Читать книгу Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 18

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Dr. Adrian Winter hob die Hand und winkte dem hochgewachsenen Mann zu, der eben den Zollbereich des Flughafens passiert hatte. Sekunden später begrüßten sich die beiden alten Freunde lebhaft und lautstark.

»Schön, dich wieder in Berlin zu haben«, sagte Adrian Winter. »Wie war der Flug?«

Markus Reinhard grinste. »Weißt du’s nicht mehr – ich kann auf Kommando einschlafen. Auch im Flieger. Also ist mir die Reise von Los Angeles bis hier nicht lang geworden.«

»Beneidenswert. Also denn… nehmen wir erst mal einen Begrüßungsschluck bei mir zu Hause.«

Dr. Reinhardt, dessen dunkelblonden Haare kurz geschnitten waren, nickte. »Auf ein deutsches Bier freu ich mich schon lange. Aber jetzt erzähl mal: Was gibt’s Neues bei dir? Als wir telefonierten, war für private Dinge ja kaum Zeit.«

Adrian Winter nickte. Er kannte Markus seit den Studientagen und wußte, welch hervorragender Chirurg er war. Als jetzt eine Stelle in der Kurfürsten-Klinik frei geworden war, hatte er spontan bei Markus angerufen und ihn gefragt, ob er nicht in die Heimat zurückkehren wolle.

Wenn ihre gemeinsame Studienzeit auch schon eine Weile zurücklag, so hatten sie doch immer Kontakt gehalten. Adrian wußte, daß der Freund eine sehr unglückliche Liebe hinter sich hatte. In Hollywood war er einer jungen Schauspielerin begegnet, die ihn verzaubert hatte. Aber sie hatte es dann vorgezogen, einem einflußreichen, aber wesentlich älteren Produzenten den Vorzug zu geben.

Markus hatte diesen Vertrauensbruch nur schwer verkraften können. Und die Aussicht, wieder einmal in der Heimat arbeiten zu können, war verlockend gewesen, vor allem, weil Adrian ihm sehr von der Kurfürsten-Klinik vorgeschwärmt hatte.

Adrian Winter, Chirug und Notfall-Mediziner an dem renommierten Berliner Krankenhaus, bewohnte ein Appartement ganz in Kliniknähe. Das war erstens praktisch, zweitens war die Wohnung relativ günstig zu haben gewesen, und drittens, es gab Frau Senftleben!

Carola Senftleben war Adrians Nachbarin. Aber sie war noch weit mehr: Vertraute, Freundin, guter Geist in allen Lebenslagen. Es war selbstverständlich, daß er ihr von Markus erzählt hatte, und sie hatte für die beiden Männer eine würzige Gulaschsuppe gekocht.

Der Topf stand vor Adrians Tür, obenauf ein Zettel: »Guten Appetit – und einen schönen Abend.« In einer Tür lagen ein Stangenbrot und drei Flaschen Rotwein.

»Das nenne ich Service«, meinte Markus Reinhardt. »Ist in diesem Haus noch eine Wohnung frei?«

Adrian lachte. »Du weißt wohl nicht, wie’s ist, wenn man in eine Hauptstadt ziehen will? Gutgeschnittene Wohnungen sind in Berlin Mangelware. Deshalb hab’ ich dir erst mal ein Klinik-Appartement organisiert. Im Schwesternhaus!«

»Wie aufmerksam von dir! Aber mein Bedarf an holder Weiblichkeit ist fürs erste gedeckt.«

Adrian nickte. »Das kann ich dir nachfühlen. Aber so war’s ja auch nicht gemeint. Im Schwesternhaus stehen immer zwei, drei kleine Wohnungen für Ärzte leer. Das hat sich schon als überaus segensreich erwiesen.«

Doch an diesem Abend blieb Markus bei seinem alten Freund. Sie aßen, tranken, erzählten von früher und den vergangenen fünf Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten.

Adrian Winter hatte inzwischen Karriere gemacht. Er leitete die Notfallabteilung der Kurfürsten-Klinik und hatte als Chirurg einen Namen, der weit über Deutschlands Grenzen hinausreichte. Einige Jahre hatte er in England gearbeitet und dort Erfahrungen gesammelt. Dann hatte er in München gelebt. Doch in Berlin waren seine Wurzeln, und als man ihm die Stellung an der Kurfürsten-Klinik anbot, hatte er zugegriffen.

Markus nickte. »Ich denke, wenn man mal eine Weile im Ausland gearbeitet hat, merkt man, daß auch dort keine Wunder geschehen. Ich habe in Los Angeles einiges gelernt, doch als mein Chef, ein ganz ausgezeichneter Operateur, sich immer mehr auf Schönheitsoperationen verlegte, verging mir die Lust an der Arbeit.«

»Plastische Chirurgie kann aber sehr befriedigend sein«, warf Adrian ein.

»Ja, wenn man Menschen, die aus irgendeinem Grund verunstaltet sind, helfen kann, wieder ein lebenswertes Dasein zu erhalten. Aber wenn du dir vorstellst, daß ein siebzehnjähriger Teenager eine neue Nase modelliert haben will, nur weil die Freundin auch eine hat…« Er schüttelte den Kopf, »tut mir leid, aber das konnte ich mit meiner Berufsehre einfach nicht mehr vereinbaren.«

Adrian Winter nickte. »Dann hoffe ich, daß dir an der Kurfürsten-Klinik wichtigere Aufgaben zufallen. Aber… da mache ich mir keine Sorgen. Die Erfahrung lehrt, daß wir rund um die Uhr gefordert sind.«

Sie tranken auch noch die dritte Flasche halb leer, dann gingen sie schlafen. Markus fielen sofort die Augen zu, doch Adrian lag noch eine Weile wach. Er dachte daran, daß es bestimmt sehr einfach sein würde, den Freund ins Team der Kurfürsten-Klinik zu integrieren.

*

Den beiden Männern, die eben die Klinikhalle durchquerten, folgte manch interessierter Blick. Nicht nur die drei jungen Schwesternschülerinnen, die sich in einer Nische über die vergangene Schicht unterhielten, waren aufmerksam geworden, auch zwei Patientinnen sahen sich diskret nach den interessanten Männern um.

Arian Winter und Markus Reinhardt merkten nichts davon, sie waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft, das sie erst beendeten, als sie die chirurgische Station erreicht hatten.

Es war noch früh am Nachmittag, und der Schichtwechsel stand noch bevor.

Schwester Claudia kam gerade aus einem Patientenzimmer, und Dr. Winter stellte ihr den neuen Mitarbeiter vor.

Claudia, die immer recht zurückhaltend war, streckte Markus lächelnd die Hand entgegen. »Willkommen hier – und viel Erfolg. Ich bin sicher, Sie werden sich hier bald einleben.«

»Danke. Wenn Sie mir ein wenig helfen…«

Es sollte nicht der Versuch eines Flirts sein, doch Claudia zuckte schon unmerklich zurück. Es war gut, daß in diesem Augenblick Oberschwester Walli über den Flur kam.

»Da bist du ja!« rief sie schon von weitem. »Ich suche dich überall, Adrian!«

»Was gibt’s denn?«

»Ein Problem in der Notaufnahme.« Schwester Walli sprach jetzt leiser, um keine Patienten aufzuregen, die der Unterhaltung eventuell zuhören konnten.

»Ich komme.« Adrian wandte sich an seinen Freund. »Das kennst du ja…«

»Klar. Und deshalb komme ich mit.« Markus Reinhard lächelte Schwester Walli kurz zu. »Ich bin der Neue.«

»Angenehm. Dann los«, kommandierte Walli, die sich auch von einem Titel nicht allzusehr beeindrucken ließ. Für sie zählten in erster Linie die Patienten – und dann kam es ihr darauf an, daß die Ärzte, mit denen sie zusammenarbeitete, exzellent waren und auf sympathische Art mit den Kranken umgingen.

Dieser Dr. Reinhardt, dessen Namen sie im Lift erfuhr, gefiel ihr. Und als sie sah, wie gut er mit den beiden Unfallpatienten umging, die vor Schmerzen stöhnten, hatte er sie rasch für sich eingenommen.

Während Dr. Reinhardt sich um die beiden jungen Männer kümmerte, die nur leichte, aber schmerzhafte Verletzungen davongetragen hatte, wandte Dr. Winter sich an eine junge, hochschwangere Frau, die leichenblaß war und deren Hände zitterten.

»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte«, murmelte sie immer wieder. »Mir war doch so gut… den ganzen Morgen über hatte ich keine Beschwerden. Und dann das…«

»Was? Bitte sagen Sie mir, was mit Ihnen los war. Nur dann kann ich Ihnen wirkungsvoll helfen.« Adrian legte seine Hand auf ihren Arm. »Sie sind – im siebten Monat?«

Die Patientin nickte. »Ja.« Auf einmal standen Tränen in ihren Augen. »Das ist doch noch nicht sehr spät. Da kann man doch noch unbesorgt mit dem Auto fahren, oder?«

Der Arzt zögerte mit der Antwort. Noch wußte er nicht, was geschehen war. Und bevor er nichts Definitives wußte, wollte er sich mit jedweder Beurteilung zurückhalten.

Fragend wandte er sich an Schwester Moni, die zum Glück gerade ins Untersuchungszimmer kam. »Alles in Ordnung«, sagte sie und lächelte der jungen Frau zu. »Sie brauchen sich keine Gedanken mehr zu machen, Frau Martens. Ich habe gerade mit den beiden Polizisten gesprochen, die Ihren Unfall protokolliert haben. Sie waren sehr verständnisvoll – beides mehrfache Väter«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Was ist denn überhaupt passiert? Kann mich mal jemand aufklären?« fragte Adrian.

»Sofort.« Moni ging zum Waschbecken und gab der Schwangeren ein Glas Wasser. Dann wandte sie sich wieder an ihren Chef. »Frau Martens ist hinter dem Lenkrad plötzlich übel geworden – sie hat die Kontrolle über den Wagen verloren und zwei Fußgänger angefahren. Die beiden haben aber, wie ich von Walli hörte, nur ein paar leichte Knochenbrüche. Irgendein Arzt versorgt sie.« Sie legte den Kopf ein bißchen schief. »Toller Typ, der Neue, hab’ ich gehört. Wenn einer so ins kalte Wasser springt…«

»Ein Routinier – und ein Könner.« Adrian wandte sich wieder der Patientin zu, die auf einmal aufstöhnte. »Mir ist so schlecht«, wimmerte sie und sprang auf.

Schwester Monika reagierte rasch. »Kommen Sie mit, gleich gegenüber ist das Bad.«

Es gelang ihr, die Patientin noch rechtzeitig in die Waschräume zu bringen. Dort half sie ihr, so gut sie es vermochte.

Frau Martens erbrach sich mehrfach heftig. Als sie später dem Arzt wieder gegenübersaß, fragte Adrian Winter ahnungsvoll: »Sagen Sie… was haben Sie in den letzten 24 Stunden gegessen?«

Hannah Martens überlegte. »Wir waren eingeladen«, sagte sie dann. »Es gab ein Buffet. Ich hab in erster Linie Fisch gegessen. In letzter Zeit hab’ ich keinen allzu großen Appetit mehr auf Fleisch. Und gestern gab’s sogar Austern.«

»Aha!« Dr. Winter nickte. »Hat jemand für die Frische der Delikatesse garantiert?« fragte er, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.

Er untersuchte Frau Martens eingehend, und schon bald war seine Diagnose erhärtet: Die Patientin hatte sich eine Fischvergiftung zugezogen. Zum Glück war sie nicht allzu schwer, doch es stand fest, daß die Übelkeit Frau Martens noch eine Weile quälen würde.

»Wenn ich das geahnt hätte…« murmelte sie. »Nie hätte ich mich ans Steuer gesetzt.«

»Wir können alle froh sein, daß es nichts Ernsteres ist«, meinte Dr. Winter. »Zur Sicherheit lasse ich Sie aber noch von meinem Kollegen Halbersett untersuchen. Er ist ein sehr erfahrener Gynäkologe und wird Ihnen sagen können, ob das Baby alles wohlbehalten überstanden hat.«

»Und die beiden jungen Männer, die ich angefahren habe?«

Schwester Monika lächelte beruhigend. »Denen geht’s ganz gut. Die haben beide einen Gips – und werden sich ein paar Tage erholen können.«

»Ich würde mich gern bei ihnen entschuldigen«, sagte Hannah Martens.

Aber Dr. Winter schüttelte den Kopf. »Ich richte gern aus, daß es Ihnen sehr leid tut. Aber erst einmal bringt Schwester Monika Sie jetzt zur Gynäkologie hoch. Wir wollen nichts riskieren.«

Ein letzter Händedruck, ein aufmunterndes Lächeln – und der Arbeitstag hatte schon mit der ersten Aufregung begonnen.

Markus kam zu seinem Freund. »Na, hast du meinen Gips begutachtet?«

»Hätte ich’s müssen?«

Markus zuckte die Schultern. »Nein, ich denke, so ein leichter Kunststoffgips wird hier wie in den Staaten gleich angelegt. Ich hab’ mir jedenfalls Mühe gegeben, die Brüche exakt einzurichten, es wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, nicht zu Komplikationen kommen.

Adrian Winter legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dann komm mit, ich zeige dir den Weg zur Verwaltung. In dieser Hinsicht sind wir Deutschen unschlagbar – wichtiger als der beste Chirurg ist in einer Klinik immer noch der Verwaltungsdirektor.«

Doch sein Freund lachte nur. »Das ist drüben ganz genauso. Der Dollar muß rollen. Und die Mark auch.«

»Du sagst es. Aber ich werd’ mich nie dran gewöhnen!«

Draußen erklang Sirenengeheul, und im Büro klingelte das Telefon.

»Mach, daß du losgehst, sonst bist du gleich im nächsten Fall drin«, meinte Adrian. »Ich denke, für einen Tag schaffen wir’s auch ohne dich.«

*

»Herr Doktor Winter!« Bea, die junge Lernschwester, hielt Adrian auf, als er gerade zum Mittagessen gehen wollte. »Könnten Sie kurz nach einer neuen Patientin sehen?«

Im ersten Moment war Adrian versucht, auf den diensthabenden Kollegen zu verweisen, aber Bea machte ein so ernstes und besorgtes Gesicht, daß er nur nickte. »Wo?« erkundigte er sich knapp.

»Gleich vorn in der Halle. Sie hat mir gesagt, daß sie in die Notaufnahme hätte gehen wollen, doch sie hat’s einfach nicht mehr geschafft. Ich wollte eben Hilfe holen, als ich Sie sah.«

Bea begleitete ihre Worte mit einem treuherzigen Augenaufschlag. So keß sie normalerweise war – wenn Patienten in Not waren, konnte Bea sanft wie ein Lamm sein. Sie half, wo sie konnte und tat weit mehr als ihre Pflicht.

Adrian hatte das sehr rasch erkannt und ahnte, daß sie einmal ein sehr wertvolles Mitglied seines Teams werden würde.

Als er die großzügig angelegte Eingangshalle der Kurfürsten-Klinik betrat, wies die junge Pflegerin auf eine dunkelhaarige Frau, die in einem der tiefen Sessel saß. »Da… so sitzt sie schon die ganze Zeit.«

Dr. Winter war mit wenigen Schritten bei ihr. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte er. »Mein Name ist Winter – Dr. Winter. Ich leite die Notaufnahme dieser Klinik.«

Sie hob den Kopf, und schon an ihrer Miene konnte man erkennen, daß sie Schmerzen hatte.

»Bitte, sagen Sie mir, was los ist«, drängte Adrian Winter.

Die Frau, deren Alter der Arzt auf etwa vierzig Jahre schätzte, hob mühsam den Kopf. »Mir ist schlecht«, stieß sie hervor.

»Haben Sie Schmerzen?«

»Ja… Ich… Ich kann nicht mehr. Bitte, helfen Sie mir!« Sie preßte die Arme auf den Leib und sah aus, als wolle sie jeden Augenblick schlapp machen.

Dr. Winter sah sich nach Hilfe um. Die Frau mußte sofort gründlich untersucht werden. Keine Schwester war zu sehen. Also bat er Bea: »Holen Sie eine Trage – und nehmen Sie noch eine Kollegin mit. Die Patientin muß sofort in die Notaufnahme«.

Bea eilte davon, und Adrian Winter wandte sich wieder an die Kranke: »Sagen Sie… kennen wir uns nicht? Irgendwie habe ich das Gefühl, daß wir uns kürzlich schon mal irgendwo getroffen haben.«

Sie nickte. »Ja. Sie haben vor einigen Wochen meine Vernissage besucht.«

»Stimmt!« Er schlug sich kurz gegen die Stirn. »Wie konnte ich das vergessen. Sie sind diese tolle Malerin, von der ich so gerne ein Bild gehabt hätte. Aber… die Preise waren leider für einen kleinen Krankenhausarzt unerschwinglich.« Er lächelte, um diesen Worten die Ernsthaftigkeit zu nehmen.

Carola konnte nur kurz die Lippen verziehen. »Mir ist so schlecht, Herr Doktor«, gestand sie. »Können Sie mir nicht irgendwas geben? Eine Spritze oder…«

Er schüttelte den Kopf. »Wir sollten schon exakt herausfinden, woher Ihre Beschwerden resultieren. Warten Sie, da ist schon Hilfe.«

Er stützte die Patientin, als sie aufstand, und half auch mit, sie auf eine Trage zu betten, die er zusammen mit Bea und einer anderen jungen Pflegerin in die Notaufnahme rollte.

