte

Adrian, eine Liebestragödie. Und das, wo ich Nachtdienst hatte und danach noch auf der Intensivstation war – das halte ich nicht aus!

»Er kommt bestimmt wieder, wenn er sich beruhigt hat«, sagte er und verachtete sich selbst für diese Phrase.

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Sie verstehen nicht, Herr Dr. Winter. Er hat unser Baby mitgenommen. Sie sind beide weg.«

Er starrte sie an. »Ihr Baby? Was soll das heißen: Ihr Baby?«

»Wir haben ein Kind, eine kleine Tochter von einem halben Jahr«, antwortete Katja leise.

»Das wußte ich nicht«, sagte er betroffen. »Das haben Sie nie erwähnt. Und Sie sind ja auch noch so jung… Also, ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß Sie schon Mutter sind. Warum haben Sie uns nicht gesagt, daß Sie ein Kind haben, Katja?«

»Ich dachte, Sie nehmen mich nicht, wenn Sie es wissen. Ich dachte, Sie nehmen dann lieber eine Schwester, die ungebunden ist, und bei der man nicht befürchten muß, daß sie ständig ausfällt, weil das Kind krank ist oder so.«

Er schwieg. Durchaus möglich, dachte er, daß die Verwaltung das so gesehen hätte. Aber das behielt er für sich.

Sie senkte den Kopf. »Ich war neunzehn, als Franziska auf die Welt kam. Meine Eltern haben mich ’rausgeworfen und gesagt, wenn ich ein Kind kriegen kann, kann ich auch sonst für mich sorgen, und das soll ich gefälligst tun. Andreas ist es nicht viel besser ergangen. Wir sind auf einem Dorf groß geworden, wissen Sie? Da sieht man das alles noch sehr eng.«

»Du liebe Zeit, Katja!« Adrian wußte gar nicht, was er sagen sollte. »Und dann sind Sie nach Berlin gegangen?«

»Ja. Zu Hause war es nicht mehr zum Aushalten. Wir haben ein winziges Appartement in Kreuzberg, Andreas paßt auf die Kleine auf, wenn ich arbeite, er hat keinen Job im Augenblick. Das heißt…«

»Das heißt?« wiederholte

Adrian, als sie nicht weitersprach.

»Das heißt, er arbeitet jetzt auf Stundenbasis als Schreiner in so ’nem Luxushotel. Das macht ihm total Spaß.«

»Luxushotel?« fragte Adrian. »Als Schreiner? Ich wußte gar nicht, daß die überhaupt Schreiner beschäftigen.«

»Oh, solche Edelschuppen wie das King’s Palace schon«, erwiderte Katja.

Adrian setzte sich kerzengerade hin. »Er arbeitet im King’s Palace?«

»Ja«, sagte Katja, die viel zu sehr mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigt war, um seine Aufregung zu bemerken. »Aber da war er seit gestern auch nicht mehr.« Sie wurde rot. »Wissen Sie, unser Streit bezog sich auf seine Arbeit. Nein, das stimmt auch nicht ganz. Es ging um eine Frau, die im Hotel arbeitet und von der er immer schwärmt. Frau Wagner. Die findet er schön und elegant und nett und…«

Adrian war wie vor den Kopf geschlagen. War es möglich, daß Schwester Katja tatsächlich von Stefanie Wagner sprach, jener schönen blonden Frau mit den wunderbaren Veilchenaugen, die ihm nicht aus dem Kopf ging, seit er sie kennengelernt hatte? Er hatte sie zwar einige Male wiedergesehen, aber leider war es ihm nicht gelungen, ihr näherzukommen, obwohl er sich das so sehr wünschte.

»Stefanie Wagner?« fragte er und hörte selbst, daß seine Stimme anders als sonst klang.

Katja sah ihn erstaunt an. »Das weiß ich nicht. Ihren Vornamen kenne ich nicht. Andreas sagt immer nur ›Frau Wagner‹. Sie hat ziemlich viel zu sagen im King’s Palace, und sie hat dafür gesorgt, daß sie Andreas in der Schreinerei nehmen. Jedenfalls habe ich sie heute morgen angerufen, und da hat sie erzählt, daß Andreas gestern nicht gekommen ist, obwohl er fest zugesagt hatte. Und ich habe mittlerweile richtig Angst um ihn und um Franziska. Was soll ich denn nur tun?«

Andreas… Franziska… Irgendein Gedanke saß in Adrians Hinterkopf, aber er bekam ihn nicht richtig zu fassen. Dabei war es wichtig, das spürte er.

»Wo, sagten Sie, wohnen Sie, Schwester Katja?«

»In Kreuzberg!« Sie nannte ihm die Straße. In der Ecke wohnte auch seine Zwillingsschwester… Und da hatte er ihn, den Gedanken!

