Читать книгу Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 9

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»Wahnsinn!« murmelte Dr. Adrian Winter vor sich hin und fuhr sich mit der rechten Hand durch seine dunkelblonden Haare. »Echter Wahnsinn! Wer hätte das gedacht?« Wie angewurzelt stand er da, den Kopf in den Nacken gelegt und sah sich bewundernd um.

Er hatte seinen freien Sonntag dazu benutzt, allein ein wenig aufs Land zu fahren – und nun stand er in dieser kleinen Kirche, die er eigentlich nur aus einer Laune heraus betreten hatte. Denn daß sie eine Sehenswürdigkeit war, hatte er nach ihrem unscheinbaren Äußeren nicht annehmen können. Und jetzt also das: Wunderbare Fresken, meisterlich restauriert, zogen sich an den Wänden entlang. Er hielt den Atem an. »Wirklich unglaublich!«

»Freut mich, daß Sie so beeindruckt sind«, sagte eine sanfte Stimme in seinem Rücken.

Er fuhr herum. »Meine Güte, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt«, sagte er zu dem schlanken dunkelhaarigen Mann mit dem schmalen Gesicht, der hinter ihm stand. Er hatte auffallende blaue Augen, die Adrian voller Interesse betrachteten. »Ich dachte, ich bin allein, ich habe Sie überhaupt nicht kommen hören.«

»Ich bin auch nicht gekommen, ich war schon die ganze Zeit da«, erklärte der andere lächelnd. »Sie haben mich bloß nicht bemerkt, als Sie hereingekommen sind.«

»Ich weiß nicht einmal, warum ich überhaupt in diese Kirche gegangen bin«, meinte Adrian nachdenklich. »Jedenfalls habe ich nicht solche Sehenswürdigkeiten erwartet, das muß ich sagen.«

»Es gefällt Ihnen also wirklich?«

»Natürlich! Wem gefiele das nicht? Wenn Sie die ganze Zeit in der Kirche waren, müssen Sie doch gehört haben, was ich gesagt habe.« Adrian lächelte. »Normalerweise spreche ich nicht mit mir selbst, aber in diesem Fall mußte ich meine Bewunderung einfach laut zum Ausdruck bringen.«

Neugierig sah er den anderen an. »Interessieren Sie sich aus einem bestimmten Grund für diese Fresken?« fragte er.

»Ja«, lautete die schlichte Antwort. »Ich habe sie restauriert und frage mich manchmal, ob die Farben nicht zu üppig für diese bescheidene kleine Kirche ausgefallen sind.«

»Aber nein!« rief Adrian. »Wie kommen Sie denn auf die Idee? Dadurch wird doch alles so plastisch, daß man beinahe das Gefühl hat, ein Teil der dargestellten Szenen zu sein.«

»So empfinden Sie das also?« fragte der andere nachdenklich. »Das ist sehr schön. Übrigens: mein Name ist John Tanner.«

»John?« fragte Adrian. »Sind Sie Engländer oder Amerikaner? Sie haben gar keinen Akzent.«

»Ich bin Berliner«, lachte der junge Mann. »Mein kompletter Vorname ist Jonathan, und daraus ist schon sehr früh ›John‹ geworden.«

»Ich bin Adrian Winter und arbeite in der Notaufnahme an der Kurfürsten-Klinik.«

»Arzt?«

Adrian nickte. »Unfallchirurgie.«

Die beiden Männer schüttelten einander die Hand, dann bat Adrian: »Erklären Sie mir noch ein wenig, was Sie hier gemacht haben. Es interessiert mich wirklich sehr.«

John Tanner lachte, und sein schmales Gesicht bekam auf einmal etwas Jungenhaftes. Sonst wirkte er eher ernst, aber in diesem Augenblick sah er aus wie ein Lausejunge. »Sie hätten die Kirche mal sehen sollen, als ich mit der Arbeit begonnen habe, Herr Winter. Armselig sah sie aus, anders kann man es nicht ausdrücken. Kalt und zugig war es hier, die Farben an den Wänden blätterten ab. Verrottetes Gestühl, kaputte Fliesen auf dem Fußboden. Schlechte Beleuchtung, marode Heizung. Es war reiner Zufall, daß die Fresken entdeckt worden sind. Eine elektrische Leitung war defekt, die Wände mußten zum Teil aufgeklopft werden – und da fand man auf einmal ›so komische Zeichnungen‹, wie sich einer der Handwerker damals ausgedrückt hat.«

Er lächelte bei der Erinnerung. »Na ja, dann wurde ich gebeten, mir die Sache anzusehen. Meine Hoffnung, etwas wirklich Wertvolles zu finden, war nicht sehr groß – aber ich hatte mich geirrt. Doch mit dieser Entdeckung fingen die Probleme erst an, denn natürlich war kein Geld da, um mich für meine Arbeit zu bezahlen.«

»Und wie wurde dieses Problem gelöst?«

»Spendenaufrufe«, antwortete John Tanner sachlich. »Man glaubt es nicht, aber wenn man es schafft, die Menschen für etwas zu begeistern, dann mobilisieren sie ungeheure Kräfte. Jedenfalls war nach kurzer Zeit zumindest so viel da, daß ich mich bereiterklärt habe, mit der Arbeit zu beginnen…«

Er sagte es nicht, aber Adrian konnte sich denken, daß er mit weniger Geld zufrieden gewesen war, als ihm eigentlich zugestanden hätte. Wenn er John Tanner richtig einschätzte, dann war dieser ein Mann, der seine Arbeit liebte und dem Geld nicht so wichtig war.

»Und während ich gearbeitet habe, konnten die Leute ja immer verfolgen, was mit ihrem Geld geschah. Offenbar waren sie zufrieden, denn sie haben weiterhin gespendet, und heute sind sie sehr stolz auf ihre kleine Kirche.«

»Mit Recht«, sagte Adrian und ließ seinen Blick erneut in die Runde schweifen. »Sie ist wunderschön.«

»Ich habe zwei Jahre hier zugebracht, können Sie sich das vorstellen?«

»Und wann sind Sie mit der Arbeit fertig geworden?« erkundigte sich Adrian.

»Erst vor einem Monat, aber ich kann mich noch immer nicht von der Kirche trennen. Sie ist mir während dieser zwei Jahre fast zu einem Zuhause geworden.«

»Verständlich«, meinte Adrian. Dann kam ihm ein Gedanke. »Sagen Sie, haben Sie etwas vor? Oder darf ich Sie zu einem frühen Abendessen einladen? Aber nur, wenn Sie mir als Gegenleistung noch mehr erzählen.«

»Da sage ich bestimmt nicht nein«, antwortete John Tanner lächelnd. »Ich rede sowieso gern über meine Arbeit. Und wenn sich dann noch jemand wirklich dafür interessiert, dann bin ich kaum noch zu bremsen.«

»Um so besser!« Adrian lachte.

»Aber ein wenig könnten Sie mir auch erzählen, was Sie so machen. Die Arbeit in einer Notaufnahme stelle ich mir sehr anstrengend vor.«

»Das ist sie auch, aber für mich ist sie genau das Richtige«, erklärte Adrian. »Es gibt jedenfalls nichts anderes, das ich lieber täte. Und das war schon immer so. Ich gehöre also nicht zu den Menschen, die ständig sagen: ›Ich würde so gern dies oder jenes tun.‹ Ich habe genau den Beruf, den ich haben wollte.«

»Wie ich«, stellte John nachdenklich fest. »Wissen Sie eigentlich, daß das sehr selten ist?«

Adrian nickte. Langsam verließen sie die Kirche. »Ich glaube, ich werde in Zukunft gelegentlich hierherkommen und Ihren Fresken ›Guten Tag‹ sagen, Herr Tanner. Ich verstehe gar nicht, daß die Leute nicht Schlange stehen, um sie zu bewundern.«

»Normalerweise tun sie das«, erwiderte der junge Restaurator bescheiden. »So viel Zulauf wie in den letzten Wochen hat die kleine Kirche lange nicht mehr erlebt. Aber es wird ja schon langsam Abend, da fahren die Leute wieder nach Hause. Tagsüber war hier sehr viel los.«

»Gut, daß ich jetzt erst gekommen bin«, stellte Adrian zufrieden fest. »Ich hätte Ihre Fresken nicht gern mit vielen anderen geteilt.«

»Kommen Sie«, sagte John Tanner. »Ich weiß einen wunderbaren Gasthof hier in der Nähe, der wird Ihnen auch gefallen. Und dann erzähle ich Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«

Adrian folgte ihm. Welch großartiger Abschluß für diesen Sonntag, dachte er. Er durfte nicht versäumen, Esther, seiner Zwillingsschwester, von dieser Kirche und John Tanner zu erzählen.

*

Mareike Sandberg versuchte mit aller Macht, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie wußte genau, wie ihr Mann darauf reagieren würde, und das wollte sie vermeiden. Er stand vor ihr, groß und kräftig, und sah ein wenig spöttisch auf sie herunter, wie er es immer tat, wenn sie wieder einmal vergeblich versucht hatte, ein offenes Gespräch mit ihm zu führen. Mareike fühlte, wie ihr Mut sie verließ. Es war aussichtslos, wie jedes Mal. Sie kam nicht einen einzigen Schritt weiter.

Robert Sandberg war fünfzehn Jahre älter als seine Frau. Dreiundvierzig war er gerade geworden, und er war einer der erfolgreichsten Industriellen des Landes. Ein imposanter Mann von hohem Wuchs und breiter Statur, einem energischen Gesicht mit harten Lippen und kalten blauen Augen. Seine braunen Haare waren bereits von grauen Fäden durchzogen.

Mareike dagegen war zierlich und blond, eine schöne junge Frau von achtundzwanzig Jahren. Ihre Haare fielen ihr weich und glatt in einem schönen Schwung bis auf die Schultern, das ebenmäßige Gesicht bekam seine pikante Note durch den etwas zu vollen Mund und die kleine Nase. Die Augen waren groß und braun, von dichten dunklen Wimpern gesäumt.

Vor drei Jahren, als sie Robert Sandberg geheiratet hatte, war er ihr wie ein Märchenprinz erschienen – aber mittlerweile fragte sie sich immer häufiger, ob sie die Begeisterung beider Familien über diese Verbindung nicht einfach mit Liebe verwechselt hatte.

Aber damals schien alles einfach perfekt zu sein. Auch Mareike kam aus einem reichen Haus, und sie brachte alle Voraussetzungen mit, um die ideale Ehefrau von Robert Sandberg zu werden. Sie war schön und immer elegant angezogen. Nie sah man sie schlampig oder auch nur nachlässig gekleidet. Sie konnte ein großes Haus führen, und sie hatte es direkt nach der Heirat mit ungewöhnlichem Geschmack, aber absolut stilsicher eingerichtet. Sie wußte, wie man mit Personal umging, und sie hatte keine Schwierigkeiten damit, große Summen zu verwalten. Ihre Umgangsformen waren tadellos – und selbst bei Gesellschaften in höchsten Kreisen machte sie nie einen Fehler. Sie war liebenswürdig und charmant, dabei intelligent und gebildet.

Sie war perfekt als Frau für Robert Sandberg, so hatten es seinerzeit alle gesehen, sie selbst eingeschlossen.

Aber Robert Sandberg war nicht der richtige Mann für sie. Sie begriff das allmählich, wehrte sich jedoch noch immer gegen diese Erkenntnis. Sie wollte alles richtig machen. Eine Trennung von einem so mächtigen und angesehenen Mann wie Robert aber würde mit Sicherheit nicht nur von ihren Eltern als Schandfleck in der Familienchronik angesehen.

Aber es ließ sich nicht leugnen, daß sie immer häufiger davon träumte, noch einmal ganz von vorn anzufangen und ein Leben ohne einen Mann zu führen, der ihr ständig diktierte, was sie zu tun hatte. Doch sie verdrängte diese Träume, so gut es eben ging.

»Warum mußt du mich behandeln wie ein kleines Mädchen?« fragte sie.

»Ich bin erwachsen, Robert. Und wir sind seit drei Jahren miteinander verheiratet.«

»Wenn du erwachsen wärst«, antwortete er kalt, »dann würdest du nicht ständig versuchen, mir völlig unsinnige Diskussionen aufzuzwingen, Mareike. Du bist seit drei Jahren meine Frau, wie du eben völlig richtig festgestellt hast, und du hast gewußt, was es bedeutet, mich zu heiraten. Ich brauche eine Frau, die mich unterstützt, die unser Haus so führt, wie es meiner gesellschaftlichen Stellung angemessen ist. Wozu also willst du dein Kunststudium wieder aufnehmen? Du hast für solche Mätzchen keine Zeit und nimmst nur jemand anderen den Studienplatz weg, das weißt du ganz genau!«

»Aber ich fühle mich so nutzlos!« rief sie. »Und unausgefüllt! Alles, was ich tue, hat mit dir und deiner Stellung zu tun. Für mich selbst tue ich nichts, verstehst du? Du gehst jeden Morgen deinen Geschäften nach, und dann sitze ich hier in diesem Riesenhaus und bespreche mit dem Personal, wen wir zu unserer nächsten Gesellschaft einladen und was es zum Essen geben soll. Oder ich entscheide, welche Farbe die neue Markise über der Südterrasse haben soll. Oder ich kaufe mir ein neues Kleid, obwohl ich bereits hundert im Schrank hängen habe, die höchstens einmal getragen sind.« Ihre Stimme wurde leiser. »Das ist doch kein Leben, Robert!«

»Andere wären froh, wenn sie so ein Leben hätten«, erwiderte er noch frostiger als zuvor. »Ich möchte wissen, worüber du dich eigentlich beklagst? Ich gebe dir viel Geld, damit du dir alles kaufen kannst, was du willst. Du bist die bestangezogenste Frau der Stadt, alle bewundern dich. Deine Qualitäten als Gastgeberin sind unbestritten. Warum also müssen wir immer und immer wieder diese unsinnige Diskussion führen?«

»Weil ich unglücklich bin«, flüsterte sie. »Es geht doch nicht um Geld, Robert. Es geht um Gefühle. Um Glück. Verstehst du das nicht?«

Er warf ihr einen letzten Blick zu, bevor er mit raschen Schritten das Zimmer verließ. »Nein«, sagte er knapp. »Das verstehe ich ganz und gar nicht. Und du solltest dich schämen, so undankbar zu sein. Du lebst wie eine Prinzessin und redest von Unglück! Für wen hältst du dich eigentlich?«

»Für deine Frau«, antwortete sie leise. Aber das hörte er schon nicht mehr, denn die Tür fiel bereits hinter ihm ins Schloß. Sie schluckte, aber es war zu spät. Nun kamen sie doch noch, die Tränen, die sie die ganze Zeit so mühsam zurückgehalten hatte.

*

Esther Berger schloß für einen kurzen Augenblick die Augen. Sie war glücklich, rundherum glücklich. Ein sehr harter Arbeitstag lag hinter ihr. Sie war Kinderärztin an der Charité, und sie war es gerne. Manchmal aber wurde ihr alles zuviel, und so war es heute gewesen.

Jetzt jedoch war sie auf dem Bauernhof vor den Toren Berlins, auf dem sie ihr Pferd stehen hatte: Luna, eine große braune Stute, die sehr temperamentvoll, aber auch gutmütig war. Sie hatte den Kauf des Pferdes, das sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte, in einer Vollmondnacht perfekt gemacht und damals sofort gedacht, daß Luna der richtige Name für die hübsche Stute war.

Durch Zufall hatte sie dann diesen Bauernhof gefunden, auf dem sie Luna untergebracht hatte – und seitdem war es ihr größtes Glück, nach der Arbeit hierherzufahren und zu reiten. Und irgendwann hatte sie zusätzlich angefangen, mit behinderten Kindern zu arbeiten. Die liebten ihre Reitstunden und freuten sich immer schon lange im voraus, wenn die Frau Doktor kam. Das war meistens am Wochenende der Fall.

Wenn man Esther Berger dann inmitten der fröhlich kreischenden, manchmal auch ängstlich aussehenden Kinder sah, mußte man zweimal hinsehen, um zu erkennen, daß sie die Erwachsene war, die die Kinderschar anleitete. Sie war sehr schlank und zierlich, und mit ihren kurzen blonden Haaren und den frech blitzenden Augen konnte man sie leicht für einen ihrer Schützlinge halten.

Heute gehörte der Abend ihr allein. Sie hatte Luna gesattelt und ritt gemächlich durch den Wald. Es war mild draußen, und der Streß des Tages fiel allmählich von ihr ab. Luna war offensichtlich auch sehr zufrieden, sich endlich bewegen zu können, und so trabten sie in völliger Eintracht über die wohlvertrauten Wege.

Als sie nach anderthalb Stunden auf dem Weg zurück zum Bauernhof waren, tauchte plötzlich ein anderer Reiter vor Esther auf: Das war keine Seltenheit, denn in der Nähe gab es einen ziemlich exklusiven Reitstall, in dem etliche reiche Berliner ihre Pferde stehen hatten. Esther kannte einige von ihnen. Mit den meisten hatte sie keinerlei Kontakt, sie lebten einfach in zu verschiedenen Welten. Doch es gab Ausnahmen.

Als sie näherkam, stellte sie fest, daß es sich um eine Reiterin handelte, deren Pferd im Schritt ging. Und nun erkannte sie die Frau auch und rief: »Frau Sandberg! Hallo!«

Mareike Sandberg sah sich um und lächelte, als sie die junge Kinderärztin sah. »Frau Dr. Berger, wie schön, Sie zu sehen.«

Sie meinte es ernst, das wußte Esther. Sie waren einander schon öfter begegnet, hatten einige Worte miteinander gewechselt, und Esther hatte bald festgestellt, daß die junge Frau Sandberg, ungeachtet ihrer Schönheit und ihres Reichtums, eine ausgesprochen nette und unkomplizierte Frau war. Gelegentlich tranken sie eine Tasse Kaffee miteinander, und jedesmal hatte Mareike Sandberg sich außerordentlich interessiert nach Esthers Arbeit in der Charité erkundigt.

Esther hatte dazu ihre eigene Theorie. Sie glaubte, daß Mareike Sandberg unglücklich und unausgefüllt war. Und seit sie ihren Mann einmal gesehen hatte, glaubte sie auch zu wissen, warum das so war. Aber das ging sie natürlich nichts an. Und es würde sicher niemals Gegenstand eines ihrer Gespräche sein. Esther hatte selbst eine kurze, aber unglückliche Ehe hinter sich. Sie erinnerte sich nur ungern daran, und sie sprach fast nie darüber.

Manchmal kam sie mit Adrian Winter, ihrem Zwillingsbruder, auf das Thema zu sprechen – aber sie sorgte stets dafür, daß das nicht allzulange dauerte. Es war einfach zu unerfreulich, und die Erinnerung daran half auch nicht weiter. Es war ein Fehler gewesen. Ein verhängnisvoller Irrtum, den sie mit vielen Tränen und großem Unglück bezahlt hatte. Doch das war vorbei, und sie hatte es verarbeitet. Endlich.

Mareike Sandberg, fand sie, sah heute besonders unglücklich aus. Doch sie kannten sich nicht gut genug, als daß sie sich danach hätte erkundigen können. So begnügte sie sich damit zu sagen:

»Ich hatte einen schrecklichen Tag, und das einzige, was mich dazu gebracht hat, ihn durchzustehen, war die Freude auf diesen Ausritt. Jetzt geht es mir wieder gut. Reiten ist wirklich etwas Wunderbares.«

»Ja«, bestätigte Mareike Sandberg leise, »das finde ich auch. Aber leider funktioniert es bei mir heute nicht so wie bei Ihnen, Frau Berger. Ich hätte meinen Tag auch gern abgeschüttelt, doch es gelingt mir einfach nicht.«

»Dann lassen Sie uns doch ein Glas Wein zusammen trinken«, schlug Esther vor. »Oder haben Sie keine Zeit?«

»Doch«, antwortete Mareike und lächelte. »Das ist eine gute Idee. Sie haben immer so interessante Geschichten zu erzählen. Sie wissen ja, wie gern ich Ihnen zuhöre.«

Sie verabredeten einen Treffpunkt, und dann trennten sich ihre Wege. Esther kehrte zum Bauernhof zurück, und Mareike schlug den Weg zu ihrem Reitstall ein. »Bis in einer halben Stunde also«, rief Esther.

»Ja, bis gleich.«

Sie ist unglücklich, dachte Esther, wie sie es schon so oft gedacht hatte. Arme Frau. So schön, so reich – und es hilft ihr offenbar gar nicht.