Hier herrschte zur Zeit nur mäßiger Betrieb. In Kabine eins lag eine Frau, die einen Schwächeanfall erlitten hatte, die aber nach einer kreislaufstützenden Injektion schon wieder wohlauf war, sich nur noch einige Minuten ausruhte.

Kabine zwei war von einem kleinen Jungen besetzt, der beim Skaten gestürzt war. Dr. Schäfer kümmerte sich um die große Platzwunde am Knie, die sorgfältig gesäubert und mit ein paar Klammern zusammengehalten werden mußte.

Als Adrian kurz zu ihm hereinschaute, meinte er nur: »Wolltest du nicht einen Happen essen gehen?«

»Gewollt hätte ich schon – leider kam mir ein Notfall dazwischen. Ich bin dann gleich in der Vier.«

»In Ordnung. Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst, der junge Mann und ich sind gleich fertig. Ich werde ihm nur noch einen supercoolen Verband verpassen.«

Der dunkelhaarige Patient versuchte sich an einem überlegenen Grinsen, doch er konnte nicht verhindern, daß seine Mundwinkel gefährlich zitterten, als Bernd Schäfer jetzt die letzten zwei Klammern setzte.

Adrian wandte sich zu Kabine vier, wo jetzt Frau Trautmann schon auf dem Untersuchungstisch lag. Bea hatte ihr die Schuhe ausgezogen und ihr auch das lange Chiffontuch abgenommen, das den Arzt sonst behindert hätte.

»Seit wann geht’s Ihnen denn ganz schlecht, Frau Trautmann?« wollte der Arzt wissen.

»Angefangen hat’s ehrlich gesagt, schon in der Nacht«, gestand die Patientin. »Aber da habe ich der Sache noch keine allzu große Bedeutung beigemessen. Wir waren nämlich am Abend aus, und ich habe ein bißchen mehr gegessen als gut für mich war.«

Dr. Winter nickte nur. Während sie sprach, hatte er eine ernste Untersuchung vorgenommen. Und was er feststellen mußte, gefiel ihm gar nicht. Der Puls jagte, die Haut war blaß und kühl.

»Ich muß eingestehen, das die Untersuchung, die ich gleich vornehmen werde, ein bißchen schmerzhaft werden wird«, sagte er und schob ihre Seidenbluse noch ein wenig höher.

Aus angsterfüllten Augen sah die Patientin ihn an. »Was vermuten Sie?«

Er winkte ab. »Erst will ich ganz sicher sein. Ein bißchen Geduld noch, Frau Trautmann.«

Er tastete den Bauchbereich nochmals genauer ab, drückte im Nabelbereich fester zu – und fand die erste Feststellung bestätigt: Im Bereich des linken Nabelfeldes war eine deutlich tastbare walzenförmige Verdickung festzustellen.

»Das sieht mir ganz nach einem Darmverschluß aus«, sagte Dr. Winter.

Erschrocken sah die Kranke ihn an. »Muß ich operiert werden?« fragte sie.

»Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit. Mit so einem Darmverschluß ist nicht zu spaßen. Und da Sie sagten, Sie hätten schon seit der Nacht Beschwerden… ich denke, wir sollten nicht zögern.« Noch einmal tastete er konzentriert die betroffen Stelle ab, und nun war er sich seiner Sache ganz sicher: Hier lag ein massiver Verschluß vor, und je eher man operierte, um so besser für die Patientin.

»Sie sagten, daß Sie gestern gut gegessen haben. Wie war heute Ihr Frühstück?«

»Das ist ausgefallen«, sagte Frau Trautmann, und ihre Stimme wurde immer schwächer. »Mir war einfach nicht danach. Ich… Oh, mein Gott, mir wird schlecht.«

Jetzt zögerte Adrian nicht länger. »Bernd!« rief er.

Dr. Schäfer war wenig später neben ihm. »Bist du fertig mit dem Jungen?« wollte Dr. Winter wissen.

»Gerade eben hat ihn die Muttter abgeholt.«

»Prima. Dann sei so gut und kümmere dich persönlich um Frau Trautmann. Darmverschluß. Ich telefoniere mit dem diensthabenden Kollegen von der Chirurgie. Sie sollte so rasch wie möglich in den OP.«

»Geht schon klar.« Bernd Schäfer legte der Malerin beruhigend die Hand auf den Arm. »Vertrauen Sie sich mir ruhig an«, meinte er mit jenem gutmütigem Lächeln, das ihm stets alle Herzen gewann. »Ich habe bei Dr. Winter gelernt – das meiste jedenfalls. Und unser diensthabender Chirurg ist schon ein Ass.«

»Könnten Sie nicht selbst operieren, Herr Dr. Winter?« Bittend sah Frau Trautmann zu Adrian hin.

Doch der schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich hab’ Dienst hier unten in der Notaufnahme. Aber seien Sie unbesorgt, ich weiß, daß Sie bei den Kollegen in den besten Händen sind.«

Sie nickte nur. Eine neue Schmerzwelle überrollte sie, und nahm ihr jede Möglichkeit, noch Einwände zu erheben. Sie hatte nur noch einen Wunsch: daß dies alles so schnell wie möglich zu Ende war!

Adrian Winter sah ihr nach, als sie hinausgerollt wurde. Sie hatte Glück im Unglück gehabt – ein zu lange verschleppter Darmverschluß konnte wirklich üble Konsequenzen nach sich ziehen.

Bedauernd sah der Arzt auf die Uhr. Schade, für ein warmes Mittagessen war’s jetzt zu spät. Blieb also wieder nur ein Snack – und die Hoffnung, daß die liebenswerte Frau Senftleben ein bißchen was für ihn mitgekocht hatte…

*

Es regnete in Strömen, als Dr. Markus Reinhardt seinen ersten Nachtdienst beendete.

Er war jetzt schon seit drei Wochen an der Kurfürsten-Klinik, und hatte sich schon gut eingelebt.

Vor allem mit Schwester Walli verstand er sich hervorragend. Die patente Oberschwester, die ihren bayrischen Heimatdialekt immer noch nicht ganz abgelegt hatte, war ihm sehr sympathisch. Doch inzwischen wußte er schon, daß sie der Liebe wegen ihre Heimat verlassen hatte. Ihr Freund lebte in Berlin, und um ihm nahe sein zu können, war auch sie in die Hauptstadt gezogen.

Walli war ausgesprochen panikstabil, das hatte sich erst gestern wieder gezeigt, als gegen Abend ein Mann eingeliefert worden war, der sich mit der Säge drei Finger abgetrennt hatte.

Walli hatte die Nerven behalten, sofort nach den abgetrennten Fingergliedern gefragt und dafür gesorgt, daß sie, die man natürlich am Unfallort vergessen hatte, so rasch wie möglich in die Klinik geschafft wurden.

Dr. Winter versorgte die Wunde, reinigte, desinfizierte – und stabilisierte den Kreislauf des hühnenhaften Patienten, der ganz offensichtlich kein Blut sehen konnte. Sein eigenes schon gar nicht, denn sobald er sich seine Hand ansah, seufzte er – und wurde für Sekunden ohnmächtig.

»Wir legen ihn richtig schlafen«, befahl Dr. Winter schließlich und ließ den Mann in den OP bringen, wo ihm Dr. Roloff, der Chefanästesist, eine Narkose verabreichte.

Während der Patient schlief, wurde seine Hand behandelt, und als endlich die Fingerglieder eintrafen, konnten die Chirurgen darangehen, sie wieder anzunähen. Es war ein sehr schwieriges Unterfangen, all die feinen Sehnen und Nerven miteinander zu verbinden, und Dr. Winter mußte mehrmals seinen schmerzenden Rücken strecken, ehe er zufrieden vom OP-Tisch zurücktreten konnte.

Markus Reinhardt hatte assistiert, und Adrian war froh, als der Freund jetzt die letzten Nähte legte und er selbst sich ein wenig ausruhen konnte.

Oberschwester Walli hatte den beiden Ärzten assistiert, da gerade mal wieder Personalmangel im OP-Team herrschte. Sie hatte zwar schon dienstfrei, aber da ihr Freund zur Zeit auf einer Weiterbildung war, machte sie klaglos ein paar Überstunden.

»Kann ich Sie nach Hause fahren?« bot Markus an, als er zusammen mit Walli aus der Klinik kam.

»Sie wohnen doch nur um die Ecke«, lachte sie.

»Aber ich habe seit vorgestern ein Auto – und Sie nicht, wie ich weiß. Also… mein Angebot gilt und ist sehr ehrenhaft gemeint.«

»Dann nehme ich an.«

Es regnete inzwischen noch heftiger, und gemeinsam liefen sie zum Parkplatz, wo Dr. Reinhardts neue Limousine stand. Walli wohnte etwa eine Viertelstunde von der Klinik entfernt, und wenn Markus Reinhardt sich nicht an einer Großbaustelle verfahren hätte, wären sie wohl nicht in der wenig ansprechenden Gegend gelandet, durch die sie plötzlich fuhren.

»Sie wären besser umgekehrt, als ich es Ihnen gesagt habe«, meinte Walli.

»Sie haben ja recht. Aber früher konnte man hier abkürzen.«

»Früher!« Walli lachte. »Seit Berlin völlig umgebaut wird, ist nichts mehr so, wie es mal war.«

Dem konnte er nur zustimmen. Und noch während er überlegte, wie er am besten wenden könnte, sah er auf einmal einen Mann, der unverhofft auf die Straße lief und wild gestikulierend auf sich aufmerksam machte.

Markus stoppte den Wagen und stieg aus. »Was ist denn passiert?« fragte er. »Um ein Haar hätte ich Sie nicht gesehen und überfahren.«

Erst jetzt bemerkte der junge Arzt, daß sie sich in einer Gegend befanden, in der die Menschen zu Hause waren, die vom Glanz der Großstadt nichts abbekommen hatten: Kleinkriminelle, Asoziale, Drogenabhängige – aber auch solche, die unverschuldet in Not geraten waren und nun mit einem Zuhause vorlieb nehmen mußten, das alles andere als menschenwürdig zu nennen war.

Auch der Mann, der sie aufgehalten hatte, wirkte recht ungepflegt und nicht gerade vertrauenerweckend. Dr. Reinhardt sah das schmale Gesicht, den brennenden Blick, die hageren Hände, die sich ihm jetzt hilfesuchend entgegenstreckten.

»Sie müssen uns helfen«, stieß der fremde Mann hervor. »Bitte, kommen Sie mit.«

»Wohin?«

Der junge Mann zuckte die Schultern. »Es ist nicht weit von hier. Der Straßenname würde Ihnen ja doch nichts sagen…«

»Aber ich kann meinen Wagen nicht einfach hier stehenlassen«, wandte Markus Reinhardt nochmals ein.

»Dann fahren Sie dort in die kleine Nebenstraße hinein.«

Walli steckte den Kopf aus dem Fenster. »Was ist los?« fragte sie. »Kann ich irgendwie helfen?«

Es war eine finstere Gegend. Ein paar dunkle Gestalten huschten über die Straße, in einem Haus hörte man lautes Geschrei, und in der Garageneinfahrt, die sie eben passierten, lungerten drei nicht sehr vertrauenerweckende Gestalten herum.

Dr. Reinhardt zögerte, dann meinte er. »Kommen Sie ruhig mit, Schwester Walli, vielleicht können Sie auch noch helfen.«

Während er kurz stehenblieb und wartete, daß Walli zu ihnen kam, dachte er, daß es wahrscheinlich besser sei, die junge Frau in der Nähe zu haben.

Gemeinsam mit dem jungen Mann, der immer wieder trocken hustete, erreichten sie nun ein altes, schon fast baufälliges Haus, das völlig dunkel war.

»Hier ist es«, meinte der Fremde. »Kommen Sie mit, Rita liegt im ersten Stock…«

Noch einmal zögerte Markus Reinhardt, dann kletterte er hinter dem Jungen die Treppe hoch.

»Sorry, aber Licht gibt’s hier schon lange nicht mehr«, sagte der junge Mann. Noch während er es sagte, ließ er ein Feuerzeug aufflammen, und Walli und der Arzt sahen, daß er noch ein ganz weiches, fast kindliches Gesicht hatte. Nur die Augen, die waren die eines Erwachsenen, der schon viel zuviel Leid und Elend gesehen hat.

»Hast ja jemanden gefunden, der uns helfen kann?« Plötzlich stand ein Mädchen mit langen blonden Haaren vor ihnen. »Ich… ich hab’ solche Angst. Vielleicht ist Rita schon tot.«

»Sag doch so was bitte nicht«, herrschte der junge Mann sie an. »Wo ist Oliver?«

»Bei ihr…«

»Und das Kind?«

»Keine Ahnung. Rita atmet nicht mehr. Glaub ich jedenfalls.«

Plötzlich war Dr. Reinhard in höchstem Maße alarmiert.

»Wovon sprechen Sie? Eventuell von einer Schwangeren, die kurz vor der Entbindung steht? Um Himmels willen, warum haben Sie nicht den Notarzt gerufen?«

»Sie sind vielleicht naiv?« sagte der junge Mann, der sie angesprochen hatte, leise. Dann ging er vorsichtig auf ein Zimmer zu, das völlig im Dunkeln lag. Nur in der hintersten Ecke brannten drei Kerzen und warfen zuckendes Licht auf ein schmutziges Matratzenlager.

Zusammengekauert lag eine Gestalt auf dem provisorischen Bett.

Erst als er sich tief über die junge Frau beugte, sah Markus Reinhardt die Spritze, die noch im Arm steckte. Auf dem ehemals hellen Laken waren Blutflecken, und der Arzt sah nun auch den hochgewölbten Leib der Frau.

»Ihr Gesicht war von schweißnassem Haar verdeckt, und auf den ersten Blick sah es wirklich so aus, als sei die junge Frau schon tot.

»Rita…!« Dr. Reinhardt versuchte sie behutsam umzudrehen, und der junge Mann, der neben der Matratze hockte und offenbar Oliver hieß, half ihm dabei.

Jetzt konnte der Arzt die zarten Gesichtszüge erkennen, und ein Schauer lief über seinen Rücken. Die junge Frau mußte einmal wunderschön gewesen sein mit ihrem blonden Haar und den braunschwarzen Augen, die ihn urplötzlich ansahen. Schmerz und Verzweiflung las der Arzt darin – und Angst! Schwester Walli, die stets Praktische, meinte: »Los, hol einer einen Notarztwagen. Wo ist hier ein Telefon?«

»Keine Ahnung. Von uns hat niemand eins«, antwortete das junge Mädchen.

»Gibt’s heißes Wasser?«

»Nö. Warum?«

Walli seufzte auf. Fragend sah sie Dr. Reinhard an, der versuchte, die junge Frau, so gut es ging, zu untersuchen.

Sie stöhnte auf, als er sie bewegte, und mit Entsetzen sah der Arzt, daß ihre Arme voller Einstichstellen waren.

Entschlossen richtete er sich auf. »Sie muß in die Klinik. Schwester Walli, wir fahren sie selbst hin.« Er wandte sich an die jungen Leute, die ihm verstört und ängstlich zusahen. »Ich bin Arzt, aber ich kann hier gar nichts für Ihre Freundin tun. Wann soll das Kind kommen? Weiß das jemand?«

»In drei Tagen«, antwortete das junge Mädchen. »Aber schon heute morgen bekam Rita Wehen, da hat sie sich eben hingelegt.«

Walli verdrehte nur die Augen, und Dr. Reinhardt schüttelte den Kopf über so viel Unvernunft. Aber was konnte man von diesen jungen Menschen, die völlig die Orientierung im Leben verloren hatten, schon erwarten?

Entschlossen hob er die Hochschwangere auf. Walli half ihm nach Kräften, und die beiden jungen Männer sahen ihm lethargisch zu, als er mit der Kranken, die trotz ihres Zustands ein Fliegengewicht war, das Haus verließ.

Es war für den Arzt nicht allzu schwer, die Schwangere zu seinem Wagen zu tragen. Mit Schwester Wallis Hilfe bettete er sie auf den Rücksitz, dann fuhr er, so schnell es die Straßenverhältnisse erlaubten, zurück zur Kurfürsten-Klinik.

»Das war dann wohl nichts mit unserem Feierabend«, meinte die Oberschwester lakonisch, als sie vor der Ambulanz hielten. »Sie können doch heimgehen«, meinte Markus Reinhardt. »Der Notdienst wird sich um die junge Frau kümmern.«

»Aha.« Walli stemmte die Hände in die Seiten. »Gehen Sie auch heim?«

»Nein, ich…«

»Ich auch«, fiel sie ihm ins Wort. »Denken Sie, ich kann mich zu Hause in Ruhe auf die Couch setzen, wenn ich weiß, daß hier eine junge Frau um ihr Leben kämpft? Irgendwie fühle ich mich für sie mitverantwortlich.«

Markus wollte es sich nicht eingestehen, doch ihm ging es ganz ähnlich. Auch ihm wäre es unmöglich gewesen, die junge Frau einem der Kollegen zu überlassen.

Daß ein langer, anstrengender Tag hinter ihm lag, spürte er jetzt nicht mehr. All sein Interesse galt der jungen Frau, die mit jeder Sekunde, die verstrich, schwächer wurde.