»Wie heißt Ihr Freund, Katja?«

»Andreas Hollaender.«

Er gab einen erstickten Laut von sich, und dieses Mal entging ihr seine Reaktion nicht. »Was ist denn?« fragte sie ängstlich.

Die Gedanken in seinem Kopf überstürzten sich. Er mußte ihr die Wahrheit schonend beibringen, sonst würde sie einen Schock bekommen. Aber wie sollte er am besten anfangen?

Er zwang sich zur Ruhe und schaffte es sogar, sie etwas anzulächeln. »Sie brauchen nicht länger zu suchen, Schwester Katja. Ich weiß, wo Ihr Freund und Ihre Tochter sind.«

*

Dr. Esther Berger mußte erst ans Telefon gerufen werden. Als sie sich schließlich meldete, klang sie ziemlich abgehetzt. »Ja?« rief sie in den Hörer.

»Ich bin’s, Adrian.«

»Ist was mit Herrn Hollaender?« rief sie erschrocken. »Adrian, was ist los?«

»Ihm geht’s gut, keine Sorge, Schwesterchen. Ich wollte dir sagen, daß wir die Mutter gefunden haben. Du wirst nicht glauben, wer es ist.«

»Was soll das heißen: ›Wer es ist‹? Daß du sie kennst?«

»Ja, genau das. Es ist unsere neue Schwester Katja, gerade zwanzig Jahre alt. Sie und Andreas Hollaender sind von ihren Eltern sozusagen verstoßen worden, weil sie ein Kind gezeugt haben.«

»Das glaube ich nicht, Adrian. Wir leben doch wirklich nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert!«

»Nein, aber es leben auch nicht alle Leute in Großstädten, wo man solche Dinge etwas gelassener sieht als in dörflichen Gegenden. Jedenfalls hat sich die junge Familie hier tapfer durchgeschlagen – zu dritt in einem winzigen Appartement, wie ich jetzt erfahren habe.«

»Deshalb habe ich die Mutter nie gesehen«, meinte Esther nachdenklich. »Weil sie gearbeitet hat.«

»Schwer gearbeitet, Esther! Mir ist jetzt auch klar, warum sie immer so müde war. Das Kind hat sie oft einfach nicht schlafen lassen. Und dann hat er noch einen Job angenommen, so daß sie manchmal mit dem Kind allein war und nicht schlafen konnte, wenn es schrie…«

»Eine Schande ist das, wenn Eltern so engstirnig sind!« sagte Esther böse. »Statt sich zu freuen, daß sie ein Enkelkind bekommen…«

»Keiner kann aus seiner Haut«, erwiderte Adrian ruhig. »Wenn du in einer solchen Umgebung groß wirst, dann prägt sie dich auch. Wie geht es dem Kind?«

»Es jammert ein bißchen, ich glaube, es möchte nun doch endlich seine Eltern wiedersehen.«

»Dann sollten wir vielleicht die Übergabe planen!« sagte

Adrian lachend.

»Kein Problem«, meinte Esther. »Zufällig habe ich in einer Stunde Zeit und könnte die Kleine selbst den Eltern in die Arme legen.«

»Ich kann dir nicht versprechen, daß ich noch so lange durchhalte«, meinte er und gähnte verhalten. »Schließlich hatte ich wieder Nachtdienst und sollte eigentlich längst in meinem Bett liegen und schlafen.«

»Na, hör mal«, sagte sie aufgebracht. »Du wirst doch ein solches Ereignis nicht verpassen wollen, oder?«

»Ich sehe schon, daß du keine Ruhe geben wirst, bis ich klein beigebe«, sagte er resigniert. »Bis nachher, Esther!«

*

»Andreas? Andy!«

Er blieb ganz ruhig liegen. Das war Katjas Stimme, aber es war sicher ein Traum, daß sie hier war und nach ihm rief. Er wollte weiterträumen und nicht aufwachen, deshalb rührte er sich nicht.

