Читать книгу Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 15

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»Wenn du nicht aufpaßt, fallen dir gleich die Augen aus dem Gesicht, Konrad!« Dr. Adrian Winter lächelte, als er das sagte.

Sein Kollege, der Kinderarzt Dr. Konrad Eder, errötete heftig, aber noch immer folgten seine Augen einer schlanken Frau mit tizianroten Haaren und großen grünblauen Augen, die gerade mit einem kurzen Kopfnicken an ihnen vorbei zur Tür ging.

Die beiden Ärzte saßen in dem kleinen Café im Erdgeschoß der Kurfürsten-Klinik in Berlin. Beruflich hatten sie nicht allzu häufig miteinander zu tun. Adrian Winter leitete die Notaufnahme der Klinik, und Konrad Eder arbeitete auf der Kinderstation. Aber als sie einander zum ersten Mal begegnet waren, hatten sie sich sofort sympathisch gefunden, und jetzt tranken sie zumindest gelegentlich einen Kaffee miteinander oder nahmen gemeinsam eine Mahlzeit ein.

»Sie sieht unglaublich aus, findest du nicht?« fragte Konrad jetzt, nachdem sich die Tür hinter der Frau geschlossen hatte. »Wenn ich ihr begegne, muß ich sie einfach immer ansehen.«

»Ich würde sagen, das ist eine völlig aussichtslose Geschichte«, stellte Adrian seelenruhig fest. »Wenn ich das richtig sehe, sind achtzig Prozent unserer Kollegen hinter der schönen Frau Dr. Plessenstein her – und wahrscheinlich hat sie auch schon längst einen Mann. Also, Konrad, vergiß es. Du machst dich nur unglücklich.«

»Das sagst du so leicht«, erwiderte der andere. Konrad Eder war ein gutaussehender, aber unauffälliger Mann von fünfunddreißig Jahren mit einem sympathischen Gesicht und freundlichen braunen Augen. Seine störrischen lockigen Haare waren ebenfalls braun, und er hatte eine sanfte, sehr angenehme Stimme.

Man übersah ihn leicht, weil er sich nicht in den Vordergrund drängte und niemals laut wurde. Erst im Gespräch erschloß sich, daß er ausgesprochen klug und angenehm im Umgang war. Und dann bemerkte man auch sein gutgeschnittenes Gesicht mit der geraden Nase und dem großen Mund, der gern lächelte.

Adrian mochte ihn sehr, und der Gedanke, daß Konrad vielleicht unglücklich werden könnte, weil er sich in die falsche Frau verliebte, gefiel ihm überhaupt nicht.

»Ich sage das nicht leicht, Konrad«, widersprach er. »Aber such dir eine Frau, die zu dir paßt. Frau Plessenstein wirkt auf mich wie eine… ach, ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll. Sie ist einfach zu schön. Wahrscheinlich ist sie verwöhnt und eingebildet. Wer so aussieht…«

Konrad schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe schon einige Male mit ihr gesprochen, du schätzt sie völlig falsch ein, Adrian«, sagte er eifrig. »Sie ist überhaupt nicht eingebildet, im Gegenteil. Sie hat viel Humor und ist eine sehr gute Chirurgin, das haben bisher alle gesagt.«

Adrian unterbrach ihn. »Das bestreite ich doch auch nicht! Ihre fachlichen Qualitäten kann ich gar nicht beurteilen, sie ist ja auch erst seit ganz kurzer Zeit hier. Aber ich rate dir: Laß die Finger von der Frau, sie ist nichts für dich. Sie wird dich unglücklich machen.«

Wieder schüttelte Konrad den Kopf. Dann sagte er mit seiner sanften Stimme. »Du bist wahrscheinlich der beste Notaufnahmechef, den man sich denken kann, Adrian. Aber entschuldige, wenn ich dir das sage: Von Frauen verstehst du nicht sehr viel, glaube ich.«

Adrian sah ihn betroffen an. »Wie kommst du darauf? Das kannst du doch gar nicht wissen.«

»Doch, das kann ich wohl. Du träumst auch von einer Frau, die für dich scheinbar unerreichbar ist, oder etwa nicht? Und du kommst ihr nicht näher, obwohl das dein Wunsch ist. Warum nicht?«

Adrian war sprachlos. Mit niemandem hatte er bisher über seine Gefühle für Stefanie Wagner gesprochen – er hatte sie noch nicht einmal sich selbst richtig eingestanden. Und er sah sie ja auch nur alle paar Wochen, ohne daß etwas zwischen ihnen passierte, denn er wußte leider, daß sie einen Freund hatte. »Wie kommst du darauf?« fragte er ausweichend.

»Weil ich nicht blind bin, Adrian«, antwortete Konrad. »Ich weiß nicht, um welche Frau es sich handelt, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber manchmal hast du so einen Ausdruck in den Augen…«

Jetzt war es an Adrian, verlegen zu sein. »Na ja«, meinte er nach einer Weile, »dann ist es ja wohl zwecklos zu leugnen.«

Konrad nickte. »Ja, genau wie bei mir.«

Sie schwiegen einträchtig. Das Gespräch hatte eine unerwartete Wendung genommen, aber nun gab es noch etwas, das sie miteinander verband.

Nach einer Weile sagte Konrad: »Bei Gabriele Plessenstein ist es auch so, daß sie einen Ausdruck in den Augen hat, der mir aufgefallen ist. Sie ist nicht glücklich.«

»Was du alles weißt«, meinte Adrian skeptisch. »Du kennst sie doch kaum.«

»Aber ich bin verliebt in sie«, sagte Konrad leise. »Da sieht man vieles, das einem sonst verborgen bleibt.«

»Konrad!« Adrian war ehrlich entsetzt. »Das ist nicht dein Ernst! Ich dachte, du himmelst sie ein bißchen an wie die meisten hier. Willst du etwa sagen, die Sache ist ernst?«

Konrad sah ihn mit einem schiefen Lächeln an. »Ich kann’s nicht ändern, Adrian. Ist einfach so passiert, und nun läßt es sich schlecht rückgängig machen. Wie ist es denn bei dir? Ist die Sache ernst?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Adrian, der von dieser Frage völlig überrascht war. »Jedenfalls ist sie aussichtslos.«

»Und?« fragte Konrad. »Hörst du deshalb auf zu träumen?«

Adrian lächelte etwas verlegen. »Nein, wohl nicht…«

»Genauso ist es bei mir auch«, stellte Konrad ruhig fest.

»Dann versuch wenigstens dein Glück!« sagte Adrian. »Sie nimmt dich ja sonst überhaupt nicht wahr.«

Konrad schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte er. »Meine Zeit kommt schon noch. Sie hat im Augenblick viel zu viel andere Sachen um die Ohren.«

»Du verwirrst mich heute«, gestand Adrian und erhob sich. »Ich muß zurück, Konrad. Die werden sich schon fragen, wo ich solange bleibe.«

Konrad stand auch auf. »Ich gehe mit«, sagte er. »Meine Kinder verlangen nach mir.«

»Du solltest bei Gelegenheit mal meine Zwillingsschwester kennenlernen«, sagte Adrian. »Sie ist ja auch Kinderärztin. Ihr hättet euch bestimmt viel zu erzählen.«

»Ich bin auch ziemlich neugierig auf sie«, gestand Konrad. »Seid ihr euch ähnlich?«

»Wir überlassen es anderen, das zu beurteilen«, lachte Adrian. »Die Ansichten darüber gehen weit auseinander.«

*

Dr. Gabriele Plessenstein verließ die Kurfürsten-Klinik und sah sich suchend um. Im selben Augenblick fuhr ein Auto vor, und der Fahrer ließ ein kurzes Hupen hören. Sie lächelte und lief auf den Wagen zu, öffnete die Tür und stieg ein.

»Fein, daß du schon da bist, Rainer!« sagte sie und gab dem großen, gutaussehenden blonden Mann hinter dem Steuer einen Kuß auf die Wange.

Er ließ das Steuer los, umarmte sie und küßte sie voller Leidenschaft, bis sie sich schließlich von ihm löste. »Rainer!« flüsterte sie. »Doch nicht hier.«

Lachend ließ er sie los und fuhr an. »Warum nicht?« fragte er. »Ich möchte gern, daß alle wissen, daß die schönste Frau an der Kurfürsten-Klinik mir gehört!«

»Wie sich das anhört!« sagte sie. »Ich bin doch nicht dein Besitz!«

»Also schön, dann sage ich eben: Die schönste Frau der Klinik gehört zu mir! Ist das besser?«

Sie nickte und sah ihn verstohlen von der Seite an. Rainer Wollhausen war ein Mann, der immer bekam, was er wollte. Er konnte sehr charmant sein, war überaus zielstrebig, und sie langweilten sich nie miteinander. Dennoch war sie nicht restlos glücklich, aber das gestand sie sich nur ungern ein. Sie wußte nicht genau, was sie immer wieder auf Distanz gehen ließ – er jedoch hielt das, wie sie wußte, für Taktik, um ihn fester an sich zu binden. Aber es war keine Taktik. Es war ein instinktives Gefühl, das ihr riet, vorsichtig zu sein.

Dieses Gefühl hing mit Florian, ihrem siebenjährigen Sohn, zusammen. Er mochte Rainer nicht, obwohl er das noch nie gesagt hatte. Aber sie merkte es an seiner Reaktion, wenn Rainer zu Besuch kam. So höflich und zurückhaltend war ihr frecher kleiner Sohn sonst selten.