*

Carola Senftleben, Dr. Winters liebenswerte Nachbarin, schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Sie ruinieren sich noch Ihre Gesundheit«, schimpfte sie. »Als Arzt sollten Sie doch besser als ich wissen, wie ungesund es ist, das Essen so hinunterzuschlingen.«

Dr. Adrian Winter lächelte sie um Entschuldigung bittend an. »Sie haben ja recht, Frau Senftleben. Aber… ich hab’ einfach verschlafen. Das hätte nicht passieren dürfen. Der Nachtdienst ist sowieso nicht allzu stark besetzt, und wenn ich jetzt noch zu spät komme…«

»Was nützt es, wenn Sie vor Schwäche zusammenklappen?« Sie zog ihm den Teller weg und stellte ein Dessertschälchen auf den Tisch. »Wenigstens noch ein paar Löffel Obstsalat«, bestimmte sie.

Adrian Winter schüttelte den Kopf. »Niemand ist auf so liebevolle Weise tyrannisch wie Sie«, meinte er – und schob gleich darauf genußvoll den ersten Bissen in den Mund.

Immer wieder dankte er dem Schicksal für diese Nachbarin. Carola Senftleben war mit ihren 66 Jahren noch sehr vital und fit. Als Schneidermeisterin hatte sie es zu Wohlstand gebracht, doch sie beschränkte sich auf ein, zwei große Reisen im Jahr und darauf, ihr schönes Heim zu genießen.

Besonders gefiel ihr an ihrer Wohnung, daß sie einen so attraktiven und liebenswerten Nachbarn hatte – Adrian Winter nämlich. Ihn hatte Carola Senftleben, die nie geheiratet hatte und keine Verwandten besaß, in ihr Herz geschlossen.

Es war ihr eine Freude, mit ihm zu reden, ihn hin und wieder zu bekochen – und ein wenig Anteil an seinem Leben haben zu dürfen.

Als er jetzt auf die Uhr schaute, seufzte sie leise auf. »Los, raus mit Ihnen. Ich weiß doch, daß Sie keine Ruhe mehr haben. Von dem neuen Kollegen erzählen Sie mir ein andermal mehr, ja?«

»Klar doch.« Adrian war schon an der Tür. »Danke nochmals für alles – es war köstlich wie immer. Gute Nacht.«

»Gute Nacht –. Und hoffentlich haben Sie nicht allzu großen Streß.«

Die Worte hörte der junge Arzt jedoch nicht mehr. Er war schon an seiner Wohnungstür. Ein Glück, daß er schon fertig war für den Nachtdienst. Er mußte nur noch seine Jacke nehmen und die Tasche. Vielleicht noch den neuen Bestseller… es könnte ja sein, daß es ganz ruhig war heute.

Aber das war, wie er aus Erfahrung wußte, eine ziemlich unsinnige Hoffnung. Berlin bei Nacht… das war Aktivität und pulsierendes Leben in jeder Minute, jeder Sekunde.

Als er eine Viertelstunde später in die Klinik kam, herrschte in der Ambulanz relative Ruhe, und auch ein kurzer Kontrollgang auf der chirurgischen Station verlief ohne besondere Vorkommnisse.

Schwester Claudia hatte wieder zusammen mit ihm Dienst, das war höchst erfreulich. Er schätzte die ruhige, kompetente Pflegerin sehr. Claudia war dunkelblond, wirkte sanft und immer höchst zurückhaltend. Doch wer glaubte, sie könne sich nicht durchsetzen, der irrte. Gerade weil sie nie die Beherrschung verlor, weil sie mit ihrer Ruhe Souveränität bewies, hatten alle Achtung vor ihr.

Als er das Schwesternzimmer betrat, um sich einen Kaffee zu holen, lächelte Claudia ihm entgegen. »Das verspricht eine ruhige Nacht zu werden«, sagte sie.

»Beschreien Sie’s nur nicht. Aus Erfahrung weiß ich, daß es nach Mitternacht besonders hektisch wird, wenn der Beginn eines Nachtdienstes sehr ruhig war.«

Claudia nahm sich auch einen Kaffee. »Das ist mir noch nie aufgefallen«, meinte sie.

»Sie sind ja auch viel jünger als…«

Ein Alarmruf unterbrach ihn mitten im Satz. »Dr. Winter, bitte in die Notaufnahme. Herr Dr. Winter… bitte rasch in die Notaufnahme.«

»Bin ja schon unterwegs«, murmelte er und stürmte aus dem Zimmer. Claudia, die ihm folgen wollte, kam kaum mit.

In der Ambulanz war es recht ruhig, abgesehen von den beiden Schwestern und einem Pfleger, die sich um die neue Patientin kümmerten, die eben eingeliefert worden war.

Als Adrian Winter sah, wer die junge Frau hergebracht hatte, schüttelte er leicht den Kopf. »Ich denke, du hast schon eine Weile frei?«

Markus Reinhardt nickte. »Stimmt. Aber manchmal schickt einem das Schicksal einen Umweg.«

»Und Schwester Walli wohl auch«, fügte Adrian ironisch hinzu.

»Ich wollte sie heimfahren, verpaßte eine Abfahrt – und war mitten in einem Drama.«

Schnell schilderte der Arzt, was er bislang über die junge Frau wußte, die inzwischen ganz ohne Bewußtsein war und von den Schwestern soeben entkleidet wurde, damit man sie besser untersuchen konnte.

»Die Sachen sehen schrecklich aus. So was von verschmutzt…« Schwester Traudl war erst seit wenigen Wochen im Dienst und hatte noch nicht allzuviel gesehen.

Walli lächelte knapp. »Wart’s nur ab, in zwei, drei Jahren erschüttert dich nichts mehr«, meinte sie.

Traudl, dunkelhaarig und ein wenig pausbäckig, sah zwar zweifelnd drein, doch sie half weiter mit, die Schwangere zu versorgen.

Dr.Winter trat an das Untersuchungsbett. »Sie ist hochgradig süchtig, was?«

»Mit Sicherheit. Wenn du gesehen hättest, wie sie und ihre Freunde leben…« Markus Reinhardt seufzte. »Es ist wirklich eine menschenunwürdige Behausung. Und dann bekommt so eine Frau auch noch ein Baby.«

Dr. Winter hatte sich inzwischen darangemacht, die Herztöne des Ungeborenen zu kontrollieren. Was er feststellte, gab zu höchster Sorge Anlaß.

»Ist ein Gynäkologe im Haus?« fragte er.

Schwester Claudia verneinte. »Leider nicht. Soll ich Dr. Halberstett anrufen?«

»Ich denke, es wäre besser. Und einen Kinderarzt brauchen wir auch. Das Baby ist bestimmt geschädigt.«

»Die Zeit der Wunder ist vorbei, wußtest du das noch nicht, Adrian?« Schwester Walli hatte sich inzwischen auch einen Kittel genommen und half, so gut sie konnte. »Wo sollen wir jetzt einen Kinderarzt auftreiben?«

»Meine Schwester… ruf sie an!« bestimmte Adrian Winter. Er gab Esthers Telefonnummer durch.

Lernschwester Traudl übernahm es, die Ärztin anzurufen, während Dr.Reinhardt mit dem Kollegen Halberstett telefonierte.

Seine Frau Carmen, eine gebürtige Spanierin, war am Apparat. Als sie erfuhr, worum es ging, sagte sie: »Mein Mann kommt sofort. Kann ich was tun?«

»Danke, nein. Aber es ist nett, daß Sie’s angeboten haben.«

Markus Reinhardt kannte Carmen Halberstett zwar noch nicht persönlich, aber er hatte bereits von Adrian Winter gehört, daß sie ganz besonders sympathisch war.

»Verflixt, sie geht uns weg!« Schwester Wallis Stimme alarmierte alle, die im Raum waren.

Dr. Winter kontrollierte Puls und Atmung der Patientin. Beides war kaum noch meßbar. Auch die Herztöne des Babys waren immer schwächer geworden.

»Wir können nicht warten«, stieß Dr. Winter hervor, »wir müssen sofort mit einem Kaiserschnitt anfangen. Ist ein OP-Team bereit?«

»Nur eine Notfall-Mannschaft«, erwiderte Schwester Claudia.

»Das genügt. Ich operiere selbst. Hoffentlich ist Halberstett bald da.«

Er bekam keine Antwort, hatte auch keine erwartet. Alle konzentrierten sich jetzt darauf, das Leben von Mutter und Kind zu retten.

Die Maschinerie, oft erprobt, lief an. Der OP war bereit, und Adrian atmete ein wenig auf, als er sah, daß Dr. Roloff, der Chefanästhesist, Dienst hatte. Der Zustand der jungen Frau, die bereits auf dem OP-Tisch lag, war höchst kritisch, ihre Kreislaufwerte waren katastrophal – es rächte sich jetzt, daß sie ihren Körper so lange Zeit mit Drogen geschwächt hatte.

»Ich fange an«, erklärte Dr. Winter und ließ sich das erste Skalpell reichen.

Immer wieder wurden die Instrumente kontrolliert, und kaum hatte Dr. Winter die Plazenta freigelegt, meldete der Anästhesist:

»Ihr solltet euch beeilen, ich hab’ kaum noch meßbare Hirnströme. Und der Puls ist so flach…«

»Ich brauche noch ein paar Minuten«, stieß Dr. Winter hervor.

»Wann kommt dann Halberstett endlich?«

»Ist schon im Vorbereitungsraum.«

»Gott sei Dank! Steht ein Inkubator bereit?«

»Ja. Und Ihre Schwester ist auch schon auf dem Weg hierher«, meldete eine nicht sterile Schwester, die in der Nähe der Schleusentür stand, die zum Vorbereitungsraum führte.

Adrian Winter atmete erleichtert auf. Er ahnte, daß es ihnen nicht gelingen würde, die junge Mutter zu retten. Aber er wollte alles in seiner Macht Stehende tun, um auch ihr Leben zu erhalten.

Endlich trat der Gynäkologe neben ihn, und gemeinsam führten sie die Section zu Ende durch.

Es war bedrückend still im OP, nur hin und wieder sprachen die Operateure kurz miteinander, ihre Stimmen klangen gedämpft durch den Mundschutz.

»Jetzt – ich eröffne!« Dr. Halberstett durchtrennte die dünne Wand der Gebärmutter.

Ein Schwall von Fruchtwasser kam ihnen entgegen. Dr. Halberstett griff in den Gebärmutterkörper und hob das Baby heraus. Es war klein, sah aber auf den ersten Blick recht gesund aus.

Während es abgenabelt wurde und sich der Gynäkologe und eine Schwester um das Neugeborene bemühten, kümmerte sich Dr. Winter um die Mutter.

Es ging ihr schlecht, und der Narkosearzt machte ein ernstes Gesicht. Dennoch kämpfte Adrian Winter unverdrossen weiter. Als das Herz aussetzte, machte er Direktmassage, er gab eine Injektion direkt in den Herzmuskel, der leise die letzten Werte durchgab.

»Keine Herzkontraktion«, meldete er plötzlich. »Die EKG-Wellen werden schwächer. Ich versuche noch…«

Adrian Winter hörte ihm nicht mehr zu. Mit Verbissenheit versuchte er eine Herzmassage, und in Gedanken sprach er zu der jungen Frau.

»Halt durch! Du mußt doch leben – für dein Baby! Komm, kämpf gemeinsam mit mir! Dann schaffen wir es bestimmt!«

Er spürte, daß ihm jemand eine Hand auf die Schulter legte. »Laß es gut sein«, sagte Dr. Roloff, und erst jetzt fiel Adrian auf, daß der Anästhesist schon die Geräte abgeschaltet hatte. »Sie hat’s nicht gepackt. Es wäre auch ein Wunder gewesen. Und – wer weiß – vielleicht war’s auch besser so.«

Adrian schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, es ist nie gut, wenn ein so junger Mensch sterben muß. Warum nur…«

Der ältere Kollege zuckte die Schultern. »Das werden wir wohl nicht erfahren. Aber jetzt komm mit und kümmere dich um das Baby. Deine Schwester ist eben eingetroffen.«

Als er hörte, daß Esther da war, glitt ein kleines, müdes Lächeln über Adrian Winters Gesicht. Esther arbeitete als Kinderärztin an der berühmten Charié, wenn jemand dem Neugeborenen helfen konnte, dann nur sie, davon war er überzeugt.

Mit einer langsamen Bewegung, in der all seine Resignation lag, zog er sich den Mundschutz ab und ging in den kleinen Nebenraum, wo sich Dr. Esther Berger und zwei Schwestern um das kleine Mädchen bemühten, das viel zu zart war, um schon allein und ohne Hilfe überleben zu können.

»Wie gut, daß du gekommen bist.« Adrian beugte sich zu Esther hinunter und küßte sie kurz auf die Wange. »Wie sieht’s aus, hat die Kleine eine Chance?«

Esther zuckte die Schultern. »Kann ich jetzt noch nicht sagen. Sie ist winzig, aber Mädchen sind immer zäher als Jungs. Aber… ich befürchte, daß sie süchtig ist – wie ihre Mutter.«

»Das hab’ ich auch befürchtet. Armes Dingelchen. Da kommen schlimme Zeiten auf den Winzling zu.«

Esther antwortete nicht mehr, sie konzentrierte sich ganz darauf, das Baby zu untersuchen.

Nach einer Weile richtete sie sich auf und sagte: »An und für sich ist die Kleine erfreulich gesund – bis auf ihre Rauschgiftabhängigkeit. Wir müssen einen Entzug mit ihr machen, so grausam es auch ist.«

»Wie lange wird das dauern?« wollte Adrian Winter wissen.

»Erfahrungsgemäß ein paar Wochen – wenn keine Komplikationen eintreten. Soll ich das Baby mitnehmen in die Charitè?« Fragend sah sie ihren Bruder an.

Dr. Winter schüttelte den Kopf. »Mir wär’s lieber, wir könnten sie hierbehalten. Ist das zu verantworten?«

Esther lächelte. »Aber ja. Schließlich gibt’s hier auch hervorragende Ärzte. Und falls ihr mich braucht – ein Anruf genügt.«

»Danke.« Adrian Winter zog seine Schwester kurz an sich, dann beugte er sich über das Baby. »Wie niedlich sie ist…«

»Ich fühle mich irgendwie für sie verantwortlich«, sagte Dr. Reinhardt, der eben vom OP-Tisch zurückgetreten war, wo er eine abschließende Untersuchung der jungen Mutter vorgenommen hatte. Sie war völlig ausgemergelt gewesen, viel zu schwach im Grunde, um eine Schwangerschaft durchzustehen. Außerdem hatte ihr Herz Schaden genommen durch den hohen Drogenkonsum.

»Sie fühlen sich verantwortlich?« Esther sah den Kollegen, den sie noch nicht kannte, fragend an. »Warum?«

Markus zuckte die Schultern. »Ich weiß es auch nicht so genau. Vielleicht, weil ich ihre Mutter gefunden habe… Oder weil ich mal eine Frau kannte, die so aussah.« Er schüttelte über sich selbst den Kopf. »Das ist natürlich Unsinn. Ich meine, so, wie die Mutter unseres Babys in ihren besseren Zeiten ausgesehen haben muß… blond und zierlich. Ein Typ, den man immerzu beschützen möchte.«

»Romantiker«, sagte Adrian Winter leise.

Markus lächelte ein bißchen wehmütig.

»Vielleicht… Aber jetzt sagt: Was machen wir mit der Kleinen?«

»Sie kommt gleich in den Inkubator und dann auf die Säuglingsstation. Ihr habt doch hier speziell geschultes Personal?« Fragend sah Esther Berger ihren Bruder an.

»Aber ja. Die Kurfürsten-Klinik ist bestens ausgestattet – personell und auch technisch. Übrigens… personell gibt’s einen Neuzugang: ich darf dir Dr. Markus Reinhardt vorstellen, einen alten Freund aus Studientagen.«

Esther lächelte. »Dem Namen nach kenne ich Sie schon. Darf ich Markus sagen?« Sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Esther und, wie Sie bestimmt schon wissen, die kleine Schwester dieses Starchirurgen.«

Die beiden Männer grinsten. »Sie hat dich durchschaut«, meinte Markus.

»Klar. Sie ist die Intelligentere von uns beiden. Aber jetzt Schluß hier. Ihr solltet heimfahren und versuchen, noch eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Ich kümmere mich um das Baby.«

Esther und Markus widersprachen nicht. Beide hatten einen langen, arbeitsreichen Tag hinter sich, und als sie nun gemeinsam die Kurfürsten-Klinik verließen, stellten sie fest, daß es schon auf Mitternacht zuging.

»Wir sehen uns bestimmt bald mal wieder.« Esther gab dem Kollegen die Hand. »Gute Nacht, Markus.«

»Gute Nacht, Esther. Schön, Sie kennengelernt zu haben.«

Sie winkte nur, dann eilte sie auf eines der Taxis zu, die ein paar Meter vom Klinikeingang entfernt parkten. Auch jetzt, zu dieser späten Stunde, standen noch zwei Wagen hier.

Erst als er zum Schwesternwohnhaus ging, fiel Dr. Reinhardt ein, daß er sich gar nicht mehr um Schwester Walli gekümmert hatte. Aber sie war gewiß schon vor ihm heimgefahren.