*

Adrian Winter sah den großgewachsenen Mann mit den harten Augen, der vor ihm lag, nachdenklich an. Er war von seinem Chauffeur in die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik gebracht worden, was ungewöhnlich genug war.

Sein Chef, hatte der Chauffeur erklärt, sei während der Fahrt plötzlich totenbleich geworden. Er habe über Übelkeit geklagt, und kalter Schweiß sei ihm ausgebrochen. Da habe er es mit der Angst zu tun bekommen. Und da die Klinik in der Nähe gewesen sei, habe er sich gedacht, es sei besser, Herrn Sandberg sofort dorthin zu bringen und untersuchen zu lassen.

Erst allmählich hatte der junge Notaufnahmechef begriffen, daß er es mit einem ausgesprochen prominenten Patienten zu tun hatte. Denn der Mann, dessen Untersuchung er gerade beendet hatte, war jener Industrielle Sandberg, über den man jeden Tag sowohl auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen, als auch in den Klatschspalten der Regenbogenblätter eine Geschichte lesen konnte.

»Sie müssen aufpassen, Herr Sandberg«, sagte er sehr ruhig. »Ihr Blutdruck ist viel zu hoch. Ich nehme an, Sie nehmen Medikamente dagegen?«

Robert Sandberg nickte. »Ja, sicher, schon seit Jahren.«

»Aber leben Sie auch entsprechend? Sie sollten sich beim Alkohol sehr zurückhalten, gesund und abwechslungsreich essen, viel Bewegung…«

»Kommen Sie mir bloß nicht mit solchen Ratschlägen!« rief der andere herrisch. Es ging ihm offenbar schon wieder besser, seine Wangen bekamen allmählich Farbe. »Das ist völlig unrealistisch!«

»Wenn Sie sich an solche Ratschläge nicht halten, dann wird Ihr Leben schneller zu Ende sein, als Ihnen vielleicht lieb ist«, erwiderte Adrian ungerührt. »Sie sind nur knapp an einem Schlaganfall vorbeigekommen, Herr Sandberg. Und was ein Schlaganfall bedeutet, das muß ich Ihnen doch sicher nicht erzählen, oder?«

Robert Sandberg funkelte ihn wütend an, sagte aber nichts.

»Bedanken Sie sich bei Ihrem Chauffeur«, fuhr Adrian fort, »daß er Sie sofort hierhergebracht hat. Und nehmen Sie die Sache als Warnschuß, auf den Sie unbedingt hören sollten. Denn wenn Sie das nicht tun…«

Der Patient richtete sich ein wenig auf. »Wollen Sie mir drohen?« rief er aufgebracht, ohne zu merken, wie lächerlich seine Worte waren.

»Womit sollte ich Ihnen denn drohen?« erkundigte sich Adrian ruhig. »Ich sage Ihnen lediglich, was ich Ihnen als Arzt sagen muß.«

»Was bilden Sie sich eigentlich ein?« knurrte Robert Sandberg. »Mir fehlt nichts, überhaupt nichts.«

»Ich bilde mir nichts ein«, antwortete Adrian, noch immer völlig ruhig. Wütende Patienten kannte er schon. »Und daß Ihnen nichts fehlt, ist schlichter Unsinn. Ich weiß es besser und wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie es auch. Ich sage Ihnen, was Sie erwartet, das ist alles. Aber es ist Ihr Leben, Herr Sandberg. Natürlich können Sie damit anfangen, was Sie wollen.«

»Ach, was wissen Sie denn schon«, gab der andere mürrisch zurück und ließ sich wieder auf die Liege sinken. »Ich esse gern, und ich trinke gern. Und ich… Aber lassen wir das jetzt. Wollen Sie mir alles wegnehmen, was mir Spaß macht?«

»Alles nicht«, antwortete der junge Arzt mit feinem Lächeln.

»Kann ich jetzt gehen?«

»Sicher können Sie das. Aber wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, bleiben Sie noch eine Stunde hier liegen und lassen sich dann zu Ihrem Hausarzt fahren. Der erzählt Ihnen das Gleiche wie ich, aber auf ihn hören Sie ja vielleicht, weil Sie ihn schon länger kennen als mich und Vertrauen zu ihm haben. Und dann leben Sie vernünftiger und können steinalt werden.«

Wider Willen imponierte Robert Sandberg dieser junge Mediziner, der sich von ihm und seinem prominenten Namen ganz offensichtlich überhaupt nicht beeindrucken ließ. »Wer will das schon – steinalt werden?« knurrte er unwillig und richtete sich erneut auf. Mit lauter Stimme rief er nach seinem Chauffeur und verließ wenige Minuten später, schwer auf dessen Arm gestützt, die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik.

Adrian sah ihm kopfschüttelnd nach. Hoffentlich sah er diesen Mann nicht wieder. Ein angenehmer Zeitgenosse war er wirklich nicht.

»Geht er schon?« fragte seine Kollegin Julia Martensen verblüfft. »Hast du ihn entlassen?«

»Nein, habe ich nicht«, antwortete er seufzend. »Aber er gehört zu diesen Unbelehrbaren, Julia, die sich für unsterblich halten.«

Die schlanke Endvierzigerin nickte. »So hat er auch gewirkt«, stellte sie sachlich fest. »Vergiß ihn, Adrian. Wir haben jede Menge Arbeit.«

Er folgte ihr, und bald darauf hatte er Robert Sandberg tatsächlich vergessen.

*

»Es ist sehr schön, mit Ihnen hier zu sitzen und zu reden«, sagte Mareike Sandberg. Sie sah Esther dabei offen ins Gesicht, und diese erschrak, als sie das Unglück in den schönen Augen der anderen sah. Aber sie tat, als habe sie nichts davon bemerkt, denn sie ahnte, daß es Frau Sandberg nicht recht gewesen wäre, zuviel von sich selbst zu offenbaren.

Esther überlegte, ob eine Frau wie Mareike wohl eine Freundin hatte, mit der sie über alles, was sie bewegte, sprechen konnte. Wenn nicht, dann mußte sie sehr einsam sein in ihrem riesigen Haus mit den vielen Dienstboten und dem Mann mit den kalten Augen. Warum sie ihn wohl geheiratet hatte?

Sie war so in ihre Gedanken versunken, daß sie völlig verblüfft war, als sie plötzlich bemerkte, daß etwas geschehen sein mußte. Denn auf einmal lächelte Mareike Sandberg, ihre Augen glänzten, und auf ihren Wangen lag ein rosiger Schimmer. Im nächsten Augenblick wußte Esther auch, warum das so war.

Ein dunkelhaariger junger Mann mit blauen Augen blieb an ihrem Tisch stehen und grüßte höflich. Esther kannte ihn genauso gut und genauso wenig wie Mareike Sandberg. Es war John Tanner, von dem sie nur wußte, daß er Künstler war. Außerdem war er ebenfalls leidenschaftlicher Reiter und fiel, wie Mareike auch, in dem exklusiven Reitstall eher aus dem Rahmen. Esther hatte bisher erst wenige Worte mit ihm gewechselt, aber es war jedesmal angenehm gewesen.

Er war klug, gebildet und überhaupt nicht arrogant. Es war ihr ein Rätsel, wie er in jenen exklusiven Reitclub geraten war. Bei Mareike Sandberg lag es wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung auf der Hand, aber bei John Tanner hatte sie sich sogar schon gefragt, ob er überhaupt reich war. Sie hatte ihn ein paarmal in einem uralten, zerbeulten Auto gesehen, und seine Kleidung bestand in der Regel aus Jeans und karierten Hemden oder T-Shirts.

»Guten Tag, Herr Tanner«, sagte sie freundlich, als sie merkte, daß es Mareike offenbar die Sprache verschlagen hatte. »Warum setzen Sie sich nicht ein wenig zu uns?«

»Wenn ich nicht störe«, erwiderte er und warf Mareike einen fragenden Blick zu.

Sie errötete heftig und rückte zur Seite. Dann sagte sie leise: »Natürlich stören Sie nicht.«

Er setzte sich, und schon bald waren sie in ein angeregtes Gespräch vertieft, an dem sich alle drei beteiligten. Erstaunt sah Esther, daß Mareike auch temperamentvoll ihre Meinung vertreten und richtig aus sich herausgehen konnte. Sieh mal einer an, dachte sie, sie ist gar nicht so sanft und still, wie ich immer dachte. Sie hat auch andere Seiten.

Und John Tanner? Auch ihn hatte sie bisher noch nie so erlebt. Er war ihr sonst immer eher ernsthaft vorgekommen, aber heute lachte er mehrmals aus vollem Herzen. Schließlich hörte Esther auf, sich darüber Gedanken zu machen, und sie genoß es, sich mit den beiden zu unterhalten. Schon lange, so kam es ihr vor, hatte sie kein so interessantes Gespräch mehr geführt.

*

Als Mareike nach Hause kam, wirbelten noch immer tausend Gedanken durch ihren Kopf. Wie schön das Leben sein konnte, wenn man mit Menschen zusammen war, mit denen man sich gern unterhielt, die gut zuhören konnten und die über vieles, was in der Welt passierte, nachdachten. Ach, wenn sie doch nur einmal so mit Robert hätte reden können! Aber sobald sie es versuchte, lächelte er nur herablassend und sagte: »Zerbrich dir darüber nicht deinen hübschen Kopf, Mareike, das tun andere schon zur Genüge.«

Als sie das Haus betrat, spürte sie sofort, daß etwas nicht in Ordnung war. Im nächsten Augenblick teilte ihr eins der Mädchen leise mit, Herr Sandberg habe einen Zusammenbruch erlitten, der Arzt sei bereits bei ihm gewesen.

Die fröhliche Stimmung, die Mareike bis eben noch erfüllt hatte, verflog sofort. Sie eilte die Treppe hinauf in den ersten Stock und stand im nächsten Augenblick am Bett ihres Mannes, dem es sichtlich nicht gutging. Er war sehr blaß und atmete schwer. Das hinderte ihn jedoch keineswegs daran, sie böse anzufunkeln und zu sagen: »Niemand wußte, wo du warst. Ich liege hier seit Stunden und muß mich von Dienstboten versorgen lassen, während sich meine Frau Gott weiß wo herumtreibt!«

»Aber Robert!« sagte sie erschrocken. »Ich war im Reitstall, das wußtest du doch.«

»Ich habe dort angerufen, und man sagte mir, du seist bereits wieder fort. Das ist schon Stunden her.«

»Ich habe mit einer Bekannten noch ein Glas Wein getrunken«, stammelte sie. »Ich konnte doch nicht wissen…«

»Dein Platz ist hier!« sagte er herrisch.

»Bei mir. Und nicht bei irgendwelchen Bekannten von irgendwelchen Reitclubs. Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du endlich erwachsen werden sollst!«

Sie sagte nichts mehr, es hatte ohnehin keinen Zweck. Er würde nur immer wütender werden, das wußte sie. Sie konnte es ihm nicht recht machen. Wäre sie hier gewesen, hätte er einen anderen Grund gefunden, um sie zu tadeln.

»Was ist passiert?« fragte sie leise.

»Schön, daß du dich auch schon dafür interessierst«, sagte er mit beißendem Spott. »Irgend so ein hergelaufener junger Arzt in einer Klinik hat mir erklärt, ich sei knapp an einem Schlaganfall vorbeigekommen.«

»Was?« fragte sie entsetzt. »Welcher Arzt denn? Und in welcher Klinik bist du gewesen?«

»Müller hat sich eingebildet, er müsse mich sofort in eine Klinik bringen«, antwortete ihr Mann mürrisch. »Er hat mich in die Kurfürsten-Klinik gebracht, und dort in der Notaufnahme hat sich so ein junger Schnösel wichtig gemacht.«

Er schnaubte bei der Erinnerung daran, was er sich alles hatte anhören müssen, obwohl er nach wie vor zugeben mußte, daß ihn die ruhige Souveränität des jungen Arztes sehr beeindruckt hatte. Aber das wußte seine Frau nicht, und sie würde es auch nie erfahren.

»Und was hat er gesagt, dieser Arzt?« fragte Mareike.

»Nichts, was ich nicht längst weiß«, antwortete Robert Sandberg. »Wenig Alkohol, viel Bewegung, gesunde Ernährung, kein Stress – kurz gesagt, lauter dummes Zeug. Wir leben hier schließlich nicht auf einer Insel der Glückseligkeit. Ich kann die Welt nicht ändern, ich muß sie so nehmen, wie sie ist.«

»Etwas könntest du schon ändern«, wagte sie einzuwenden. »Beim Essen und beim Alkohol zum Beispiel…«

Eine steile Zornesfalte erschien auf seiner Stirn, und sie schwieg erschrocken. »Jetzt fang du nicht auch noch damit an!« rief er erbost. »Mir reicht’s für heute. Und jetzt laß mich allein, ich bin müde.«

Sie zögerte, aber der Blick, mit dem er sie ansah, war so hart und kalt, daß sie tat, was er wünschte. »Gute Nacht, Robert«, sagte sie leise und ging aus dem Zimmer.

*

John Tanner arbeitete an einem Auftrag, den er von einem Museum bekommen hatte. Er restaurierte ein Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert. Die Arbeit war knifflig und erforderte viel Geduld und handwerkliches Geschick. Normalerweise liebte er solche Aufgaben, aber heute schien es ihm, als habe er zwei linke Hände. Nichts wollte ihm gelingen, für alles brauchte er ewig lange Zeit.

Stirnrunzelnd sah er auf das, was er bisher geschafft hatte. Es war fast nichts! Woran lag das nur? Sonst arbeitete er in den frühen Morgenstunden am besten, aber heute flogen seine Gedanken hierhin und dorthin, und diese Unkonzentriertheit rächte sich bitter. Dabei hatte er einen Termin, zu dem er die Arbeit abgeschlossen haben mußte. Er konnte es sich nicht leisten, herumzutrödeln.

Erneut beugte er sich über das Bild. Die blonde Frau dort in der Ecke – hatte sie nicht Ähnlichkeit mit Mareike Sandberg? Er unterdrückte einen Fluch. Wenn er nicht endlich aufhörte, an sie zu denken, dann würde er mit seiner Arbeit nie fertig werden.

Sie war eine reiche und schöne Frau, und verheiratet war sie auch. Warum nur konnte er nicht aufhören, an sie zu denken? Sie war für ihn völlig unerreichbar, und es wurde allerhöchste Zeit, daß er sich das klarmachte. Aber sein Herz spielte nicht mit. Sein Herz wollte träumen! Ende der Woche würden sie sich vermutlich sehen im Reitstall, sie hatte erwähnt, daß sie am Freitag dort sein wollte…

Und allein, daß sie das getan hatte, brachte ihn nun fast um den Verstand. Warum hatte sie den Tag erwähnt? Sein Herz sagte: ›Weil sie dich sehen will‹, aber sein Verstand wußte, daß das unmöglich war. Er war kein Mann für eine Frau wie sie. Und sie war keine Frau für ein Abenteuer. Sie hatte, seit sie verheiratet war, sicherlich niemals einen anderen auch nur angesehen, während man von ihrem Mann ganz andere Geschichten hörte.

Aber das ging ihn nichts an. Nie jedenfalls hatte Mareike Sandberg zu erkennen gegeben, daß sie mehr in ihm sah als einen Mann, der zufällig Pferde genauso liebte wie sie.

Pferde… Er stieß einen lauten Seufzer aus. Eigentlich war er in diesem teueren Club völlig fehl am Platze, er konnte mit den meisten Leuten, die dort verkehrten, überhaupt nichts anfangen. Das war nicht seine Welt. Und wenn er nicht zufällig für den Besitzer des Clubs vor zwei Jahren eine sehr aufwendige Restaurierungsarbeit übernommen hätte – der Mann hatte eine sagenhafte Kunstsammlung in seiner Wohnung –, dann wäre er niemals in diesen Club gelangt. Aber damals war John mit seinem Auftraggeber irgendwann einmal auf die einzige Leidenschaft zu sprechen gekommen, die er außer seiner Arbeit noch hatte, und das waren Pferde.

Schließlich hatte er die Arbeit abgeschlossen, und der Clubbesitzer war außerordentlich zufrieden gewesen. Mit Recht, fand John noch heute. Er hatte sich wirklich sehr viel Mühe gegeben, und er war auch gut dafür bezahlt worden. Aber nicht nur das: eines Tages hatte John eine Mitgliedskarte für den teuren Reitclub zugeschickt bekommen, ohne auch nur einen Cent dafür bezahlt zu haben. Sein Auftraggeber hatte also ihr Gespräch über Pferde nicht vergessen.

Ja, so etwas gab es auch noch, selbst heute, wo doch die Menschen angeblich nur an sich selbst dachten.

Aber ganz so war es offensichtlich doch nicht. Und wenn er nicht durch diesen Zufall in den teuren Club geraten wäre, hätte er Mareike Sandberg sicherlich niemals kennengelernt. Sie lebten einfach nicht in der gleichen Welt.

Er konnte sich noch gut an seine Gedanken erinnern, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte sie für eine von diesen schönen, verwöhnten Ehefrauen gehalten, die nichts anderes taten, als mit Freude das Geld ihrer Männer auszugeben.

Unwillkürlich lächelte er. Das war ein Vorurteil gewesen. Selten hatte er sich so getäuscht wie in diesem Fall, das hatte er schon bald erkannt. Ja, und seitdem spielte sein Herz verrückt, wenn er nur in ihre Nähe kam.

Er riß seine Gedanken nun mit Gewalt von diesem Thema los und beugte sich energisch über das Bild. Tatsächlich gelang es ihm, fast eine Stunde lang zu arbeiten, ohne daß er ständig Mareikes ein wenig zu vollen Mund vor sich sah.

Danach gab er es auf. Er würde es heute nicht mehr schaffen, vernünftig zu arbeiten, da konnte er genausogut auch noch ein bißchen reiten gehen. Mareike würde heute sicher nicht kommen, von daher drohte seinem Herzen an diesem Tag also keine Gefahr mehr.

Ich muß verrückt geworden sein, dachte er, als er in seinem klapprigen alten Auto saß, um zum Club zu fahren. Wie konnte ich mich nur in eine Frau verlieben, die für mich absolut unerreichbar ist? Warum habe ich mir keine ausgesucht, die nur auf mich gewartet hat? Das würde die Dinge verdammt viel einfacher machen!

*

»Na, kleine Schwester?« Adrian Winter küßte Esther Berger zur Begrüßung liebevoll auf beide Wangen. Sie erwiderte seine Küsse, und dann legte er seinen Arm um sie, so daß sie fast unter seiner Achselhöhle verschwand. Sie standen vor dem Haus, in dem Esther wohnte. Das Kino, in das sie an diesem Abend gehen wollte, war von hier aus bequem zu Fuß zu erreichen, und so hatte Adrian seine Schwester abgeholt.

»Ich bin fünf Minuten älter als du, bitte vergiß das nicht!« gab sie ernsthaft zurück.

»Wie könnte ich?« Er lachte. »Du erinnerst mich doch dauernd daran.«

»Muß ich ja auch, denn sonst spielst du dich bloß wieder auf!«

»Käme mir nie in den Sinn!« behauptete er.

Sie lachte ihn einfach aus. Wenn man die beiden nebeneinander sah, dann hätte man sie nicht unbedingt für Zwillinge gehalten, obwohl die Familienähnlichkeit unverkennbar war: Die gleichen schmalen Gesichter und schlanken Gestalten, der gleiche wache Blick. Und die gleiche Art, beim Lachen das Gesicht zu verziehen oder gelegentlich unwillig die Stirn zu runzeln. Ihre Freunde behaupteten, sie seien einander unglaublich ähnlich, aber sie selbst sahen das nicht so.

Denn Esther war klein und zierlich, während ihr Bruder sie um fast zwei Köpfe überragte. Und Adrians Augen waren braun, Esthers blau. Außerdem waren sie im Wesen sehr verschieden, fanden sie. Die quirlige, zierliche Esther war eine äußerst temperamentvolle Frau, während ihr Bruder eher ruhig und nachdenklich war. Er überlegte, bevor er handelte, während sie gelegentlich zu spontanen Aktionen neigte, die sie hinterher oft genug heftig bereute. Daß auch sie manchmal nachdenklich war, während mit Adrian das Temperament durchging, sahen sie eher als Ausnahmen an.