Und Rainer? Er war immer nett zu Florian, aber sie hatte ihn im Verdacht, daß er ihm völlig gleichgültig war. Rainer machte sich nichts aus Kindern, er konnte mit ihnen nichts anfangen. Oft genug fand er sie sogar ausgesprochen lästig, nämlich dann, wenn man Rücksicht auf sie nehmen mußte, das hatte sie schon gemerkt.

Wenn sie beide zusammenbleiben wollten, Rainer und sie, dann würde das ein ernstes Problem werden, mit dem sie sich früher oder später auseinandersetzen mußte. Aber die Frage war eben, ob sie überhaupt zusammenbleiben wollten. Sie war nicht sicher. Nur wenn sie in seinen Armen lag, vergaß sie ihre Zweifel, aber sie kamen später unweigerlich wieder.

Er sah sie an, und sie lächelte entschuldigend. »Wie bitte? Ich war gerade in Gedanken, Rainer.«

»Das habe ich gemerkt.« Ein gereizter Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Ich habe gefragt, ob wir essen gehen können oder ob du als gute Mutter wieder einmal zu Hause bleiben mußt.«

Sie biß sich auf die Lippen, um die scharfe Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag, hinunterzuschlucken. »Florian schläft bei seinem Freund Max, das habe ich dir doch schon gesagt. Wir sind also völlig frei heute abend.«

Sofort glätteten sich seine Züge, und er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Wunderbar!« sagte er. »Dann weiß ich schon ganz genau, was wir machen werden.«

Er fragte sie nicht einmal, ob sie vielleicht andere Wünsche hätte, und das ärgerte sie. Aber sie schwieg, denn sie legte keinen Wert darauf, einen Abend in gereizter Atmosphäre zu verbringen. Rainer konnte sehr unleidlich sein, wenn etwas nicht so lief, wie er sich das vorstellte.

Sie sah aus dem Fenster. Sie würde ein anderes Mal über ihr Verhältnis zu Rainer Wollhausen nachdenken, heute nicht.

*

»Diese Figur!« schwärmte Dr. Schäfer gerade, als Adrian Winter in die Notaufnahme zurückkehrte. »Diese phantastischen Haare – und erst die Augen! Wie Bergseen…«

Die Umstehenden kicherten, und auch Adrian konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Um welche Frau geht’s denn dieses Mal, Bernd?« erkundigte er sich gutmütig.

Dr. Bernd Schäfer war Assistenzarzt der Chirurgie und ein sehr netter und beliebter Kollege. Allerdings hatte er einen großen Kummer, nämlich seine beträchtliche Körperfülle. Er aß für sein Leben gern, und das sah man ihm an. Er schien ständig schwerer zu werden, deshalb versuchte er es alle paar Wochen für einige Tage mit einer Diät. In der Regel brach er sie jedoch schon bald wieder ab, weil er all den verlockenden Köstlichkeiten, die die Welt zu bieten hatte, einfach nicht widerstehen konnte.

Es gab noch etwas, das für Bernd Schäfer kennzeichnend war: Er war schrecklich schüchtern, und er war dauernd verliebt – und zwar immer in andere Frauen. Eigentlich liebte er Schwester Monika, aber weil die ihn nicht erhörte, mußte er sich aus lauter Verzweiflung, jedenfalls behauptete er das, ständig in andere schöne Frauen verlieben. Die jedoch erfuhren in der Regel nie etwas davon, denn er hatte es bisher noch keiner gesagt.

»Um Frau Dr. Plessenstein«, beantwortete Bernd Schäfer Adrians Frage.

»Ach, du auch?« fragte Adrian. »Mir scheint, die halbe Klinik schwärmt für sie.«

»Das ist ja auch kein Wunder!« sagte Bernd. »Wenn man so aussieht, dann liegt einem natürlich die ganze Welt zu Füßen.« Betrübt sah er an sich hinunter. Sein Bauch schien wieder einmal um einige Zentimeter gewachsen zu sein.

»Die ganze Welt wohl nicht«, widersprach Adrian. »Ich finde zwar auch, daß sie gut aussieht, aber andere Frauen gefallen mir besser.«

Bernd war fassungslos. »Das meinst du doch nicht im Ernst! Hast du sie dir mal genau angesehen?«

»Ja, habe ich«, antwortete

Adrian. »Und jetzt schlage ich vor, daß wir diese ungeheuer interessante Unterhaltung beenden. Was ist überhaupt los hier? Habt ihr alle nichts zu tun?«

Die kleine Versammlung löste sich blitzschnell auf – gerade rechtzeitig, denn Schwester Monika rief laut: »Schwerer Unfall in der Kantstraße – mehrere Verletzte. Sie werden gleich hier sein!«

»An die Arbeit, Jungs und Mädels!« rief Adrian, und schon nach wenigen Sekunden war die kleine Diskussion vergessen, alle arbeiteten voller Konzentration, und es herrschte wieder der ganz normale Arbeitsalltag in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik.

*

Florian Plessenstein lag mit seinem Freund Max Sennelaub auf dessen Bett. Sie hatten sich nackt ausgezogen und betrachteten einander aufmerksam.

»Bei dir sieht das irgendwie anders aus«, meinte Max. Er hatte strohgelbe Stoppelhaare und ein spitzes Lausbubengesicht, während Florian die rotbraunen Locken seiner Mutter geerbt hatte. Seine Augen allerdings hatten eine andere Farbe als ihre: Sie waren von einem klaren Blau. Florian sah neben dem stämmigen Max fast mädchenhaft zart aus.

Jetzt nickte er betrübt: »Isses auch. Meine Mama hat gesagt, das kommt irgendwann von selbst in Ordnung.«

»Von selbst?« fragte Max. »Wie denn von selbst? Muß man da nix machen?«

Florian schüttelte den Kopf. »Nee, muß man nicht. Meistens jedenfalls. Man kann sich auch operieren lassen, aber es is’ besser, wenn’s von allein passiert. Ein paarmal haben wir schon gedacht, es wär’ in Ordnung – aber dann war’s doch wieder wie vorher. Jedenfalls soll ich nicht operiert werden.«

»Operieren ist gefährlich«, meinte Max altklug. »Ein Onkel von mir ist gestorben, als sie ihn operiert haben.«

»Bei meiner Mama sterben auch manchmal welche, aber nicht oft. Sie kann gut operieren, glaub’ ich.«

»Und warum operiert sie dich dann nicht? Das ist doch superpraktisch, wenn sie es selbst machen kann. Dann sähst du genauso aus wie alle anderen auch.«

Florian sah an sich herunter. Es war sein geheimer Kummer, daß er ›da unten‹ anders aussah als die anderen, aber er wollte nicht zugeben, daß es ihm etwas ausmachte. Schließlich hatte seine Mama ihm versprochen, daß sich das von selbst ändern würde. Aber seit es öfter vorkam, daß ihn andere Jungen auch mal nackt sahen, nahm das Thema an Wichtigkeit zu. Er versuchte zwar, niemals zu pinkeln, wenn er nicht allein war, aber manchmal ließ es sich nicht vermeiden, daß ihn jemand sah.

Nur mit Max konnte er darüber reden, der zog ihn auch nicht auf. »Ich kann sie ja noch mal fragen«, meinte er und zog die Stirn in Falten. »Mir wär’s auch lieber, wenn das endlich in Ordnung wäre.«

»Was hat sie denn gesagt, wie lange das noch dauert?«

Florian zog die Schultern hoch. »Das weiß man nie so genau. Die Dinger müssen einfach nach unten rutschen, weißt du? Normalerweise ist das schon passiert, wenn man auf die Welt kommt. Aber manchmal passiert es erst später.«

»Darf ich mal anfassen?« fragte Max.

Florian nickte zögernd. Wenn Max nicht sein allerbester Freund gewesen wäre, hätte er ihm das niemals erlaubt.

Vorsichtig streckte Max seine Finger aus. »Fühlt sich ’n bißchen komisch an, nur so schlappe Haut«, meinte er. »Also, ich finde, du solltest noch mal mit deiner Mama reden. Sonst isses vielleicht zu spät.«

»Ja, das mache ich«, sagte Florian und griff nach seiner Schlafanzughose. Auch Max zog sich an, und das war gut so, denn gleich darauf kam seine Mutter und fragte: »Was, ihr schlaft immer noch nicht? Wißt ihr überhaupt, sie spät es ist?«

»Aber wir sind noch gar nicht müde!« behauptete Max.

»Trotzdem müßt ihr morgen früh in die Schule, und ich kann dir jetzt schon sagen, daß ihr beide kaum aus dem Bett kommen werdet!« Sie machte das Licht aus und gab ihrem Sohn einen Gute-Nacht-Kuß, obwohl ihm das vor seinem Freund ziemlich peinlich war. Dann tätschelte sie Florians Wange, sagte: »Gute Nacht!« und ging wieder hinaus.

»Küßt deine dich auch immer noch?« wisperte Max.

»Ja«, wisperte Florian zurück.

»Sie kann einfach nicht damit aufhören, dabei bin ich schon viel zu alt dafür.«

»Mhm«, brummte Florian. Er behielt es lieber für sich, daß er es gern hatte, wenn seine Mama ihm einen Gute-Nacht-Kuß gab. Manche Dinge konnte man nicht einmal seinem allerbesten Freund sagen.

*

Dr. Adrian Winter straffte sich unwillkürlich, als er an der Tür des neuen Verwaltungsdirektors Thomas Laufenberg klopfte. Er hatte mit dem Mann noch nicht persönlich zu tun gehabt, aber der Ruf, der ihm bereits nach kurzer Zeit vorauseilte, sprach eine deutliche Sprache. Er schien entschlossen zu sein, strikt durchzugreifen – das jedenfalls behaupteten alle, die schon mit ihm aneinander geraten waren. Und das waren nicht wenige.