Das jedoch war ein Irrtum. Walli saß auf der Säuglingsstation im Schwesternzimmer und redete mit ihrer Kollegin Julia, die in dieser Nacht hier für alles verantwortlich war.

»Paß mir auf Klein-Katrin auf«, bat Walli. »Sie ist ein Schatz, und ich will unbedingt, daß sie durchkommt.«

Julia sah die Oberschwester fragend an. »Private Gründe?« fragte sie knapp.

Walli schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Aber… ich spüre einfach, daß mit diesem Kind etwas Besonderes ist.«

Julia zog es vor, darauf nichts zu antworten. Walli, die ansonsten so zupackend und bodenständig war, zeigte in diesem Fall besonders viel Herz. Nun denn, hier würde Katrin optimal versorgt werden, das stand fest. Eine Frage drängte sich ihr doch noch auf: »Wer hat sie Katrin getauft?«

Walli lächelte. »Ich. So wollte ich eigentlich immer heißen.«

»Na dann…« Sie stand auf und ging hinüber zu dem Inkubator, in dem das Baby lag und schlief. »Tante Walli hat dich soeben getauft, Katrin. Willkommen auf dieser Welt!«

*

Dr. Markus Reinhardt erfuhr am nächsten Mittag von der Namensgebung, und als er die dunkelhaarige Oberschwester zufällig auf dem Klinikflur traf, meinte er:

»Sie haben genau meinen Geschmack getroffen, Schwester Walli. Katrin ist ein sehr schöner Name.«

»Freut mich, daß er Ihnen gefällt. Irgendwie sind wir doch für die Kleine mitverantwortlich, nicht wahr? Und einen Namen braucht sie schließlich.«

»Ganz meine Meinung.«

Walli seufzte. »Am liebsten würde ich sie behalten. Sie ist so zart, so schutzbedürftig… Ich bete, daß sie den Entzug übersteht.«

Der Arzt nickte ernst. »Ja, es ist schon furchtbar, was drogenabhängige Mütter ihren Kindern antun. Aber irgendwie sind wir alle mitschuldig. Wir nehmen so wenig von dem Elend wahr, das in unserer unmittelbaren Nachbarschaft herrscht. Erst wenn wir mit der Nase draufgestoßen werden, empören wir uns – oder wir sind erschüttert und hilflos. So wie wir beide jetzt.«

»Wir sind nicht hilflos«, widersprach die temperamentvolle Walli und schüttelte den Kopf, daß die Haare, die in einem kleidsamen Pagenkopf geschnitten waren, um ihr Gesicht flogen. »Wir kümmern uns um Katrin! Und wir werden ihren Lebensweg verfolgen, Oder?« Mit schräggestelltem Kopf sah sie Markus an.

Der nickte. »Mit Sicherheit!«

Sie kamen nicht dazu, sich länger zu unterhalten, denn nach einem kurzen Blick auf die Uhr meinte der Arzt: »Ich muß dringend in den OP, Adrian Winter wird schon auf mich warten.«

»Was steht denn an?«

»Eine Magenoperation, ein einfacher Appendix, und, wenn der Patient heute so stabil ist wie gestern, eine Bypass-Operation an einem Sechzigjährigen.«

»Ach ja, Herr Bergmann. Seine Tochter ist eben gekommen.«

Als er den Namen Bergmann hörte, zuckte Dr. Reinhardt kurz zusammen. Christina Bergmann – sie war seine erste große Liebe gewesen. Doch als die Schule vorüber war, hatten sie sich aus den Augen verloren.

»Ich denke, Dr. Winter wird mit dir sprechen. Es ist der Chef.«

Markus lächelte Schwester Walli zu, dann ging er hinüber zum Lift, der ihn in die Operationsabteilung bringen sollte.

Dr. Winter stand schon am Waschbecken und schrubbte sich Hände und Arme. Als er den Freund sah, meinte er:

»Na, hast du alles überstanden?«

»Ich schon. Was ist mit dir? Du hattest Nachtdienst – und stehst schon wieder hier und willst operieren? Wann hast du dich erholt?«

Adrian lächelte. »Heute morgen, ist doch klar. Ich habe genau sechs Stunden und zehn Minuten geschlafen.«

»Du Held.« Markus schüttelte den Kopf. »Ehrlich, Adrian, du schuftest hier für drei. Übernimm dich nicht.«

»Keine Sorge, ich passe schon auf, daß es nicht zuviel wird. Aber wir sind nun mal chronisch unterbesetzt. Du ahnst ja nicht, was los war, bevor du kamst. Bernd Schäfer und ich haben manchmal im Akkord operiert.«

»Du hast in ihm einen erstklassigen Assistenten.«

Dr. Winter lächelte. »Ich weiß. Aber sag’s nicht zu laut, sonst wird er uns noch übermütig.«

»Ich habe gute Ohren.« Bernd Schäfer, groß und massig, aber mit einem Herzen aus Gold, war eben hereingekommen. »Schön zu hören, daß der Chef einen hin und wieder lobt.«

»Das tue ich doch laufend, du kannst dich absolut nicht beklagen«, gab Adrian zurück.

Ein paar Minuten später hatten die drei Männer ihr heiteres Wortgeplänkel vergessen. Konzentriert standen sie im OP und operierten eine etwa Vierzigjährige, die seit Jahren unter Magengeschwüren litt.

In den letzten Wochen waren die Beschwerden immer stärker geworden, und Adrian Winter hatte der Frau dringend zu einer Operation geraten. Es passierte immer wieder, daß Magengeschwüre perforierten. Es konnte auch vorkommen, daß sich ein Geschwür plötzlich verändert, daß aus einer harmlosen Geschwulst ein bösartiger Tumor wurde.

Im vorliegenden Fall war das allerdings nicht so. Es gelang, der Patientin den Großteil des Magens zu erhalten, und nur das krankhaft veränderte Gewebe zu entfernen.

Auch die Appendektomie verlief ohne Zwischenfall.

Bevor sie Herrn Bergmann in den OP holen ließen, gingen die Ärzte kurz in den Vorbereitungsraum und stärkten sich mit einem Kaffee.

»Draußen sitzt immer noch Frau Bergmann – die Tochter des Patienten«, berichtete Schwester Monika. »Ich hab’ ihr schon mehrfach gesagt, daß sie gar nichts für ihren Vater tun kann, daß außerdem der Eingriff nicht lebensbedrohlich ist. Aber sie läßt sich nicht abweisen.« Die junge Schwester mit den dunklen Locken biß sich auf die Lippen. »Irgendwie kommt mir die Frau bekannt vor. Aber ich weiß einfach nicht, wo und wie ich sie einordnen soll.« Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht ist sie Schauspielerin. Doch wann geht unsereins mal ins Kino.«

»Schauspielerin…« Dr. Reinhardt hatte das Wort völlig in Gedanken wiederholt. Er sah Christina Bergmann vor sich, wie sie in einer Schüleraufführung geglänzt hatte. Und ihm, Markus, hatte sie anvertraut, daß sie einmal Schauspielerin werden wolle.

»Mein Vater darf davon nichts wissen, er würde mich nicht verstehen«, hatte sie hinzugefügt. »Der gestrenge Herr Fabrikdirektor braucht eine Erbin, die sich ganz dem Konzern widmet.«

Auf einmal war alles wieder gegenwärtig.

Christina, die immer nervös mit ihren blonden Locken spielte, Christina, die sich stets von daheim wegschleichen mußte, wenn sie etwas mit ihren Mitschülern unternehmen wollte, Christina, die ihn, Markus, leidenschaftlich küßte…

»Können wir weitermachen?« Adrian Winter sah seine beiden Kollegen auffordernd an.

»Klar doch.« Bernd Schäfer stand auf und wusch sich nochmals, dann ließ er sich von einer Schwester in frische, sterile Handschuhe helfen.

Adrian Winter tat es ihm nach, und auch Markus Reinhardt erhob sich, um mit den Kollegen zurück in den OP zu gehen.

Der Eingriff verlief ohne Zwischenfälle, und allen, die im Raum anwesend waren, wurde klar, welche Bereicherung Dr. Reinhardt für das Chirurgie-Team der Kurfürsten-Klinik war.

*

Christina Bergmann ging nervös über den langen Klinikflur. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie nicht schon früher hergekommen war. Aber es war einfach nicht möglich gewesen! Sie hatte in Paris vor der Kamera gestanden, als ihre Tante sie angerufen und von der bevorstehenden Operation unterrichtet hatte.

»Dein Vater will nicht, daß ich dich informiere«, hatte Tante Käthe gesagt. »Aber… ich hab’ noch nie getan, was der alte Sturkopf wollte.«

Christina lächelte in der Erinnerung. Ihre Tante Käthe! Sie war die unverheiratete Schwester ihres Vaters und hatte versucht, Christina die Mutter zu ersetzen. Camilla Bergmann war verunglückt, als Christina gerade dreizehn gewesen war.

Tante Käthe hatte der jungen Schauspielerin Christina auch immer wieder heimlich Geld zugesteckt, denn von ihrem Vater bekam die junge Studentin nichts. Da sie nicht bereit gewesen war, Betriebswirtschaft oder wenigstens Jura zu studieren, hatte ihr Vater beschlossen, sie mit Verachtung zu strafen. Dazu gehörte auch, daß er ihr kein Geld gab. Und Christina war viel zu stolz gewesen, ihn daran zu erinnern, daß es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre, für ihre Ausbildung zu sorgen – ob ihm ihre Berufswahl nun genehm war oder nicht.

Aber sie war auch ohne ihn fertig geworden. Sie hatte gejobbt, hatte dankbar Tante Käthes heimliche Schecks angenommen und letztendlich ihre Ausbildung mit Bravour gemeistert. Gleich nach der Schauspielschule hatte sie ein Engagement in Hamburg bekommen. Dann war sie nach Köln und München gegangen. Schließlich ins Ausland, wo sie im Film die ersten großen Erfolge feierte.

Paris wurde ihre zweite Heimat. Und dort hatte sie auch Tante Käthes Anruf erreicht…

Und jetzt lief sie hier in der Kurfürsten-Klinik auf und ab. Immer wieder. Wie oft, konnte sie schon gar nicht mehr zählen.

Da, endlich, kam ein Arzt auf sie zu!

Christina ging ihm ein paar Schritte entgegen – und blieb so abrupt stehen, als sei sie gegen eine Wand gerannt.

»Du? Markus, bist du’s wirklich?« Die Stimme wollte ihr kaum gehorchen.

Dem Arzt erging es ganz ähnlich. Auch er war von dem unverhofften Wiedersehen so überwältigt, daß er zunächst nichts sagen konnte. Dann trat er schnell zu Christina und zog sie in die Arme.

»Tina…« Er hielt sie von sich, ohne sie loszulassen, und schaute ihr in die Augen. »Dann ist es also wirklich dein Vater, den wir eben operiert haben. Als ich seinen Namen hörte…«

»Wie geht’s ihm?« unterbrach sie ihn.

Markus Reinhardt lächelte ein wenig. »Man sagt doch so schön den Umständen entsprechend. Mehr kann ich auch noch nicht sagen. Er hat den Eingriff gut überstanden, Herz- und Kreislaufwerte sind stabil. Jetzt müssen wir abwarten.« Er zog sie wieder an sich. »Mach dir keine Sorgen, ich bin sicher, er wird alles gut überstehen.«

»Er ist hart im Nehmen, ich weiß«, sagte die junge Frau sehr leise.

»Das stimmt.« Er ließ sie endlich los und legte dann doch gleich wieder den Arm um ihre Schultern, während er mit ihr über den Flur ging, hinüber zu seinem Büro auf der Chirurgie, wo sie ungestört reden konnten.

Als sie sich dann gegenübersaßen, sprachen sie nicht mehr von Christinas Vater, sondern erst einmal von sich.

»Was hast du all die Jahre über gemacht?« wollte die junge Frau wissen.

»Studiert, als Arzt gearbeitet… ich bin den ganz normalen Weg eines Chirurgen gegangen«, erwiderte Markus.

»Aber du warst nicht immer hier in Berlin, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab’ eine Weile in Amerika gelebt. Es hat mich fasziniert, dort ganz andere Arbeitsweisen, dieses wahnsinnige Tempo mitzuerleben. Außerdem stehen die Kollegen drüben allem Neuen wahnsinnig aufgeschlossen gegenüber. Noch mehr als hier. Ich habe viel lernen können.«

»Aber es hat dich nach Hause zurückgezogen.«

»Ja. Daran ist Adrian Winter nicht ganz unschuldig. Wir haben eine Weile zusammen studiert. Und als er fragte, ob ich herkommen wolle, sagte ich zu.« Er legte die Hände gegeneinander und sah Christina lächelnd an. »Und du? Was ist aus dir geworden? Eine erfolgreiche Unternehmerin?«

Sie schüttelte den Kopf so entschieden, daß ihr das lange schimmernde Blondhaar ins Gesicht fiel. »Nein, ich hab’ mich durchgesetzt!«

Das klang sehr stolz, aber auch ein wenig trotzig. Markus merkte es sofort, und er fragte:

»Du hast also wirklich die Schauspielerei gewählt. Und, wie ich vermute, dir heiligen Ärger mit deinem Vater eingehandelt.«

Sie nickte. »Du kennst ihn gut. Er hat mich aus dem Haus geschmissen. Und wir haben uns seit fast zwölf Jahren nicht mehr gesehen.«

»Das ist traurig…«

Christina nickte. »Ja, da hast du recht. Aber er hat einfach nicht mit sich reden lassen. Auch als ich Erfolge vorweisen konnte, als ich ihm beweisen konnte, daß ich gutes Geld verdiene in meinem Beruf, konnte er mir nicht verzeihen. Dabei hat er einen ganz exzellenten Geschäftsführer, der ihn entlastet. Viel mehr, als ich es je gekonnt hätte.« Sie biß sich kurz auf die Lippen. »Weißt du, es tut immer noch weh, daß er so gar kein Verständnis für mich hat. Tante Käthe ist mein einziger Halt – und die einzige Verbindung zur Heimat.«

Er lächelte sie an, und viel von der alten Zuneigung lag in seinem Blick. »Jetzt hast du ja mich wiedergefunden«, meinte er. »Du weißt, daß ich immer für dich da bin, ja?«

Christina nickte, und ganz plötzlich liefen Tränen über ihr Gesicht. Sie weinte leise und verhalten, doch Markus Reinhardt merkte, daß viel von dem Kummer, den sie jahrelang unterdrückt hatte, jetzt zutage trat.

Er ließ sie in Ruhe und wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. »Komm.« Er streckte die Hand aus und zog sie hoch. »Wir gehen zusammen zur Intensivstation. Ich denke, daß die Kollegen deinen Vater inzwischen an die Überwachungsgeräte angeschlossen haben. Du brauchst keine Angst davor zu haben, es sieht immer viel schlimmer aus, als es ist.«

Christina nickte, aber als sie dann, in steriler Schutzkleidung, in der kleinen Kabine stand, bekam sie doch Angst. War der Mann, der dort blaß und teilnahmslos lag, noch ihr dynamischer Vater?

Ging es ihm wirklich gut? Konnte, durfte sie Markus glauben?

Es schien, als hätte er ihre Gedanken erraten, denn er nickte ihr mit einem aufmunternden Lächeln zu.

Sie blieben nur wenige Minuten, dann führte der Arzt die schöne blonde Frau wieder hinaus.

»Du wirst sehen, morgen geht es ihm schon besser. Vielleicht kannst du dann auch schon mit ihm reden.«

»Wenn er mich überhaupt empfängt«, warf Christina zweifelnd an.

»Wir werden sehen.«

Gerade als sie die Intensivstation verlassen wollten, kam Schwester Walli ihnen entgegen.

»Wollen Sie zu Klein-Katrin?« Fragend sah sie von Markus Reinhard zu dessen schöner Begleiterin.

»Eigentlich nicht.« Der Arzt zögerte, dann wandte er sich fragend an Christina. »Hast du noch einen Moment Zeit? Ich hab’ hier jemanden liegen, der mir sehr am Herzen liegt.«

Die Schauspielerin zuckte zusammen. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Fassung zu wahren.

Markus war nicht mehr frei! Wie dumm von ihr, etwas anderes zu denken!

»Wenn ich nicht störe, komme ich gerne mit«, sagte sie.

Er führte sie zu dem Teil der Intensivstation, wo die Kinder und Säuglinge betreut wurden. Im Augenblick lagen nur ein kleiner Junge, der am Morgen operiert worden war, und Klein-Katrin hier.

»Das ist Katrin.« Mit einem zärtlichen Lächeln wies Markus auf den Brutkasten, in dem ein zartes, schwächliches Menschlein lag.