»Was gibt’s Neues?« fragte er. »Von der Charité oder aus der Welt der Reiter? Oder vielleicht in deinem Liebesleben?«

Sie knuffte ihn leicht in die Seite. »Nix Liebesleben«, antwortete sie. »Eine Traumhochzeit mit anschließend gescheiterter Ehe reicht mir, das kann ich dir sagen.«

»Ich rede ja nicht vom Heiraten«, meinte er. »Sondern von diesem Knistern, das sich manchmal zwischen einer Frau und einem Mann einstellt – du weißt schon.«

Sie blieb stehen und sah ihn mißtrauisch von der Seite an. »Faß dich an deine eigene Nase! Wie sieht’s denn bei dir aus?«

Unwillkürlich sah er die schönen veilchenfarbenen Augen von Stefanie Wagner vor sich – jener Frau, die er anläßlich eines tragischen Unglücksfalles kennengelernt hatte. Aber obwohl er es versucht hatte, war es ihm seither nicht gelungen, ihr näherzukommen. Irgend etwas kam immer dazwischen, und leider hatte sie auch noch einen Freund.

Er schob diese Gedanken von sich, als er das Glitzern in den Augen seiner Schwester sah. »Bei mir tut sich in der Hinsicht überhaupt nichts«, erklärte er hastig und zog sie weiter. »Das hätte ich dir doch längst erzählt, Kleine!«

»Lüg mich nicht an!« sagte sie. »Und vor allem. Sag nicht noch einmal ›Kleine‹ zu mir – oder du kannst was erleben!«

»Was denn?« Er neckte sie zu gerne.

»Das wirst du dann schon sehen.«

Plötzlich wurde er ernst und sagte: »Ach, jetzt fällt mir wieder ein, was ich dir schon längst erzählen wollte, Esther!« Und begeistert berichtete er ihr über die wunderbaren Fresken, die er kürzlich in einer unscheinbaren Kirche entdeckt hatte, und von dem höchst interessanten Gespräch, das er anschließend mit dem Restaurator geführt hatte. »Sehr interessanter Mann und außerordentlich sympathisch.«

»Klingt gut«, meinte Esther. »Vielleicht können wir ja einmal zusammen ’rausfahren, was denkst du?«

»Gern«, sagte er. »Ich habe mir sowieso vorgenommen, dieser Kirche gelegentlich wieder einen Besuch abzustatten.«

»Falls du daran denken solltest, mich mit deinem sympathischen Restaurator zu verkuppeln, dann rate ich dir, vergiß es, Brüderchen. Mir steht im Moment nicht der Sinn nach einem Mann. Ich habe viel zuviel zu tun.«

»Also erzähl: wie läuft’s in der Charité?«

»Anstrengend, aber das ist ja nichts Neues. Die Arbeit macht mir Spaß, es ist das Richtige für mich, Adrian. Ich will keinen anderen Beruf haben.«

»Genau das gleiche habe ich neulich auch gesagt«, stellte er fest. »Als ich mit diesem Restaurator gesprochen habe.«

Sie verdrehte die Augen, und er sagte schnell: »Nein, wirklich. Ich will dich nicht mit ihm verkuppeln, er wäre kein Mann für dich, glaube ich. Aber was er gesagt hat, hat mich sehr nachdenklich gemacht. Er hat gemeint, daß es ziemlich selten vorkommt, daß jemand seinen Traumberuf ausübt. Die meisten Menschen, glaubt er, hätten lieber einen anderen Beruf als den, den sie ergriffen haben.«

»Wenn das stimmt, ist es traurig«, sagte Esther. »Stell dir das doch mal vor. Du tust etwas, Tag für Tag und Jahr für Jahr – und in Wirklichkeit wünschst du dich ganz woanders hin. Und das ist dann dein Leben.«

Adrian nickte. Sie hatten das Kino erreicht, in dem der Film lief, den sie sich ansehen wollten. Esther blieb stehen und sah ihren Bruder an. »Komm, wir gehen lieber in eine Kneipe und reden«, sagte sie. »Ich hab’ gar keine Lust mehr auf Kino.«

Er lächelte auf sie herunter. Das war wieder einmal typisch Esther. Aber ihr Vorschlag kam ihm nicht ungelegen. Sie hatten so lange schon keinen Abend mehr miteinander verbracht, daß es sicher viel zu erzählen gab.

»Einverstanden«, sagte er und ließ sie wieder in seiner Armkuhle verschwinden. »Auf in die nächste Kneipe!«

Es wurde ein sehr langer, sehr weinseliger Abend, und am nächsten Tag mußten sich Dr. Berger und Dr. Winter an ihren Arbeitsplätzen ziemlich viele spöttische Kommentare von ihren Kolleginnen und Kollegen anhören. Sie zielten alle in die gleiche Richtung: daß sie nämlich vielleicht doch das Alter schon hinter sich gelassen hatten, in dem man ungestraft die Nacht zum Tage machen kann.

*

Robert Sandberg setzte nach seinem ›Schwächeanfall‹, wie er es spöttisch nannte, sein Leben wie gewohnt fort. Vielleicht trank er ein bißchen weniger, vielleicht versuchte er auch, sich etwas mehr Bewegung zu verschaffen, aber im Grunde blieb alles beim Alten.

Eines Abends sagte er zu Mareike: »Wir werden ein großes Essen geben, hier ist die Gästeliste.« Er reichte ihr zwei Blätter über den Tisch.

Sie nahm sie zögernd und überflog sie. »Da ist ja auch nicht ein einziger netter Mensch dabei«, sagte sie leise. »Lauter aufgeblasene Wichtigtuer, die nichts im Kopf haben, als dir zu schmeicheln, weil sie auf große Geschäfte mit dir hoffen.«

Er sah sie an, und sein ohnehin hartes Gesicht wurde noch härter. »Was kümmert es dich?« fragte er. »Du hast keine andere Aufgabe, als schön auszusehen und charmant zu plaudern. Ist das zuviel verlangt für das Leben, das du in diesem Hause führen kannst? Daß du dich einmal alle vierzehn Tage mit Leuten unterhalten mußt, die dir nicht liegen?«

Plötzlich konnte sie nicht mehr an sich halten. »Jawohl, das ist zuviel verlangt«, sagte sie mit erhobener Stimme.

»Beherrsch dich bitte!« wies er sie leise, aber scharf zurecht. »Oder möchtest du, daß das ganze Haus teilhat an unserer kleinen Unterhaltung?«

»Das ist mir völlig gleichgültig«, gab sie zurück, leiser zwar als zuvor, doch immer noch laut genug, um ihn zusammenzucken zu lassen.

»Mareike, bitte!« Eine Zornesader schwoll auf seiner Stirn und erinnerte sie gerade noch rechtzeitig daran, daß auch er die Beherrschung verlieren konnte. Ihre Empörung fiel in sich zusammen wie ein Häufchen Asche.

»Warum können wir nicht einmal Leute einladen, die wir gerne um uns haben möchten?« fragte sie, und nun zitterte ihre Stimme. »Gäste einladen, um einen schönen Abend zu verleben, verstehst du? Nicht, um wieder irgendwelche Geschäfte einzufädeln.«

»Und wen würdest du gern einladen?« fragte er, und die Bosheit in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Sie antwortete nicht. Robert und sie hatten keine wirklichen Freunde, das wußte sie genauso gut wie er.

»Merk dir eins, Mareike: Zu uns kommen die Leute nicht, weil sie dich oder mich so furchtbar nett finden. Zu uns kommen sie, weil es wichtig für sie ist. Geht das nicht in deinen Kopf? Es ist doch eigentlich ganz einfach.«

Sie stand auf und sah ihm direkt in die Augen. »Es mag einfach sein, Robert, aber es ist nicht das, was ich will! Hast du das verstanden? Nein? Dabei ist das doch auch ganz einfach.«

Noch nie hatte sie es gewagt, so mit ihm zu sprechen, und sie sah die Fassungslosigkeit in seinen Augen. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Weinen würde sie erst, wenn sie allein war, nicht vorher.

Und dann dachte sie es zum ersten Mal in aller Klarheit: So geht es nicht weiter. Ich will nicht mehr so leben!

Die letzten Schritte zu ihrem Zimmer rannte sie. Sie verschloß es zweimal und ließ sich dann mit zitternden Knien in einen der gemütlichen Sessel fallen, die sie vor das große Fenster gestellt hatte. Ich will nicht mehr so leben, dachte sie erneut. Und dann kamen wieder einmal die Tränen.

*

»Hast du schon das Neueste gehört?« erkundigte sich Dr. Julia Martensen, als sie an diesem Morgen zur gleichen Zeit wie Dr. Adrian Winter die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin betrat.

»Klatsch oder Informationen?« fragte er zurück.

»Informationen natürlich!« Sie versuchte, ein beleidigtes Gesicht zu machen, aber es gelang ihr nur unzureichend.

»Die Klinik hat endlich genug Geld, um Ärzte und Pflegepersonal leistungsgerecht zu bezahlen?« vermutete er.

»Spinner!« Julia warf ihre kurzen braunen Haare mit energischem Schwung nach hinten. »Angeblich kriegen wir einen neuen Verwaltungsdirektor – einen etwas jüngeren diesmal. Er soll Anfang vierzig sein, habe ich gehört.«

»Wahrscheinlich ist er noch schlimmer als der alte«, murmelte Adrian. »Er hat bestimmt eine von diesen modernen Managerschulen hinter sich und rationalisiert uns alles weg, was wir eigentlich dringend brauchen. Hast du noch mehr solche schlechten Nachrichten?«

»Sei nicht so pessimistisch,

Adrian. Vielleicht ist es ja gar keine schlechte Nachricht. Schlimmer, als es war, kann es doch eigentlich kaum werden.«

»Da hast du auch wieder recht. Aber mir läuft einfach immer ein Schauder über den Rücken, wenn ich das Wort ›Verwaltung‹ nur höre. Für mich ist sie der natürliche Feind der Mediziner.«

Julia lachte herzlich. »Jetzt übertreibst du aber wirklich. So schlimm ist es nicht.«

Sie hatten die Notaufnahme erreicht. »Wann soll dieser Mensch denn kommen – oder hast du darüber nichts gehört?«

»Irgendwann in den nächsten Wochen, mehr weiß ich auch nicht.«

»Dann wollen wir uns mal überraschen lassen. Und jetzt, Frau Kollegin, an die Arbeit!«

»Jawohl, Herr Kollege.«

*

John Tanner wagte nichts zu sagen. Stumm ritt er neben Mareike Sandberg her, die ihm heute völlig verändert erschien. Sie ritten ab und zu zusammen aus und hatten sich bisher, wenn die Pferde im Schritt gingen, immer angeregt dabei unterhalten. Heute jedoch war Mareikes Gesicht verschlossen, sie schien tief in Gedanken versunken zu sein. Sie waren schon seit über einer Viertelstunde unterwegs, aber in dieser Zeit hatte sie noch kein einziges Wort gesagt.

Wie gern hätte er sie gefragt, ob sie Kummer habe, aber er wagte es nicht. So vertraut waren sie nicht miteinander. Leider…

»Lassen Sie sich bitte nicht von meiner trüben Stimmung anstecken«, sagte Mareike in diesem Augenblick, als habe er seine Gedanken laut ausgesprochen. »Mit mir ist heute nicht viel los, Herr Tanner.«

»Das habe ich schon gemerkt.« Seine Stimme klang vorsichtig, er wollte ihr nicht zu nahe treten.

»Das kann ich mir vorstellen.« Nun lächelte sie endlich, wenn auch nur kurz. »Aber das geht vorüber.« Leiser fügte sie hinzu: »Ich hoffe es jedenfalls.«

»Sicher tut es das«, sagte er ruhig. »Ich kenne solche Tage auch, an denen einem alles grau in grau erscheint.«

Jetzt hatte er ihr Interesse geweckt. »Sie auch?« fragte sie. »Sie sind mir bisher immer so wunderbar ausgeglichen vorgekommen. So, als wenn es nichts gäbe, das Sie aus dem Gleichgewicht bringen könnte.«

Wenn du wüßtest, dachte er und sagte laut: »Es gibt zum Beispiel Tage, an denen mir die Arbeit nicht gut von der Hand geht – entweder weil ich unkonzentriert bin oder aus anderen Gründen. Dann bekomme ich manchmal ganz schlechte Laune. Manchmal macht es mir aber auch gar nichts aus. Dann lasse ich die Arbeit sein, reite zwei Stunden und fühle mich danach wie ein König.«

Ihr Gesicht hellte sich auf. »Mir geht es genauso. Ein langer Ritt hat mir schon oft geholfen, mein Gleichgewicht wiederzufinden.«

Erneut schwiegen sie, und John mußte plötzlich an diesen Arzt denken, der seine Fresken bewundert hatte. Dr. Adrian Winter. Ein sehr netter Mann. Es müßte schön sein, so jemanden zum Freund zu haben. Dann könnte er ihm von Mareike Sandberg erzählen und wie aussichtslos er in sie verliebt war. Und was würde dieser nette Dr. Winter wohl dazu sagen? Würde er ihm raten, sein Glück trotzdem zu versuchen? Obwohl sie einen reichen und bekannten Mann hatte?

»Wie wäre es denn mit einem kleinen Galopp?« schlug er vor, um sich vor seinen eigenen Gedanken in Sicherheit zu bringen. »Was glauben Sie, wie Sie sich danach erst fühlen! Sie werden sich nicht einmal mehr daran erinnern, daß Sie geglaubt haben, heute sei ein grauer Tag!«

Ihre braunen Augen schienen fast schwarz zu werden, und ein schwer zu deutender Ausdruck lag in ihnen, als sie ihn jetzt ansah. Er bereute schon, seine letzte Bemerkung gemacht zu haben. Wenn ihr etwas ernsthafte Sorgen bereitete, dann konnten diese natürlich durch ein paar Stunden auf dem Rücken ihres Pferdes nicht aus der Welt geschafft werden. Hätte er doch nur seinen Mund gehalten!

Sie lächelte, aber es war ein so trauriges Lächeln, daß es ihm fast das Herz zerriß. »Also los, dann galoppieren wir«, sagte sie und trieb ihr Pferd an.

Im nächsten Augenblick jagten sie nebeneinander über das Feld.

*

»So geht das nicht weiter, Mareike!« sagte Robert. »Ich wünsche nicht mehr, daß du in diesen Reitclub gehst. Du vernachlässigst deine Pflichten hier im Haus.«

Sie war gerade erst zurückgekehrt und stand vor ihm, noch in Reitkleidung und ziemlich verschwitzt von dem langen Ritt dieses Nachmittags. Verständnislos sah sie ihn an. »Wovon sprichst du denn? Ich gehe doch schon lange jede Woche zweimal zum Reiten, und bisher war es nie ein Problem.«

Er packte ihren Arm und zog sie in eins der Zimmer, dessen Tür er nachdrücklich hinter sich schloß.

»Jetzt ist es ein Problem, hast du mich verstanden? Es paßt mir nicht, daß du dort so viel Zeit verbringst.«

»Aber mir paßt es!« sagte sie bestimmt.

Ungläubig sah er sie an. »Hast du mich nicht verstanden?« fragte er mit gefährlich leiser Stimme. »Ich will nicht, daß du weiterhin dort zum Reiten gehst. Mehr gibt es zu diesem Thema nicht zu sagen. Schluß damit!«

Einen Augenblick war es ganz still im Raum, dann sagte Mareike, genauso leise wie ihr Mann: »O doch, es gibt doch eine ganze Menge dazu zu sagen, aber ich bin sicher, das willst du alles gar nicht hören. Deshalb sage ich dir nur das Wichtigste. Das war’s mit uns beiden, Robert. Ich verlasse dich, und zwar sofort. Such dir eine andere, die du betrügen und herumkommandieren kannst. Eine andere, die sich damit begnügt, hübsch für dich auszusehen, und die bereit ist, charmant mit ekelhaften Leuten zu plaudern, weil es für dich wichtig ist. Für dich, wohlgemerkt, für niemanden sonst. Such dir eine andere, die du als Schmuckstück herumzeigen kannst. Ich bin ein Mensch, und ich will auch als ein solcher behandelt werden. Aber das verstehst du ja nicht!«

Er stand da wie vom Donner gerührt. Wie konnte sie es wagen, so mit ihm zu sprechen? Dann auf einmal, völlig überraschend, lächelte er. »Du bist überreizt!« sagte er milde. »Das kommt vor. Zieh dir erst einmal die verschwitzte Kleidung aus, nimm ein Bad – und dann essen wir zu Abend. Ich werde vergessen, was du alles gesagt hast, und gewiß bereust du es jetzt schon bitter.«

Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum, und sie starrte ihm nach. Er würde sie niemals ernst nehmen!

*

Rosemarie Hagen schloß die Leihbücherei des kleinen Ortes in Brandenburg und machte sich auf den Heimweg. Sie war müde, aber das wunderte sie nicht. Es war ihr erster Arbeitstag nach einer schweren Grippe gewesen, und er hatte sie mehr angestrengt, als sie sich eingestehen wollte. Der Arzt hatte ihr gleich geraten, lieber noch ein paar Tage zu warten mit der Arbeit. Sie hatte ihm jedoch erklärt, sie werde verrückt, wenn sie auch nur noch eine Stunde zu Hause verbringen müsse.

Nun ja, alles in allem war es recht gutgegangen. Sie würde sich heute abend zeitig schlafen legen und morgen würde es ihr bereits viel besser gehen. Wenn sie nur in der Mittagspause nicht soviel eingekauft hätte! Ihre Tasche war ziemlich schwer, aber sie hatte auch viel gebraucht.

Sie ging langsam auf ihr kleines Reihenhaus zu, das ihre ganze Freude war. Sie hatte es sich gekauft, obwohl sie es sich kaum leisten konnte, aber noch keine Sekunde hatte sie diesen Entschluß bereut. Schade, dachte sie, daß ich erst so spät auf diesen Gedanken gekommen bin. Die Freude hätte ich mir schon früher gönnen sollen. Sie wurde bald sechzig, und manchmal fühlte sie sich auch so. Meistens jedoch fand sie, daß sie noch ganz gut mithalten konnte. Und in der Bibliothek machte ihr niemand etwas vor. Sie war mit dem Computer schneller als alle anderen.

Als sie ihr Haus erreicht hatte, kniff sie unwillkürlich die Augen zusammen, um besser zu sehen. Es kam ihr so vor, als kauere jemand auf den Treppenstufen vor der Haustür, aber das war eigentlich unmöglich. Sie erwartete keinen Besuch. Und sie kannte auch niemanden, der sich vor ihre Haustür setzen würde. Schließlich wußten alle, wo sie zu erreichen war. Jeder würde in die Bücherei kommen!

Aber als sie näherkam, stellte sie fest, daß dort tatsächlich jemand saß, den Kopf auf den Knien, die Arme fest um die Beine geschlungen. Es war eine junge Frau.

»Mareike?« rief Rosemarie Hagen ungläubig. »Bist du das wirklich? Was um alles in der Welt tust du denn hier?«

Ihre Nichte hob den Kopf, und obwohl es dunkel war, erkannte Rosemarie, daß ihr Gesicht völlig verweint war und daß sie verstört aussah.

»Tante Rosemarie, kann ich für einige Zeit bei dir bleiben?«

*

»Was heißt das, meine Frau ist nicht da?« herrschte Robert Sandberg seine Hauswirtschafterin an.

Die Frau war blaß und hatte sichtlich Angst vor seinem Zorn, aber das kümmerte ihn nicht. »Also?«

»Sie ist nicht da«, wiederholte sie mit bebender Stimme. »Ihr Bett ist unbenutzt, ein Koffer und einige ihrer Sachen sind auch weg.«

»Was sagen Sie da?« Sein Blick wurde so drohend, daß sie unwillkürlich einige Schritte zurückwich. Bei Robert Sandberg wußte man nie, wie er im Zorn reagierte. Sie hatte es zwar selbst noch nicht erlebt, aber die anderen im Haus erzählten, daß er durchaus imstande war zuzuschlagen.

»Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, Herr Sandberg!« Ihr Tonfall wurde flehend. »Bitte, ich muß zurück in die Küche, sonst…«

»Gar nichts müssen Sie!« rief er mit donnernder Stimme. »Zuerst schaffen Sie meine Frau hierher, haben Sie mich verstanden?«

»Aber…«, begann sie, doch dann wußte sie nicht weiter. Schließlich sagte sie leise und mit gesenkten Augen. »Niemand weiß, wo sie ist, Herr Sandberg. Ich habe schon alle gefragt. Keiner hat sie gesehen. Niemand hat bemerkt, daß sie das Haus verlassen hat. Wir dachten, Sie wüßten, daß sie verreisen will.«

Robert wollte erneut brüllen, besann sich jedoch eines Besseres. Er wußte nur zu gut, was das bedeutete: Der Klatsch würde blühen!