»Ja, bitte?«

Entschlossen drückte Adrian die Klinke herunter und trat ein. Bisher hatte er Thomas Laufenberg immer nur von weitem gesehen, jetzt stellte er fest, daß dieser ein sehr gut aussehender Mann war. Er war älter als er selbst, Anfang vierzig vielleicht. Die braunen Haare korrekt geschnitten und gescheitelt, an den Schläfen bereits silbrig werdend. Kluge braune Augen beherrschten das Gesicht, in dem außerdem noch der große energische Mund auffiel. Er trug einen unauffälligen grauen Anzug und sah ansonsten genauso aus, wie Adrian sich einen Verwaltungsangestellten immer vorgestellt hatte. Oberbürokrat, dachte er.

»Herr Dr. Winter?« Thomas Laufenberg erhob sich höflich und schüttelte seinem Besucher die Hand. »Bitte, setzen Sie sich. Ich bin froh, daß wir uns endlich kennenlernen, schließlich bin ich schon seit einigen Wochen hier.« Er lächelte, während seine klugen Augen den Arzt aufmerksam musterten. »Was kann ich für Sie tun?«

»Wir sind unterbesetzt in der Notaufnahme«, sagte Adrian. Er fiel ganz bewußt sofort mit der Tür ins Haus. »Das sind wir schon lange, und ich habe es Ihrem Vorgänger auch immer wieder gesagt, aber leider bis jetzt ohne jeden Erfolg.« Er brach ab und wartete auf eine Reaktion.

Thomas Laufenberg lächelte nicht mehr. »Sie wissen natürlich, daß diese Klinik, wie alle anderen auch, eine strikte Sparpolitik einhalten muß, wenn sie kostendeckend arbeiten will?«

»Natürlich weiß ich das!« Adrians Ton war ungeduldig. »Es wird ja überall nur noch vom Sparen geredet. Aber das kann doch nicht auf Kosten der Patienten geschehen! Und auf Kosten des Personals! So ist es nämlich. Hier bitte…«, er schob eine Liste über den Schreibtisch, »ich habe mir die Mühe gemacht, einmal die Überstunden aufzuschreiben, die allein in der Notaufnahme im letzten Monat angefallen sind. Das geht nicht so weiter! Und niemand kann mir erzählen, daß wir dadurch tatsächlich sparen! Überstunden sind teuer, und langfristig kosten sie uns auch unsere Gesundheit.«

Thomas Laufenberg vertiefte sich in die Liste und gab eine ganze Zeitlang keinen Laut von sich. Dann fragte er sachlich: »Was hat Ihnen denn mein Vorgänger geantwortet, wenn Sie ihm das vorgelegt haben?«

Adrian sah ihn verächtlich an. Noch nicht einmal eine eigene Meinung hatte der Kerl! Wollte sich hinter seinem Vorgänger verstecken! »Das Übliche«, antwortete er kühl. »Daß er meine Vorschläge prüfen und zu gegebener Zeit darauf zurückkommen werde. Daß im Augenblick leider kein Geld und keine Planstellen vorhanden seien… bla bla bla. Sie wissen doch selbst, was Verwaltungsleute in solchen Situationen von sich geben.«

Das war reichlich unverblümt, und einen Augenblick lang fürchtete er, zu weit gegangen zu sein. Doch zu seiner Überraschung zeigte sich ein breites Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers, das diesen erstaunlich verjüngte. Gleich darauf wurde er jedoch wieder ernst.

»Ihr Vertrauen in die Verwaltung ist offensichtlich nicht besonders groß, Herr Dr. Winter«, sagte Thomas Laufenberg ruhig. »Dabei müßte Ihnen doch eigentlich klar sein, daß wir am gleichen Strang ziehen. Was habe ich davon, wenn die Notaufnahme chronisch unterbesetzt ist und das Personal deshalb unzufrieden, im schlimmsten Fall sogar krank wird? Gar nichts! Es ist ja nicht so, daß wir hirnlos sparen wollen. Wir haben nur gewisse Vorgaben, die wir einhalten müssen. Und da wir über diese Einhaltung wachen, glaubt das medizinische Personal gern, daß wir auf der Gegenseite stehen. Das ist ein Irrtum. Wenn die Klinik geschlossen wird, weil sie nicht kostendeckend arbeitet, dann trifft das nicht nur Sie, sondern auch mich. So einfach ist das.«

Adrian war so verblüfft, daß ihm im ersten Augenblick keine Erwiderung einfiel. Dann jedoch hatte er sich von seiner Überraschung erholt. »Wenn es so einfach ist«, konterte er angriffslustig, »dann frage ich mich, warum für uns nicht mehr getan wird. Und warum unsere Klagen immer wieder ungehört verhallen.«

»Nicht ungehört«, widersprach der Verwaltungsdirektor. »Vielleicht sind Ihre Wünsche bisher nicht erfüllt worden, aber das heißt noch lange nicht, daß nicht nach Wegen gesucht wird, um das noch zu tun.«

Jetzt hatte Adrian begriffen, daß der neue Direktor ein ganz besonders Schlauer war. Er tat so, als wolle er helfen, und brachte die Leute damit wahrscheinlich erst einmal dazu, sich ruhig zu verhalten und sich nicht länger zu beschweren. Kluge Taktik, aber was glaubte er denn, wie lange er damit durchkommen würde?

Er stand auf. »Na«, sagte er spöttisch, »dann warte ich mal, wie lange Sie brauchen, um einen Weg zu finden, uns in der Notaufnahme zu helfen. Ich bin wirklich sehr gespannt, wann ich wieder von Ihnen höre. Auf Wiedersehen, Herr Laufenberg!«

Er nickte dem anderen kurz zu und verließ den Raum.

Thomas Laufenberg aber lehnte sich in seinen Bürostuhl zurück und dachte angestrengt nach. Dr. Winter hatte er sich mit diesem Gespräch jedenfalls nicht zum Freund gemacht, das stand fest. Er seufzte. Warum nur gingen immer alle davon aus, daß er der Feind war?

Nun ja, im Laufe der Zeit würde es ihm schon gelingen, das Gegenteil zu beweisen, aber er ahnte bereits jetzt, daß ihn das harte Arbeit kosten würde.

*

Gabriele Plessenstein eilte durch die Eingangshalle der Klinik. Es war ein schöner Abend mit Rainer gewesen, und eigentlich hätte sie vor Glück strahlen sollen, aber das tat sie nicht. Und sie wußte auch genau, warum: Sie hatte Florian wegorganisieren müssen, um diesen Abend zu ermöglichen, und das war auf Dauer nicht das, was sie sich wünschte.

Ein Mann, der mit ihr zusammensein wollte, mußte auch mit Florian gut auskommen. Und das würde bei Rainer niemals der Fall sein, das stand schon jetzt hundertprozentig fest. Er hatte gestern abend sogar vorsichtig angefragt, ob der Junge nicht auf ein Internat geschickt werden könnte. Es wurde Zeit, daß sie sich, was Rainer betraf, Klarheit über das verschaffte, was sie wollte und was nicht.

Aber eigentlich wußte sie es bereits, sie schreckte nur noch vor den Konsequenzen zurück, denn Rainer konnte eben auch sehr liebevoll, zärtlich und nett sein… Und sie war nach ihrer Scheidung so lange allein gewesen, daß sie nicht schon wieder Wert auf einsame Abende und Nächte legte.

Sie war so in Gedanken, daß sie fast mit einem Kollegen zusammengestoßen wäre, der ihr entgegenkam. »Oh, Herr Eder«, sagte sie lächelnd. »Entschuldigung, ich hab’ nicht aufgepaßt.«

»Ich auch nicht.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Guten Morgen, Frau Plessenstein.«

»Guten Morgen!« Sie schüttelte den Kopf. »Erst renne ich Sie fast um, dann bin ich auch noch unhöflich. Irgendwie bin ich durcheinander heute morgen.«

»Das kommt vor, kein Grund zur Beunruhigung«, versicherte er. »Und man sieht Ihnen überhaupt nicht an, daß Sie durcheinander sind!« Ihre Blicke trafen sich, und sie wurde verlegen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte.

Aber dann war der Moment auch schon vorüber, und er sagte: »Ich muß weiter, meine Kinder rufen.«

»Ihre Kinder?« Sie stutzte, dann lachte sie. »Ach so, die Kinder auf Ihrer Station. Ja, ich muß auch los, ich muß einer alten Dame ein neues Hüftgelenk einsetzen.«

»Alles Gute«, wünschte er. »Für Sie und für die alte Dame.«

Sie nickte und lief weiter. Dr. Konrad Eder war ein ganz Netter, das hatte sie schon gemerkt. Sehr zurückhaltend, fast schüchtern, aber klug und einfühlsam. Er war anders als Rainer, das spürte sie. Sie kannte ihn zwar kaum und konnte es daher, streng genommen, überhaupt nicht beurteilen, aber seine Augen hatten eben einen so eigenartigen Ausdruck gehabt…

Ich bin ja verrückt! dachte sie ärgerlich. Dann betrat sie den Fahrstuhl, wo sie zum Glück eine Kollegin traf, die sie sofort in ein Gespräch verwickelte. Das lenkte sie ab, und als sie wenig später den OP betrat, hatte sie Rainer Wollhausen, Konrad Eder und sämtliche Grübeleien über ihre Zukunft vergessen.

*

»Hoffentlich kommt Adrian bald!« sagte Esther Berger, Adrian Winters Zwillingsschwester, und sah hungrig in einen von Frau Senftlebens Töpfen, aus dem ein köstlicher Duft aufstieg.