Christina biß sich kurz auf die Lippen, dann fragte sie: »Dein Kind?«

Er lachte leise auf. »Aber nein! Wie kommst du denn auf die Idee?«

Sie zuckte die Schultern. »Du hast gesagt, daß sie dir am Herzen liegt. Und so, wie du sie ansiehst…«

Der Arzt lächelte und trat dichter an den Inkubator. »Katrin ist ganz allein. Wer ihr Vater ist, weiß niemand. Und ihre Mutter ist gestorben, kaum daß das Baby den ersten Atemzug gemacht hatte.« Er seufzte auf. »Katrins Mutter war süchtig. Und das Baby ist es auch. Die Kleine wird jetzt entgiftet – es ist grausam, aber unbedingt notwendig. Sieh nur, wie ihre Glieder zucken… sie hat Entzugserscheinungen.«

»So ein armes Würmchen!« In Christinas Stimme schwang echtes Mitleid mit. »Kann man denn gar nichts tun, um ihr die Qualen zu ersparen?«

»Doch. Sie bekommt entsprechende Medikamente. Aber dennoch…« Er seufzte auf. »Wenn die süchtigen Mütter auch nur ahnten, was sie ihren Kindern antun…«

Er brach ab, denn Christina griff sich mit einem Stöhnen an den Kopf. Sie taumelte leicht und wäre vielleicht sogar gestürzt, wenn Markus Reinhardt sie nicht aufgefangen hätte. »Was ist los?« Besorgt sah er sie an.

»Gar nichts.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, das jedoch kläglich mißlang. »Es ist wahrscheinlich nur die Aufregung. Und… Ich hab’ seit einer kleinen Ewigkeit nichts mehr gegessen.«

»Dann komm. Ich gebe dir erst mal ein bißchen Traubenzucker. Und dann fährst du heim und läßt dich von deiner Tante verwöhnen.«

Sie nickte. »Und – du?«

Er zuckte die Schultern. »Dienst. Leider. Aber morgen abend können wir uns sehen, wenn du magst. Es gibt doch noch so viel zu erzählen.«

Christina nickte. »Da hast du recht. Ich will alles von dir erfahren.«

»Umgekehrt ist’s genauso.« Er ging schnell in ein Schwesterzimmer und holte den Traubenzucker, dann begleitete er Christina bis zum Lift. »Bis morgen.« Er strich ihr kurz über das seidige Haar, und Christina mußte daran denken, daß er genau diese Geste schon früher immer gemacht hatte…

*

»Nun, Herr Bergmann, wie fühlen Sie sich?« Dr. Reinhardt trat an das Bett des Frischoperierten und kontrollierte automatisch den Puls.

»Wie soll ich mich schon fühlen? Elend natürlich. Stellen Sie sich vor, Sie lägen hier…« Er polterte los, ohne den Arzt wirklich anzusehen.

Markus lächelte. »Sie haben sich kaum verändert, Herr Bergmann.«

Jetzt hatte er doch die ungeteilte Aufmerksamkeit des Mannes. »Wir kennen uns?« fragte Christinas Vater.

Der Chirurg nickte. »Seit vielen Jahren. Ich war mit Ihrer Tochter zusammen in der Klasse.«

Der Patient preßte die Lippen aufeinander und stieß hervor: »Ich habe keine Tochter mehr. Nehmen Sie das zur Kenntnis.«

»Aber…«

»Nein. Und jetzt bin ich müde.« Demonstrativ drehte er den Kopf zur Seite und zeigte so an, daß er nicht bereit war, sich noch länger mit Dr. Reinhardt zu unterhalten.

Seufzend wandte der Arzt sich ab und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Flur traf er Adrian, der eben ins Schwesternzimmer gehen wollte.

»Und? Was ist dir für eine Laus über die Leber gelaufen?« erkundigte er sich.

»Wieso? Dir auch?« fragte Markus zurück.

»Ich muß Operationsberichte diktieren und Krankenberichte vervollständigen. Ehrlich, hat das was mit unserer Arbeit als Arzt zu tun?«

Sein Freund lächelte ein bißchen bitter. »Genauso wenig, wie eine Diskussion mit starrsinnigen alten Männern. Es bringt alles nichts. Manche Leute wollen einfach nicht vernünftig sein.«

»Meinst du Herrn Bergmann?«

Markus nickte. »Er ist seit Jahren mit seiner Tochter zerstritten, und ich denke, daß er ebenso darunter leidet wie Christina. Aber… Er läßt niemanden an sich ran. Es ist so, als ließe er einen eisernen Vorhang runter, wenn man das Thema anschneidet.«

Adrian Winter legte dem Freund kurz die Hand auf die Schulter. »Du magst diese Christina, nicht?«

»Ja, sie ist… zauberhaft. Schon damals, in der Schule, habe ich für sie geschwärmt. Und wenn ich ehrlich sein soll, in jeder Frau, die mir dann begegnet ist, habe ich sie gesucht.«

Dr. Winter öffnete die Bürotür. »Falls es dich interessiert… sie sitzt in der Caféteria und rührt schon seit einer Weile in ihrem Kaffee. Vielleicht solltest du dir kurz eine Erfrischung gönnen?«

Markus lächelte jungenhaft. »Bin schon unterwegs. Danke.«

»Gern geschehen.« Adrian drückte endgültig die Tür auf und ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder. Aufseufzend begann er damit, die ersten Akten zu sichten. Doch kaum hatte er vier Berichte diktiert, wurde er zu einem Notfall gerufen.

Zwei Stunden lang kämpften er und Dr. Schäfer um das Leben einer jungen Motorradfahrerin, die in einer besonders engen Kurve die Gewalt über ihre Maschine verloren hatte.

Schwere innere Verletzungen hatte sie davongetragen, außerdem einige Brüche am linken Bein. Aber jetzt war ihr Zustand stabil, und man konnte sie zur Intensivstation bringen, wo sie konstant überwacht werden würde.

Adrian Winter kehrte zurück zur ungeliebten Schreibtischarbeit, aber kaum hatte er das Wesentliche getan, ging er hoch zur Intensivstation. Vor sich selbst rechtfertigte er den Besuch dort mit seiner Sorge um die Frischoperierte, in Wahrheit jedoch zog es ihn zu Klein-Katrin.

Das Baby lag zunächst ruhig in seinem Brutkasten, und wenn nicht die verschiedenen Schläuche und Sonden gewesen wären, hätte man es für ein gesundes, wenn auch zartes Neugeborenes halten können.

Plötzlich mußte das Baby niesen, und sofort beschleunigte sich die Atemfrequenz auf dem Monitor. Auch die EKG-Linie wies auf einmal größere Abweichungen auf.

Erschrocken kam die diensthabende Schwester herbeigeeilt. »So ein armes Dingelchen.« Sie sah Adrian Winter an. »Kümmern Sie sich um die Kleine, oder soll ich Dr. Haberstett holen?«

Adrian winkte ab. »Ich mach’ das schon. Vielleicht gelingt es uns, einen weiteren Krampf von der Kleinen abzuwenden. Ich will versuchen, die Gefahr durch künstliche Beatmung zu bannen und…«

»Ich hole alles«, fiel ihm Schwester Ingeborg, die schon zwanzig Dienstjahre hinter sich hatte, ins Wort. Wenig später kam sie mit dem kleinsten Kehlkopfspiegel zurück, den es gab.

»Gut. Danke.« Dr. Winter sah die Pflegerin fragend an. »Können Sie mir helfen?«

»Aber ja.« Schwester Ingeborg lächelte, und ohne daß der Arzt es ihr anweisen mußte, nahm sie das kleine Köpfchen des Babys hoch und hielt es so, daß der Arzt gut arbeiten konnte. Dr. Winter schob den Kehlkopfspiegel über die Zunge, am Gaumensegel vorbei nach hinten. Spontan versuchte das Baby zu schreien, doch mit einer raschen, geübten Bewegung gelang es dem Arzt, den dünnen Gummischlauch in die Luftröhre zu schieben. Jetzt konnten sie mit dem Intubieren beginnen.

Es gelang ihnen mit vereinten Kräften, den schlimmen Anfall, der das Baby unendlich viel

Energie gekostet hätte, abzuwenden.

»Gott sei Dank, sie hat’s mal wieder geschafft.« Schwester Ingeborg lächelte. »Ein Glück, daß Sie gerade zur Stelle waren.«

»Manchmal müssen Arzt und Patienten eben Glück haben«, erwiderte Adrian lächelnd, dann ging er durch die Schleuse zurück zur Station.

Auf dem Weg begegneten ihm Markus und Christina Bergmann. Die junge Frau hatte traurige Augen. Adrian war klar, daß sie heute wieder einmal vergeblich versucht hatte, mit ihrem Vater zu sprechen.

Er lächelte seinem Freund und dessen schöner Begleiterin entgegen. »Wollt ihr zu Klein-Katrin?«

»Ja.« Christina nickte. »Sie freut sich vielleicht über unseren Besuch.«

Dr. Winter zuckte vage die Schultern. »Im Moment bestimmt nicht. Ich mußte intubieren. Es drohte mal wieder ein Krampfanfall.«

»Das arme Ding!« In den schönen Augen der Schauspielerin glitzerten Tränen. »Wie schade, daß man sie nicht herausnehmen und ein bißchen liebhaben kann. Sie muß doch spüren, daß sie ganz allein ist.«

Adrian Winter nickte. »Da haben Sie recht. Aber den Brutkasten verlassen darf sie noch nicht. Nachher, wenn sie sich ein wenig erholt hat, können Sie sie gern ein bißchen streicheln. Der Inkubator hat ja Öffnungen, die es ermöglichen, das Baby behutsam zu versorgen, ohne immer alles abbauen zu müssen. Wenn Sie also noch etwas Zeit haben…«

Christina nickte. »Jede Menge. Ich habe jetzt ein paar Tage drehfrei, schließlich wollte ich mich um meinen Vater kümmern. Doch wenn er nicht will… Dann versorge ich eben das Baby!«

Dr.Winter nickte ihr zu. »Das ist sehr liebenswert von Ihnen. Ich bin sicher, daß die Kleine spürt, daß man sie liebhat. Und das hilft bestimmt beim Gesundwerden.«

Christina nickte, doch kaum hatten sie und Markus sich sterile Kittel übergezogen, da begann sie wieder zu taumeln.

Gleichzeitig griffen die beiden Männer zu und hielten sie fest.

»Ich… ich muß mich setzen«, sagte Christina leise.

»Du legst dich gleich irgendwo hin«, bestimmte Dr. Reinhardt.

»Und dann werden wir untersuchen, woher diese Schwindelanfälle stammen. Hast du schon öfter damit Probleme gehabt?«

»Erst seit einigen Tagen«, erwiderte Christina.

Sie fühlte sich in der Tat so schlapp, daß sie nicht widersprach, als Markus und Adrian Winter sie in ein leerstehendes kleines Untersuchungszimmer führten und sie auf die dort stehende Liege betteten.

Da Markus Reinhardt sich befangen fühlte, übernahm es Dr. Adrian Winter, eine erste Untersuchung vorzunehmen.

Christina, die sich immer noch ziemlich elend fühlte, ließ es zu, daß er ihren Körper abtastete. Als er den Oberbauch etwas fester berührte, zuckte sie zusammen.

Adrian Winter sah sie an. »Tat das weh?«

»Ja, ziemlich.«

»Entschuldigung, aber ich muß das noch mal kontrollieren.«

Wieder untersuchte er sie sehr behutsam, konzentrierte sich jetzt auf den Oberbauch – und wieder zuckte die junge Frau zusammen.

Adrian war leicht verwirrt. Was hatte das zu bedeuten? Nichts deutete auf irgendeine Entzündung hin, ihm fiel nur auf, daß Christinas Haut ein wenig schlaff wirkte. Aber das hatte nun wirklich nichts zu besagen. Seit Tagen kam sie nicht richtig zur Ruhe, war immer in der Klinik – hoffend, daß ihr Vater sich endlich bereit erklärte, sie zu empfangen.

»Ich kann im Moment nichts Gravierendes feststellen«, sagte er. »Aber seien Sie vorsichtig. Diese Druckempfindlichkeit ist nicht normal, und auch der Schwindel beweist, daß Sie nicht hundertprozentig auf dem Damm sind.«

»Ich fühle mich eigentlich nicht schlecht«, mußte die junge Frau einräumen. »Nur manchmal, da überkommt es mich richtig.«

Adrian half ihr, sich aufzurichten. »Haben Sie irgend etwas gegessen oder eingenommen, das Sie normalerweise nicht zu sich nehmen?« fragte er.

Christina überlegte, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, mir fällt nichts ein.«

»Dann rate ich Ihnen, heimzufahren und sich auszuruhen. Wenn aber wieder etwas sein sollte – scheuen Sie sich nicht, uns sofort anzurufen, ja?«

Sie lächelte ihm dankbar zu. »Das mach’ ich bestimmt.«

Ein kleiner Abglanz dieses Lächelns war noch auf ihren Lippen, als sie zu Markus zurückkehrte. »Falscher Alarm«, sagte sie, und hakte sich bei ihm unter. »Dein Freund hat nichts finden können. Ich bin vollkommen in Ordnung.«

»Das ist noch nicht bewiesen«, sagte Adrian Winter rasch. »Ich habe nur jetzt, auf die schnelle, nichts gefunden. Aber Sie sollten sich genau beobachten. Und wie gesagt – wir sind immer für Sie da.«

Markus Reinhardt sah auf die Uhr. »Wenn du dich noch eine halbe Stunde geduldest, dann bringe ich dich heim.«

Christina nickte dankbar. Es war gut, jetzt nicht allein zu sein. Und daß sie Markus hier an der Kurfürsten-Klinik wiedergetroffen hatte, war einfach ein Geschenk des Schicksals. Es versöhnte sie ein wenig mit der Tatsache, daß ihr Vater sich immer noch nicht bereit erklärte, die alten Differenzen zu bereinigen.

Die schöne blonde Frau ließ sich im Foyer der Klinik nieder und blätterte in einigen Zeitschriften. Sie hatte sich so gesetzt, daß man sie nicht sofort bemerkte. Inzwischen war Christina Bergmann so bekannt, daß immer mehr Menschen sie ansprachen, eventuell auch ein Autogramm von ihr wünschten.

An und für sich konnte sie mit dieser Popularität sehr gut umgehen, doch heute wollte sie nicht erkannt werden. Sie fühlte sich immer noch nicht ganz wohl und brauchte Ruhe.

Und sie brauchte einen Menschen, der zu ihr stand: Sie brauchte Markus!

Als sie knapp eine halbe Stunde später in seinem Wagen saßen, schmiegte sie sich kurz an ihn.

»Ich bin so froh, daß es dich gibt«, sagte sie leise.

Er lachte zärtlich. »Du ahnst nicht, wie glücklich ich bin, daß ich dich wiedergefunden habe.« Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Stell dir nur vor, ich wäre noch länger drüben in Amerika geblieben…«

»… und mein Vater wäre nicht krank geworden«, fügte sie hinzu. »Dann wären wir wie die Königskinder.«

Etwa fünfzig Meter weiter sah Dr. Reinhardt eine Parkbucht, die er nun entschlossen ansteuerte.

Als der Wagen hielt, stellte der Arzt den Motor ab und beugte sich zu Christina hinüber. Zärtlich legte er die Arme um sie. »Wir sind aber keine Königskinder«, meinte er. »Und wenn du willst, kommen wir zusammen.«

Sie antwortete nicht, statt dessen küßte sie ihn. Lange, zärtlich, sehnsuchtsvoll.

Und für eine glückliche kleine Ewigkeit gab es nur zwei Menschen auf dieser Welt – sie und ihn.

*

»Morgen, alle zusammen!« Schwungvoll stellte Monika Ullmann ihre Handtasche auf einen der Plastikstühle, die im Schwesternzimmer standen. »Herrlicher Tag heute, oder?«

Ihre Kollegin Claudia lächelte nur.

Wenn Monika so gute Laune hatte, war sie erfahrungsgemäß frisch verliebt.

»Ich weiß nicht, was an diesem Morgen schön sein soll«, brummte Dr. Werner Roloff vor sich hin. Der Anästhesist, seit fast dreißig Jahren verheiratet, fühlte sich an diesem sonnigen Morgen alles andere als gut. Er hatte mal wieder einen heftigen Disput mit seiner Frau Sophia hinter sich – und solche Streitigkeiten, die meist keine ernsthafte Ursache hatten, nagten an ihm.

»Ich hab’ frische Brötchen mitgebracht.« Monika zog eine Tüte aus der Tasche. »Wer hat Appetit?«

Claudia holte Geschirr aus dem Schrank, und Monika schüttete rasch frischen Kaffee auf.

»Hm, das duftet!« Dr. Adrian Winter trat ein und lächelte in die Runde. »Bekommt ein armer Single auch eine Tasse ab?«

»Bedauernswerter«, knurrte der Anästhesist. »Wollen wir tauschen?«

Adrian lächelte. »Danke, lieber nicht. Außerdem liebst du deine Frau viel zu sehr, um sie mir auch nur zu leihen.«

Dr. Roloff zog es vor, hierauf nichts zu erwidern. Es war in der Klinik kein Geheimnis, daß seine Ehe nicht die glücklichste war. Seine Frau Sophia Andergast, eine recht bekannte Sopranistin, konnte sich einfach nicht damit abfinden, daß sie den Zenit ihrer Karriere überschritten hatte. Die herausragenden Angebote blieben aus, das konnte Sophia einfach nicht verkraften. Ihren Frust ließ sie am liebsten an ihrem Mann aus. »Kommen Sie, Doktor, ich schmiere Ihnen das Brötchen«, bot Schwester Monika an. »Marmelade oder lieber rohen Schinken?«

»Schinken, wenn genug übrig ist.« Werner Roloff zwang sich zu einem Lächeln. Es tat gut, so nette Kollegen zu haben. Hier im Kreis von Gleichgesinnten, fühlte er sich wohl. Und wenn dann noch Zeit für eine private Plauderei blieb…

Draußen hörte man Sirenengeheul.