Offensichtlich war es Mareike gestern abend mit ihren Worten doch ernster gewesen, als er angenommen hatte. Schlimm genug, daß bereits der gesamte Haushalt Bescheid zu wissen schien. Er haßte es, wenn er die Dinge nicht unter Kontrolle hatte. Und eine weggelaufene Ehefrau war in seiner Position eine Katastrophe. Er konnte sich lebhaft vorstellen, mit welcher Häme seine Konkurrenten auf eine solche Nachricht reagieren würden. Er mußte als erstes dafür sorgen, daß er nicht länger wie ein verlassener Idiot wirkte.

»Ich wußte nicht, daß sie verreisen will«, erklärte er kalt. »Es überrascht mich ebenso wie alle anderen hier im Haus. Gehen Sie bitte wieder an Ihre Arbeit. Meine Frau wird sich sicher bald melden und sagen, wohin sie gefahren ist.« Er widmete sich seiner Zeitung und schien seinen Zorn völlig vergessen zu haben.

Die Hauswirtschafterin blieb noch einen Augenblick stehen, als erwarte sie, daß er noch einmal das Wort an sie richte. Als das nicht geschah, verließ sie lautlos das Zimmer.

*

Esther Berger war mit Luna auf dem Rückweg, als sie John Tanner begegnete.

Sie zügelten beide ihre Pferde und blieben nebeneinander stehen. Nachdem sie einander freundlich begrüßt hatten, fiel ihr sofort auf, daß er traurig und bedrückt wirkte.

»Ist etwas passiert?« fragte sie.

Sein Gesicht verschloß sich sofort, und sie fügte rasch hinzu: »Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein. Aber Sie sehen nicht gerade glücklich aus.«

»Das bin ich auch nicht«, antwortete er, gab aber keine weitere Erklärung ab.

Sie nahm ihm nicht übel, daß er ihr keine Antwort gab, sie kannten sich schließlich nicht besonders gut. Sie wollte sich eben mit einem aufmunternden Satz von ihm verabschieden, als er sie unvermittelt fragte: »Sagen Sie, Frau Berger, haben Sie Frau Sandberg in der letzten Zeit gesehen?«

Aha, dachte Esther, daher weht der Wind. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, schon länger nicht mehr. Und jetzt, wo Sie danach fragen, fällt mir ein, daß ich neulich schon einmal darüber nachgedacht habe, ob sie vielleicht krank ist. Wir sind uns sonst ja doch regelmäßig über den Weg gelaufen.« Sie dachte kurz nach und korrigierte sich dann lächelnd. »Oder besser gesagt: ›geritten‹. Sie haben also auch nichts von ihr gehört?«

»Nein«, antwortete er. »Und es beunruhigt mich, ehrlich gesagt.« Er sprach es nicht aus, daß er deshalb so unglücklich aussah, aber Esther spürte intuitiv, daß das der Grund war.

»Haben Sie sie nicht einmal angerufen?« fragte sie betont sachlich. »Schließlich reiten Sie öfter gemeinsam. Sie sind im selben Club, da liegt es doch nahe nachzufragen, ob Frau Sandberg krank geworden ist.«

»Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen«, gestand er mit einem schiefen Lächeln. »Ich kenne ja ihren Mann auch gar nicht. Frau Sandberg und ich treffen uns immer nur beim Reiten. Es käme mir wie ein Eindringen in ihre Privatsphäre vor, wenn ich sie zu Hause anriefe.«

»Seien Sie nicht albern, Herr Tanner!« rief Esther unwillkürlich, bereute es aber im selben Augenblick. »Entschuldigung«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Heute sage ich ständig das Falsche, scheint mir. Ich mische mich in Dinge ein, die mich gar nichts angehen.«

»Tun Sie das ruhig«, sagte John und lächelte sie an. »Sie machen das ganz richtig, und für mich ist es im Augenblick außerordentlich erfrischend, wenn jemand einfach nur normal reagiert, statt mich in meinen Bedenken zu bestärken.«

»Wenn Sie das so sehen, dann rufen Sie doch endlich an!« sagte Esther lachend. »Auf Wiedersehen, Herr Tanner. Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, will ich hören, was Sie erfahren haben!« Sie trieb Luna an, die ohnehin schon ungeduldig geworden war, und stob davon.

John sah ihr lächelnd nach. Eine sehr nette Frau war diese Frau Dr. Berger. Sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck.

*

Robert Sandberg lief in dem holzgetäfelten Sitzungszimmer der altehrwürdigen Rechtsanwaltskanzlei auf und ab, während er zugleich mit beherrschter Stimme seinem Anwalt vortrug, wie er mit seiner Noch-Ehefrau Mareike umzugehen habe.

»Keinen Cent bekommt sie von mir«, sagte er kalt. »Haben Sie das verstanden? Keinen Cent! Sie hat mich böswillig verlassen, und…«

»So einfach ist das nicht, Herr Sandberg«, versuchte der Anwalt einzuwenden, doch sein prominenter Mandant ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Dann machen Sie es gefälligst so einfach!« fauchte er. »Ich habe keine Lust, wie der letzte Idiot dazustehen, verstehen Sie das?«

»Ein wenig Großzügigkeit würde vermutlich souveräner wirken«, gab der Anwalt zu bedenken.

»Und es würde Ihnen nicht weh tun, Herr Sandberg.«

Zum erstenmal unterbrach der Industrielle seine Wanderung und blieb direkt vor dem Schreibtisch stehen, hinter dem der Anwalt saß. »Was soll das heißen? Daß ich Mareike, die ich immer gut behandelt habe – was sage ich da? Gut? Wie eine Prinzessin habe ich sie behandelt! – also, daß ich Mareike, die mich ohne ein Wort der Erklärung verlassen hat, dafür auch noch bezahlen soll?«

Der Anwalt versuchte es erneut. »Herr Sandberg, Ihre Frau sieht die Sache vermutlich völlig anders.«

»Es ist mir egal, wie sie die Sache sieht, denn das spielt überhaupt keine Rolle!« Robert Sandberg setzte seinen arrogantesten Blick auf, und der Anwalt unterdrückte einen Seufzer. Der Mann hatte noch einen langen Weg vor sich, wenn er weiterhin so selbstherrlich auftrat. Die Medien würden den Fall, wenn er erst einmal bekannt wurde, begeistert aufgreifen, und er war ziemlich sicher, daß sie nicht Robert Sandbergs Partei ergreifen würden.

»Ihre Frau wird sich ebenfalls einen Anwalt suchen, und der wird die Angelegenheit in einem anderen Licht erscheinen lassen. Sie können sich darauf verlassen, daß sie Gründe für ihren Schritt anführen wird…«

»Was für Gründe denn?« schrie Robert Sandberg aufgebracht und nahm seine Wanderung durch den Raum wieder auf. »Es gibt keine Gründe.«

»Untreue zum Beispiel«, sagte der Anwalt trocken. »Das wäre durchaus ein Grund.«

»Untreue?« Das Gesicht seines Mandanten wurde rot vor Zorn. »Ja, wer sagt denn so etwas?«

»Hören Sie auf, Herr Sandberg.« Die Geduld des Anwalts war erschöpft, man hörte es seiner Stimme deutlich an. »Jeder in dieser Stadt weiß, daß Sie ständig Freundinnen haben. Mir müssen Sie nichts vormachen, denn mir ist das vollständig gleichgültig, das versichere ich Ihnen. Aber vielleicht war es Ihrer Frau nicht gleichgültig. Hat sie nichts davon gesagt?«

»Ich habe nicht so genau zugehört«, antwortete Robert Sandberg mürrisch. »Sie hat eine ganze Menge gesagt. Eine Menge dummes Zeug, meine ich. Also, was soll ich jetzt tun?«

Na endlich, dachte der Anwalt erleichtert. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, den Industriellen so weit zu bringen, daß er zumindest bereit war zuzuhören. Mit ruhigen Worten begann er, sein Konzept darzulegen. Ob Robert Sandberg sich auf seine Vorschläge einlassen würde, stand auf einem anderen Blatt. Aber zumindest mußte er sich dann später nicht vorwerfen lassen, nicht alles versucht zu haben, um den Mann zur Vernunft zu bringen.

*

Ja, dachte John, er würde einfach bei Mareike Sandberg zu Hause anrufen. Etwas Unverfänglicheres gab es schließlich nicht, er brauchte ja noch nicht einmal einen Vorwand. Die Erklärung lag doch auf der Hand, wie Esther Berger bereits sehr richtig festgestellt hatte. Sie trafen sich immer im Reitclub, und jetzt war Mareike dort schon länger nicht mehr aufgetaucht. Völlig normal, daß er auf die Idee kam, sich zu erkundigen, ob etwas passiert war.

Er trieb sein Pferd an, und in gestrecktem Galopp flogen sie über den Reitweg, der direkt am Waldrand entlangführte. John genoß die Geschwindigkeit, und auf einmal fühlte er sich wieder leicht und froh. Warum hatte er es sich nur so schwer gemacht in den letzten Tagen? Da mußte erst eine Frau wie Esther Berger kommen und ihm sagen, was er tun sollte?

Ein ohrenbetäubendes Geräusch war plötzlich über ihm. Er begriff, daß es ein Hubschrauber sein mußte, der eine Runde über dem Wald drehte. »Mist!« fluchte er leise, und im nächsten Augenblick brach das Pferd aus. Er versuchte, das Tier zu zügeln, um es zu beruhigen, aber der Hubschrauber drehte leider nicht ab, sondern kam noch näher.

John verlor die Kontrolle über das Pferd, das nun, verrückt vor Angst, quer über ein Feld raste, während der Hubschrauber über sie hinwegdonnerte. Wie in einem Film sah John sich selbst und seine verzweifelten Bemühungen, im Sattel zu bleiben, während er gleichzeitig versuchte, den rasenden Lauf des Pferdes zu stoppen. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er aufgeben mußte. Wenige Sekunden später flog er in hohem Bogen auf die harte Erde, während das Pferd weiterrannte, als habe es nicht einmal gemerkt, daß es seinen Reiter verloren hatte.

Der Aufprall war furchtbar. Johns Körper schlug auf, und im selben Augenblick wußte er, daß nun alles aus war. Dabei fühlte er zu seiner großen Verwunderung keinen Schmerz. Dennoch wußte er, daß alles zerbrochen war. Er würde nicht aufstehen können, und niemand würde ihn hier finden.

Mareike, dachte er und sah ihr Gesicht mit den schönen braunen Augen und den vollen Lippen vor sich, die er niemals würde küssen dürfen.

Sie würde es nicht einmal erfahren, daß er verunglückt war, denn nun konnte er sie ja auch nicht anrufen.

»Mareike«, murmelte er, dann verlor er das Bewußtsein, während einen Kilometer weiter das Pferd seinen rasenden Lauf endlich stoppte und nun mit zitternden Flanken und Schaum vor dem Mund unter einem Baum stehenblieb.

*

»Ein Hubschrauberpilot hat einen schweren Reitunfall in der Nähe eines Waldstücks beobachtet«, berichtete Schwester Monika Ullmann knapp. »Sie bringen den Mann hierher, weil das nächstgelegene Krankenhaus nicht gut genug ausgerüstet ist.«

»Ein Hubschrauberpilot?« fragte Dr. Winter erstaunt.

»Ja, die haben offenbar nach einem entlaufenen Sträfling gesucht und dabei den Wald überflogen…«

»… und das Pferd so erschreckt, daß es durchgegangen ist, was?« fragte Adrian.

»Kann sein, das haben sie nicht gesagt. Sie fliegen den Mann jedenfalls selbst her.«

»Ist ein Sanitäter dabei?« fragte Adrian.

»Ja, der Sträfling ist bei seiner Flucht angeschossen worden, deshalb haben sie alles an Bord gehabt. Den Ausbrecher haben sie übrigens nicht erwischt.«

»Haben sie was über die Verletzungen des Mannes gesagt?« erkundigte sich der junge Notaufnahmechef.

»Mehrere Brüche. Aber vor allem hat sein Rücken was abgekriegt.«

»Das habe ich schon befürchtet«, antwortete Adrian besorgt. »Dann mal an die Arbeit, damit wir vorbereitet sind. Wann wollen sie hier sein?«

»In ein paar Minuten.«

Eilig gingen sie daran, eine der Notfallkabinen vorzubereiten. Sie hatten jedoch kaum angefangen, als der Verletzte auch schon gebracht wurde. Im Eilschritt liefen die Männer den Flur der Notaufnahme entlang und betteten den Patienten dann auf die Liege in der vorbereiteten Kabine.

Dr. Adrian Winter beugte sich über den wachsbleichen Mann und rief im selben Augenblick entsetzt: »Das gibt’s doch gar nicht!«

»Kennst du ihn?« erkundigte sich Dr. Julia Martensen, die gerade hereinkam.

»Ja«, antwortete Adrian, während sie beide mit der Untersuchung begannen. »Sein Name fällt mir im Augenblick nicht ein, aber er ist Restaurator. Ich habe ihn in einer Kirche kennengelernt, deren Fresken er restauriert hat. Eine ganz wunderbare Arbeit. Und ein höchst sympathischer, kluger Mann.«

»Er hat den rechten Arm und mehrere Rippen gebrochen«, stellte Julia fest.

»Innere Verletzungen hat er nicht, scheint mir.«

»Aber eine schwere Gehirnerschütterung – mindestens«, murmelte Adrian.

»Was ist mit seinem Rücken?«

»Das ist die Frage«, sagte Adrian leise. »Er muß zum Röntgen. Ich will auch, daß ein CT gemacht wird – diese Verletzung an seiner Schläfe gefällt mir nicht. Das sieht so aus, als sei er mit dem Kopf heftig aufgeschlagen. Aber die größten Sorgen bereitet mir sein Rücken.«

»Du meinst…«, Julia ließ ihre Frage unausgesprochen in der Luft hängen.

»Warten wir’s ab«, sagte Adrian knapp. »Es muß auf jeden Fall eine neurologische Untersuchung gemacht werden. Wenn er nur aufwachen würde!«

Julia beugte sich über den jungen Mann und strich ihm sanft über das Gesicht. »Hallo, können Sie mich hören?«

Die Lider des Mannes flatterten, und ihre Stimme wurde eindringlicher. »Bitte, wachen Sie auf. Wir müssen mit Ihnen reden!«

Wieder flatterten die Lider, gleich darauf öffnete der Patient die Augen.

»Guten Tag«, sagte Julia. »Können Sie mich sehen?«

Der Blick des Mannes nahm einen erstaunten Ausdruck an, dann krächzte er: »Ja.«

»Wunderbar«, sagte Julia. »Sehen Sie mal, wer hier ist!«

Nun beugte sich Adrian über den Mann. »Erinnern Sie sich an mich?« fragte er. »Ich habe vor einiger Zeit Ihre Fresken bewundert.«

Die Antwort ließ auf sich warten, aber dann kam sie klar und deutlich, wenn auch sehr leise. »Nicht meine, Herr Dr. Winter. Ich habe sie… nur restauriert.«

Adrian machte große Augen. »Sie wissen meinen Namen noch? Ich muß gestehen, daß mir Ihrer einfach nicht einfällt.«

»John Tanner.«

Adrian nickte lächelnd. »Natürlich, Herr Tanner, entschuldigen Sie bitte. Sie wissen, daß Sie schwer verletzt sind?«

Die Augen des jungen Mannes sahen ihn verständnislos an.

»… weiß nicht, was passiert ist.«

»Retrograde Amnesie«, murmelte Julia Martensen.

»Sie hatten einen Reitunfall«, erklärte Adrian, »und sind dabei schwer gestürzt, deshalb hat man Sie zu uns gebracht. Ich möchte jetzt gerne etwas versuchen, ja?«

Er strich dem Patienten vorsichtig über den linken Unterschenkel und fragte: »Haben Sie etwas gespürt?«

»Nein«, antwortete John Tanner.

»Und hier?« Er piekste sanft in den Oberschenkel.

»Ein bißchen«, lautete die Antwort.

Adrian lächelte. »Sehr gut. Nun machen wir das Ganze auch noch mit dem anderen Bein.«

Wieder spürte der Patient die Berührung am Unterschenkel nicht. Der Arzt prüfte die Reflexe und bat John Tanner, seine Zehen zu bewegen. Es gelang ihm nicht.

»Das war’s schon«, sagte Dr. Winter ruhig. »Wir fahren jetzt mit Ihnen zum Röntgen, Herr Tanner. Danach wissen wir dann genau, wie es in Ihnen aussieht.« Er bemühte sich um einen leichten Tonfall, hörte aber selbst, daß ihm das nur bedingt gelang.

»Was ist denn… mit mir?« fragte John Tanner.

»Das versuchen wir gerade herauszubekommen«, antwortete Adrian lächelnd. »Machen Sie sich keine Sorgen, wir kümmern uns jetzt um alles. Sollen wir jemanden benachrichtigen, daß Sie hier sind?«

»Nicht nötig«, murmelte John und schloß die Augen. Er war furchtbar müde.

Adrians Gesicht war jetzt sehr ernst. Julia und er wechselten einen langen Blick. Es war nicht nötig, etwas zu sagen. Sie wußten beide, was die Untersuchung gezeigt hatte.

*

Rosemarie Hagen sah ihre Nichte nachdenklich an. Mareike war seit mehreren Tagen bei ihr, aber noch immer weinte sie viel, aß kaum und wurde von Tag zu Tag blasser und unglücklicher. Darüber hinaus hatte sie sich bisher beharrlich geweigert, über ihren Kummer zu reden.

Doch Rosemaries Geduld war nun zu Ende. »So geht das nicht weiter, Mareike!« sagte sie energisch. »Wenn ich dir helfen soll, dann mußt du schon mit mir reden! Ich weiß ja überhaupt nicht, was los ist – außer, daß du dich scheiden lassen willst.«

Mareike war bei ihren ersten Worten erschrocken zusammengezuckt, aber nun nahm ihr Gesicht einen schuldbewußten Ausdruck an.

»Tut mir leid, Tante Rosi«, sagte sie leise. »Ich will es dir jeden Tag erzählen, und dann weiß ich plötzlich nicht mehr, was ich sagen soll. Ich weiß überhaupt nicht weiter!«

»Was ist passiert?« fragte Rosemarie ruhig. »Es muß doch etwas passiert sein, wenn du so plötzlich einfach wegläufst. Das sieht dir ja gar nicht ähnlich.«

»Es ist eigentlich nichts Neues passiert«, antwortete Mareike. »Wenn ich es mir genau überlege, war es sogar so wie immer. Robert hat bestimmt, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich bin mir manchmal wie im Gefängnis vorgekommen. Er hat mich nur geheiratet, weil ich aus einem reichen Elternhaus stamme.«

Das glaubte Rosemarie Hagen auch, von Anfang an war das ihre Überzeugung gewesen. Allerdings galt ihre Meinung bei ihren Verwandten nichts. Sie war eine Stiefschwester von Mareikes Mutter und hatte mit dem ›vornehmen Teil der Familie‹, wie sie es nannte, keinerlei Kontakt mehr.

Sie wußte, daß ihre bescheidenen Lebensumstände ihren reichen Verwandten ein Dorn im Auge waren, aber es war ihr gleichgültig. Sie liebte ihre Unabhängigkeit, und überdies hielt sie nicht sehr viel von ihrer Familie. Sie selbst brauchte keine Reichtümer, um zufrieden zu leben.

Die einzige, an der sie hing, war Mareike. Allerdings hatte sie angenommen, daß auch ihre Nichte sich von ihr abwenden würde, nachdem sie diesen schrecklichen Robert Sandberg geheiratet hatte. Damals hatte sie vorsichtig versucht, Mareike zu warnen, aber das war völlig aussichtslos gewesen. Mareike war verliebt gewesen und hatte den Himmel voll roter Rosen gesehen. Aber den Kontakt zu ihrer ›armen‹ Tante hatte sie dennoch aufrechterhalten.

Und so hatte Rosemarie abgewartet, was aus dieser Ehe werden würde. Immerhin sah Mareike jetzt offensichtlich klarer als damals, und das war schon einmal ein großer Fortschritt.

»Und dann hat er mir plötzlich verboten, reiten zu gehen«, fuhr Mareike fort. »Es paßte ihm nicht, daß ich dahin gehe, hat er gesagt, weil ich darüber meine Pflichten vergesse.« Sie lachte bitter auf. »Meine Pflichten! Soll ich dir sagen, worin die bestehen?«

»Ich kann es mir vorstellen«, erwiderte Rosemarie ruhig.