Carola Senftleben war Adrians Nachbarin, eine ältere Dame, die sich liebevoll um ihn kümmerte, wenn er wieder einmal hungrig und müde nach Hause kam und nichts als einen leeren Kühlschrank vorfand. Sie war klein und zierlich und konnte sehr energisch sein, was man ihr aber nicht sofort ansah. Sie hatte unschuldige blaue Augen, die ihr schon in mancher kritischen Situation geholfen hatten.

Jetzt lachte sie über Esthers Bemerkung und sagte: »Wenn Sie solchen Hunger haben, Esther, dann dürfen Sie schon mit der Vorspeise anfangen.«

»Wirklich?« rief Esther, die mit ihren kurzen blonden Haaren wie ein frecher Teenager aussah und nicht wie eine gestandene Ärztin. »Ach, Frau Senftleben, es war eine wunderbare Idee, meinen Bruder und mich zum Essen einzuladen. Sie wissen ja, wie sehr ich ihn um Sie beneide. Meine Nachbarinnen sind auch alle sehr nett, aber keine käme auf die Idee, sich so um mich zu kümmern, wie Sie es bei Adrian tun.«

»Ich kann mich nur wiederholen. Ziehen Sie um!« riet ihr Frau Senftleben. »Hier in der Gegend wird immer mal was frei. Aber Sie wollen ja aus Kreuzberg nicht weg!«

»Einmal Kreuzberg, immer Kreuzberg«, stellte Esther fest, während Frau Senftleben einen Teller mit zwei hübsch angerichteten Halbkugeln vor sie hinstellte.

»Hm, das sieht aber lecker aus. Und was ist es? Eis kann es ja nicht sein, das gäbe es höchstens als Nachtisch.«

»Probieren Sie«, befahl Adrians Nachbarin, aber in diesem Augenblick klingelte es, und Esther sprang auf.

»Na endlich!« rief sie. »Ich mache auf, Frau Senftleben.«

Gleich darauf fiel sie ihrem Bruder um den Hals – soweit das überhaupt möglich war, denn Adrian war bedeutend größer als sie. Sie reichte ihm gerade bis zur Schulter.

Er hob sie hoch und schwenkte sie herum. »Hallo, Kleine!« sagte er liebevoll und stellte sie wieder ab. Dann ging er in die Küche, Esther folgte ihm. »Guten Abend, Frau Senftleben. Hm, wie das wieder duftet!«

»Hinsetzen!« sagte Frau Senftleben energisch. »Wir sind sehr hungrig, Ihre Schwester und ich.«

»Sie wollte wohl schon heimlich mit dem Fisch anfangen, was?« fragte Adrian, der nur einen Kennerblick auf Esthers Teller geworfen hatte und bereits wußte, worum es sich handelte. Schließlich bekochte ihn Frau Senftleben schon länger.

»Fisch?« fragte seine Schwester verblüfft. »Das ist Fisch?«

»Fisch-Creme – was ganz Leckeres«, antwortete Adrian. »Ich kenne mich da aus. Das gibt es nur zu ganz besonderen Gelegenheiten, du kannst dir etwas darauf einbilden.« Frau Senftleben und er wechselten einen amüsierten Blick.

Sie nahmen Platz, und einige Minuten lang war außer ›mhm‹ und ›lecker‹ nichts zu hören. Dann fragte Frau Senftleben: »Und, Adrian? Wie war Ihr Gespräch mit dem neuen Verwaltungsdirektor?«

»Ach, das war heute?« fragte Esther interessiert. »Erzähl, Adrian!«

»Bürokratenheini!« murmelte Adrian mißmutig. »Es verdirbt mir garantiert den Appetit, wenn ich jetzt über den reden muß!«

»So schlimm ist er?« fragte Frau Senftleben. »Aber es muß sich doch einmal etwas ändern an Ihrer Klinik! Ich kann schließlich gut beurteilen, wie viele Überstunden Sie immer machen müssen.« Sie machte ein kampflustiges Gesicht. »Wenn es Ihnen hilft, kann ich ja mal mit dem Mann sprechen.«

»Bloß nicht, Frau Senftleben«, wehrte Adrian erschrocken ab. Er wußte, daß sie dazu imstande gewesen wäre, wenn er sie nur ermuntert hätte. »Ich werde schon mit ihm fertig. Irgendwann bekommen wir mehr Personal, das garantiere ich Ihnen.«

»Irgendwann, irgendwann!« wiederholte Frau Senftleben grimmig. »Aber bis dahin schuften Sie sich zu Tode!«

»Sie sorgen schon dafür, daß es nicht soweit kommt, Frau Senftleben.« Er lächelte sie entwaffnend an. »Dumm ist er nicht, der Herr Laufenberg, das muß man ihm lassen. Er hat mir erzählt, daß er die gleichen Interessen hat wie wir, daß das nur leider immer alle vergessen.«

»Ha!« rief Frau Senftleben und schob ihr Kinn ein wenig vor. »Das wüßte ich aber, wenn Ihre Verwaltung die gleichen Interessen hätte wie Sie.«

»Er hat es jedenfalls behauptet. Er hat gesagt, wenn die Klinik nicht kostendeckend arbeitet, ist das für ihn genauso schlecht wie für alle anderen.«

»Womit er recht hat«, stellte Esther trocken fest. »Nur hilft dir das erst einmal nicht weiter.«

»Eben!« sagte Frau Senftleben.

»Themawechsel!« bat Adrian. »Das Essen ist zu köstlich, um es sich mit Gesprächen über bürokratische Verwaltungsdirektoren zu verderben. Ich krieg’ den Kerl schon klein, Frau Senftleben, das verspreche ich Ihnen.«

»Na gut!« erwiderte seine Nachbarin und erhob ihr Glas. »Ich freue mich sehr, daß Sie beide heute meine Gäste sind. Zum Wohl!«

»Zum Wohl!« sagten Esther und Adrian wie aus einem Munde. Und dann wurde es noch ein langer und sehr anregender Abend.

*

»Was ist los, Flo?« fragte Gabriele, als ihr Sohn beim Frühstück noch länger trödelte als sonst. »Keine Lust auf Schule? Oder ist sonst etwas nicht in Ordnung?«

»Alles im grünen Bereich, Mama! Ich hab’ noch Zeit genug.«

»Hast du nicht! Los, komm in die Gänge, mein Freund. Du willst doch, daß ich dich mitnehme, oder?«

»Mhm.« Er stand auf und verschwand in seinem Zimmer, während sie eilig Milch, Butter und Marmelade zurück in den Kühlschrank stellte.

»Mama?«

»Ja?«

»Kommt Rainer heute abend?«

Das war es also! »Nein«, sagte sie. »Wir sind nicht verabredet. Warum fragst du? Hast du etwas Besonderes vor?«

»Nö, ich wollte bloß Bescheid wissen.«

»Jetzt weißt du’s. Bist du endlich fertig?«

»Ja!« Er kam aus seinem Zimmer und schien tatsächlich vollständig angezogen zu sein, und seine Tasche für die Schule hatte er bereits auf dem Rücken.

»Dann komm!«

Zwei Minuten später saßen sie im Auto. »Wirst du Rainer heiraten?« fragte Florian.

Der gespannte Unterton in seiner Stimme entging ihr nicht.

»Wie kommst du auf einmal darauf?« fragte sie. »Ich weiß es nicht, wir haben bisher nicht übers Heiraten gesprochen.«

»Dann wäre er mein neuer Papa, oder nicht?«

»Wenn wir heiraten würden, ja. Aber wie gesagt, darüber haben wir noch nicht gesprochen.«

»Ich glaube, er will dich heiraten. Aber mich will er nicht als Kind«, sagte Florian.

»Flo, wie kommst du denn darauf?« fragte sie erschrocken. Er hatte recht, genau das war auch ihr Gefühl, und das erschreckte sie nur noch mehr.

Er zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster, dabei machte er ein gleichgültiges Gesicht. Das war sein Trick, den sie nur allzu gut kannte. Aber dahinter verbargen sich Ängste und Kummer, das wußte sie.

»Wir reden später noch einmal darüber ja?« sagte sie, als sie die Schule erreicht hatten. »Heiraten ist eine ernste Sache, das weißt du doch. Und ich möchte mich nicht gern ein zweites Mal scheiden lassen, also werde ich diesmal noch länger überlegen als damals bei deinem Papa.«

Er nickte, öffnete die Wagentür und rannte los. Aber er blieb noch einmal stehen und drehte sich um. Sie winkte ihm zu, wendete und fuhr davon.

Ich muß eine Entscheidung fällen, dachte sie. Je eher, desto besser. Aber Rainer konnte eben wirlich so schrecklich lieb und zärtlich sein…

*

In der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik herrschte das blanke Chaos – und nicht nur dort. Es hatte einen Großbrand im Berliner Norden gegeben, und sämtliche Krankenhäuser der Stadt hatten Brandopfer und Verletzte aufnehmen müssen. Viele Leute waren aus den Fenstern der brennenden Gebäude gesprungen und hatten lieber Knochenbrüche riskiert, als ein Opfer der Flammen zu werden. Es hatte auch Tote gegeben, über die genaue Zahl wußte zur Stunde jedoch noch niemand etwas.

»Adrian, bitte komm zuerst hierher!« rief Schwester Monika. »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll…«

Er hastete hinter ihr her und half ihr, einer verzweifelt nach Luft ringenden Frau eine Sauerstoffmaske aufzusetzen und ihre entsetzlichen Brandwunden wenigstens notdürftig zu versorgen.