»Zu früh gefreut«, meinte der Anästhesist und biß schnell in sein Brot.

»Wer weiß, vielleicht ist’s nur eine Kleinigkeit, und die Kollegen in der Ambulanz machen das ganz allein.« Auch Adrian Winter war nicht bereit, sich die gute Stimmung trüben zu lassen.

»Was habt ihr gestern so alles getrieben?« fragte er und sah in die Runde.

Monika lächelte. »Ich bin ganz groß ausgegangen.« Sie zwinkerte Adrian zu. »Mit einem Traummann! Ich sag’s lieber direkt, damit du nicht so umständlich fragen mußt.«

Der junge Arzt mit dem dunkelblonden Haar und den warmen braunen Augen grinste. »Tu doch nicht so, als wäre ich neugierig! Ich nehme aber Anteil an deinem Leben – weil ich dein Chef bin und mich für dich verantwortlich fühle.«

»Ach, du liebes bißchen. Unser Doc hatte wohl gestern ein zu heißes Bad«, prustete Monika los.

Das Klingeln des Telefons unterbrach ihr heiteres Geplänkel. Schwester Claudia nahm das Gespräch entgegen, und als ihre Miene ernst wurde, erkannten die anderen, daß der Morgen wohl nicht so problemlos weitergehen würde, wie er angefangen hatte.

»Ein Brand auf einer Großbaustelle«, berichtete Claudia. »Drei Arbeiter sind schwer verletzt. Einer von ihnen hat ganz massive Brandwunden, er wird schon in eine Spezialklinik geflogen, die beiden anderen sind unten. Aber Bernd Schäfer und Frau Dr. Martensen werden allein nicht damit fertig.«

»Ich bin schon unten«, stieß Adrian Winter hervor.

Auch Dr. Roloff erhob sich. »Ich gehe schon mal in die OP-Abteilung und mache alles startklar«, sagte er.

Schwester Monika trank noch einen letzten Schluck Kaffee, dann folgte sie Dr. Winter.

»Wieso ist Frau Martensen im Haus?« wollte Adrian wissen.

»Hatte sie nicht Urlaub eingereicht?«

Monika zuckte die Schultern. Alle in der Klinik wußten, daß die attraktive Internistin gern ausgedehnte Fernreisen unternahm. Erst vor einem halben Jahr war sie in Japan gewesen und hatte ganz begeistert von diesem Land geschwärmt.

»Wer weiß, wo sie mal wieder hinwollte«, sagte Monika, »eventuell in ein exotisches Land, das gerade zum Krisengebiet erklärt worden ist.«

»Wir werden’s schon noch erfahren«, meinte Adrian. Dann sprachen sie nicht mehr, denn sie hatten die Ambulanz erreicht, wo es ausgesprochen hektisch zuging.

»Warum hört mir denn keiner zu?« schimpfte Bernd Schäfer gerade lautstark. »Ich hab’ doch gesagt, daß ich unbedingt Sauerstoff brauche.«

»Hallo, Bernd.« Dr. Winter trat neben den jüngeren Kollegen an den Untersuchungstisch, auf dem ein dunkelhaariger Mann lag, der aus einer großen Wunde am Hals blutete. Schweiß rann ihm übers Gesicht, und an seinem flachen Atem war zu erkennen, daß er jeden Moment die Besinnung verlieren würde.

»Ich habe schon alles versucht, um gegen seinen Schock anzukämpfen – es will einfach nicht gelingen«, stieß der junge Chirurg hervor.

Adrian Winter kontrollierte die Infusion, dann besprach er kurz mit Bernd die bisher vorgenommenen Maßnahmen.

»Hätte ich alles genauso gemacht«, sagte er. »Vielleicht hat er noch irgendwo…«

»Er kommt zu sich!« rief Schwester Monika in diesem Moment. Der Patient schlug die Augen auf, atmete auf einmal viel ruhiger – die Gefahr war gebannt.

Adrian Winter überzeugte sich davon, daß der Mann außer der großen Fleischwunde am Hals keine Verletzungen davongetragen hatte. Der Kreislaufschock war jetzt auch wohl behoben – dieser Patient war nicht allzu stark gefährdet.

Anders sah es in der Nebenkabine aus. Dort lag ein grauhaariger Arbeiter, der flach atmete und völlig apathisch wirkte.

»Er hat innere Blutungen, schätze ich«, sagte die Internistin Julia Martensen. »Im OP wird schon alles vorbereitet, hab’ ich gehört. Gut, dann kann der arme Kerl sofort nach oben. Ich bin sicher, daß die Milz einen Riß hat – und die Leber eventuell auch.«

»Dann will ich auch mal hoch«, meinte Adrian. Doch an der Tür wandte er sich nochmals um. »Wieso bist du eigentlich hier? Hattest du nicht für die kommenden drei Wochen Urlaub eingereicht?«

Julia nickte. »Fällt aus«, erwiderte sie lakonisch. »Wir wollten nach Nepal, aber zwei meiner Freundinnen, die immer mitfahren, haben sich eine schwere Virusgrippe eingefangen. Also wird dieser Trip verschoben.«

»Und du kannst uns hin und wieder in der Notaufnahme unterstützen. Wundervoll!« Adrian lächelte Julia noch einmal kurz zu, dann schlossen sich die Türen des Lifts, der ihn hinauf in die OP-Abteilung brachte, hinter ihm.

»Deinetwegen werde ich aber nicht umsatteln«, murmelte Julia vor sich hin. Sie war mit Leib und Seele Internistin, doch wo immer sie gebraucht wurde, sprang sie ein – eine Tatsache, die sie bei allen nur noch beliebter machte.

Jetzt half sie Bernd Schäfer, den Verletzten zu verbinden, dann erst ging sie in die Verwaltung, um ein paar organisatorische Dinge mit Thomas Laufenberg, dem Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik, zu besprechen.

Im Gegensatz zu Adrian, der gewisse Probleme mit Thomas Laufenberg hatte, kam die Internistin gut mit ihm aus. Sie fand ihn kompetent und sachlich. Und daß ein Verwaltungschef in der heutigen Zeit keine Wunder wirken und großzügige Neuanschaffungen tätigen konnte, war ihr klar. Wichtig war ihr, daß Thomas Laufenberg zuhören konnte, daß er offen für die Probleme der Mediziner war – und daß er half, so gut er es vermochte.

Im OP dachte in diesem Moment niemand an Verwaltungsprobleme. Hier wurde um ein Menschenleben gekämpft, das an dem berühmten seidenen Faden hing.

Dr. Winter stillte die massiven Blutungen im Bauchbereich, doch damit war es leider nicht getan.

Den Milzriß konnte er nicht nähen, er mußte das Organ entfernen. Zum Glück war die Leber nicht allzu stark beschädigt, er konnte diese Blutung rasch zum Stillstand bringen.

Drei Stunden stand der Chirurg im OP, dann erst konnte er sicher sein, das Leben des Mannes gerettet zu haben.

»Hoffen wir, daß es nicht noch zu postoperativen Komplikationen kommt«, sagte er, als er mit einem kleinen Seufzer vom Tisch zurücktrat. »Bringt ihn auf Intensiv – und paßt gut auf ihn auf.«

»Immer, das weißt du doch.« Monika half dem Arzt jetzt aus der beschmutzten OP-Kleidung. »Wenn du nicht so rasch zur Stelle gewesen wärst… Wer weiß, ob der arme Kerl dann noch leben würde.«

»Ich bin nicht der Herrgott!« wehrte Adrian Winter ab.

»Aber der beste Chirurg, den ich kenne!« Monika lächelte ihm im Spiegel zu.

»Aha. Und kennst du viele Chirurgen?« neckte er sie.

»Unendlich viele. Schließlich bin ich schon eine Weile in diesem Job«, erwiderte sie und tat so, als habe sie ihn mißverstanden.

Adrian Winter lachte. »Du weißt genau, worauf ich hinauswollte. Also, erzähl: Wie ist dein neuer Traummann? Wie heißt er?«

Die attraktive Schwester, die sich manchmal Hals über Kopf verliebte, lachte. »Er ist Architekt, dreißig Jahre alt, hat fast schwarze Haare – und ist Witwer!«

»Au weia!« entfuhr es nun Adrian.

»Was ist daran auszusetzen?« Monika stopfte die beschmutzte Kleidung in die Wäschebehälter und richtete sich mit wenigen Handgriffen die Frisur.

»Gar nichts.« Adrian Winter schüttelte den Kopf. »Aber irgendwo ist doch bestimmt ein Haken. Ich kenne dich… du hast eine fatale Leidenschaft für ein bißchen kranke Typen.« Monika lachte und boxte ihn leicht in die Rippen. »Stimmt. Deshalb mag ich dich ja auch so sehr. Aber…« Sie biß sich kurz auf die Lippen. »Du hast recht, es gibt eine Kleinigkeit, die…«

»Sprich’s schon aus«, forderte Adrian.

»Er hat zwei Kinder.«

»Ach, du liebe Güte.« Der Arzt zuckte die Schultern.

»Moni-Monika… ehrlich, in der Rolle sehe ich dich nun gar nicht.«

»So weit sind wir auch noch nicht. Wir waren gerade mal miteinander aus, haben uns nett unterhalten und…«

»Hier bist du!« Markus Reinhardt stürzte in den Vorbereitungsraum und sah Adrian Winter aus brennenden Augen an. »Komm schnell, es ist etwas mit Christina passiert!«

*

Sie hatten zusammen gefrühstückt – so wie jeden Tag, seit Christina zurück war.

Die junge Schauspielerin genoß es, sich von ihrer Tante Käthe ein wenig verwöhnen zu lassen. Und während sie Kaffee tranken und Christina die Brombeermarmelade lobte, die die alte Dame seit Jahrzehnten nach einem Spezialrezept zubereitete, erzählten sie sich, was in den letzten Jahren passiert war.

»Dein Vater wird einfach nicht schlau«, sagte Tante Käthe und seufzte auf. »Er hat einen hervorragenden Stellvertreter, hat loyale Mitarbeiter – und glaubt dennoch, daß die ganze Firma innerhalb einer Woche zusammenbricht, wenn er mal nicht präsent ist.«

Christina lächelte. »So geht’s, glaube ich, vielen Männern, die ihr Geschäft aus dem Nichts heraus aufgebaut haben.«

Die Ältere schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es auf Gottes weiter Welt noch einen zweiten so sturen Menschen gibt wie deinen Vater.« Sie lächelte Christina zu. »Aber jetzt Schluß mit diesem unerfreulichen Thema. Berichte mir lieber von den Dreharbeiten. Konntest du überhaupt so ohne weiteres unterbrechen?«

Die junge Frau nickte. »Das meiste Material war schon im Kasten. Es sind nur noch einige Szenen zu wiederholen, die…« Sie griff sich an den Kopf, versuchte sich zu konzentrieren – und konnte es nicht.

Käthe zuckte erschrocken zusammen. Christinas letzte Worte waren völlig unverständlich gewesen. Sie hatte gestammelt, gelallt – und war dann über dem Tisch zusammengebrochen. Mit Hilfe des Hausmädchens gelang es der alten Dame, Christina auf ein Sofa zu betten.

»Wir brauchen einen Arzt«, stieß sie dann hervor. »Rufen Sie um Himmels willen rasch einen Arzt.«

»Dr. Perstemeier?«

»Meinetwegen.«

Käthe hielt nicht allzu viel von dem Hausarzt, der seit Jahren die Familie betreute. Zum Glück war sie selbst recht gesund, und sollte sie einmal ernsthaft krank werden, nun, dann würde sie sich mit Sicherheit einen anderen Arzt suchen. Aber jetzt, da eine Notsituation

herrschte, war Dr. Perstemeier bestimmt besser als gar kein Arzt.

Er war innerhalb kurzer Zeit zur Stelle – und machte ein hilfloses Gesicht. »Tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht, wie es zu dem Zusammenbruch kommen konnte. Wir werden Christina in die Klinik einweisen müssen.«

Käthe nickte. »In die Kurfürsten-Klinik, bitte.« Darauf hätte ich auch selbst kommen können, schalt sie sich. Jetzt sind wertvolle Minuten vertan.

Mit sorgenvollem Gesicht sah sie zu, wie die Sanitäter, die kurz darauf eintrafen, Christina auf der Trage festschnallten und fortbrachten.

Mit Tränen in den Augen blickte die alte Dame dem Rettungswagen hinterher. Hoffentich konnten die Ärzte in der Klinik ihrer Christina helfen! Und – hoffentlich kam der Vater der jungen Frau nun endlich zur Vernunft.

Sie betete, daß es für eine Versöhnung von Vater und Tochter nicht zu spät sei…

Christina kam noch auf der Fahrt wieder zu sich. Verwirrt schaute sie sich um. Sie wollte etwas fragen, doch wieder brachte sie nur ein Lallen heraus.

Verzweifelt schloß sie die Augen. Was war los?

In der Ambulanz beugte sich als erstes eine sympathische Schwester über sie, fragte – und wunderte sich offenbar gar nicht, daß die Patientin nicht richtig antwortete.

Christina bemerkte einen Arzt und eine Ärztin, und dann, endlich, Markus’ Gesicht!

»Ganz ruhig, Christina. Wir werden dir sofort helfen. Bleib still liegen. Ja, so ist es gut…« Sie spürte seine Hände, hörte seine Stimme, und sie glaubte jetzt auch daran, daß alles wieder in Ordnung kommen würde. Wenn nur Markus bei ihr war…

Sie registrierte, daß noch ein weiterer Arzt dazukam, er sprach mit Markus und…

Wieder verlor sie kurz die Besinnung.

Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Was war mit Christina? Ihre Werte waren gar nicht schlecht, Puls und Blutdruck zufriedenstellend. Und doch war sie krank. Sie konnte nicht sprechen, und im ersten Moment hatte Markus befürchtet, Christina hätte einen Schlaganfall erlitten. Aber das konnte rasch ausgeschlossen werden.

Stunde um Stunde verging. Christina fühlte sich zwischenzeitlich besser, und sie konnte sogar ein wenig lächeln, als Markus sie an ihrem Bett besuchte.

»Du wirst uns für eine Zeitlang Gesellschaft leisten müssen«, sagte er und streichelte zärtlich ihr blasses Gesicht. »Irgend etwas stimmt nicht in deinem Innenleben. Adrian Winter und ich sind entschlossen herauszufinden, was das ist.«

»Ich… ich kann nicht richtig reden. Manchmal!« flüsterte sie, und der Arzt erkannte, daß es das war, was sie ganz besonders ängstigte.

»Ich weiß. Aber das wird wird wieder vergehen. Versuch dich zu erinnern. Was hast du in den letzten Tagen gegessen oder getrunken, was du normalerweise nicht zu dir nimmst?«

Die schöne blonde Patientin dachte nach. »Wenig…« gestand sie dann. »Wenn ich Streß habe, esse ich nie viel. Und das ist gut so«, fügte sie mit einem kleinen Lächeln, das aber verunglückte, hinzu. »Ich muß immer auf meine Linie achten.«

»Unsinn.« Er gab ihr einen liebevollen Kuß auf die Stirn. »Du bist einfach perfekt.«

Christina wollte antworten, doch wieder versagte die Stimme ihr den Dienst. Panik glomm in ihren Augen auf, und wenn Markus nicht bei ihr gewesen wäre, hätte sie nicht gewußt, wie sie ihrer Verzweiflung Herr werden sollte.

Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Organisch schien Christina gesund zu sein.

Dr. Adrian Winter blieb auch noch in der Klinik, als sein Dienst lange beendet war. Er wußte, daß Markus sehr viel für die Jugendfreundin empfand, wenn er auch noch nie darüber gesprochen hatte.

»Warum fährst du nicht nach Hause?« wollte Markus Reinhardt wissen. Er sah müde aus, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, und die Angst um Christina war ihm deutlich anzumerken.

Adrian legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich daheim eine einzige ruhige Minute hätte? Wir müssen irgend etwas tun… Christina braucht uns jetzt. Uns beide.« Er biß sich kurz auf die Lippen, dann fügte er hinzu: »Geh hoch zu ihr, ich mache deinen Dienst zu Ende. Und wenn’s geht, lese ich in irgendwelchen schlauen Büchern nach, was ihr fehlen könnte.«

Markus nickte dankbar. »Ich war noch nie so hilflos«, gestand er leise.

Adrian Winter nickte. »Wir haben irgend etwas übersehen«, sagte er mehr zu sich selbst. »Wenn sie wieder wach und ansprechbar ist, müssen wir uns noch mal mit ihr unterhalten. Eventuell auch mit ihrer Tante.

»Das tue ich gleich«, sagte Markus.

»In Ordnung. Dann übernehme ich erst mal die Visite.«

»Danke, Adrian.«

»Dafür nicht.« Er klopfte dem Freund noch mal aufmunternd auf die Schulter, dann ging er hinüber zum Lift.