Mareike schüttelte heftig den Kopf. »Das kannst du ganz bestimmt nicht! Ich bin erwachsen – oder etwa nicht? Und er behandelt mich, als könne ich nicht bis drei zählen. Er entscheidet für mich, er verbietet, er bestimmt – als sei ich ein Kind!«

»Aber er hat dich doch auch gerne vorgezeigt, oder?« erkundigte sich Rosemarie. »Ab und zu erscheinen ja mal Fotos in irgendwelchen Zeitschriften. Da erschien er immer ganz als stolzer Ehemann.«

»O ja«, sagte Mareike traurig. »Wenn er mich als Beutestück vorführen konnte, war er in seinem Element. In letzter Zeit habe ich mich allerdings öfter gefragt, was er macht, wenn ich alt werde und nicht mehr so schön bin, daß alle mich bewundern.«

»Und? Hast du auch eine Antwort auf diese Frage gefunden?« erkundigte sich ihre Tante gespannt.

Mareike fing an zu weinen. »Er betrügt mich doch schon lange, Tante Rosemarie. Ich habe es nur nicht wahrhaben wollen. Er liebt mich nicht, dazu ist er gar nicht fähig. Robert ist ein Mensch, der andere nur für seine Zwecke benutzt. Er braucht mich, weil eine schöne junge Frau in seiner Position dazugehört, das ist alles.«

Rosemarie setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. »Dann laß dich scheiden«, sagte sie ruhig. »Und danach fängst du ein neues Leben an.«

»Das sagt sich so leicht«, meinte Mareike. »Kannst du dir vorstellen, was die beiden Familien für einen Aufstand machen? Und alle werden sie auf seiner Seite sein. Er ist der Mächtige, der mit dem vielen Geld und den vielen Beziehungen. Und ich bin nichts.«

»O doch!« widersprach Rosemarie heftig. »O doch, das bist du. Du bist ein Mensch, Mareike, und ein besonders liebenswerter noch dazu. Du schaffst das, und ich werde dir dabei helfen, das verspreche ich dir.«

Mareike weinte noch ein bißchen und überlegte, ob sie ihrer Tante nun auch noch von John Tanner erzählen sollte, der ihr so gut gefiel, daß ihr das Herz weh tat, wann immer sie an ihn dachte. Aber sie tat es dann doch nicht. John Tanner würde ihr Geheimnis bleiben, wahrscheinlich sogar für immer. Denn was wußte sie schon von ihm? Vielleicht war er ebenfalls verheiratet – und sogar glücklich.

Aber irgendwie spürte sie, daß das nicht so war. Dennoch sprach sie nicht über ihn. Das mußte noch warten.

*

»Es ist also eine Querschnittslähmung«, stellte Dr. Adrian Winter fest, als alle Untersuchungen abgeschlossen waren. »Aber ob sie vollständig ist, kann man zum augenblicklichen Zeitpunkt noch nicht erkennen.«

»Aussichtslos ist es nicht, oder?« fragte Julia Martensen.

Er zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Du weißt ja, wie das ist. Das Gewebe ist so geschwollen und blutunterlaufen, daß es zum jetzigen Zeitpunkt fast unmöglich ist, eine genaue Aussage zu machen. Das einzige, was mich hoffen läßt, ist, daß Herr Tanner immerhin noch Gefühl im Oberschenkel hatte.

»Das ist nicht sehr viel.«

»Nein«, bestätigte Adrian. »Das ist es nicht. Aber ich darf gar nicht daran denken, daß der Mann vielleicht nie wieder laufen kann. Diese Arbeit an den Fresken, in dieser Kirche, die ich mir da angesehen habe, die hätte er niemals durchführen können, wenn er nicht hätte stehen und laufen können!«

»Wir können jetzt nur abwarten, Adrian«, sagte Julia sanft. »In ein paar Tagen sind wir klüger.«

»Oder auch nicht«, erwiderte Adrian müde. »Manchmal zieht sich so etwas lange hin, bis man genau Bescheid weiß. Und das ist für alle Beteiligten die reinste Tortur.«

Julia ging nicht darauf ein, sie wollte Adrian in seinen trüben Gedanken nicht noch bestärken. »Wo ist Herr Tanner jetzt?« fragte sie.

»Im OP«, antwortete Adrian. »Wegen des gebrochenen Arms. Und wegen der Rippen. Aber sie haben ihn bereits völlig stillgelegt.«

Sie nickte. »Wir können ja später noch einmal nach ihm sehen, Adrian.«

Er gab keine Antwort, sondern starrte nur stumm vor sich hin.

Sie unterdrückte einen Seufzer. Was für ein Unglück aber auch, daß er John Tanner persönlich kannte! Persönliche Bindungen konnten einem Arzt die Arbeit ungeheuer schwer machen.

*

»Frau Dr. Berger!« rief Frau Langhammer ganz aufgeregt, als Esther an diesem Abend zum Reiten kam. Frau Langhammer war die Bauersfrau, auf deren Hof Luna stand. »Haben Sie schon von dem schrecklichen Unglück gehört?«

»Unglück?« fragte Esther. »Nein, ich habe überhaupt nichts gehört. Was ist denn passiert?«

»Na, dem Herrn Tanner, den Sie doch auch kennen, ist im vollen Galopp das Pferd durchgegangen.«

»Was sagen Sie da?« fragte Esther erschrocken. »Sind Sie ganz sicher? Ich habe ihn doch letztes Mal, als ich hier war, noch getroffen. Wir haben sogar miteinander gesprochen…«

Aber Frau Langhammer ließ sie nicht ausreden. »Ein Hubschrauber ist ziemlich tief über den Wald geflogen. Die haben einen gesucht, der aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. Und da ist das Pferd durchgegangen, er hat es nicht unter Kontrolle bekommen können.«

»Und was ist ihm passiert?« fragte Esther.

»Niemand weiß was Genaues«, antwortete die Frau. »Aber ich habe gehört, er soll gelähmt sein.«

»Gelähmt?« fragte Esther entsetzt. »Wer hat das gesagt?«

»Ach, Sie wissen doch, es wird immer viel geredet in solchen Fällen. Jemand anders hat gesagt, daß er einen Schädelbruch hat. Aber genau weiß es keiner.«

»Wo ist Herr Tanner denn jetzt?« Esther wurde ganz kribbelig. Sie kannte John Tanner nicht besonders gut, aber doch gut genug, um wissen zu wollen, ob er bei dem Unfall ernsthaft verletzt worden war oder nicht. Mit Klatschgeschichten wollte sie sich nicht zufriedengeben.

»Sie haben ihn nach Berlin ’reingebracht, das kleine Krankenhaus hier in der Nähe war nicht gut genug ausgerüstet«, berichtete die Bauersfrau.

»Und in welches Krankenhaus?«

Aber das wußte Frau Langhammer nicht, und Esther beschloß, sich im Reitclub zu erkundigen. Dort würde man hoffentlich Bescheid wissen. Hatte John Tanner überhaupt Angehörige hier in der Nähe? Erst jetzt fiel ihr auf, wie wenig sie von ihm wußte. Und was war mit Mareike Sandberg – hatte sie erfahren, was passiert war?

»Ich fahre zurück«, erklärte sie hastig. »Heute ist mir die Lust aufs Reiten vergangen.«

»Da wird Luna aber traurig sein«, sagte Frau Langhammer. »Aber ich kann Sie verstehen, Frau Doktor. Ich war auch ganz krank, als ich es erfahren habe.«

»Auf Wiedersehen!« rief Esther und ging zurück zu ihrem Wagen. Sie würde direkt in den Reitclub fahren und sich nach Herrn Tanner erkundigen.

*

»Du kannst wirklich gern bei mir bleiben für eine gewisse Zeit, Mareike«, sagte Rosemarie Hagen. »Das Häuschen ist nicht groß, aber für zwei reicht es, wie du siehst.«

Mareike schüttelte den Kopf. »Das ist lieb von dir, Tante Rosi, aber ich muß zurück. Ich muß eine kleine Wohnung finden und irgendeinen Job – und dann gehe ich wieder an die Uni. Ich träume schon lange davon, mein Kunststudium zu beenden, auch wenn ich damit vielleicht nichts anfangen kann.«

»Einen Job?« fragte Rosemarie erstaunt. »Na, hör mal, das hast du doch gar nicht nötig!«

»O doch«, entgegnete Mareike. »Ich lasse mich von Robert nicht kaufen. Das sollen die Anwälte unter sich ausmachen – ich meine, was mir zusteht und was nicht. Aber ich will auch ohne das Geld, das er vielleicht bezahlen muß, leben können. Und meine Eltern werde ich nicht um ihre Hilfe bitten, das kann ich dir versichern.«

»Urteile nicht zu hart über sie«, bat ihre Tante. »Vielleicht haben sie wirklich geglaubt, daß du glücklich wirst mit Robert Sandberg.«

»Das glaubst du doch selbst nicht!« erwiderte Mareike, und Rosemarie Hagen mußte ihr im stillen recht geben. Nein, sie glaubte es selbst nicht. Es war eine Geldheirat gewesen, für beide Seiten. So und nicht anders mußte man das sehen. Daß Mareike sich tatsächlich in ihren späteren Mann verliebt hatte – oder zumindest geglaubt hatte, verliebt zu sein –, war für die Familien äußerst praktisch gewesen.

An Mareikes Wohl hatte dabei sicherlich niemand gedacht. Warum auch? In früheren Zeiten waren Ehen auch von den Eltern für ihre Kinder arrangiert worden, und nicht wenige davon waren recht glücklich geworden. Es hätte in diesem Fall ja auch so sein können.

Nein, dachte Rosemarie, das hätte es nicht. Wenn man Robert Sandberg einmal erlebt hatte, dann wußte man, daß niemand mit ihm glücklich werden konnte. Er befand sich ja nicht einmal im Einklang und im Frieden mit sich selbst.

*

John Tanner lag bewegungslos in seinem Klinikbett und versuchte, an nichts zu denken. Doch das war natürlich völlig unmöglich. Tatsächlich ging ihm so vieles auf einmal durch den Kopf, daß ihm manchmal regelrecht schwindelig davon wurde. Der beherrschende Gedanke aber war: Ich werde wahrscheinlich nie wieder gehen können.

Sosehr sich die Ärzte auch bemühten, Optimismus zu verbreiten, er glaubte ihnen kein Wort. Am meisten vertraute er Dr. Winter, der jeden Tag kam, um ihn zu besuchen, wann immer es seine Arbeit in der Notaufnahme erlaubte. Dr. Winter war seinen Fragen nicht ausgewichen und hatte sie nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet. Aber auch er hatte um Geduld gebeten und darauf hingewiesen, daß es durchaus im Bereich des Möglichen war, daß die Lähmung sich noch zurückbildete.

John konnte es nicht glauben. Er hatte keine Zukunft mehr, das Beste würde sein, sich so bald wie möglich damit abzufinden. Er versuchte, nicht an Mareike Sandberg zu denken, aber er konnte nicht verhindern, daß er ständig ihr Gesicht vor sich sah. Mittlerweile mußte sie längst erfahren haben, was passiert war und daß er hier lag. Er wollte sie nicht sehen. Oder besser gesagt: Er wollte nicht, daß sie ihn so sah, in diesem jämmerlichen, hilflosen Zustand.

Einige Leute aus dem Reitclub hatten ihn bereits besucht, aber natürlich nicht, weil ihnen etwas an ihm lag, sondern weil sie neugierig waren. Ihm brauchten sie nichts vorzumachen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie erzählten, daß er nie wieder auf die Beine kommen werde. Er stöhnte unwillkürlich laut auf bei diesem Gedanken.

»So schlimm?« fragte eine freundliche Männerstimme, und im nächsten Augenblick schob sich Dr. Winters Gesicht in sein Blickfeld.

»Unerträglich«, antwortete er, und er meinte es völlig ernst.

Der junge Arzt ließ sich auf den Stuhl neben seinem Bett sinken. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist, Herr Tanner«, sagte er hilflos. »Das mag sich für Sie unglaubwürdig anhören, denn ich kann herumlaufen, und Sie können es im Augenblick nicht.«

»Eben!« sagte John bitter.

»Ich kann es mir trotzdem vorstellen!« entgegnete Dr. Winter sanft, aber bestimmt. »Und ich würde Ihnen so gern Mut machen. Ihre Lage ist wirklich nicht aussichtslos, glauben Sie mir das.«

»Ich glaube Ihnen, wenn ich auf meinen eigenen Beinen aus diesem Zimmer gehe«, erwiderte John. »Vorher nicht.«

Es klopfte, und Dr. Winter warf John einen fragenden Blick zu.

Der Patient schüttelte den Kopf. »Ich will niemanden sehen«, knurrte er. »Diese ganzen reichen Lackaffen kommen nur, weil sie was zu klatschen haben wollen.«

Obwohl niemand »Herein« gesagt hatte, wurde die Tür nun vorsichtig geöffnet, und eine junge Frau streckte ihren Kopf ins Zimmer. Weiter wagte sie sich offensichtlich nicht hinein.

»Esther!« rief Adrian erstaunt. »Was suchst du denn hier?«

Sie war offenbar nicht minder erstaunt, ihn zu sehen. »Dich jedenfalls nicht«, antwortete sie und öffnete die Tür nun richtig, um einzutreten. »Guten Tag, Herr Tanner«, sagte sie. »Ich habe jetzt erst erfahren, daß Sie hier sind, sonst wäre ich schon viel früher vorbeigekommen.«

»Guten Tag, Frau Berger«, antwortete John leise.

»Ihr kennt euch?« rief Adrian. »Wieso weiß ich nichts davon?«

»Warum solltest du?« fragte Esther erstaunt. Sie war nähergetreten und gab John Tanner die Hand. Dann beugte sie sich zu ihrem Bruder und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

»Ich wußte auch nicht, daß Sie sich kennen«, bemerkte John, der die Begrüßung der Geschwister aufmerksam beobachtet hatte. Die beiden schienen sich sogar sehr gut zu kennen, denn diese Begrüßung hatte etwas sehr Vertrautes an sich. Ob sie…

»Adrian ist mein Bruder«, stellte Esther sachlich fest. »Mein Zwillingsbruder, um genau zu sein. Nicht, daß Sie auf falsche Gedanken kommen, Herr Tanner!«

»Und Herr Tanner ist der begnadete Restaurator, von dem ich dir einmal erzählt habe«, sagte Adrian. »Erinnerst du dich? Der mit den Fresken. Aber du hast damals nicht gesagt, daß du ihn kennst.«

»Du hast seinen Namen nicht genannt, Brüderchen. Und außerdem wußte ich zwar, daß Herr Tanner Künstler ist, aber nicht, daß er restauriert. Wir kennen uns vom Reiten.«

Adrian lächelte. »Dann wäre ja jetzt alles geklärt.«

»Überhaupt nicht!« widersprach seine Schwester energisch. »Wieso bist du überhaupt hier und nicht in deiner Notaufnahme?«

»Herr Tanner ist bei uns eingeliefert worden, und seitdem besuche ich ihn, wenn ich mal ein bißchen Zeit habe. Ich bin nicht mehr sein Arzt, falls es das war, was du wissen wolltest. Ich bin gewissermaßen als Freund hier.«

»Typisch Geschwister«, murmelte John vor sich hin. Das kleine Geplänkel hatte ihn von seinen düsteren Gedanken abgelenkt. »Immer müssen sie streiten.«

»Streiten?« fragte Adrian erstaunt. »Aber wir streiten doch nicht, Herr Tanner. Wenn wir das tun, hört sich das ganz anders an, das können Sie mir glauben.«

»Ganz anders!« bekräftigte Esther. »Und nun erzählen Sie mal, Herr Tanner, wie es Ihnen geht. Ich habe nur schreckliche Gerüchte gehört, die ich aber alle lieber nicht glauben möchte. Und jetzt, wo ich Sie vor mir sehe, kann ich schon sagen, daß mindestens die Hälfte davon nicht stimmt. Ich hoffe, die andere Hälfte ist auch falsch.«

Das Gesicht des Patienten verdüsterte sich, und fast bedauerte sie schon, ihn gefragt zu haben. Auch Adrian sah auf einmal sehr ernst aus. Ihr wurde klar, daß sie einen sehr heiklen Punkt berührt haben mußte, aber Esther wäre nicht Esther gewesen, wenn sie jetzt einen Rückzug gemacht hätte. Ihr Motto war, daß man der Wahrheit ins Auge sehen mußte, auch wenn sie unangenehm oder schmerzlich war.

»Bitte sagen Sie es mir«, bat sie und griff nach Johns Hand. Sie wandte sich bewußt an ihn und nicht an ihren Bruder, der ihr vermutlich viel besser hätte Auskunft geben können. Aber sie wollte von John selbst hören, wie er seine Lage beurteilte, obwohl sie das bereits ahnte.

»Seit ich von Ihrem Unfall gehört habe, bin ich äußerst beunruhigt, und jeder hat mir etwas anderes erzählt. Wir kennen uns zwar nicht besonders gut, aber doch gut genug, daß ich mir wünsche, es möge Ihnen gutgehen.«

Sie hatte mit so viel Anteilnahme gesprochen, daß John unwillkürlich davon berührt war. Adrian hatte sich ans Fenster zurückgezogen und hörte von dort aufmerksam zu. Vielleicht gelang es Esther, die selbstzerstörerische Haltung des Patienten zu durchbrechen.

»Ich bin im Augenblick querschnittsgelähmt«, sagte John heiser. »Aber alle Ärzte, Ihr Bruder nicht ausgenommen, versuchen jeden Tag, mir Mut zu machen. Angeblich ist es nicht ausgeschlossen, daß ich doch wieder gehen kann. Wir haben gerade wieder einmal darüber gesprochen, als Sie zur Tür hereinkamen. Ich habe gesagt, daß ich an eine Heilung erst glaube, wenn ich auf meinen eigenen Beinen dieses Zimmer verlassen kann.«

Danach herrschte Schweigen im Zimmer. Esther wurde klar, wie wichtig ihre nächsten Worte sein würden. John Tanner glaubte den Ärzten nicht. Jedes aufmunternde Wort hielt er offenbar für Zweck-Optimismus. Sie vermied es, Adrian anzusehen, denn auch das, ahnte sie, würde John Tanner falsch verstehen. Als Versuch nämlich, sich über seinen Kopf hinweg wortlos zu verständigen.

»Dann werden wir es wohl abwarten müssen«, sagte sie schließlich nüchtern. »Wenn ich das richtig sehe, sind die Ärzte optimistischer als Sie.«

»So ist es«, bestätigte John Tanner.

»Gibt es Gründe für diesen Optimismus, Adrian?«

»Ja, sicher. Herrn Tanners Beine sind nicht völlig gefühllos. Er hat Empfindungen im Oberschenkel, und…«

»Aber sonst nirgends, und daran hat sich auch nichts geändert, seit ich hier bin«, fiel ihm der Patient ins Wort. »Ich kann nicht einmal meine Zehen bewegen.«

»Natürlich können Sie das nicht, wenn Sie eine Querschnittslähmung haben«, sagte Esther in dem gleichen sachlichen Tonfall wie zuvor. »Aber es ist völlig müßig, darüber zu spekulieren, denn Sie weigern sich offenbar zu hoffen. Und ich finde das ganz vernünftig.«

Er war verblüfft. »Ach ja? Da sind Sie bisher die erste, die das so sieht. Fragen Sie Ihren Bruder. Der bemüht sich jeden Tag, mich dazu zu bringen, daß ich nicht alles nur negativ sehe.«

»Wenn Sie keine Hoffnung haben, dann können Sie auch nicht enttäuscht werden – so sehen Sie das doch, oder?« fragte Esther.

Er sah sie mißtrauisch an. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Irgendwie habe ich das Gefühl, daß Sie einen Trick anwenden, um mich auf andere Gedanken zu bringen.«

Esther lachte. »Ach, Herr Tanner, machen Sie die Sache doch nicht so kompliziert. Was ist so Schlimmes daran, Sie auf andere Gedanken zu bringen? Niemand kann im Augenblick etwas Genaues sagen – so ist es doch, oder?«

Er nickte und wartete darauf, daß sie weitersprach.

»Also versuchen Sie, auf Ihre Art mit der Situation fertig zu werden, und die Ärzte versuchen es auf eine andere Art. Niemand weiß, welche Art die bessere ist. Zuviel Optimismus kann genauso falsch sein wie zuviel Verzweiflung. Das muß jeder für sich herausfinden. Natürlich haben Ärzte es lieber, wenn ihre Patienten Hoffnung haben. Aber wenn diese Hoffnung dann enttäuscht wird, dann sind es die Patienten, die damit leben müssen – nicht die Ärzte. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen.«

Wieder war es still im Zimmer. Adrian stellte erstaunt fest, daß seine kluge ›kleine Schwester‹ mit ihren Worten völlig recht hatte. Auch er selbst hatte versucht, Hoffnung zu vermitteln. Aber was bedeutete das schon, wenn man selbst nicht direkt betroffen war? John Tanner mußte schließlich damit leben, wenn er, entgegen aller Hoffnung, doch nicht wieder laufen konnte.