Sie hatten nicht genug Platz und viel zu wenig Personal, um die leidenden Menschen fachgerecht zu versorgen, und er konnte nur hoffen, daß der Patientenstrom endlich nachließ. Bisher aber kamen immer noch Sanitäter, die weitere Opfer brachten.

Auf der Intensivstation und in den Operationssälen herrschte ebenfalls Alarmstimmung, denn die Kapazitäten der Klinik waren längst erschöpft. Jetzt ging es nur noch um Krisenmanagement und darum, in dieser Situation nicht völlig die Übersicht zu verlieren.

Adrian rief in der Verwaltung an. »Sagen Sie Ihrem neuen Direktor, er soll gefälligst in die Notaufnahme kommen und sich ansehen, was hier los ist!« schrie er ins Telefon. »Und am besten bringt er gleich ein Dutzend Helfer und Verbandszeug und Decken mit! Was passiert ist? Sitzen Sie auf Ihren Ohren? Hören Sie keine Nachrichten? Ein Großbrand – das ist passiert!«

Er knallte den Hörer auf und rannte zurück in eine der Notfallkabinen, die sich an diesem schrecklichen Tag mehrere Patienten teilen mußten.

»Adrian?« Das war seine Kollegin, die Internistin Julia Martensen. »Wir können nicht mehr Leute aufnehmen, wir können sie einfach nicht mehr richtig versorgen…«

»Ich weiß. Macht trotzdem weiter, Julia, es ist das einzige, was wir tun können…« Sie nickte und lief weiter.

Am liebsten hätte er vor Verzweiflung geweint. Er war Arzt, er konnte helfen – aber doch nicht so! Sie waren zu wenige, viel zu wenige, um eine Katastrophe solchen Ausmaßes zu bewältigen!

*

Rainer Wollhausen hatte lange nachgedacht und war zu einem Entschluß gekommen. Wenn der Weg zu Gabrieles Herzen nur über ihren Sohn führte, dann würde er es eben versuchen. So schwierig konnte es schließlich nicht sein, mit einem siebenjährigen Bengel fertig zu werden. Und wenn sie erst einmal verheiratet waren, dann würde er das Thema ›Internat‹ noch einmal in aller Ruhe anschneiden. Dann würde er sich in dieser Frage ohne jeden Zweifel durchsetzen.

Er legte nun einmal keinen Wert auf das Zusammenleben mit einem Kind. Aus Kindern hatte er sich noch nie etwas gemacht, nach seiner Erfahrung waren sie störend und lästig. Sie wurden immer gerade dann krank, wenn man selbst im Stress war, sie tauchten genau in jenen Augenblicken auf, in denen man sie nicht gebrauchen konnte, und wenn sie älter wurden, stellten sie Ansprüche, die man gefälligst zu erfüllen hatte. Nein, nein, das Kapitel Kinder in seinem Leben war abgeschlossen. Endgültig.

Er hatte Gabriele noch gar nicht erzählt, daß er, genau wie sie, bereits verheiratet gewesen war und zwei Söhne hatte. Mit seiner Ex-Familie hatte er keinen Kontakt mehr, und dieser fehlte ihm auch nicht. Er hatte ganz bestimmt nicht die Absicht, seine bisherigen schlechten Erfahrungen jetzt noch einmal zu machen.

Aber Florian war ein Hindernis, das ihm im Weg stand, und er war entschlossen, dieses Hindernis zu überwinden. Er mußte die Zuneigung des Jungen gewinnen und ihn dann elegant loswerden. Das würde er schon schaffen, davon war er überzeugt.

Er klingelte, und gleich darauf stand er Florian gegenüber. »Ist deine Mama nicht da, Flo?« fragte er. »Wir sind verabredet.«

»Weiß ich«, antwortete Florian. Er haßte es, wenn Rainer ihn ›Flo‹ nannte, das durften nur Leute, die er gern hatte, und Rainer hatte er ganz bestimmt nicht gern. »Mama kauft noch was ein, sie will kochen, hat sie gesagt.«

Er schlurfte zurück in die Wohnung. Rainer blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Die Gelegenheit erschien ihm günstig, das Kind endlich von seinen Qualitäten zu überzeugen. Sie waren bisher noch nie allein gewesen. »Ich hab’ dir Schokolade mitgebracht, bitte schön«, sagte er.

Florian nahm die Schokolade und warf einen gelangweilten Blick darauf. Dann sagte er: »Danke«, legte sie auf den Tisch, lümmelte sich wieder auf das Sofa und sah weiter fern.

Rainer biß sich auf die Lippen. »Ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen schwimmen gehen«, sagte er.

Immerhin wandte der Junge mit einem Anflug von Interesse den Kopf. »Heute?«

»Heute oder ein andermal.«

»Heute nicht, da kocht Mama!« Florian verfolgte erneut, scheinbar voller Aufmerksamkeit, das Fernsehprogramm.

»Dann eben ein andermal!« Rainer verlor allmählich die Geduld. Wer war er denn, daß er sich von diesem Bengel so behandeln ließ? Er wollte eben eine scharfe Bemerkung über unhöfliche Kinder machen, die sich auch durch Gäste nicht vom Fernsehen abhalten ließen, als die Wohnungstür geöffnet wurde.

Aufatmend ging er Gabriele entgegen, nahm sie in den Arm und küßte sie. »Hallo, mein Schatz, schön, daß du kommst.«

»Du bist schon da?« fragte sie erstaunt. »So früh hatte ich noch gar nicht mit dir gerechnet, Rainer.«

»Aber du freust dich hoffentlich?«

»Sicher!« antwortete sie und warf einen forschenden Blick auf das verschlossene Gesicht ihres Sohnes. »Was ist los? Habt ihr euch gestritten?«

»Aber nein«, versicherte Rainer. »Wir haben beschlossen, demnächst zusammen schwimmen zu gehen.«

»Wirklich?« Das wunderte sie, aber Florian widersprach nicht, also schien es wahr zu sein. »Na dann«, sagte sie mit gespielter Munterkeit, »werde ich mich mal gleich ans Kochen machen. Hilft mir jemand?«

»Wir helfen dir beide, nicht, Flo?« sagte Rainer und zwinkerte dem Jungen zu.

»Nö«, sagte Florian. »Geht ihr ruhig in die Küche, ich guck’ noch den Film zu Ende.«

»Auch gut«, flüsterte Rainer Gabriele zu. »Dann kann ich dich endlich richtig küssen, ohne daß uns jemand dabei zusieht.«

Sie verschwanden in der Küche, und Florian hörte seine Mutter leise kichern. Er biß sich auf die Unterlippe, bis sie blutete, aber das merkte er gar nicht. Mit bösem Gesicht starrte er weiterhin auf den Fernsehschirm.

*

»Was ist denn hier los?« fragte Adrian, als er in den Warteraum kam. »Wo kommen Sie denn her?« fragte er einen der jungen Männer, die Betten und Wagen mit Verbandszeug hereinschoben.

»Herr Laufenberg hat uns hierhergeschickt. Er hat gesagt, Sie brauchen Hilfe.«

In diesem Augenblick kam der Verwaltungsdirektor selbst herein und sagte knapp: »Stellen Sie die Betten da drüben an der Wand in einer Reihe auf. Guten Tag, Dr. Winter. Sie hatten ja um unsere Hilfe gebeten, nicht wahr? Kann ich was tun?« Er hatte sein Jackett offenbar im Büro gelassen, seine Hemdsärmel waren aufgekrempelt, und er sah den Notaufnahmechef fragend an.

»Ja, das können Sie«, antwortete Adrian. »Wir brauchen jemanden, der das Ganze hier dirigiert und die Übersicht behält. Können Sie das machen? Ich muß dringend nach oben und operieren, die brechen da zusammen.«

»In Ordnung«, sagte Thomas Laufenberg. »Gehen Sie, im Organisieren bin ich ganz gut.«

Adrian wollte noch etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders. Er drehte sich um und rannte im Eilschritt zu den Aufzügen. Im Laufen rief er Julia Martensen zu: »Ich operiere oben, Julia!«

»Ja, aber wie soll das denn hier…«

Der Fahrstuhl verschluckte Adrian Winter, und so hörte sie seine Antwort nicht mehr.

»Frau Dr. Martensen?«

Erstaunt drehte sie sich um. »Ja, bitte?«

»Ich bin Thomas Laufenberg. Kümmern Sie sich bitte weiterhin um die Verletzten, ich werde versuchen, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen, damit Sie besser arbeiten können. Wir funktionieren gerade den Warteraum um.«

Sie starrte ihn sprachlos an, dann rief von irgendwoher Bernd Schäfer: »Julia, komm bitte sofort, ich brauch’ dich hier!« Und sie rannte los.

Thomas Laufenberg aber fing sofort an zu organisieren. Er beauftragte seine Helfer zunächst einmal damit festzustellen, wer ganz dringend behandelt werden mußte und wer noch warten konnte. So bildete sich allmählich eine gewisse Ordnung heraus, in welcher Reihenfolge die Patienten behandelt werden sollten.

Als nächstes sorgte er dafür, daß Schwerverletzte hingelegt werden konnten und nicht länger auf dem Boden sitzen mußten, während sie auf ihre Behandlung warteten. Außerdem ermittelte er, wieviel Platz die Stationen noch hatten, um weitere Patienten aufzunehmen.

Er rannte rastlos hin und her. Fast unmerklich legte sich nach einiger Zeit die Aufregung. Die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik war zwar immer noch überfüllt, aber es kehrte innerhalb des Chaos eine gewisse Ordnung ein.