»Halt, ich komme mit!« Oberschwester Walli betrat im letzten Moment die Kabine. »Was ist denn mit dir los?« Forschend sah sie Adrian Winter an. »Sauer wegen irgendwas?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich mach’ mir Sorgen um Christina Bergmann. Sie ist vor einigen Stunden eingeliefert worden, aber wir wissen einfach nicht, was ihr fehlt.«

Walli zuckte die Schultern. »Sie ist zu dünn«, kommentierte sie. »Bestimmt hat sie eine Diät nach der anderen gemacht. Das rächt sich irgendwann, ich sag’s dir. Darum bin ich ja so pummelig – ich hab’ panische Angst vor Diäten.«

»Scherzbold.« Er mußte jetzt doch lächeln. Alle kannten Walli und Gewichtsprobleme. Sie war jedoch nicht dick, sondern nur ein wenig mollig. Aber es stand ihr, das versicherten ihr alle – in erster Linie natürlich ihr Freund.

Dennoch träumte die Oberschwester der Kurfürsten-Klinik oft davon, eine Mannequinfigur zu haben. Doch ihre Gene – und auch die mangelnde Eßdisziplin waren dagegen.

»Wo ist Dr. Reinhardt?« fragte Walli ablenkend.

»Bei Christina.«

Walli nickte. »Und wer macht denn die Visite auf der Chirurgie und der Intensivstation?«

»Ich. Kommst du mit?«

Die Oberschwester seufzte. »Was bleibt mir anderes übrig? Allein kommst du ja doch nicht klar.« Sie zwinkete ihm zu. »Und da hatte ich gedacht, mit Dr. Reinhardt hätten wir auf lange Sicht Verstärkung ins Team bekommen. Aber wie’s aussieht, behält unser Verwaltungschef recht. Er meint ja sowieso, daß wir ausreichend besetzt sind.«

Thomas Laufenberg war noch neu an der Klinik, und Adrian hatte schon einige hitzige Diskussionen mit ihm geführt. Immer wieder hörten die Ärzte, daß der Kliniketat begrenzt sei, daß für neue Mitarbeiter kein Geld da sei. Und jetzt arbeitete Markus hier. Noch…

»Wenn ich mir vorstelle, daß wir bald wieder ohne diesen guten Chirurgen auskommen müssen, überkommt mich das kalte Grausen«, fuhr Walli gedankenverloren fort.

Dr. Winter schüttelte den Kopf. »Sag mal, wie kommst du eigentlich dazu, so zu unken? Weißt du was, was ich nicht weiß?«

Die dunkelhaarige Oberschwester zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, wissen tu ich gar nichts. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, daß Dr. Reinhardt mit nach Paris geht – wenn Christina Bergmann wieder gesund ist.«

»Ja, aber…«

»Kein Aber. Die beiden sind füreinander bestimmt. Und ich bin mir ganz sicher, daß sie sich nie mehr aus den Augen verlieren wollen, wo sie sich endlich wiedergefunden haben.«

»Erst einmal muß Christina gesund werden. Alles andere kommt später.« Adrian Winter unterdrückte einen Seufzer und zwang sich, an das Naheliegende zu denken.

Und nun stand erst mal die Visite auf dem Programm.

Er ging von Zimmer zu Zimmer, kontrollierte den Verband von Frau Meurer, spendete dem alten Herrn Hausner, der völlig allein lebte und nie Besuch bekam, Trost, munterte den jungen Motorradfahrer auf, der einen doppelten Bein- und einen dreifachen Armbruch erlitten hatte – und kam schließlich zu Veronika Rübsam.

Die junge Frau hatte vor vier Tagen einen schweren Reitunfall gehabt und sich einige Wirbel verrenkt. Sie lag steif und still in einer Gipsschale und hatte nur eine Sorge: Würde sie bleibende Schäden davontragen?

Als der Arzt jetzt in Schwester Wallis Begleitung das Zimmer betrat, versuchte Veronika mühsam den Kopf in Richtung Tür zu wenden.

»Hallo, schöne Reiterin«, begrüßte Adrian Winter sie und lächelte aufmunternd. »Wie fühlen Sie sich?«

»Na, wie schon? Wie durch die Luft geflogen und unsanft gelandet«, gab die knapp Dreißigjährige lakonisch zurück. »Was ist mit mir? Können Sie endlich was sagen?«

Dr. Winter nickte. Er trat ans Bett und kontrollierte, ob die Gipsschale auch noch richtig angepaßt saß.

»Wir haben ja, wie Sie wissen, eine Computertomographie gemacht. Und die besagt, daß alles wieder in Ordnung ist – wenn Sie jetzt vernünftig sind und weiterhin still liegenbleiben.«

Veronika strahlte. »Aber ja! Keinen Millimeter werde ich mich voranbewegen!«

Der Arzt lächelte. »Das will ich auch hoffen. Sie haben ungeheures Glück gehabt. Ein paar Millimeter, und…«

»Sprechen Sie’s um Himmels willen nicht aus«, bat die Patientin. »Die Vorstellung hat mich Tag und Nacht gequält. Wissen Sie…« Sie streckte vorsichtig die Hand aus und griff nach einem Foto, das auf der Bettdecke lag. »Das hier ist Meteor, mein Pferd. Und im Hintergrund, der Bauernhof… das ist meine Zukunft.«

Adrian, der noch nicht viel von der Patientin wußte, sah sie fragend an. »Wie soll ich das verstehen?«

Sie lächelte. »Das ist ganz einfach. Ich will ein Therapiezentrum für körperlich und geistig behinderte Kinder aufbauen. Auf besagtem Bauernhof. Und Reiten ist für diese Kinder mit die beste Therapie.«

»Das ist unstrittig«, bestätigte Dr. Winter. »Ich muß sagen, da haben Sie sich viel vorgenommen.«

Die junge Frau lächelte. »Es wird schon klappen. Ein paar gute Freunde werden mich unterstützen. Ein Glück nur, daß ich nicht selbst zur Dauerpatientin werde.«

Adrian lächelte. »Ich bin sicher, daß Sie in einigen Wochen wieder auf dem Pferd sitzen werden.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Vielleicht sollte ich Sie mit meiner Schwester bekannt machen. Sie ist Kinderärztin und hat ganz ähnliche Vorstellungen und Träume wie Sie.«

»Das wäre interessant. Grüßen Sie Ihre Schwester einstweilen von mir. Und sagen Sie ihr, daß ich mich freuen werde, sie eines Tages bei mir begrüßen zu können.«

Als sie die Patientin verlassen hatte, meinte Adrian: »Wenn doch alle so viel Glück hätten wie Veronika. Sie ist nur um Haaresbreite einem Leben im Rollstuhl entgangen.«

»Sei nicht so pessimistisch.« Walli knuffte ihn kurz in die Seite. »Komm mit zu Klein-Katrin, das wird dich aufmuntern. Dem Baby geht’s von Tag zu Tag besser. Sie hat den Entzug schon fast hinter sich. Und sie wird immer süßer.«

Und wirklich – als er sah, wie gut sich das kleine Mädchen entwickelte, kehrte der alte Optimismus zu Adrian Winter zurück.

*

»Sie ist immer noch in der Lage, ordentlich zu reden.« Markus Reinhardt trank im Stehen eine Tasse Kaffee und sah seinen Freund sorgenvoll an.

Adrian biß sich auf die Lippen. »Ich wünschte, mir fiele die richtige Diagnose ganz spontan ein. Aber wir werden weitersuchen müssen. Versuch, soviel wie möglich von Christina zu erfahren.«

Der junge Chirurg nickte. »Mach ich. Und du fahr jetzt heim und ruh dich ein wenig aus.«

Adrian nickte zustimmend. Er fühlte sich wirklich ziemlich erschöpft und ausgelaugt, außerdem sehnte er sich nach einem schmackhaften Essen. Wie gut, daß Frau Senftleben ihm für heute einen ihrer delikaten Eintöpfe angekündigt hatte!

Diese Nachbarin war einfach Gold wert. Sie schien immer genau zu ahnen, wann er ein wenig Aufmunterung brauchte – und sie wußte auch, daß ihm ein Essen und ein Glas Wein oft über einen stressigen Tag hinweghalfen.

Es war schon spät, als er seine Wohnung aufschloß. Frau Senftleben, die einen Schlüssel besaß, hatte in der Küche gedeckt und den Suppentopf auf den Herd gestellt.

Neben dem Weinglas lehnte ein Zettel:

Guten Appetit – und schlafen Sie sich endlich mal aus. Sonst können Sie noch für Appetitzügler Reklame machen! Gruß – Ihre Carola Senftleben.

Adrian Winter lächelte, als er den Eintopf wärmte und zur Entspannung ein Glas Rotwein trank.

Als er aß, fiel sein Blick wieder auf den Zettel – und dann sprang er so hastig auf, daß das Weinglas beinahe umgefallen wäre.

»Das ist’s!« stieß Adrian hervor.

Er nahm sich gerade noch Zeit zu kontrollieren, ob der Herd auch ausgeschaltet war, dann stürmte er mit großen Schritten aus der Wohnung.

Im Hausflur kam ihm Carola Senftleben entgegen. Sie trug ein elegantes nachtblaues Ensemble und summte laut eine Opernmelodie vor sich hin.

»Achtung… Mitmenschen!«

»Entschuldigung, Frau Senftleben!« Er umarmte sie kurz. »Sie sind ein Schatz, wissen Sie das?«

»Klar doch.«

Adrian war schon fast an der Haustür, als er rief: »Wenn das stimmt, was ich vermute, lade ich Sie ins Theater ein. Oder auch in die Oper – wenn’s nicht gerade Wagner gibt.«

»Ich nehme Sie beim Wort«, gab Carola Senftleben zurück und stieg, weiterhin summend, hoch zu ihrer Wohnung.

*

Christina Bergmann lag blaß und fahl in ihrem Bett. Besorgt stellte Markus Reinhardt fest, daß sie immer mehr auszutrocknen drohte. Auch konnte sie wieder nicht reden, sah ihn aber immer wieder mit einem so verzweifelten Blick an, daß er am liebsten losgeheult hätte.

Er hatte schon die Internistin Julia Martensen hinzugezogen, doch auch sie wußte nicht, was zu tun war, und mußte eingestehen, daß sie sich selten so hilflos gefühlt hatte.

Niemand ahnte, daß Schwester Bea, 18 Jahre alt, blond und keß, am Abend ein langes Gespräch mit dem Patienten Bergmann geführt hatte.

»Wissen Sie eigentlich, daß Ihre Tochter auch Patientin bei uns ist?« hatte sie unumwunden gefragt, als sie das Abendessen abgeräumt hatte.

»Ich habe keine Tochter mehr«, hatte der Fabrikant nur geknurrt.

»Unsinn. Hören Sie auf, mir den Griesgrämigen vorzuspielen. Ich weiß genau, daß Sie ganz anders sind.« Bea hatte dem Fabrikanten ihr schönstes Lächeln geschenkt – und tatsächlich seine Aufmerksamkeit geweckt.

»Was ist los? Was wollen Sie mir sagen?« hatte der Kranke gefragt.

»Ihre Tochter Christina ist schon seit Tagen in Berlin. Genauer gesagt seit dem Tag, an dem Sie hier eingeliefert wurden. Sie macht sich große Sorgen um Sie. Aber das wissen Sie ja.« Bea hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Ich hab’ genau gehört, daß Dr. Winter mit Ihnen über Ihre Tochter gesprochen hat und…«

»Sie belauschen also Ihre Patienten.«

»Unsinn. Ich nehme nur alles wahr, was wichtig ist. Und wichtig ist, daß Ihre Tochter seit heute hier liegt – und daß sich alle große Sorgen um sie machen. Sie hat irgendeine Krankheit, die ganz offenbar niemand kennt.«

»Und?« jetzt richtete der alte Mann im Bett sich auf, Sorge stand in seinem Gesicht. Von Ablehnung keine Spur mehr.

Bea mußte eingestehen, daß sie nicht mehr wußte. »Ich wollte Ihnen nur sagen, was los ist. Ich finde, Sie müssen wissen, daß Ihr Kind krank ist. Oder?« Jetzt hatte sie doch ein wenig Angst vor der eigenen Courage bekommen.

»Sie haben recht, Danke.« Seine Miene war wieder undurchdringlich, aber davon ließ sich die kesse Bea nicht beeindrucken.

»Wenn Sie etwas möchten – oder wenn ich Sie irgendwohin bringen soll mit dem Rollstuhl, müssen Sie’s nur sagen.«

Ein Knurren vom Bett her war die einzige Antwort, doch damit war Bea schon zufrieden.

Es vergingen aber noch mehr als fünf Stunden, bis Sebastian Bergmann läutete und zur Überraschung von Schwester Monika nach Bea verlangte.

»Sie meinen unsere Lernschwester Bea?« fragte sie ungläubig.

»Ja. Wenn sie bildhübsch, blond und frech mit dem Mundwerk ist.«

»Ist sie«, bestätigte Monika, und sie ging hinaus, um Bea zu dem Fabrikanten zu schicken.

»Also doch!« Bea strahlte höchst zufrieden.

»Was hast du wieder angestellt?« fragte Monika, die das überschäumende Temperament der jungen Kollegin nur zu gut kannte.

»Nichts.« Bea tat ganz unschuldig. »Ich hab’ nur versucht, ein bißchen Familienzusammenführung zu betreiben. Und jetzt wird mich Herr Bergmann wahrscheinlich bitten, ihn zu seiner Tochter zu bringen. Ich nehme mir schon mal einen Rollstuhl mit.«

So ausgestattet, betrat sie nach kurzem Anklopfen das Zimmer des Fabrikanten, und ohne sich noch lange mit Widerspruch oder Diskussionen aufzuhalten, brachte Bea ihn zu Christina.

Der alte Mann zuckte zusammen, als er seine Tochter wiedersah. So elend wirkte sie! So ausgezehrt. Und obwohl er sie ansprach, obwohl er immer wieder ihren Namen rief und ihre Hand hielt, reagierte sie nicht.

Es ging auf Mitternacht zu, und Dr. Reinhardt, der ebenfalls an Christinas Bett saß, mahnte: »Sie müssen in Ihr Zimmer zurück, Herr Bergmann. Sie sind selbst noch sehr krank, und es wäre nicht gut, ein Risiko einzugehen.«

»Unsinn. Mir geht’s hervorragend – im Gegensatz zu meinem Kind. Was, zum Teufel, ist nur mit ihr los?«

»Wenn wir das wüßten!«

Die beiden Männer fielen jetzt wieder in gemeinschaftliches Schweigen zurück. Hin und wieder kontrollierte Dr. Reinhardt Christinas Puls- und Kreislauffunktionen, aber mehr konnte er nicht tun. Man hatte eine Infusion angelegt, da die Patientin merkwürdig ausgetrocknet gewirkt hatte. Jetzt war die Haut wieder glatter, wirkte besser durchblutet.

Und plötzlich schlug die Kranke die Augen auf. »Vati…« Die Stimme war nur ganz leise, aber der alte Mann im Rollstuhl reagierte sofort.

»Christina!« Er beugte sich vor, versuchte gar aufzustehen, aber da war Markus Reinhardt schon bei ihm und drückte ihn behutsam auf den Sitz zurück.

»Was ist mit mir?« Fragend sah die junge Frau von einem zum anderen.

»Du hattest einen kleinen Zusammenbruch, erinnerst du dich?« fragend sah Markus sie an.

»Ja. Ich… ich konnte nicht mehr richtig sprechen. Und elend war mir. Komisch, das hatte ich vor ein paar Tagen schon mal. Aber nicht so schlimm.«

»Wir haben dich schon gefragt, ob du irgend etwas gegessen hast, das aus dem Rahmen fiel, aber…« Markus zuckte die Schultern. »Überleg noch mal ganz genau. Es ist wichtig, Christina!«

Die Schauspielerin schloß die Augen, konzentrierte sich, versuchte sich zu erinnern.

Aber das fiel ihr schwer. Unsagbar schwer. Immer wieder glitten die Gedanken fort…

Leise wurde an die Tür geklopft, und gleich darauf trat

Adrian Winter ein.

Als er sah, daß auch Christinas Vater da war, atmete er schneller. Es ging der Patientin doch wohl nicht so schlecht, daß man ihren Vater gerufen hatte?

Aber ein Blick auf die junge Frau beruhigte ihn. Er wandte sich an Markus Reinhardt:

»Ist sie mal wach geworden« wollte er wissen.

»Und sie ist ansprechbar.«

»Das ist gut.« Adrian legte die Hand auf Christinas Arm und drückte ihn sacht. »Hallo, ich bin’s – Adrian Winter. Frau Bergmann… hören Sie mich?«

»Ja.« Christina öffnete die Augen.

»Sagen Sie, haben Sie in den letzten Wochen eine Hungerkur gemacht?«

Die Patientin nickte. »Ja. Für die neue Rolle mußte ich abnehmen.«

»Und die Dreharbeiten – wo haben die stattgefunden?«

»Erst an der Riviera, dann in Paris.«

»Und immer war Sonnenschein, ja?«

Markus sah den Freund und Kollegen verständnislos an. Was bezweckte Adrian mit all diesen Fragen?