»Vielen Dank, Frau Dr. Berger«, sagte der Patient nach einer Weile.

»Sie haben mir sehr geholfen.«

»Dann laß ich euch jetzt mal allein«, meinte Adrian. »Wer weiß, was ihr noch alles zu besprechen habt.«

»Einiges«, sagte Esther lächelnd. »Übrigens läuft der Film immer noch, den wir neulich nicht gesehen haben. Wenn du Lust hast, melde dich!«

Adrian nickte und verabschiedete sich. Tief in Gedanken versunken kehrte er in die Notaufnahme zurück.

*

Mareike Sandberg war nach Berlin zurückgekehrt, und sie war froh darüber. Sie sah sich aufatmend in der winzigen Wohnung um. Winzig, aber hübsch. Zwei kleine Zimmer, Küche, Bad, direkt unter dem Dach eines alten Hauses. Sogar einen Balkon hatte sie, der ins Dach eingeschnitten war. Sie hatte Glück gehabt mit dieser Wohnung, die günstig lag und noch bezahlbar war.

Rosemarie Hagen hatte ihr ein paar ausrangierte Möbel, die bei ihr im Keller standen, überlassen, den Rest hatte sie billig gekauft. Die Sache mit dem Geld war noch völlig ungeklärt, das war das nächste, worum sie sich kümmern mußte.

Sie hatte sich an der Universität eingeschrieben und einige Male mit einer erfahrenen Scheidungsanwältin getroffen, der sie ihre Lage geschildert hatte. Diese Anwältin würde sie vertreten. Mareike hatte Vertrauen zu ihr. Es war eine ruhige, ältere Frau, die sehr unaufgeregt an die Sache herangegangen war. Genau das hatte Mareike gebraucht.

Mit Robert hatte sie keinen Kontakt aufgenommen, sie wollte ihn am liebsten gar nicht mehr sehen, aber das würde sich natürlich nicht machen lassen. Je länger sie über die Jahre ihrer Ehe nachdachte, desto unwirklicher erschienen sie ihr. Und sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, wie sie die zahllosen Demütigungen und Bevormundungen von Seiten ihres Mannes überhaupt so lange hatte ertragen können.

Die Presse hatte noch keinen Wind davon bekommen, daß sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammenwohnte, und sie war froh darüber. Aber für sie würde man sich höchstens eine kurze Zeitlang interessieren, das wußte sie. Viel wichtiger würde die Antwort auf die Frage sein: Wer ist Robert Sandbergs Neue? Ihr selbst jedenfalls war das herzlich gleichgültig. Dieses Kapitel lag hinter ihr. Zwar war es noch nicht verarbeitet, aber auch das würde kommen.

Und sie würde sehr gern endlich wieder reiten gehen, aber bisher hatte sie sich noch nicht getraut. Was würde sie im Club erwarten? Wie würde man sie behandeln? Hatte Robert auch dort Macht und Einfluß? Eigentlich konnte sie sich die Mitgliedschaft im Augenblick nicht leisten – zumindest so lange nicht, bis sie einen Überblick über ihre finanzielle Lage hatte. Aber sie wäre doch gern wieder einmal mit John Tanner über die Felder geritten.

Was John wohl machte? Sie hatte versucht, nicht an ihn zu denken, aber das hatte natürlich nicht geklappt. Er war ihr viel wichtiger, als sie geahnt hatte. Nein, das stimmte nicht, eigentlich hatte sie es nicht nur geahnt, sondern sogar gewußt, wie wichtig er ihr war. Aber sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, denn die ganze Geschichte war schließlich völlig aussichtslos. Sie war es zumindest gewesen. Jetzt freilich…

Ob er sie vermißt hatte? Ach, wie gern hätte sie mit ihm gesprochen!

Das Telefon klingelte und riß sie aus ihren Gedanken. »Na, Schätzchen?« fragte Rosemarie Hagen. »Wie fühlst du dich so ganz allein in deiner neuen Wohnung?«

»Sehr gut!« sagte Mareike mit fester Stimme. »Es war richtig, was ich gemacht habe, Tante Rosi.«

»Davon bin ich überzeugt«, kam die prompte Antwort. »Und wie geht’s nun weiter?«

»Ich bin schon an der Uni eingeschrieben, ich habe mir eine Anwältin gesucht – jetzt fehlt mir nur noch ein Job.«

»Kind, das ist doch Unsinn, ich habe es dir neulich schon gesagt! Deine Familie schwimmt im Geld, dein Mann ist verpflichtet, dir Unterhalt zu zahlen, und…«

Mareike unterbrach sie. »Du brauchst gar nicht weiterzureden, Tante Rosi. Ich gehe vor niemandem auf die Knie. Wenn bei dem Scheidungsurteil herauskommt, daß Robert unterhaltspflichtig ist – gut. Aber ich bin davon nicht überzeugt. Er hat damals einen Ehevertrag aufsetzen lassen, für den ich mich leider nie interessiert habe. Das hat meiner Anwältin gar nicht gefallen, sie hat immerzu mißbilligend den Kopf geschüttelt. Also, es kann gut sein, daß ich von Robert keinen Cent bekomme. Und du glaubst doch selbst nicht, daß ich mich in die Abhängigkeit meiner Eltern begebe? Du kennst sie schließlich.«

»Allerdings!« Rosemarie Hagen konnte nicht verhindern, daß ihr dieser Ausruf herausrutschte. Sie hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt und fragte: »Was für einen Job suchst du denn? Das ist doch sicher nicht so einfach?«

»Ich könnte Taxi fahren«, antwortete Mareike seelenruhig. »Ich kenne jede Ecke in Berlin, und Autofahren kann ich gut, wie du weißt.«

»Das ist ein ziemlich öffentlicher Job«, warnte ihre Tante. »Wenn dich jemand erkennt, kann das äußerst unangenehm werden.«

»Mich erkennt schon keiner«, erwiderte Mareike unbekümmert. »Wer sieht sich schon eine Taxifahrerin genau an? Und ich werde eine Schiebermütze und abgewetzte Klamotten tragen, mich nicht schminken und nichts – du wirst sehen, kein Mensch wird mich erkennen.«

»Na, ich weiß nicht.« Die Stimme ihrer Tante klang skeptisch.

»Ach, mach dir um mich keine Sorgen, Tante Rosi. Wenn alles schief läuft, habe ich ja noch dich.«

Sie lachten beide, und als Mareike gleich darauf auflegte, freute sie sich auf einmal unbändig auf ihr neues Leben.

*

»Was sagen Sie da?« fragte John Tanner.

»Frau Sandberg ist angeblich seit längerer Zeit nicht im Reitclub gewesen«, wiederholte Esther Berger. »Ich habe mich nach ihr erkundigt, aber niemand wußte etwas. Sie haben alle angenommen, daß sie krank ist.«

John sah sie ungläubig an. »Aber doch nicht so lange!« rief er. »Schon als ich den Unfall hatte, war sie ein paar Tage nicht da gewesen.« Er wurde ganz aufgeregt. »Da ist bestimmt etwas passiert, Frau Berger. Sie wissen doch auch, wie gern Frau Sandberg reitet! Darauf würde sie nicht verzichten, wenn nicht etwas wirklich Ernsthaftes sie daran hindern würde!«

Esther betrachtete ihn nachdenklich. Wenn sie noch den geringsten Zweifel gehabt hätte, daß John Tanner Mareike Sandberg liebte, dann wären sie spätestens jetzt ausgeräumt gewesen.

»Ja, allmählich habe ich auch das Gefühl, daß da etwas nicht stimmt«, meinte sie nachdenklich. »Ich könnte ja mal bei Sandbergs anrufen – obwohl ich Frau Sandberg eigentlich nicht gut genug kenne, um das zu tun.«

»Mir haben Sie es schließlich auch geraten«, erinnerte er sie. »Und ich kenne sie kaum besser als Sie.«

Sie lächelte fein, sagte aber nichts. Natürlich stimmte nicht, was er gesagt hatte, und er wußte es auch ganz genau. Aber wenn es ihm half, seine Gefühle zu leugnen, dann würde sie ganz bestimmt nichts dagegen unternehmen.

Was aber würde Mareike Sandberg sagen, wenn sie von diesem Unfall erfuhr? Esther war fast sicher, daß sie bisher noch nichts davon wußte. Sie hätte sich sonst bestimmt bereits in der Klinik sehen lassen. Denn Mareike hegte für John die gleichen Gefühle wie er für sie, davon war Esther längst überzeugt.

»Gut«, versprach sie. »Ich werde dort anrufen. Und ich sage Ihnen sofort Bescheid, wenn ich etwas Neues höre.«

Er war ganz blaß geworden. Noch immer wollte er nicht, daß Mareike ihn so krank und hilflos sah – aber noch viel weniger wollte er, daß sie selbst krank und hilflos war. Dieser Gedanke war ihm unerträglich.

*

»Wie geht es Herrn Tanner?« erkundigte sich Julia Martensen bei ihrem Kollegen Adrian Winter.

»Nicht besser, nicht schlechter«, antwortete dieser. »Die Neurologen machen regelmäßige Untersuchungen, aber er spürt noch immer nichts – an beiden Unterschenkeln nicht. Und er selbst geht sowieso davon aus, daß er nicht wieder wird laufen können.«

»Wieso eigentlich?«

»Ich weiß es nicht. Meine Schwester kennt ihn übrigens. Ihre Theorie ist, daß er versucht, sich zu schützen. Wer zuviel erhofft, kann schlimmer enttäuscht werden als jemand, der keine große Hoffnung hat.«

»Womit er recht hat«, meinte Julia. »Und wenn es ihm hilft…«

»Das bezweifle ich eben, Julia. Er mobilisiert einfach keine Kräfte. Als ob er keinen Lebenswillen mehr hätte.«

»Ein so junger Mann«, sagte Julia. »Und so begabt, hast du gesagt.«

»Ein Künstler!« bestätigte

Adrian. »Aber ich werde das Gefühl nicht los, daß ihm noch etwas anderes Kummer bereitet als sein Gesundheitszustand.«

»Die Liebe?«

Adrian hob ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht, Julia. Aber etwas bedrückt ihn. Ganz sicher.«

»Hast du deine Schwester mal danach gefragt? Ich meine, wenn sie ihn kennt, dann weiß sie doch vielleicht, was mit ihm ist.«

Er schüttelte den Kopf. »Auf diesen naheliegenden Gedanken bin ich bisher nicht gekommen«, gestand er. »Aber das werde ich nachholen. Sie kennen sich zwar nicht sehr gut, aber ich glaube, Esther hat einen hervorragenden Draht zu ihm. Sie findet die richtigen Worte, wenn sie mit ihm spricht. Das macht sie besser als ich.«

Julia lächelte. Der junge Notaufnahmechef war wieder einmal viel zu bescheiden, fand sie. Aber sie widersprach ihm nicht.

*

»Guten Tag, hier ist Dr. Berger, ich würde gern Frau Sandberg sprechen, wenn das möglich ist.« Esther fragte sich, was das für ein Lärm war, der ihr durch den Hörer entgegenschallte. Es klang, als würde im Hause Sandberg ein großes Fest gefeiert. Wenn das so war, dann war die Dame des Hauses ganz sicherlich nicht schwer krank.

»Wie ist Ihr Name?« fragte die reservierte Stimme am anderen Ende.

»Dr. Berger. Esther Berger. Wir kennen uns vom Reiten, Frau Sandberg und ich.«

»Einen Augenblick bitte.«

Esther wartete. Lautes Lachen war zu hören, eigentlich war es eher ein Kreischen. Sie fröstelte ein wenig. Irgendwie hatte sie sich eine Abendgesellschaft bei Sandbergs immer höchst kultiviert vorgestellt. Aber das, was sie hörte, klang alles andere als kultiviert.

Ihre Gedanken wurden durch eine eisige Männerstimme unterbrochen. »Sandberg.«

»Oh«, sagte Esther. »Ich wollte eigentlich gern mit Ihrer Frau sprechen, Herr Sandberg. Mein Name ist Esther Berger.«

»Und was wollen Sie von meiner Frau?«

Esther spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten. Auch ihre Stimme wurde nun sehr kühl. »Das würde ich ihr gern selbst sagen, wenn Sie gestatten.«

»Ich gestatte nicht. Sonst noch etwas?«

Esther brauchte zwei Sekunden, um ihre Fassung wiederzugewinnen, aber das war bereits zu lang. Robert Sandberg hatte aufgelegt.

Im ersten Augenblick konnte sie es kaum glauben. Dann fing sie an, erregt in ihrer Wohnung auf und ab zu laufen, um sich wieder zu beruhigen.

»Das gibt’s doch gar nicht«, schimpfte sie. »Das kann doch einfach nicht wahr sein! Was ist das denn für einer? Wofür hält er sich überhaupt?« Sie führte noch mehrere Minuten lang Selbstgespräche, so aufgebracht war sie über die Unverschämtheit des Mannes, mit dem die sanfte Mareike Sandberg verheiratet war.

»Wie konnte sie nur ein solches Ekel heiraten?« fragte sich Esther laut. »Der hält sie ja offenbar wie eine Gefangene, wenn er auch noch kontrolliert, mit wem sie telefonieren darf und mit wem nicht.«

Sie blieb stehen und dachte nach. Dann ging sie zu einem großen Sessel und ließ sich hineinfallen. Und nun? Was sollte sie tun? Es war ganz offensichtlich zwecklos, noch einmal bei Sandbergs anzurufen. Sie zweifelte nicht daran, daß es ihr genauso ergehen würde wie beim ersten Mal.

Aber jetzt war ihre Neugier erst recht geweckt. Es mußte schließlich einen Grund für Robert Sandbergs ungehöriges Benehmen geben. Er hat etwas zu verbergen, dachte sie plötzlich. Und das muß mit seiner Frau zu tun haben.

Sie blieb noch lange in ihrem Sessel sitzen und dachte nach.

*

»Ich hasse Nachtdienst!« schimpfte Dr. Bernd Schäfer vor sich hin. »Ich bin ein Morgenmensch, nachts bin ich zu nichts zu gebrauchen.«

Dr. Adrian Winter sah seinen überaus wohlgenährten jüngeren Kollegen mit einem nachsichtigen Lächeln an. »Dann hast du dir den falschen Beruf ausgesucht, Bernd! Als Arzt an einem Krankenhaus wird es dir kaum gelingen, ohne Nachtdienste auszukommen.«

»Ich muß ja nicht hierbleiben«, murrte Bernd. »Ich könnte eine Praxis eröffnen und reich werden.«

»Als Chirurg?« erkundigte sich Adrian. »Oder willst du noch eine Spezialausbildung machen – sagen wir mal: Kieferchirurgie?«

Bernd Schäfer verzog das Gesicht. »Du bist gemein. Statt mich aufzubauen, entmutigst du mich auch noch.«

Schwester Monika Ullmann kam atemlos hereingestürzt, und sofort strahlte Bernd. Noch immer war er hoffnungslos in sie verliebt. Sonst war sie einem kleinen Flirt nie abgeneigt, obwohl Bernd überhaupt nicht ihr Typ war, aber jetzt hatte sie dafür keine Zeit.

»Ein ungefähr vierzig Jahre alter Mann ist in einem Bordell zusammengebrochen«, sagte sie. »Verdacht auf Schlaganfall. Sie bringen ihn direkt hierher.«

Die beiden Ärzte waren sofort höchst konzentriert. Als die Sanitäter den Mann hereintrugen, hätte Adrian beinahe einen scharfen Pfiff ausgestoßen. Er unterdrückte ihn im letzten Augenblick.

»Das ist Robert Sandberg!« sagte er leise zu Bernd. »Er war neulich schon einmal hier, und ich habe ihn gewarnt, daß er aufpassen muß. Er hat offenbar nicht auf mich gehört.«

Er stellte den Sanitätern noch einige Fragen, dann eilten sie wieder hinaus, und die beiden Ärzte begannen mit der Untersuchung.

Adrian beugte sich über den Patienten. »Herr Sandberg, wissen Sie, was passiert ist?«

Der Mann stöhnte und bewegte die Lippen. »Nein…«, brachte er schließlich heraus. »Ich… ich… Wo…?«

»Im Krankenhaus«, antwortete Adrian. »In der Kurfürsten-Klinik. Ich bin Dr. Winter, erinnern Sie sich an mich? Sie sind vor gar nicht langer Zeit schon einmal hiergewesen.«

»Nein«, brachte Robert Sandberg mühsam heraus. »Weiß… nicht.«

»Das macht nichts, Sie sind jetzt sehr müde und erschöpft, ruhen Sie sich aus. Wir kümmern uns um alles. Es wird Ihnen bald bessergehen.«

»Aber ich…« Der Patient brach ab, das Sprechen fiel ihm zu schwer.

»Rechtsseitige Lähmung«, sagte Bernd leise, und Adrian nickte. Er hatte nichts anderes erwartet.

»Können Sie die Finger an Ihrer rechten Hand bewegen, Herr Sandberg?«

Zeigefinger und Daumen zuckten. »Sehr gut«, lobte Adrian und wandte sich dann an Schwester Monika. »Infusion für Herz und Kreislauf, wir müssen ihn stabilisieren. Und dann sag bitte sofort auf der Intensivstation Bescheid. Er könnte Glück gehabt haben, daß es nur ein leichter Schlaganfall ist.«

Geschickt brachte Monika Ullmann die Infusion an, dann verständigte sie die Intensivstation. Adrian und Bernd setzten die Untersuchung währenddessen fort, aber sie konnten in der Notaufnahme nicht mehr viel für den Patienten tun.

»Ich kann ihn gleich rüberbringen«, sagte Schwester Monika, als sie zurückkam.

»Gut, dann mach dich sofort auf den Weg«, bat Adrian. Sie halfen ihr, das Bett aus der Notfallkabine in Richtung Fahrstuhl zu schieben, und Monika rollte es eilig den Gang entlang.

»Und der war in einem Bordell?« fragte Bernd, als sich die Fahrstuhltüren hinter der Schwester und dem Patienten geschlossen hatten. »Ist der nicht mit einer wunderschönen blonden Frau verheiratet? Ich habe mal Bilder von den beiden in einer Zeitschrift gesehen. Wieso geht der denn ins Bordell, wenn er so eine Frau hat?«

»Keine Ahnung«, antwortete Adrian. »Interessiert mich auch nicht. Aber was immer er getan hat: Es war nicht gut für ihn.«

»Arme Frau«, sagte Bernd nachdenklich. »Stell dir mal vor, du hörst, daß dein Mann im Krankenhaus ist – das ist schon mal ein Schock. Aber dann hörst du auch noch, wo er zusammengebrochen ist. Findest du nicht, daß das der totale Hammer ist?«

Adrian nickte müde. »Ja, das finde ich auch, Bernd. Aber vielleicht liebt sie ihn nicht, sondern hat ihn nur des Geldes wegen geheiratet. Dann wird sie eine solche Nachricht verkraften können, meinst du nicht auch?«

Bernd war erschüttert. »Du bist doch sonst nicht so zynisch«, sagte er. »Was ist denn auf einmal in dich gefahren?«

»Ich weiß es auch nicht«, antwortete Adrian traurig. »Es war gar nicht zynisch gemeint, Bernd. Aber manchmal fürchte ich, daß die Welt viel schlechter ist, als wir denken.«

»Du arbeitest zuviel, und das schlägt dir aufs Gemüt«, stellte Bernd fest. »Und dann noch dieser verflixte Nachtdienst! Der muß einen Menschen ja fertig machen!« Er sagte es mit einer Art grimmiger Genugtuung.

*

»Der Rest is’ für Sie, Frollein«, sagte der beleibte ältere Fahrgast und stieg erstaunlich behende aus dem Taxi.

»Danke schön«, erwiderte Mareike und verstaute das Geld sorgfältig in ihrer Tasche. Alter Geizkragen, dachte sie, versuchte aber gleichzeitig, sich nicht zu ärgern. Der Mann war nicht arm gewesen, das hatte sie sofort gesehen. Aber sein Trinkgeld war mehr als mickrig!

Sie hatte überhaupt, seit sie an einigen Tagen die Woche Taxi fuhr, feststellen können, daß die Leute mit dem meisten Geld die kleinsten Trinkgelder gaben.

Natürlich gab es Ausnahmen, aber die Regel war so. Sie fand es merkwürdig.