*

Sie wollten gerade anfangen zu essen, als das Telefon klingelte. »Geh doch einfach nicht ran!« sagte Rainer. »Komm, wir lassen uns jetzt von niemandem mehr stören!« Er versuchte, sie in den Arm zu nehmen, aber Gabriele entwand sich ihm und nahm den Hörer ab.

Sie meldete sich, danach sagte sie eine Weile nichts mehr, sondern hörte nur noch schweigend zu. »Ja, natürlich«, sagte sie schließlich. »Nein, es ist wirklich kein Problem. Ich komme sofort.«

Rainer zog die Stirn unwillig in Falten. »Du willst doch jetzt nicht etwa weggehen?«

Und auch Florian jammerte: »Wir wollen doch essen, Mama!«

»Ich will nicht gehen, ich muß«, erklärte Gabriele mit

fester Stimme. »Es hat ein schreckliches Brandunglück gegeben – irgendeine Gasleitung ist explodiert, und mehrere Häuser sind in Flammen aufgegangen. Die Krankenhäuser sind überfüllt, unsere Notaufnahme bricht fast zusammen. Sie brauchen Chirurgen, weil die Leute aus den Fenstern gesprungen sind, um sich vor den Flammen zu retten. Sie haben sich sämtliche Knochen gebrochen.«

Florian hatte mit großen Augen zugehört. »Kann ich mit?« fragte er sofort.

»Flo, natürlich nicht! Kannst du hierbleiben, Rainer? Ich muß sofort los, sie brauchen jeden verfügbaren Arzt.«

Rainer Wollhausen schluckte seinen Unwillen hinunter und sagte: »Sicher bleibe ich hier. Wir essen erst einmal, Flo und ich, und dann bringe ich deinen Sohn ins Bett.«

»Danke, das ist lieb von dir.«

»Wir werden schon ohne dich fertig, was, Flo?«

»Aber du hast doch noch gar nichts gegessen, Mama!« Florians Stimme klang ein wenig schrill, aber sie beschloß, das zu überhören.

Hastig und im Stehen aß sie etwas Reis und Gemüse, dann holte sie ihre Sachen, küßte ihren Sohn, umarmte Rainer und verließ die Wohnung.

»Guten Appetit!« sagte Rainer zu Florian und setzte sich. So schlecht war es vielleicht gar nicht, einen Abend allein mit dem Jungen zu verbringen. Er würde versuchen, das Beste daraus zu machen.

*

Gabriele konnte sich später nicht erinnern, wie viele Menschen sie an diesem Abend operiert hatte. Es kam ihr wie Fließbandarbeit vor, und so ähnlich war es wohl auch.

Die Gesichter von Ärzten, Schwestern und Pflegern wurden immer erschöpfter, aber niemand dachte ans Aufhören, solange noch immer Patienten stöhnend und vor Schmerzen schreiend darauf warteten, behandelt zu werden.

In jedem OP arbeitete ein Team, auf der Intensivstation lagen die Menschen mittlerweile auf den Fluren, und auch die Notaufnahme war zu einer Station umfunktioniert worden, denn längst nicht alle Verletzten konnten auf den anderen Stationen aufgenommen werden. Die Kurfürsten-Klinik war hoffnungslos überbelegt.

Auch Dr. Adrian Winter operierte seit Stunden. Er hatte sich bisher nicht die kleinste Pause gegönnt, doch nun merkte er, daß seine Kräfte nachließen. Er mußte aufpassen, daß ihm nicht vor Müdigkeit Fehler unterliefen, das war in solchen Fällen immer die größte Gefahr.

»Laß uns mal ’ne Pause einlegen, Adrian«, bat nun auch Bernd Schäfer, der ihm assistierte. »Wir können ja danach weitermachen, aber ich habe das Gefühl, ich falle um, wenn ich hier nicht wenigstens mal ein paar Minuten ’rauskomme.«

Bernd hatte recht, und Adrian nickte zustimmend.

»Tun Sie das ruhig, Herr Winter!« sagte ein junger Assistenzarzt. »Wir haben noch ein paar Kollegen erreicht, die jetzt mal einspringen können.«

»Gut«, meinte Adrian müde. »Dann essen wir wenigstens mal eine Kleinigkeit, und danach sehen wir weiter.« Er verließ den OP mit schleppenden Schritten.

Bernd folgte ihm erleichtert. »Ich sterbe vor Hunger«, klagte er.

Zum ersten Mal seit längerer Zeit lächelte Adrian, aber er behielt den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, für sich. Er wollte Bernd nicht kränken. Sie gingen ins Café der Klinik, das wegen der besonderen Umstände ebenfalls überfüllt war, aber sie hatten Glück und bekamen trotzdem einen Platz und bestellten etwas zu essen. Viel Auswahl gab es nicht, aber das spielte auch keine Rolle.

»Dieser neue Verwaltungsdirektor«, begann Bernd nachdenklich, »also, das hätte ich nicht gedacht, daß der sich so ’reinhängt.«

»Alles Tarnung«, murmelte Adrian.

»Wie meinst du das?«

»Ach, ich traue ihm einfach nicht. Natürlich sind jetzt alle beeindruckt von ihm – was er alles organisiert hat und so. Aber laß uns mal abwarten, ob er sich auch bewährt, wenn es die ganz normalen Alltagsprobleme eines Krankenhauses betrifft. Heute konnte er glänzen, aber wenn es um die Routine geht, dann will ich sehen, ob er wirklich mit uns an einem Strang zieht.«

»Du kannst ihn nicht leiden«, stellte Bernd fest.

Ihr Essen kam, und mit einem erleichterten Seufzer machten sie sich darüber her. Sofort erwachten die Lebensgeister wieder.

»Stimmt«, gab Adrian zu. »Ich glaube, besser kann man es nicht ausdrücken. Ich kann ihn nicht leiden. Er ist ein Bürokratenheini.«

Bernd widersprach ihm nicht, er widmete sich mit vollendeter Hingabe seinen Nudeln mit Tomatensauce.

*

Rainer Wollhausen war genervt. Dieser Junge war wirklich zäh, er ließ ihn einfach nicht an sich herankommen. Beim Essen war er einsilbig gewesen, und anschließend hatte er seine Nase in ein Buch gesteckt. In einem Internat würde man ihm erst einmal Benehmen beibringen, das wurde offenbar höchste Zeit. Gabriele hatte ihren Sohn viel zu sehr verwöhnt.

Rainer hatte schweigend und voll unterdrückter Wut den Tisch abgeräumt, und nun, fand er, konnte der Junge schlafen gehen. Er mußte ja am nächsten Morgen zur Schule, und es war für einen Siebenjährigen mittlerweile spät genug.

»Ab ins Bett, Flo«, sagte er. »Wenn deine Mutter nach Hause kommt und dich hier noch immer herumspringen sieht, wird sie sauer sein.«

»Die kommt doch noch längst nicht«, meinte Florian, aber es war ihm gar nicht unlieb, ins Bett zu gehen. Da mußte er Rainer wenigstens nicht mehr sehen.

»Egal, es ist schon spät«, entgegnete Rainer.

»Na gut!« Florian erhob sich langsam. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, als gehorche er Rainer aufs Wort. Von dem würde er sich gar nichts sagen lassen. Und wenn er nicht selbst hätte ins Bett gehen wollen, dann hätte er es sowieso nicht getan, bloß weil Rainer sich hier als Vater aufspielte.

Er ging ins Bad, und Rainer setzte sich aufatmend in einen Sessel und griff zur Zeitung. Der Abend verlief überhaupt nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte, aber das ließ sich ja nun leider nicht mehr ändern.

Nach ziemlich langer Zeit ließ er die Zeitung sinken und lauschte. Was machte der Bengel denn nur so lange im Bad?

Er stand auf und sah zuerst in Florians Zimmer nach, vielleicht war der Junge ja auch schon ins Bett gegangen, ohne sich von ihm zu verabschieden – zuzutrauen war es ihm durchaus. Aber Florian war nicht im Bett.

Also ging Rainer zum Bad und öffnete die Tür. Florian stand völlig nackt vor ihm und starrte ihn entsetzt an.

»Was ist los?« fragte Rainer verwundert. »Wieso brauchst du denn nur so lange? Ich dachte, du würdest längst im Bett liegen!«

Der Junge rührte sich nicht und hielt schützend die Hände vor sein Geschlechtsteil.

»Florian, sei nicht albern! Ich habe schon andere Leute nackt gesehen, du brauchst dich nicht vor mir zu schämen. Nun zieh deinen Schlafanzug an, und dann verschwinde endlich im Bett.«

Nur zögernd griff Florian nach seinem Schlafanzug, und als er seine Hände ausstreckte, sah Rainer, was er verzweifelt zu verbergen versucht hatte.

»Das ist ja ein Ding!« rief er aus. »Zeig mal her!«

»Nein!« schrie Florian. »Das geht dich gar nichts an.«

»Aber es ist interessant, so was habe ich noch nie gesehen.«

»Laß mich in Ruhe!« Florians Stimme überschlug sich fast. »Wieso kommst du überhaupt einfach so hier rein? Mama macht das nie, und das gehört sich auch nicht, wenn jemand im Bad ist, daß man dann einfach reinkommt.«

»Warum hast du nicht abgeschlossen, wenn du unbedingt allein sein wolltest?« fragte Rainer. »Ich konnte doch nicht wissen, daß du ein kleines Geheimnis mit dir herumträgst. Das hat deine Mama mir nämlich auch verschwiegen.«

»Das geht dich ja auch gar nichts an!«

Der Blick, der Rainer nun aus Florians Augen traf, war haßerfüllt, aber das ließ ihn kalt. Die Situation begann ihm Spaß zu machen. Und auf einmal sah er eine gute Möglichkeit, sich ein wenig an Florian zu rächen für diesen gänzlich mißlungenen Abend, an dem er ihn mit Nichtachtung gestraft hatte.