Christina, die bereits wieder müde wurde, mußte sich zwingen zu antworten: »Ja, leider. Ich bekomme so rasch eine Sonnenallergie.«

»Das ist es!« rief Dr. Winter triumphierend. »Gegen diese Allergie haben Sie bestimmt Kalzium genommen, ja?«

Sie nickte. »Klar. Brausetabletten. Die helfen immer.«

»Ach, du liebe Güte«, murmelte Markus Reinhardt, dem inzwischen auch klargeworden war, worauf sein Freund hinauswollte. »Darauf kommt man nicht so leicht.«

Dr. Winter nickte. »Sie hat eine extreme Hyperkalziämie, dazu eine Exsikkose.«

»Die zu starke Kalziumzufuhr, die Hautaustrocknung… alles Symptome. Aber es fehlten uns noch einige, um wirklich sofort die richtige Diagnose stellen zu können.«

»Da hast du recht. Sie hat zwar über Übelkeit geklagt, aber nicht in starkem Maße. Von Muskelschwäche war gar nichts zu merken. Auch haben wir keine Polyurie, also eine krankhafte Vermehrung der Harnmenge festgestellt.«

Markus streichelte Christinas Wange und lächelte ihr aufmunternd zu. »Wenn man den Feind erst mal erkannt hat, kann man ihn bekämpfen – und das werden wir jetzt auch tun.«

»Es wäre wahrscheinlich gar nicht zu einem solch massiven Verlauf der Erkrankung gekommen, wenn Sie vorher nicht so stark gehungert hätten, Christina.«

Die schöne junge Frau zuckte die Schultern. »Ich mußte doch! Für die Rolle war’s wichtig, wie ein ganz junges Mädchen zu wirken – zart und zerbrechlich!« Sie schnitt eine kleine Grimasse. »Und das bin ich ja eigentlich nicht.«

Dr. Reinhardt beugte sich über sie. »Für mich bist du die Schönste – und meine Traumfrau.«

Christina lächelte. »Herr Doktor. Ich glaube, das ist die Medizin, die ich am meisten brauche.«

»Nichts da«, bestimmte Dr. Winter. »Jetzt wird erst mal ganz vernünftig das getan, was ich anordne. Wir werden morgen früh auch noch die Kollegin Martensen hinzuziehen. Alles andere hat Zeit.«

Christina nickte. Sie fühlte sich schon wieder völlig schlapp, doch es war ein gutes Gefühl zu wissen, daß man ihr jetzt wirkungsvoll helfen konnte. Und wenn sie Markus ansah, wenn sie in seinen Augen las, was er für sie empfand, dann fühlte er sich schon wieder richtig glücklich.

Adrian Winter ging zur Tür. »Drei Minuten noch«, sagte er und zwinkerte dem Freund zu.

Markus beugte sich tiefer über Christina. »Drei Minuten… das ist viel zu wenig um dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe.«

»Sag’s einmal«, flüsterte sie.

Zärtlich nahm er ihr Gesicht in seine Hände. »Ich liebe dich, Christina. Ich glaube, ich habe dich schon als ganz junger Mann geliebt. Und dieses Gefühl ist immer mehr gewachsen. Ich will dich nie wieder loslassen. Wir gehören zusammen, ja?« Sie nickte, dann schloß sie die Augen – und war eingeschlafen.

Von den Infusionen, die man ihr in den nächsten Stunden anlegte, merkte sie nichts mehr. Sie spürte auch keine Beschwerden mehr.

Doch Markus’ Nähe war ihr bewußt, tief im Innern merkte sie, daß er da war. Und dieses Wissen zauberte ein kleines Lächeln auf ihr schönes blasses Gesicht.

*

»Ihre Schwester ist da, Herr Doktor«, meldete Lernschwester Bea, und schon trat Esther in das Büro ihres Bruders.

»Ich bin gerade in der Nähe und wollte mal sehen, was unser süchtiges Baby macht.« Sie ließ sich Adrian Winter gegenüber in einen der Besuchersessel fallen. »Du selbst scheinst ja nicht mehr zu Hause zu wohnen, sondern nur noch in der Klinik – also mußte ich herkommen.«

Schwester Bea zog es vor, schnell wieder hinauszugehen. Sie hätte der Besucherin gern noch einen Kaffee angeboten, doch da wurde offenbar eine sehr private Unterredung geführt, da wollte sie nicht stören.

Adrian Winter grinste. »Stimmt, Schwesterchen. Ich bin hier voll im Einsatz. Aber… es zahlt sich aus. Ich hab’ mir schon einen Kuppelpelz verdient, hab’ geholfen, unser kleines Sorgenkind aufzupäppeln, hab’ einen alten Mann mit seiner Tochter versöhnt und…«

»Du bist ein Held«, grinste Esther respektlos. »Aber jetzt mal im Ernst: Was macht das Baby?«

»Dem geht’s schon richtig gut. Klein-Katrin hat den Entzug schon recht gut verkraftet, ich denke, daß sie bald ganz gesund ist.«

»Und dann? Was passiert dann mit ihr? Das Jugendamt wird sie in einem Säuglingsheim unterbringen, man wird Adoptiveltern suchen…«

Dr. Winter nickte. »Natürlich. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Aber ich denke, daß sorgfältig ausgewählte Adoptiveltern der Kleinen einen besseren Start ins Leben geben können als die leibliche Mutter.«

Esther nickte. »Da hast du schon recht. Und ich wüßte auch ein junges Paar, das ideal wäre. Sie sind Patienten eines Kollegen und ganz reizend.« Sie griff nach der Schale mit Fruchtbonbons, die immer auf Adrians Tisch stand, und steckte sich eine der Leckereien in den Mund. »Wenn ich gerade hier bin, würde ich gern mal zur Intensivstation hochgehen. Kommst du mit?«

»Einverstanden. Laß mich nur schnell die Unterschriftenmappe rüber ins Sekretariat bringen.«

Einige Minuten später betraten sie die Intensivstation. Zu ihrer Überraschung stand Christina Bergmann neben dem Inkubator. In dem dunkelblauen Bademantel aus weichem Nickistoff sah die junge Schauspielerin noch zarter, noch zerbrechlicher aus. Aber sie hatte wieder rosige Wangen, fühlte sich alles in allem auch wieder wohler.

Die Schrecken, die sie vor drei Nächten durchlebt hatte, waren vergangen. Sie fühlte sich dank intensiver Behandlung wieder ganz gut. Und da sie jetzt wußte, wie sehr Markus sie liebte, sah die Zukunft nur noch rosig aus.

»Ich glaube, unsere kleine Katrin nimmt jeden, der sie kennenlernt, für sich ein«, meinte Dr.Winter. »Sie sind ihrem Liebreiz auch verfallen, nicht wahr, Christine?«

»Unbedingt. Und… ich weiß, daß Markus ganz vernarrt in das Baby ist. Er gibt es zwar nicht zu, aber er würde Katrin gern für immer bei sich behalten.« Sie zögerte, warf noch einen langen Blick auf das Baby, das ganz friedlich in seinem Bettchen lag und am Daumen lutschte, dann wandte sie sich an Dr. Winter. »Was meinen Sie – besteht die Chance, daß Markus und ich das Baby adoptieren?«

»Aber… Sie sind nicht verheiratet«, wandte der Arzt ein.

Ein zärtliches Lächeln glitt über Christinas Gesicht. »Noch nicht«, sagte sie, »aber ich denke, daß sich dieser Zustand rasch ändert.«

»Dann will ich mal wieder gehen«, sagte Esther Berger leise.

»Ihnen alles Gute.« Sie gab Christina die Hand, beugte sich kurz über Klein-Katrin und wollte schon die Station verlassen, als ihr Bruder sie zurückhielt.

»Warte noch einen Moment, ja? Ich möchte dich gern mit einer jungen Frau bekannt machen, die ganz tolle Pläne hat – Pläne, die dich mit Sicherheit interessieren werden.«

Gemeinsam gingen sie in Veronika Rübsams Zimmer. Die aparte junge Frau mit den langen dunklen Naturlocken lag im Bett und las. Auf ihrem Nachtisch standen zwei kleine Blumensträuße, doch das Pferdebild im schlichten grünen Holzrahmen war unübersehbar.

»Mein Gott, ist der schön!« Esther schaute unentwegt auf das Bild.

Veronika lächelte. »Nicht wahr? Er ist mein ganzer Stolz. Ich hab’ ihn vor drei Jahren als ganz junges Tier gekauft und selbst eingeritten. Er ist lammfromm und…« Sie unterbrach sich. »Entschuldigung, aber wenn’s um Meteor geht, vergesse ich sogar manchmal meine gute Erziehung.«

»Dann müssen wir uns auch entschuldigen, weil wir einfach so hier eindringen«, lachte Esther. »Aber mein Bruder meinte, ich müsse Sie unbedingt kennenlernen. Und jetzt weiß ich auch, wieso. Ich bin nämlich eine Pferdenärrin. Und wenn ich träume – was zum Glück nicht oft vorkommt – träume ich davon, mit meinen kleinen kranken Patienten hinaus zu einem Bauernhof zu fahren, wo die Kinder reiten, toben, eventuell mit ein paar Kaninchen spielen können…«

»Ich laß euch allein«, warf

Adrian ein. »Oder werde ich noch gebraucht?«

»Nein«, antworteten die beiden Frauen wie aus einem Mund. Und gleich darauf waren sie in eine lebhafte Unterhaltung verstrickt. Daß sie sich kaum kannten, daß sie gar nichts voneinander wußten, war unwichtig. Sie hatten die gleichen Wünsche und Träume, die gleichen Sehnsüchte und Ziele – nur das zählte.

Als Esther nach einer knappen Stunde ging, waren sie und Veronika schon fast Freundinnen geworden. Auf jeden Fall stand fest, daß sie sich von dem heutigen Tag an nicht mehr aus den Augen verlieren würden.

Als Esther durch die Klinikhalle ging, sah sie Markus kommen. Sie winkte ihm zu.

»Hallo, Esther. Wollen Sie zu Adrian?« Der junge Arzt eilte mit langen Schritten auf sie zu.

»Nein, da war ich schon. Und auch bei Klein-Katrin. Ich hätte eventuell Adoptiveltern für sie gehabt. Aber ich glaube, daß da schon jemand anders ist, der die Kleine unbedingt haben will. Nicht wahr?«

Markus nickte mit einem strahlenden Lächeln. »Ja, wenn Christina einverstanden ist, möchte ich die Kleine adoptieren.«

»Sie ist einverstanden«, meinte Esther. »Aber… Sie sollten sie vorsichtshalber noch selbst fragen. Es macht sich einfach gut. Und – vergessen Sie die Rosen nicht!«

»Danke.« Markus drehte sich auf dem Absatz um und stürzte wieder davon.

Esther sah es nicht mehr, aber schon wenige Minuten später kam er zurück, einen herrlichen Strauß roter Rosen im Arm.

»Schon wieder im Dienst, Herr Doktor?« neckte ihn Monika, als er an ihr vorbeistürmte.

»Immer, das weiß doch hier jeder«, gab Markus gutgelaunt zurück.

Er blieb erst kurz vor Christinas Zimmertür stehen. Auf einmal drohte ihn der Mut zu verlassen. »Los, du kannst nicht noch mal zehn Jahre vergehen lassen, bis du dich zu ihr bekennst«, sagte er leise zu sich selbst – und klopfte an.

»Herein!« Es war eine dunkle, selbstsichere Männerstimme, die das rief.

Als Markus eintrat, sah er Christina aufrecht im Bett sitzen, ihren Vater im Rollstuhl neben sich.

»Guten Tag, ich…«

»Du wolltest wohl um die Hand meiner Tochter anhalten, was?« fragte der Fabrikant lachend. »Nimm sie dir, mein Junge. Aber unter einer Bedingung: Ihr bleibt von nun an beide in Deutschland. Auch hier sind begabte Schauspielerinnen gefragt. Und Ärzte auch.«

Er verriet nicht, daß er insgeheim schon ins Auge gefaßt hatte, Markus eine eigene Praxis zu kaufen. Sein Schwiegersohn sollte, wenn er denn schon nicht die Firma übernahm, so doch wenigstens selbständig sein, sich seine Arbeit einteilen können.

Wenn er es recht überlegte, wäre eine Gemeinschaftspraxis ideal… Der Fabrikant rollte, so rasch es ging, zurück in sein Zimmer. Die beiden Verliebten merkten es nicht. Und er verkniff es sich, noch eine Bemerkung zu machen. Christina hatte ihm bei ihrer Aussprache klar und deutlich zu verstehen gegeben, daß sie ein erwachsener Mensch war, der seine eigenen Entscheidungen traf. Und daß sie es nicht akzeptieren würde, wenn er sich in irgendeiner Weise einmischte. Aber die Sache mit der Praxis, die würde er deichseln. Irgendwie. Er mußte zunächst ja nicht in Erscheinung treten. Wozu hatte er weitreichende Beziehungen?

Er lächelte selbstzufrieden vor sich hin, als er zum Telefon griff und einige Gespräche führte.

Markus war unterdessen zu Christina getreten und hatte ihr die Rosen aufs Bett gelegt.

»Jetzt brauche ich eigentlich ja gar nichts mehr zu sagen«, meinte er. »Dein Vater hat schon alles vorweggenommen.«

»Aber ich will nicht ihn heiraten«, lächelte sie.

»Hoffentlich mich.« Markus nahm ihre Hände und hielt sie mit festem Druck umschlossen. »Tina, ich liebe dich schon seit einer kleinen Ewigkeit, das weißt du. Und – du liebst mich auch, nicht wahr?«

Sie nickte nur.

»Dann heirate mich. So schnell wie möglich.« Er zog sie fest an sich. »Am besten gleich morgen.«

»Geht leider nicht«, flüsterte sie dicht vor seinen Lippen. »Ich bin hier Patientin!«

»Ich werde dafür sorgen, daß du so rasch wie möglich in häusliche Pflege entlassen wirst.«

»Wundervoll«, seufzte sie. Und dann sprachen sie eine geraume Zeit nichts mehr. Aber das, was sie taten, sagte mehr als tausend Worte, wie sehr sie sich liebten.

*

Vier Wochen später wurde in der Villa Bergmann Verlobung gefeiert.

Alle aus der Kurfürsten-Klinik, die Christina und ihren Vater betreut hatten, waren eingeladen – sofern sie dienstfrei hatten.

Das Brautpaar empfing seine Gäste in der blumengeschmückten Halle. Lohndiener hielten sich bereit, um den Ankommenden sofort eine Erfrischung zu reichen.

Adrian Winter trat auf den Freund und seine schöne Braut zu.

»Ich gratuliere von Herzen«, sagte er und überreichte Christina einen kleinen Strauß weißer Rosen und ein Päckchen. Freundschaftlich küßte er sie dann auf beide Wangen. »Und dich, mein Alter, ich beneide dich«, wandte er sich an Markus.

»Ich weiß. Aber ich hoffe, daß du uns unser Glück gönnst.«

»Von Herzen.«

Christina wog das Päckchen in der Hand. »Ich bin neugierig. Darf ich’s schon aufmachen?«

Adrian nickte schmunzelnd und sah zu, wie die schöne blonde Frau die Verpackung öffnete.

»Das ist originell!« Christina hielt lachend zwei Bücher über Säuglingspflege hoch.

»Schau hinein«, sagte Adrian. »Im ersten Buch liegt noch was.«

Christina kam der Aufforderung nach, und im nächsten Moment jubelte sie auf.

»Das ist das schönste Geschenk!« Spontan fiel sie Adrian um den Hals.

Markus hatte jetzt auch gesehen, was in dem Buch lag – ein Schreiben, das recht amtlich aussah. Und es enthielt die Zusage, daß die kleine Katrin gleich nach der Entlassung aus der Klinik Herr Dr. Reinhardt und Gattin in Pflege gegeben werden würde. Über eine Adoption würde zu einem späteren Zeitpunkt entschieden werden.

»Jetzt seid ihr in Zeitdruck«, meinte Adrian. »Ihr müßt rasch heiraten, sonst…«

»Machen wir«, fiel Markus ihm ins Wort. »Dieses Verlobungsfest feiern wir eigentlich meinem Schwiegervater zuliebe. Er will allen Leuten zeigen, wie glücklich er ist, daß er wieder mit Christina versöhnt ist.«

»Ich bin ja genauso froh wie er«, meinte die junge Frau. »Und im Grunde meint er es ja immer nur gut.«

Markus nickte. Dann nahm er Adrian kurz zur Seite. »Ich muß dir was sagen: Stell dir vor, mir ist eine eigene Praxis angeboten worden. Hier ganz in der Nähe. Der Kollege will aus Altersgründen aufhören, hat aber noch einen zweiten Mann beschäftigt. Auch einen Chirurgen, der gern die ambulante Praxis beibehielte. Was meinst du?«

Adrian Winter seufzte auf. »Ich hatte so gehofft, du würdest im Team der Kurfürsten-Klinik bleiben. Aber eine solche Chance wird einem nicht oft geboten.«

Markus nickte. »Ich bin sicher, daß der alte Bergmann da seine Finger im Spiel hat – aber ich kann’s nicht beweisen.«

»Dann laß es und genieße dein Glück. Christinas Vater war lange genug eigensinnig und starrköpfig. Erst als er Angst um Christinas Leben bekam, ging er in sich. Und daß er sich jetzt so positiv verändert hat, daß er alles tun will, um seine Tochter glücklich zu sehen, ist doch wundervoll!«

Dr. Reinhardt nickte, und dann gingen sie wieder zurück zu Christina, die ihnen schon zwei gefüllte Champagnerkelche entgegenhielt. »Auf uns – und unsere Freundschaft«, sagte sie. Adrian und Markus nickten und tranken.

»Auf euch beide«, sagte Adrian Winter dann. »Und darauf, daß ihr bald eine kleine glückliche Familie sein werdet.«

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman

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