Für heute jedenfalls war sie fertig, und darüber war sie froh. Denn sie hatte für diesen Abend noch etwas ganz Besonderes vor: Sie würde zum Club fahren. Und sie würde sich nicht darum kümmern, was man hinter ihrem Rücken tuschelte. Sollten sie alle sagen, was sie wollten!

Als sie bei ihrer Tante Rosemarie gewesen war, hatte sie im Club angerufen und gebeten, daß jemand ihr Pferd bewegte. Sie würde, hatte sie erklärt, eine Zeitlang nicht kommen können. Aber das war jetzt vorbei, und wenn sie sich auch sonst keinerlei Luxus mehr leisten konnte: Das Reiten würde sie nicht aufgeben. Sie wußte jetzt, daß sie mit dem Taxifahren immerhin genug verdienen konnte, um für einige Zeit über die Runden zu kommen – alles andere mußte man abwarten.

Sie fuhr den Wagen zurück in die Zentrale, setzte sich in ihr eigenes Auto – das immerhin hatte sie klugerweise behalten – und machte sich auf den Weg. Ihre Vorfreude machte sie ganz kribbelig.

Aber sie kam gar nicht bis zum Club, denn als sie an Langhammers Bauernhof vorbeifuhr, auf dem Esther Berger ihre Stute Luna untergebracht hatte, sah sie, daß die junge Ärztin gerade dabei war, ihr Pferd zu satteln. Sie hupte ganz kurz, um das Pferd nicht zu erschrecken, und hielt an.

»Frau Berger!« rief sie, und Esther drehte sich erstaunt um.

»Meine Güte, Frau Sandberg, Sie schickt mir ja der Himmel über den Weg. Ich habe schon bei Ihnen zu Hause angerufen, leider vergeblich.«

Mareike stellte den Motor ab, stieg aus dem Wagen und lief auf Esther zu. »Sie haben versucht, mich anzurufen?« fragte sie verwundert. »Einfach nur so – oder gab es einen Grund?«

»Na, hören Sie mal! Sie verschwinden spurlos, und da fragen Sie noch?« Esther sah Mareike neugierig an. Sie wirkte völlig verändert, fand sie, und das lag nicht allein an der ungewöhnlichen Kleidung.

Mareike bemerkte ihren Blick und sagte verlegen: »Bei mir hat sich einiges geändert, aber das wissen Sie dann ja schon. Haben Sie mit meinem… mit meinem Mann gesprochen?«

»So kann man das nicht ausdrücken«, antwortete Esther trocken.

»Er wollte wissen, was ich von Ihnen will, und das wollte ich ihm nicht sagen. Daraufhin hat er das Gespräch vorzeitig beendet. Ich weiß also gar nicht – was immer sich bei Ihnen geändert haben mag.«

Eine leichte Röte stieg in Mareikes Gesicht. »Wir haben uns getrennt«, sagte sie. »Ich wohne dort nicht mehr. Aber bitte, Frau Dr. Berger, ich möchte nicht, daß sich das jetzt schon herumspricht. Wenn es soweit ist, wird es sicher noch schlimm genug werden. Ich war bei einer Tante auf dem Land, um überhaupt erst einmal zu mir zu kommen und mir darüber klarzuwerden, was ich will und was nicht.«

»Ach, so ist das«, sagte Esther, die allmählich die Zusammenhänge begriff. Das erklärte natürlich auch die überaus ausgelassenen Party-Geräusche, die sie im Hause Sandberg im Hintergrund gehört hatte. Robert Sandberg schien den Weggang seiner Frau nicht besonders zu bedauern, aber sie hatte schon oft sehr unschöne Gerüchte über ihn gehört. Bisher allerdings hatte sie ihnen keine Bedeutung beigemessen. Doch wenn etwas Wahres an dem war, was man über den reichen Industriellen munkelte, dann hatte seine junge Frau sicher eine kluge Entscheidung getroffen.

»Und weshalb wollten Sie mich nun wirklich sprechen?« fragte Mareike.

»Nun, einmal tatsächlich, weil Sie auf einmal wie vom Erdboden verschwunden waren. Und dann, um Sie zu fragen, ob Sie von John Tanners schwerem Unfall gehört haben?«

Mareike wurde schneebleich. »Unfall? Herr Tanner hatte einen Unfall? Was denn für einen Unfall?«

Esther erzählte ihr in wenigen Sätzen, was sich ereignet hatte, und Mareike Sandbergs Gefühle für John Tanner ließen sich deutlich an ihren Reaktionen ablesen.

»Das ist ja schrecklich«, flüsterte sie, als Esther ihren Bericht beendet hatte. »Und in welcher Klinik liegt er?«

»In der Kurfürsten-Klinik.«

»Ich muß ihn sofort besuchen«, sagte Mareike. »Wenn ich bedenke, wie lange er schon dort ist, und ich habe überhaupt nichts davon gewußt…«

Sie merkte plötzlich, wie verräterisch ihre Reaktion war und versuchte zu retten, was zu retten war. »Ich meine, wir sind immerhin öfter zusammen ausgeritten. Nicht, daß wir uns besonders gut kennen, aber man nimmt doch Anteil…«

Sie brach ab, es war aussichtslos. Ein Blick in Esther Bergers Augen sagte ihr außerdem, daß sie sich nicht zu bemühen brauchte. Die junge Ärztin wußte längst Bescheid über ihre Gefühle für John Tanner.

Esther beschrieb ihr genau, wo sie John finden würde. Mareike bedankte sich, stieg wieder in ihr Auto, wendete und fuhr zurück.

Esther sah ihr lange nach. Sie hoffte, daß diese beiden Menschen, die sie sehr gern hatte, obwohl sie sie kaum kannte, endlich zueinander finden würden.

*

Dieser Tag war bisher der schlimmste, fand John. Er hatte wieder einmal nichts gespürt, als einer der Ärzte ihm über den Unterschenkel gestrichen hatte. Seine Beine erschienen ihm vollkommen nutzlos, sie hingen einfach an seinem Körper, aber er konnte sie nicht mehr gebrauchen. Und wenn er seine Beine nicht mehr gebrauchen konnte, dann war sein Leben nichts mehr wert!

Sicher, er hatte sich die ganze Zeit über keine Hoffnungen gemacht, zumindest hatte er sich das eingebildet. Aber sein verrücktes Herz hielt sich nicht an die Regeln, die der Kopf aufstellte. Es war jedesmal enttäuscht, wenn sich wieder einmal herausgestellt hatte, daß sein Zustand völlig unverändert war.

»Sie haben Besuch, Herr Tanner«, sagte eine der Schwestern, und er mußte sich anstrengen, nicht zu brüllen. ›Ich will keinen Besuch!‹ Immerhin war es möglich, daß Esther Berger kam. Sie war die einzige, mit der er gern gesprochen hätte. Oder mit ihrem Bruder, aber der war heute morgen schon bei ihm gewesen, ganz grau im Gesicht, weil der Nachtdienst so anstrengend gewesen war.

»Guten Tag, Herr Tanner«, sagte eine sanfte Stimme, und er schloß unwillkürlich die Augen. Nicht das, dachte er. Bitte, alles, nur das nicht. Dann öffnete er die Augen wieder, drehte den Kopf, so weit das möglich war, und sagte hölzern: »Guten Tag, Frau Sandberg. Ich wollte nicht, daß Sie kommen.«

Sie war ohnehin blaß, aber nun schien ihm, als wiche auch der letzte Rest Farbe aus ihrem Gesicht. Er hatte sie verletzt, und das hatte er natürlich nicht gewollt. Aber wie sollte er ihr erklären, wie schwer es für ihn war, seinen jetzigen hilflosen Zustand zu ertragen – zumal er noch immer nicht wußte, ob dieser Zustand von Dauer sein würde.

»Dann gehe ich gleich wieder«, sagte sie steif. »Ich wollte Sie nicht belästigen.«

Sie wollte sich schon umdrehen, als er hastig rief: »Warten Sie, bitte! Ich… ich wollte nicht, daß Sie mich so sehen, verstehen Sie das denn nicht? Ich fühle mich so elend, so nutzlos… Ich kann es nicht ertragen, daß Sie mich in diesem Zustand erleben.«

Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, und sie kam langsam auf ihn zu. Ohne ein Wort setzte sie sich auf den Stuhl neben seinem Bett. Erst nach einer ganzen Weile sagte sie: »Ich habe erst heute erfahren, daß Sie verunglückt sind. Ich war… verreist für einige Zeit.«

»Ich…, also, ich meine, wir… wir haben uns schon Sorgen um Sie gemacht, als Sie plötzlich nicht mehr zum Reiten gekommen sind«, erwiderte er.

Sie ging nicht darauf ein, sondern sagte: »Frau Berger hat mir erzählt, was passiert ist. Ich habe sie am Bauernhof getroffen.«

»Sie hat mich schon mehrmals besucht. Eine sehr nette Frau. Ihr Bruder arbeitet hier in der Notaufnahme, wußten Sie das?«

Sie schüttelte den Kopf. Beide waren froh, daß sie endlich ein unverfängliches Thema gefunden hatten, über das sie reden konnten.

Nach einiger Zeit aber überwand Mareike doch ihre Scheu und fragte: »Wie schlimm sind Ihre Verletzungen, Herr Tanner?«

Er lachte, und sie erschrak über die Bitterkeit in seinen Augen. »Ich werde wahrscheinlich ein Krüppel bleiben, obwohl sich hier alle redliche Mühe geben, mich vom Gegenteil zu überzeugen«, antwortete er. »Ich bin querschnittsgelähmt – hat Ihnen Frau Berger das nicht erzählt?«

»Doch«, antwortete Mareike. »Das hat sie erwähnt, aber sie hat auch gesagt, daß sich diese Lähmungen zurückbilden können.«

»Können ja. Aber nicht müssen!«

»Und warum glauben Sie, daß Sie ein Krüppel bleiben? Das können Sie doch genauso wenig sicher wissen, wie die Ärzte wissen können, daß Sie gesund werden.«

Darauf wußte er keine Antwort, und so schwieg er. Dabei hätte es so vieles gegeben, das er ihr hätte sagen wollen. Aber nicht hier. Nicht, während er so hilflos im Bett lag.

Mareike hingegen überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, daß sie ihren Mann verlassen hatte, aber sie entschied sich dagegen. Es war der falsche Zeitpunkt, fand sie. Das eilte nicht, sie konnte es ihm immer noch sagen. »Ich gehe dann mal wieder«, sagte sie schüchtern. »Aber wenn ich darf, komme ich wieder.«

Ganz fest preßte er die Lippen zusammen, um nicht zu sagen, was er eigentlich sagen wollte. Er wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster. »Warum wollen Sie Ihre Zeit mit einem Krüppel verbringen?« fragte er. »Haben Sie nichts Besseres zu tun?«

Sie blieb noch einen Augenblick stehen und wartete darauf, saß er sie ansah. Doch das tat er nicht. Da drehte sie sich um und ging.

*

Dr. Adrian Winter sah nachdenklich auf Robert Sandberg hinunter. »Sie haben sehr großes Glück gehabt, wissen Sie das eigentlich?« fragte er. »Es war nur ein ganz leichter Schlaganfall.«

Der Mann mit den harten Augen nickte. »Ja, ich glaube, jetzt habe ich begriffen, was Sie mir schon beim letzten Mal sagen wollten, Herr Doktor.« Vorsichtig versuchte er, die Finger seiner rechten Hand zu bewegen. Es ging, wenn auch noch ein wenig mühsam.

»Um so besser«, erwiderte Adrian. Der Mann war ihm unangenehm, aber er war ein Patient und mußte daher behandelt werden wie jeder andere auch. »Sollen wir jetzt Ihre Frau benachrichtigen?«

»Nicht nötig«, antwortete Robert Sandberg. »Sie erfährt es früh genug. Steht es etwa noch nicht in allen Zeitungen, daß man mich in einem Bordell aufgelesen hat?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Adrian, und er sagte die Wahrheit.

Der andere sah ihn erstaunt an. »Nein? Nun sagen Sie bloß noch, es interessiert Sie auch nicht.«

Adrians Gesicht verschloß sich, und seine Stimme wurde kühl. »Genauso ist es, Herr Sandberg. Oder können Sie mir sagen, was an einer solchen Geschichte interessant sein soll? Jeder Spießer geht ins Bordell – warum nicht auch Sie?«

Das hatte gesessen, er sah es an Robert Sandbergs Augen. »Gut pariert, Doktor«, sagte der Industrielle.

Adrian schämte sich für seine Unbeherrschtheit. Er mochte den Mann nicht, aber das gab ihm nicht das Recht, ihn zu beleidigen – auch wenn er es vielleicht verdient hatte. Aber Adrian war Arzt, kein Sittenwächter. Das Privatleben von Robert Sandberg ging ihn nichts an.

»Sie können sicher bald entlassen werden«, sagte er ruhig. »Ich wollte mich nur noch einmal vergewissern, daß mit Ihnen wirklich alles in Ordnung ist. Guten Tag.«

Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer, und der Patient brauchte noch mehrere Minuten, bis er seine Fassung wiedergewonnen hatte. Dieser verflixte junge Doktor schaffte es offenbar jedesmal, ihn aus der Ruhe zu bringen.

*

»Was ist denn nur los?« fragte Rosemarie Hagen ihre Nichte. Das fragte sie schon seit einer Viertelstunde, aber aus Mareike war gar nichts herauszubringen. Sie schluchzte zum Steinerweichen.

Rosemarie war nach Berlin gekommen, um ihrer Nichte noch ein paar Sachen zu bringen, die diese ihrer Meinung nach für ihren neuen kleinen Haushalt gut gebrauchen konnte. Sie hatte sich nicht angekündigt, sondern hatte überraschend vor der Tür gestanden. Doch Mareike hatte kaum geöffnet, als sie ihrer Tante auch schon weinend um den Hals gefallen war. Und seitdem hatte sie mit dem Weinen nicht mehr aufgehört.

Es dauerte eine gute Stunde, bis Rosemarie Hagen sich aus dem, was ihre Nichte schließlich schluchzend und stammelnd herausbrachte, das Wesentliche zusammengereimt hatte. Es gab offenbar einen Mann, der wichtig für Mareike war, und dieser Mann lag nun schwer verletzt in einer Klinik und würde vielleicht nie wieder gesund werden.

»Jetzt beruhige dich doch endlich, Kind!« sagte die geduldige Rosemarie energisch. »Wie soll ich dir helfen, wenn du mir nicht sagst, worum es eigentlich geht? Wer ist dieser Mann? Ein guter Freund? Warum hast du mir nicht längst etwas von ihm erzählt?«

Endlich beruhigte sich Mareike ein wenig. »Es gibt nichts zu erzählen, Tante Rosi. Wir sind nur ab und zu zusammen ausgeritten. Und nun ist er so schwer verletzt, und er ist so unglücklich, und ich kann ihm nicht helfen, und…«

»Sicher kannst du ihm helfen«, widersprach Rosemarie Hagen. »Wenn er so schwer verletzt ist, dann braucht er viel Unterstützung. Du kannst ihn besuchen und ihm Mut zusprechen, das wird ihm sogar sehr helfen.« Sie wollte eigentlich noch mehr sagen, aber sie ließ es sein.

Mareike war sehr durcheinander, und das hatte offenbar mit ihren Gefühlen für diesen Mann zu tun. Ob sie sich vielleicht in Wirklichkeit deshalb von Robert Sandberg getrennt hatte? Nein, dachte Rosemarie, das mag dabei durchaus eine Rolle gespielt haben, aber die Hauptsache war wohl, daß sie endlich die wahre Natur ihres Mannes erkannt hatte.

Nun, was diesen anderen Mann betraf, so mußte Mareike selbst wissen, was sie wollte. Einen verhängnisvollen Irrtum hatte sie bereits hinter sich – ein zweiter würde ihr hoffentlich nicht unterlaufen. Aber das war alles Zukunftsmusik, während es in der Gegenwart offenbar viele Probleme gab, die gelöst werden mußten.

»Ich bleibe ein paar Tage hier, wenn du willst, und helfe dir. Was meinst du?«

»Wirklich?« Erneut flossen die Tränen, aber dieses Mal eher aus Erleichterung, das sah Rosemarie.

»Dann mal an die Arbeit, womit fangen wir an?« fragte sie und rieb sich unternehmungslustig die Hände.

»Ach, Tante Rosi, du bist unmöglich«, sagte Mareike schniefend. »Aber ich bin so froh, daß du da bist.«

Sie räumten das Auto aus, das Rosemarie bis unters Dach vollgepackt hatte, und stellten fest, daß Mareike die Sachen ohne Ausnahme gut gebrauchen konnte. Danach öffneten sie eine Flasche Wein, und nun konnte Mareike schon etwas ruhiger erzählen, was ihr alles auf der Seele lag: die Scheidung, die Angst vor Robert, die Angst um John Tanner – so heißt er also, dachte Rosemarie –, die ganze ungewisse Zukunft. Es war nicht wenig, das Mareike ängstigte, und ihre Tante bemühte sich nach Kräften, ihr gut zuzureden.

Sie waren beide ein wenig beschwipst, als sie ins Bett gingen, schliefen aber trotzdem – oder vielleicht auch gerade deshalb – wie die Murmeltiere.

*

Adrian Winter und Bernd Schäfer hatten die Notaufnahme verlassen und durchquerten den Eingangsbereich der Klinik. Ihr Dienst war zu Ende, und sie waren beide mehr als froh darüber.

»Mann, bin ich müde«, sagte Bernd. »Dabei war es heute doch auch nicht schlimmer als sonst, oder?«

»Bestimmt nicht. Aber ich bin auch müde, muß ich sagen.«

»Ich werd’ verrückt«, murmelte Bernd plötzlich und hielt Adrians Arm fest. »Guck mal, wer da kommt!«

»Meine Schwester schon wieder«, stellte Adrian fest und sah seinen Kollegen erstaunt an. »Sie kommt doch im Augenblick relativ oft, um Herrn Tanner zu besuchen. Und was ist daran so bemerkenswert?«

»Die andere!« stieß Bernd hervor. »Die, die bei ihr ist!«

Jetzt erst bemerkte Adrian die schöne blonde Frau, die seine Schwester begleitete. Die beiden Frauen waren in ein intensives Gespräch vertieft.

»Die andere kenne ich nicht. Du etwa?«

»Das ist Frau Sandberg!« zischte Bernd.

»Die Frau von Robert Sandberg. Sie sieht genauso aus wie auf den Fotos. Was hat Esther denn mit Frau Sandberg zu tun?«

»Keine Ahnung«, antwortete Adrian. »Bist du sicher, daß du dich nicht irrst?«

»Absolut!« sagte Bernd.

»Nun«, murmelte Adrian entschlossen, »das werden wir ja gleich sehen.« Laut rief er: »Hallo, Esther!«

Seine Schwester blickte auf. »Oh, Adrian!« Sie lächelte erfreut. »Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dich noch hier anzutreffen.« Sie begrüßten einander liebevoll, auch Bernd bekam einen Kuß auf die Wange. Dann drehte sie sich zu der blonden jungen Frau um, die bescheiden im Hintergrund geblieben war.

»Frau Sandberg, das ist mein Bruder Adrian Winter, und dies ist Bernd Schäfer. Die beiden sind Ärzte in der Notaufnahme.«

Mareike schüttelte beiden Männern die Hand und lächelte schüchtern. Sie ist wirklich sehr schön, dachte Adrian. Bernd hat nicht übertrieben.

Laut sagte er: »Ich wußte gar nicht, daß Sie meine Schwester kennen, Frau Sandberg. Sie wollen sicher zu Ihrem Mann?«

Sie sah ihn höchst erstaunt an, während eine leichte Röte ihr Gesicht überzog. »Zu meinem Mann?« fragte sie verwirrt. »Wieso denn zu meinem Mann? Ist er hier?«

Adrian und Bernd wechselten einen ratlosen Blick. Auch Esther merkte, daß etwas nicht stimmte, und warf rasch ein: »Wir wollten eigentlich Herrn Tanner besuchen, den wir beide vom Reiten kennen. Wir haben uns zufällig unterwegs getroffen. Was ist denn mit Herrn Sandberg?«

Adrian zögerte. »Robert Sandberg ist doch Ihr Mann, oder?«

Auch die blonde junge Frau zögerte, dann sagte sie: »Ja, sicher. Aber nun sagen Sie mir doch bitte endlich, was mit ihm ist!«

»Er hatte einen leichten Schlaganfall und ist gestern hier eingeliefert worden«, erklärte Adrian. »Er hat großes Glück gehabt und kann schon bald wieder entlassen werden. Gestern hatte er Sprachstörungen und Lähmungserscheinungen, aber das hat sich alles wieder zurückgebildet. Er ist ja schon einmal hiergewesen, und ich hatte ihn gewarnt, daß er seinen Lebensstil ändern muß. Aber offenbar hat er nicht auf mich gehört.«

Mareike Sandberg war sehr blaß geworden. Hilfesuchend sah sie zu Esther, als könne diese ihr sagen, was sie jetzt tun solle, und Adrian spürte, daß Esther mehr über die ganze Sache wußte als er.