Der Junge hatte es endlich geschafft, seine Schlafanzughose anzuziehen. Sein Gesicht war hochrot, die Lippen hatte er fest aufeinandergepreßt.

»Was sagen denn die anderen in der Schule dazu?« fragte Rainer scheinheilig. »Das ist ja nicht normal, und ich kann mir schon vorstellen, daß sie darüber lachen. Oder etwa nicht?«

Florian antwortete nicht. Er preßte die Lippen nur noch

fester zusammen.

»Und deiner Mutter«, plauderte Rainer in harmlosem Ton weiter, »bereitet das natürlich auch großen Kummer. Jede Mutter will schließlich, daß ihr Kind gesund und normal ist.« Er grinste. »Wahrscheinlich wird nie ein richtiger Mann aus dir, Flo. Deshalb hängst du auch so am Rockzipfel deiner Mutter!«

Florian ließ einen unterdrückten Laut hören, doch Rainer achtete nicht darauf. »Das kann man doch bestimmt operieren, oder? Wieso hat sie das nicht längst gemacht? Sie ist doch Chirurgin!«

Jetzt erst bemerkte er, daß der Junge den Tränen nahe war, und beschloß, es genug sein zu lassen. »Jedenfalls verstehe ich jetzt einiges besser! Also dann gute Nacht«, sagte er lachend, drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer.

Dort nahm er sich erneut die Zeitung vor, aber er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Wieso hatte Gabriele ihm nichts davon gesagt? Sie hätte ihn einweihen müssen, das wäre doch das mindeste gewesen, fand er. Er beschloß, ein ernstes Gespräch mit ihr zu führen, sobald sich eine gute Gelegenheit ergab. Der Junge jedenfalls, davon war er überzeugt, würde es sich gut überlegen, ob er ihn noch einmal so abweisend zu behandeln wagte wie heute abend.

*

Florian lag in seinem Bett und war wie gelähmt vor Entsetzen. Er hatte Rainer auch vorher schon nicht leiden können, aber jetzt haßte er ihn von ganzem Herzen. Niemals würde er ihn als Vater akzeptieren.

Er war gemein und bösartig und hatte ihn angestarrt, als sei er ein Monster. Und all die schrecklichen Dinge, die er gesagt hatte! Nicht einmal die anderen Jungs waren so gemein wie Rainer. Ausgerechnet der war der Freund seiner Mama! Wie konnte sie nur einen so gräßlichen Freund haben? Sie mußte doch wissen, wie er war!

Florian fing an zu weinen. Seine Mama hatte immer gesagt, was er da unten hatte, sei nicht schlimm und würde irgendwann von ganz allein normal werden wie bei allen anderen.

Aber vielleicht stimmte das gar nicht? Vielleicht hatte sie das nur gesagt, um ihn zu beruhigen? Und hing er wirklich an ihrem Rockzipfel und würde niemals ein richtiger Mann werden?

Max und er wollten unbedingt richtige Männer werden, sonst kriegte man keine Frauen und war auch sonst nichts wert. Zwar war ihnen nicht klar, wozu man Frauen unbedingt brauchte, aber die größeren Jungs behaupteten das, und deshalb war es sicher wahr. Aber wenn jetzt schon feststand, daß er kein richtiger Mann werden konnte, dann wollte er gar nicht mehr leben.

Oder er lebte doch weiter und schaffte es, diesem gräßlichen Rainer zu beweisen, daß er überhaupt nicht an Mamas Rockzipfel hing. Er würde weglaufen, dann wäre Mama böse auf Rainer und würde ihn wegschicken und ihn nicht heiraten. Vielleicht würde er selbst dann sogar zurückkommen. Und dann würde er sagen, daß er doch operiert werden wollte, damit ein richtiger Mann aus ihm werde. Dann wäre er Rainer los, und er wäre so normal wie alle anderen.

Er dachte noch eine Weile darüber nach. Diese Lösung gefiel ihm besser. Zum Sterben war er noch zu jung, das hatte er nicht richtig bedacht. Aber zum Weglaufen hatte er genau das richtige Alter. Er hatte schon oft gehört, daß Kinder das machten, wenn sie es bei ihren Eltern nicht mehr aushielten.

Bei seiner Mama hielt er es sehr gut aus, aber nicht bei Rainer, das konnte nach diesem Abend niemand mehr von ihm verlangen. Mit so einem Mann konnte man es nicht aushalten, das mußte eigentlich auch seine Mama einsehen.

Er wurde müde, aber sein Entschluß stand fest: Er würde weglaufen. Und er wußte auch schon ganz genau, wie er es machen würde, damit sie es nicht sofort merkten. Schließlich mußte er einen Vorsprung haben, damit sie ihn nicht sofort wieder einfangen konnten.

Er würde seiner Mama einen Brief schreiben, damit sie nicht weinen und Angst um ihn haben mußte. Er schluchzte noch einmal leise, dann schlief er ein.

Als Rainer Wollhausen kurz darauf nach ihm sah, lächelte er. Na ja, so ernst hatte der Junge ihr kleines Gespräch also doch nicht genommen. Er hatte sich schon gefragt, ob er es nicht ein wenig übertrieben hatte. Aber wenn der Junge so selig schlief, dann mußte er sich wirklich keine weiteren Gedanken machen.

Zufrieden kehrte er zu seinem Sessel zurück. Hoffentlich kam Gabriele bald – dann konnten sie vielleicht doch noch einiges von dem nachholen, was sie an diesem Abend bisher versäumt hatten. Er war die Warterei allmählich leid. Wenn sie erst verheiratet waren, dann müßte sie als erstes ihren Job aufgeben!

*

Es war vorbei! Sämtliche Patienten waren behandelt worden, niemand wartete mehr auf den Fluren der Notaufnahme oder vor den Türen der Operationssäle. Zwar lagen noch immer Patienten im zum Krankenzimmer umfunktionierten Warteraum der Notaufnahme, aber die leichter Verletzten würden das Krankenhaus schon bald verlassen können. Und dann würde es auch auf den Stationen wieder Platz geben.

Adrian Winter und Gabriele Plessenstein kamen zur gleichen Zeit aus ihren Operationssälen. »Sie auch?« fragte Adrian müde. »Komischer Zeitpunkt, um sich kennenzulernen. Ich bin Adrian Winter, Notaufnahme. Gesehen haben wir uns schon einige Male.«

Sie nickte. »Ich bin Gabriele Plessenstein, neu als Chirurgin hier an der Klinik. Das war ein entsetzliches Unglück. Man hat mich zu Hause angerufen, ob ich kommen kann. Ich muß sagen, daß ich so etwas noch nie erlebt habe.«

»Ich auch nicht«, gab Adrian zu. »Obwohl einem in der Notaufnahme eigentlich sonst nichts erspart bleibt.«

Bernd Schäfer trat zu ihnen. Den Grad seiner Erschöpfung konnte man daran ablesen, daß er sich damit begnügte, Gabriele zu begrüßen, ohne bei ihrem Anblick in Verzückung zu geraten.

»Ich habe gar nicht mehr gezählt, wie viele Leute ich operiert habe«, sagte Gabriele. »Hat es eigentlich auch Todesfälle gegeben?«

Adrian nickte. »Ja, allerdings nicht hier bei uns. Alle, die hier eingeliefert worden sind, sind durchgekommen. Aber vor Ort sind einige gestorben. Und wie es in den anderen Krankenhäusern aussieht, weiß ich auch nicht. Wir haben eine kurze Pause gemacht vor einiger Zeit, da haben wir Nachrichten gehört. Es war die Rede von mindestens drei Todesfällen.«

»Schrecklich«, murmelte Gabriele. »Ich weiß gar nicht, ob ich jetzt schlafen kann. Ich bin zwar schrecklich müde, aber der Kopf ist voller furchtbarer Bilder und Töne. Allein die Schmerzensschreie können einen bis in die Träume hinein verfolgen.«

Sie gingen gemeinsam zu den Fahrstühlen. Adrian fragte sich, ob Konrad Eder vielleicht doch recht hatte. Gabriele Plessenstein schien tatsächlich nicht eingebildet zu sein wegen ihrer Schönheit. Und besonders eitel war sie offenbar auch nicht, denn sie strich sich achtlos die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und machte keinerlei Anstalten, als erstes einen Waschraum aufzusuchen, um ihr Make-up aufzufrischen.

»Ich werde noch ein Glas Wein trinken und ein bißchen Musik hören«, sagte er lächelnd. »Das hilft mir meistens beim Abschalten.«

Sie sah auf die Uhr und erschrak. »Ich muß schleunigst nach Hause. Ich habe nämlich meinen Sohn in der Obhut eines Freundes gelassen – und ich fürchte, die beiden verstehen sich nicht besonders gut. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Herr Winter. Gehört hatte ich schon viel von Ihnen. Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen, Herr Schäfer.« Eilig verließ sie den Fahrstuhl.

»Auf Wiedersehen«, erwiderten die beiden wie aus einem Munde. Als sie außer Hörweite war, sagte Bernd Schäfer tonlos: »Sie hat einen Sohn, Adrian. Das macht mich völlig fertig! Eine solche Nachricht nach einer solchen Nacht!«

»Sie hat einen Sohn, aber offenbar keinen Mann, Bernd, sonst hätte nicht ein Freund bei dem Sohn bleiben müssen.«

»Da hast du auch wieder recht!« Bernds eben noch so trübsinniges Gesicht hellte sich sofort auf. »Dann ist ja noch Hoffnung.«

Adrian schwieg. Bernd und die Frauen, das war nun wirklich ein eigenes Kapitel.