»Andreas, wach auf! Ich bin’s, Katja!«

Nun öffnete er doch die Augen und sah tatsächlich Katja, die sich über ihn beugte. Ihr Gesicht war ganz naß, und er fragte leise: »Warum weinst du?«

»Weil ich dachte, du bist mit Franziska weggelaufen! Wir hatten uns doch gestritten, und ich dachte, du wärst böse auf mich, und…«

»Gestritten?« fragte er. »Kann ich mich… gar nicht… dran erinnern.«

Jetzt weinte sie noch mehr, aber sie lächelte dabei. »Du kannst dich nicht daran erinnern? Das ist doch wieder mal typisch. Und ich habe mir eingebildet, daß du mit Franziska weggegangen bist, weil ich so unerträglich war!«

Er schüttelte vorsichtig den Kopf. »Warst du… bestimmt nicht«, widersprach er. »Ich bin… zusammengebrochen… auf der Straße…«

»Ja, ich weiß. Jetzt weiß ich es. Aber vorher hab’ ich nichts davon geahnt. Wenn ich mir überlege, daß ich zu Hause im Bett gelegen und geschlafen habe, während du…«

Er tastete nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Nicht, Katinka!« sagte er. »Ist ja alles… wieder gut jetzt.«

»Jetzt ja, aber warum hast du mir denn nicht gesagt, daß du Schmerzen im Bauch hattest? Das war total gefährlich, Andy, weißt du das überhaupt?«

»Vorbei«, murmelte er. »Jetzt ist… nichts mehr… gefährlich.«

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?« beharrte sie.

»Du hattest… genug Stress.«

»Ach, Andy!« Sie beugte sich über ihn und küßte ihn voller Zärtlichkeit. »Mach das nie wieder, hörst du? Nie in deinem ganzen Leben. Versprich mir das.«

»Ich… verspreche es…«

Es klopfte leise, und Katja wandte den Kopf, um zu sehen, wer hereinkam. Im nächsten Augenblick sprang sie auf und rief: »Franziska!« Sie stürzte auf die zierliche blonde Frau zu, die das Kind auf dem Arm hatte.

Das Baby streckte die Ärmchen nach ihr aus und brabbelte strahlend vor sich hin. Katja drückte es an sich und küßte es immer wieder, während ihr erneut die Tränen über die Wangen flossen. Dann ging sie zurück zum Bett und sagte: »Guck mal, Franziska, da ist dein Papa.«

»Fränzchen«, sagte Andreas matt. »Hallo, lange… nicht gesehen, was?«

Katja hielt ihm seine Tochter hin, und Franziska fuchtelte mit ihren Händchen aufgeregt in seinem Gesicht herum.

»So, das reicht«, meinte Katja, wischte sich die Tränen ab und richtete sich wieder auf. »Dein Papa braucht Ruhe, Franziska.«

Nun erst wandte sie sich zu der Frau um, der sie das Kind abgenommen hatte. »Entschuldigung«, sagte sie verlegen. »Ich bin wirklich sehr unhöflich. Sie müssen Frau Dr. Berger sein, Dr. Winters Schwester.«

»Stimmt genau«, nickte Esther vergnügt. »Sie müssen sich nicht entschuldigen, Frau Senkenberg. Mein Bruder hat mir die ganze Geschichte im Telegrammstil erzählt. Ich an Ihrer Stelle wäre völlig ausgerastet!«

»Bin ich auch fast«, gab Katja zu.

Esther trat näher und grinste freundlich auf den Patienten herunter. »Hallo, Herr Hollaender, so sieht man sich wieder.«

»Danke«, sagte er mühsam. »Bin wirklich froh…, daß Sie da waren.«

»Das können Sie auch sein. Sie mußten nämlich wirklich ziemlich eilig unters Messer, aber das wissen Sie ja wahrscheinlich schon.«

»Ich bin… müde«, sagte Andreas.

In diesem Augenblick ertönte eine enttäuschte Stimme von der Tür her: »Da bin ich ja wohl zu spät gekommen!«

»Adrian!« rief Esther. »Ich dachte, du bist doch nach Hause gefahren und hast dich ins Bett gelegt.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte eigentlich die Familienzusammenführung erleben.«

»Zu spät, wie du schon richtig festgestellt hast.«

»Nein«, widersprach Katja. »Gerade rechtzeitig, daß wir beide Ihnen beiden noch einmal danken können, Frau Dr. Berger und Herr Dr. Winter. Wer weiß, was ohne Sie passiert wäre. Wir verdanken Ihnen soviel.«

Einen kurzen Augenblick lang herrschte fast feierliches Schweigen, dann krähte das Baby in Katjas Armen laut und vergnügt und strampelte mit seinen winzigen Beinchen.

Die Erwachsenen lachten, und Adrian sagte: »Das war ein sehr gelungener Kommentar, Franziska. Ich bin ganz deiner Meinung.«

*

»Frau Wagner? Hier ist ein Dr. Winter von der Kurfürsten-Klinik am Apparat, aber er will mir nicht sagen, was er…«

»Stellen Sie bitte durch!« Stefanie Wagner versuchte, ihr heftig klopfendes Herz zu beruhigen. Er würde es ihrer Stimme sofort anhören, wie aufgeregt sie war, aber das wollte sie auf keinen Fall. Dieser gutaussehende Arzt, der immer mal wieder ihren Weg kreuzte, aber stets von geradezu aufreizender Zurückhaltung war. Weshalb er sie jetzt wohl anrief?