»Wo liegt Herr Sandberg, Adrian?« fragte sie nun. »Natürlich müssen Sie zuerst nach Ihrem Mann sehen, Frau Sandberg.«

»Er wollte nicht, daß wir Sie benachrichtigen«, sagte Adrian. »Wir haben ihn gefragt, aber…«

»Schon gut«, sagte Mareike ruhig. »Bitte sagen Sie mir, wo ich ihn finde, Herr Doktor.«

Adrian beschrieb ihr den Weg. Er hoffte, Esther werde zurückbleiben und ihm diese merkwürdige Geschichte erklären, aber das tat sie nicht.

»Ich begleite Sie, Frau Sandberg«, sagte sie. »Wenigstens bis zur Tür!« Sie wandte sich den beiden Männern zu, die einigermaßen ratlos herumstanden. »Bis später, Adrian, ich ruf’ dich an. Tschüß, Bernd.« Dann nahm sie Mareike Sandbergs Arm und zog sie mit sich zu den Fahrstühlen.

»Habe ich das jetzt eben wirklich erlebt?« erkundigte sich Bernd. »Oder habe ich das geträumt? Da stimmt doch etwas nicht, Adrian, oder?«

»So muß man das wohl sehen«, antwortete Adrian. »Aber ich gehe jetzt trotzdem nach Hause. Die Lösung dieses Rätsels wird warten müssen, bis ich ein bißchen geschlafen habe.« Er setzte sich wieder in Bewegung.

Bernd folgte ihm. Seine Stimme klang enttäuscht. »Schade! Findest du nicht auch, daß sie eine richtige Schönheit ist?«

»Wer? Esther?« fragte Adrian, um ihn zu ärgern.

»Esther sowieso«, antwortete Bernd unbeirrt. »Nein, diese Frau Sandberg. Blonde Haare und braune Augen…«

»Ich denke, du bist in Moni verliebt?«

Bernd blieb mit einem Ruck stehen. »Woher weißt du das?« fragte er entsetzt.

Adrian packte ihn am Arm und zog ihn mit sich. »Du hast es mir selbst erzählt, Bernd, als wir mal ein Bier zusammen getrunken haben, weißt du das etwa schon nicht mehr?«

Bernd warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, denn daran konnte er sich in der Tat nicht mehr erinnern. Adrian hütete sich, ihm zu sagen, daß alle Bescheid wußten über seine Gefühle für Schwester Monika – auch diese selbst. Denn Bernd trug sein Herz auf der Zunge, aber ihm selbst war das wohl nicht bewußt.

»Los jetzt, ab nach Hause. Wir reden morgen weiter über die schöne Frau Sandberg.«

»Na gut«, sagte Bernd unzufrieden. »Bis morgen, Adrian.«

*

Robert Sandberg starrte Mareike an. »Was willst du hier?« fragte er.

»Ich habe zufällig erfahren, daß du einen Schlaganfall hattest, Robert«, sagte sie und bemühte sich darum, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. Er hatte keine Macht mehr über sie, das sagte sie sich immer wieder vor.

»Du hättest nicht extra herkommen müssen«, sagte er kalt.

»Ich bin nicht deinetwegen hier«, erwiderte sie zu ihrer eigenen Überraschung. »Ich wollte jemand anders besuchen – und da bin ich Dr. Winter begegnet.«

Er sah sie aufmerksam an. »Du hast mich verlassen«, sagte er. »Ohne Erklärung, bei Nacht und Nebel.«

»Ja, Robert, das habe ich. Aber nicht ohne Erklärung. Du hast meine Erklärungen nur nie ernstgenommen. Wir beide können nicht glücklich sein zusammen.«

»Glücklich!« Es klang verächtlich, er spuckte das Wort förmlich aus. »Hattest du nicht alles, was du wolltest?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das hatte ich nicht. Ich wollte dein Leben teilen – aber ich wollte nicht, daß du über mein Leben bestimmst.«

Er schloß die Augen, und zum ersten Mal stellte sie fest, daß er müde aussah. »Du tust mir leid«, sagte sie ruhig. »Ich weiß nicht, was es für dich bedeutet, so zu leben, wie du es tust, aber ein glückliches Leben ist es ganz sicher auch für dich nicht.«

Dieses Mal antwortete er nicht sofort. Er öffnete die Augen wieder und sah sie nachdenklich an. »Ich werde den Anwälten sagen, sie sollen dich in Ruhe lassen, Mareike«, sagte er schließlich. »Wir werden uns um eine einvernehmliche Scheidung bemühen und versuchen, uns wie vernünftige Menschen zu benehmen. Was hältst du davon?«

»Viel«, sagte sie. »Aber warum auf einmal? Du warst doch sicher schrecklich wütend auf mich.«

»Das bin ich wahrscheinlich immer noch«, meinte er. »Aber vielleicht hast du ja recht. Wir passen einfach nicht zusammen. Ich werde von jetzt an mein Leben leben und du deins.«

»Ich bin froh, daß es nur ein leichter Schlaganfall war«, sagte sie leise. »Leb wohl, Robert.«

Er sah ihr nach, wie sie mit leichten Schritten zur Tür ging. Dort drehte sie sich noch einmal um und lächelte ihm zu. Dann war sie gegangen.

Es stimmte, er war immer noch wütend auf sie. Aber zum ersten Mal hatte er auch Achtung vor ihr, und darüber war niemand verwunderter als er selbst. Er würde ihr keine Steine mehr in den Weg legen. Sollte sie glücklich werden ohne ihn.

*

Esther sah Mareike Sandberg forschend an, als diese aus dem Zimmer ihres Mannes kam. »Und?« fragte sie vorsichtig. »Alles in Ordnung?«

Mareike nickte. »Ja, alles in Ordnung. Er war noch nie zuvor so nett zu mir, Frau Berger. Ausgenommen vor der Hochzeit natürlich.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er wirkte anders als sonst, doch ich glaube trotzdem nicht, daß er sich jemals ändert. Aber das betrifft mich ja auch nicht mehr. Jedenfalls hat er mir eine friedliche Scheidung angeboten, und das ist mehr, als ich jemals zu hoffen gewagt hätte.«

»Das ist ja eine wunderbare Nachricht«, sagte Esther überrascht.

»Ja, nicht wahr? Trotzdem kann ich mich noch gar nicht richtig darüber freuen. Ich muß immer an Herrn Tanner denken und daran, daß er die Hoffnung verloren hat. Als ich bei ihm war, hat er mir richtig Angst gemacht.«

»Es ist seine Angst, nicht Ihre, Frau Sandberg, lassen Sie sich davon nur nicht anstecken. Und folgen Sie Ihren Gefühlen. Einen besseren Rat kann ich Ihnen nicht geben.«

»Ja, das werde ich, darauf können Sie sich verlassen. In Zukunft werde ich immer versuchen, das zu tun.« Sie sah Esther in die Augen. »Glauben Sie, daß er gelähmt bleibt?«

»Würde das etwas ändern?« fragte Esther zurück.

Mareike Sandberg schüttelte den Kopf. »Nein, für mich nicht. Aber für ihn natürlich. Ich weiß nicht, ob er sich jemals damit abfinden würde. Für ihn wäre es ein großes Unglück, und ich wünsche ihm sehr, daß es ihm erspart bleibt.«

»Ich wünsche es Ihnen beiden«, sagte Esther leise. »Frau Sandberg, nach allem, was jetzt geschehen ist, finde ich, es wäre besser, wenn Sie allein zu Herrn Tanner gehen. Ich kann ihn später besuchen. Aber Sie beide haben sicherlich einiges miteinander zu besprechen.«

Mareike Sandberg sah aus, als wolle sie ihr widersprechen, aber sie tat es dann doch nicht. »Ich fürchte mich ein bißchen, deshalb hätte ich gegen einen kleinen Aufschub nichts einzuwenden gehabt. Aber Sie haben natürlich recht, Frau Berger. Danke für alles. Sie haben mir sehr geholfen.«

»Viel Glück!« sagte Esther leise.

*

John starrte auf seine nutzlosen Beine und fragte sich, wie lange diese Quälerei wohl noch dauern werde. Tag um Tag verging, ohne daß er die geringsten Fortschritte machte, und das bedeutete: Jeden Tag wurde seine Hoffnung auf eine Besserung seines Zustandes ein bißchen kleiner. Und jeden Tag wurde seine Seele ein wenig dunkler.

Als es klopfte, wandte er nicht einmal den Kopf. Es war ihm gleichgültig, wer kam.

»Herr Tanner?«

Er starrte Mareike Sandberg an wie eine Erscheinung. »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie sich noch einmal hierher wagen«, sagte er grob.

»Sie haben mich unterschätzt«, erwiderte sie sanft. »Obwohl ich zugeben muß, daß Sie mit Ihren Bemühungen, mich zu vergraulen, fast Erfolg gehabt hätten.«

Er kniff die Augen zusammen. »Warum sind Sie hier?« fragte er unfreundlich.

»Weil es einiges gibt, das ich Ihnen erzählen möchte«, antwortete sie ruhig.

»Erzählen? Wollen Sie ein paar Geschichten auspacken von wundersamen Heilungen querschnittsgelähmter Menschen?«

»Ich wollte eigentlich nicht über Sie reden, sondern über mich.«

Das brachte ihn aus der Fassung. »Über Sie?« fragte er verblüfft. Und dann bekam er es mit der Angst zu tun. »Ist etwas passiert?« fragte er. »Fehlt Ihnen etwas?«

»Mir fehlt schon etwas«, erklärte sie ernsthaft, »aber darüber wollte ich jetzt nicht sprechen. Ich wollte Ihnen erzählen, warum ich so plötzlich verschwunden bin.«

Er schwieg, sah sie nur an. Sein Zorn auf die Welt war verflogen, er konzentrierte sich jetzt ganz auf die schöne junge Frau, die an seinem Bett saß.

»Ich habe meinen Mann verlassen«, sagte sie ruhig. »Das hätte ich schon früher tun sollen, aber mir hat wohl der Mut gefehlt.« Und sie erzählte ihm die ganze Geschichte von ihrer überstürzten Flucht zu ihrer Tante, von ihrer Rückkehr nach Berlin und ihrem jetzigen Leben – und schließlich auch vom Schlaganfall ihres Mannes und dessen plötzlichem Friedensangebot.

»Wenn er es sich nicht anders überlegt, sobald er wieder gesund ist«, schloß sie, »dann werden wir also bald in Frieden geschieden sein. Und ich werde ein neues Leben anfangen.«

Er schloß die Augen, damit sie die Qual darin nicht lesen konnte. Sie würde frei sein und er ein Krüppel!

»Wollen Sie gar nichts dazu sagen, Herr Tanner?« fragte sie.

Er öffnete die Augen und antwortete mit einer Gegenfrage. »Warum haben Sie mir das erzählt?«

»Das wissen Sie doch«, antwortete sie sanft.

Er sah ihr in die Augen und las darin, was er immer gehofft hatte. »Das geht nicht!« sagte er gequält. »Ich bleibe vielleicht gelähmt, und…«

Sie ließ ihn nicht ausreden, sondern legte ihm eine Hand auf den Mund.

»Nicht, John!« sagte sie. »Warum machen Sie es mir so schwer? Ich bin von Natur aus schüchtern, Sie können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, dieses Gespräch zu führen.«

Er hielt ihre Hand fest und zog sie zu sich heran. »Du liebst mich also wirklich?« fragte er. »Mareike, stimmt das? Du liebst mich?«

»Ich liebe dich, seit ich dich kenne. Das hast du doch gewußt, oder?« flüsterte sie. »Glücklich bin ich in letzter Zeit nur gewesen, wenn ich mit dir zusammen ausgeritten bin.«

»Und ich dachte immer, wir beide haben keine Chance«, sagte er heiser. »Und jetzt, wo wir vielleicht eine haben, da liege ich hier und…«

Dieses Mal hinderte sie ihn mit einem Kuß am Weiterreden. »Ach, John«, sagte sie danach leise. »Ich hoffe sehr, daß du wieder wirst laufen können. Aber wenn nicht, dann werden wir auch damit fertig!«

»Ich liebe dich, Mareike, aber ich kann doch eine junge schöne Frau nicht an mich binden, wenn ich nicht weiß, wie meine Zukunft aussieht.«

»Das weiß niemand«, erklärte sie weise. »Es kann immer etwas passieren, das alle Pläne zunichte macht. Die Hauptsache ist doch erst einmal, daß wir uns lieben, oder? Alles andere findet sich dann schon.«

»Du bist unglaublich«, sagte er leise und strich ihr über das blonde Haar. »Wenn du wüßtest, wie oft ich mir ausgemalt habe, dich in den Armen zu halten. Aber daß es dann schließlich in einem Krankenbett sein würde, darauf wäre ich niemals gekommen.«

Erneut zog er sie an sich und küßte sie lange und zärtlich. Ganz allmählich legte sich der Groll in seinem Herzen, und er fing an, die Zukunft in freundlicherem Licht zu sehen.

*

»Langsam, langsam«, bat Adrian Winter seine temperamentvolle Schwester, die ihre Neuigkeiten förmlich heraussprudelte. »Ich bin sehr müde, das habe ich dir doch eben schon gesagt, ich brauche etwas länger, bis ich die ganze Geschichte verstehe. Du behauptest also, Frau Sandberg und Herr Tanner lieben sich?«

Sie saßen in Adrians Wohnzimmer, denn Esther war ihm kurz entschlossen gefolgt, nachdem sie sich von Mareike Sandberg verabschiedet hatte.

»Das behaupte ich nicht, das ist so!« sagte sie gekränkt. »Oder dachtest du, ich erzähle dir hier Klatschgeschichten?«

»Und sie hat ihren Mann verlassen?«

»Sag’ ich doch!« bekräftigte Esther. »Er muß ein widerlicher Typ sein nach allem, was man so hört. Sie sagt nichts darüber, weil sie eine sehr zurückhaltende Frau ist, aber allein, wie er mich am Telefon abgefertigt hat – das hättest du mal hören sollen.«

»Ich kann auch nicht sagen, daß ich ihn sympathisch fand«, gestand Adrian. »Wir Mediziner sollen uns ja von solchen Gefühlen möglichst frei machen, aber bei ihm ist mir das sehr schwer gefallen. Warum hat sie ihn denn überhaupt geheiratet?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete seine Schwester. »Ich glaube auch nicht, daß sie es mir jemals erzählen wird.«

»Merkwürdige Zufälle«, sagte Adrian. »John Tanner hat mich wirklich sehr beeindruckt, als ich ihn in dieser Kirche kennengelernt habe. So ein interessanter Mann! Und dann stellt sich heraus, daß du nicht nur ihn kennst, sondern auch die Frau, die er liebt. Und daß diese Frau mit einem anderen meiner Patienten verheiratet ist. Aber offenbar nicht mehr lange.«

»Nein, und ich hoffe, Frau Sandberg und Herr Tanner werden sehr glücklich miteinander«, sagte Esther. »Ich kenne niemanden, dem ich das mehr wünsche als ihnen.«

»Es gibt keinerlei Veränderung seines Zustandes, Esther. Ihre Liebe wird es sehr schwer haben, wenn er gelähmt bleibt.«

»Ja, das wird sie.« Esther wurde traurig. »Ist das nicht ungerecht? Nun ist sie ihren tyrannischen Gatten endlich los, und dann ist das neue Glück auch schon wieder getrübt.«

»Noch nicht«, widersprach er. »Die Sache ist noch längst nicht sicher.«

»Im Guten wie im Bösen nicht«, meinte sie. »Du kannst sagen, was du willst: Das ist ungerecht!«

Dieses Mal widersprach er ihr nicht.

*

»Bitte, versuchen Sie jetzt, Ihren großen Zeh zu bewegen, Herr Tanner«, sagte der Neurologe, und John unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. Wieder einmal die gleiche Prozedur, dachte er unwillig. Und wieder einmal das gleiche Ergebnis wie immer: keine Veränderung.

Angestrengt versuchte er, den Zeh zu bewegen und zuckte unwillkürlich zusammen, als der Neurologe aufgeregt ausrief: »Noch einmal bitte!«

Wieder versuchte er es und behielt den Zeh nun fest im Blick. Irrte er sich – oder hatte dieser sich tatsächlich ein bißchen bewegt?

Ach was, das hatte er sich sicher nur eingebildet. Die Hoffnung, die ihn erfüllte, seit er wußte, daß Mareike ihn liebte, spielte ihm bestimmt einen Streich.

»Großartig!« rief der Neurologe. »Er hat sich bewegt, Herr Tanner!«

»Wirklich?« fragte John mißtrauisch. »Das muß aber sehr wenig gewesen sein, ich habe nichts gesehen. Und gespürt habe ich auch nichts!«

»Dann machen Sie es noch einmal, und sehen Sie genau hin!«

John strengte sich an, und dieses Mal konnte es keinen Zweifel geben. Sein Zeh hatte sich bewegt. »Was bedeutet das?« fragte er, und seine Stimme klang gepreßt.

»Das bedeutet, daß die Lähmung zurückgeht«, strahlte der Neurologe. »Ich habe es Ihnen doch die ganze Zeit schon gesagt, daß Sie die Hoffnung nicht aufgeben sollen. Nun sehen Sie, daß Sie besser auf mich gehört hätten!«

»Ist das auch wirklich wahr?« fragte John.

»Ich meine, daß die Lähmung zurückgeht? Sie erzählen mir doch jetzt keine Märchen, oder, Herr Doktor?«

»Ich?« rief der Neurologe. »Nie im Leben! Es ist die Wahrheit, Herr Tanner. Die reine Wahrheit.«

In diesem Augenblick schrie John Tanner, so laut er konnte: »Mareike! Komm rein, Mareike, ich kann meinen Zeh bewegen!«

Die Tür wurde geöffnet, und Mareike Sandberg, die draußen auf das Ende der Untersuchung gewartet hatte, kam mit erschrockenem Gesicht ins Zimmer gelaufen. »Was ist denn nur passiert, John?«

Er strahlte sie an. »Sieh dir meinen Zeh an!« forderte er sie auf.

Sie folgte seinem Blick und sah nun, was ihn so aufregte: Der Zeh bewegte sich! Es war zwar nur ein Hauch, aber er bewegte sich.

»Und was bedeutet das?« fragte auch sie den Neurologen.

»Die Lähmung bildet sich zurück, das bedeutet es«, antwortete dieser. »Von nun an geht’s bergauf!«

Mareike stürzte in Johns Arme, und der diskrete Mediziner zog sich zurück.

»Siehst du«, flüsterte sie, »man darf die Hoffnung nie aufgeben, niemals. Ich liebe dich, John, aber ich liebe dich auch, wenn du nicht gehen kannst.«

»Ich weiß«, sagte er leise. »Und das war, glaube ich, die wichtigste Erfahrung meines bisherigen Lebens, Mareike.«

*

Als Dr. Adrian Winter die gute Nachricht erfuhr, stattete er dem glückstrahlenden John Tanner sofort einen Besuch ab, um ihm zu gratulieren.

Danach rief er seine Schwester an.

»Oh, Adrian!« rief sie. »Etwas Schöneres hättest du mir jetzt nicht erzählen können.«

»Deshalb hab’ ich’s ja getan«, erwiderte er. »Sollen wir dieses Ereignis ein bißchen feiern? Ich lade dich auf ein Glas Wein in die Bar vom King’s Palace ein!«

»King’s Palace? Dieses Edelhotel?« fragte sie verblüfft. »Wieso denn ausgerechnet dort?«

»Nur so«, antwortete er ausweichend. Sie mußte nicht wissen, daß dort Stefanie Wagner arbeitete – die Frau mit den Veilchenaugen, die ihm nicht aus dem Kopf ging, obwohl er sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht würde er sie dort zufällig treffen…

»Na schön«, sagte seine Schwester in diesem Augenblick. »Wenn du meinst, dann gehen wir eben mal in einen richtigen Nobelschuppen! Warum eigentlich nicht?«

Er lachte zufrieden, legte auf und summte fröhlich und überaus falsch vor sich hin.

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman

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