»Frau Wagner?« Ja, das war unverkennbar seine Stimme.

»Herr Dr. Winter, wie komme ich denn zu der Ehre eines Anrufs von Ihnen?«

»Herr Hollaender hat mich darum gebeten«, antwortete er, und die Enttäuschung über diese Antwort war so groß, daß sie im ersten Augenblick gar nichts sagen konnte.

»Sind Sie noch dran?« erkundigte er sich besorgt.

»Ja, ja«, antwortete sie hastig. »Was ist mit Herrn Hollaender?«

»Er ist gestern morgen mit einem Blinddarmdurchbruch hier eingeliefert worden, und ich habe ihn operiert. Man kann schon sagen, daß es eine Notoperation war, aber jetzt ist er über den Berg.«

Die Enttäuschung war vergessen, nun saß ihr der Schreck in den Gliedern. »Über den Berg?« fragte sie. »So schlimm war das?«

»Ja«, bestätigte er ernst. »Zeitweilig sah es nicht gut aus, aber jetzt geht es ihm besser.«

»Seine Freundin!« rief sie. »Um Himmels willen, sie muß sofort benachrichtigt werden. Sie hat mich heute morgen angerufen, völlig aufgelöst, weil er nicht nach Hause gekommen war…«

»Alles schon geklärt. Sie ist hier, die kleine Tochter ist auch hier, und alle drei sind glücklich und zufrieden.«

»Oh«, sagte sie erleichtert. »Da bin ich aber froh. Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt, Herr Dr. Winter.«

»Das tut mir leid«, versicherte er. »Aber ich bin bereit, Abbitte zu leisten.«

»So? Wie denn?« Ihr Herz fing wieder an zu klopfen.

»Ich könnte Sie zum Essen einladen, wenn Sie wollen. Oder ins Kino. Oder…«

»Halt!« rief sie. »Essen ist wunderbar. Aber bitte führen Sie mich in ein Restaurant, das mich nicht an das King’s Palace erinnert.«

Er lachte. »Klein, verräuchert, völlig überfüllt und laut – aber köstliches Essen. Wie klingt das?«

»Sehr überzeugend. Wann?«

»Wie wäre es denn… Oh, Mist, ich habe Nachtdienst diese Woche. Also, wie wäre es am Wochenende? Da habe ich frei.«

»Gern!« sagte sie.

Als einer ihrer Kollegen wenige Augenblicke später zur Tür hereinkam, fragte er erstaunt: »Hast du im Lotto gewonnen?«

»Wie kommst du denn darauf?« fragte sie verblüfft.

Er legte den Kopf schief und betrachtete sie nachdenklich. »Na, weil du so aussiehst. Du strahlst wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum, Steffi!«

Sie machte schleunigst ein ernstes Gesicht und beschloß, auf seine Bemerkung nicht näher einzugehen. Was ging es ihn an, weshalb sie strahlte?

*

»Du strahlst ja so!« sagte Esther, als sie mit ihrem Bruder die Klinik verließ.

»Mhm.«

»Ich freue mich auch für die drei.«

Adrian ließ sie in dem Glauben, daß das glückliche Ende der Geschichte um seinen Patienten Andreas Hollaender der Grund für seine gute Laune war. Esther war sehr scharfsinnig, er wollte sie nicht auf die richtige Spur bringen, denn dann würde sie ihn ständig mit Fragen löchern.

Esther Berger lächelte still in sich hinein. Männer, dachte sie. Nun bildet er sich wirklich ein, ich wüßte nicht, daß sein Gesichtsausdruck etwas mit dem Telefongespräch zu tun hat, das er gerade geführt hat. Rührend. Ich bin mal gespannt, wann er mit seiner Geheimniskrämerei aufhört.

»Tschüß, Adrian!« sagte sie liebevoll. »Schlaf gut, du hast es verdient.«

»Finde ich auch«, meinte er, winkte ihr nach und lief dann mit langen Schritten davon. Am Wochenende würde er mit der schönen Frau Wagner essen gehen. Er würde…

Fast hätte er eine alte Frau umgerannt, die ein böses Gesicht machte und gerade anfangen wollte zu schimpfen. Doch dazu kam sie nicht, denn er umarmte sie, küßte sie auf beide Wangen und sagte: »Entschuldigen Sie, aber ich bin einfach so glücklich.«

Dann rannte er davon, während sie ihm lächelnd nachsah. »Verliebt«, sagte sie zu ihrem Pudel, der ihr aufmerksam zuhörte. »Der Mann ist eindeutig verliebt, Pummelchen!«

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman

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