Sie betraten die Notaufnahme und stellten erstaunt fest, daß Thomas Laufenberg noch immer anwesend war. Auch er sah grau und erschöpft aus, wirkte aber trotzdem sehr geschäftig.

»Sie sind ja immer noch da«, brummte Adrian nicht besonders freundlich. Der andere sollte bloß nicht denken, daß es so einfach war, ihn für sich einzunehmen.

Der Verwaltungsdirektor schien den Tonfall gar nicht wahrzunehmen. Er nickte nur und sagte sachlich: »Ich konnte noch nicht gehen, es kamen ja ständig neue Verletzte hier an. Aber in den anderen Krankenhäusern sieht es natürlich nicht besser aus als bei uns. Wie steht es oben?«

»Wir sind fertig«, antwortete Bernd Schäfer. »Im übertragenen und im wörtlichen Sinne.«

Über Thomas Laufenbergs Gesicht huschte ein schnelles Lächeln. »Ich bin auch fertig«, gestand er. »Jeder, der heute nacht hier war, ist fertig, da können Sie sicher sein. Aber ich bin froh, daß Sie es geschafft haben, alle Patienten zu retten. Das ist das Wichtigste. Und dann müssen wir die Notaufnahme räumen, sonst kann hier ja niemand arbeiten.«

»Ich weiß nicht, wohin mit den Leuten«, meinte Adrian. »Auf den Stationen liegen auf jedem Flur Patienten, die Zimmer sind alle überbelegt.«

»Ja, ich weiß.« Noch immer klang Thomas Laufenbergs Stimme völlig sachlich. »Aber das ändert sich bald. Ich habe zwei meiner Mitarbeiter losgeschickt, damit sie ermitteln, wo Patienten in den nächsten Stunden schon wieder entlassen werden können. Da wird dann ein Platz frei – und wenn es ein Platz auf dem Flur ist. Die Notaufnahme muß jedenfalls wieder funktionsfähig sein.«

»Danke«, sagte Adrian, der wider Willen beeindruckt war von der Energie des neuen Verwaltungsdirektors und dem Durchblick, den er in dieser kritischen Situation bewiesen hatte.

»Nichts zu danken«, kam die sachliche Antwort. »Das ist mein Job.« Er nickte den beiden Ärzten zu und eilte zu seinen Mitarbeitern.

Adrian und Bernd verließen das Krankenhaus. »Du mußt deine Meinung über ihn wohl ändern«, meinte Bernd.

»So schnell nicht!« knurrte Adrian. »Da könnte ja jeder kommen. Gute Nacht, Bernd!«

»Bis morgen, Adrian. Und du bist sicher, daß sie keinen Mann hat?«

Es dauerte einen Augenblick, bis Adrian begriffen hatte, von wem er sprach. Dann lachte er. »Du bist unverbesserlich, Bernd. Sicher bin ich nicht, aber es ist die logische Folgerung aus dem, was sie gesagt hat.«

Bernd strahlte, und Adrian trat seinen Heimweg an. Was für eine Nacht, dachte er. Aber auf einmal war er nicht mehr müde, sondern fühlte sich nur noch angenehm matt. Er hatte vielen Menschen helfen können in den letzten Stunden, und deshalb war er schließlich Arzt geworden.

*

»Schläft er?« flüsterte Gabriele, als sie ihr Wohnzimmer betrat, in dem Rainer Wollhausen noch immer in einem Sessel saß und Zeitung las.

»Schon lange, was denkst du denn? Ich schlafe auch schon fast, gerade hatte ich die Hoffnung aufgegeben, daß du überhaupt noch einmal wiederkommst!«

Er wollte Gabriele an sich ziehen, doch sie wand sich aus seinen Armen und ging in Florians Zimmer. Auf Zehenspitzen schlich sie an sein Bett, zog die Decke zurecht, strich ihm über die Haare und schlich wieder hinaus.

»Na?« fragte Rainer spöttisch. »Bist du jetzt überzeugt?«

»Sei nicht albern«, wies sie ihn zurecht. »Ich wollte nur noch einmal nach ihm sehen, das ist doch normal, oder etwa nicht?«

»Normal ist, daß wir jetzt endlich ins Bett gehen«, sagte er, und diesmal schaffte sie es nicht, sich ihm zu entziehen. »Komm schon«, sagte er. »Ich habe die halbe Nacht auf dich gewartet.«

»Und ich habe die halbe Nacht operiert«, gab sie zurück. Wieso fragte er eigentlich mit keinem Wort, wie es gewesen war? Was sie erlebt hatte? Wieso nahm er keinen Anteil an dem, was sie jetzt gerade beschäftigte?

»Ist alles gutgegangen, oder habt ihr euch gestritten?« fragte sie.

Er überlegte einen winzigen Augenblick, ob er ihr sagen sollte, was er entdeckt hatte, doch er entschied sich dagegen. Dann würden sie nur noch darüber reden, und die Nacht war vorbei. »Alles bestens«, behauptete er. »Ich meine, er war ziemlich abweisend, aber das ist ja nicht ungewöhnlich. Kinder reagieren oft so. Er hat wahrscheinlich Angst, du würdest ihn weniger lieben, wenn ich auch noch da bin.«

Gabriele ging nicht darauf ein. »Ich bin müde«, sagte sie und löste sich von ihn. »Du kannst dir nicht vorstellen, welche entsetzlichen Verletzungen die Leute hatten, Rainer. Und es kamen immer mehr und immer neue, manchmal haben wir gedacht, es hört überhaupt nicht mehr auf.«

Er hatte eigentlich keine Lust, sich jetzt Horrorgeschichten aus dem Krankenhaus anzuhören, aber es würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, das ahnte er schon. Besser, er heuchelte ein bißchen Interesse, vielleicht hörte sie dann bald von selbst damit auf.

Er nahm sie erneut in die Arme. »Versuch, nicht mehr daran zu denken«, flüsterte er.

»Und wie soll ich das machen?« fragte sie. »Ich habe die Bilder vor Augen, die Schreie noch im Ohr…«

»Und wenn wir ein Glas Wein trinken und noch ein bißchen Musik hören?« fragte er. »Vielleicht hilft dir das beim Abschalten.«

Sie überraschte ihn mit einem kleinen Lachen. »Das hat Dr. Winter auch gesagt. Wein und Musik. Also gut, Rainer. Trinken wir noch ein Glas.«

»Wer ist Dr. Winter?« fragte er mißtrauisch.

»Ein Kollege, er ist der Chef der Notaufnahme. Wir haben uns zufällig getroffen, nachdem wir den letzten Patienten operiert hatten.«

Er holte den Wein aus dem Kühlschrank und schenkte ein. In dieser Nacht war ihm einiges endgültig klargeworden. Er wollte auf keinen Fall eine Frau haben, die jederzeit nachts angerufen werden konnte und dann arbeiten mußte. Das sollte alles ganz anders werden, wenn sie erst einmal verheiratet waren.

*

Frau Senftleben öffnete ihre Wohnungstür, als Adrian die oberste Treppenstufe erreicht hatte. »Die Brandkatastrophe?« fragte sie. Sie war trotz der späten oder besser der frühen Stunde putzmunter und vollständig angezogen.

»Ja«, antwortete er. »Die Brandkatastrophe.«

»Hab’ ich mir schon gedacht. Haben Sie bis jetzt operiert?«

»Ja. Vor ein paar Stunden hatte ich einen toten Punkt und konnte nicht mehr, aber jetzt fühle ich mich eigentlich ganz gut. Wir haben vielen Menschen helfen können. Und wieso sind Sie noch wach, Frau Senftleben? Es wird ja schon bald wieder hell.«

»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte sie schlicht. »Außerdem brauchen alte Menschen nicht mehr so viel Schlaf, das wissen Sie doch.«

»Alt!« protestierte er. »Wenn Sie alt sind, also dann…«

»Hören Sie auf, mir alberne Komplimente zu machen, Adrian! Trinken Sie ein Glas Wein mit mir, dann können wir beide schlafen. Oder sind Sie hungrig?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber ein Glas Wein akzeptiere ich dankbar«, meinte er. »Schlafen kann ich sowieso nicht sofort. Sie können sich nicht vorstellen, was bei uns los war.«

Sie ging in die Küche, und er folgte ihr. »Wir haben sogar die Notaufnahme zur Station umfunktionieren müssen, weil wir nicht mehr wußten, wo wir die Leute unterbringen sollten«, erzählte er weiter.

»Ich hab’s im Radio gehört«, erwiderte sie und schenkte sein Glas voll bis zum Rand. »Eine solche Katastrophe hat es in dieser Stadt schon lange nicht mehr gegeben, haben sie gesagt.«

Sie hoben ihre Gläser, stießen schweigend an und tranken.

Adrian lehnte sich zurück und merkte, wie er sich entspannte. »Das tut gut«, sagte er. »Ich hatte mir genau das vorgenommen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, daß Sie noch wach sind, deshalb dachte ich, ich höre noch ein wenig Musik, um meinen Kopf ein wenig auf andere Gedanken zu bringen.«

Sie lächelte und verließ die Küche. Gleich darauf drangen aus dem Wohnzimmer die Klänge einer Mozart-Sinfonie in die Küche, und sie kehrte zurück. »Mozart ist in solchen Situationen das Beste«, sagte sie.

Danach sprachen sie nicht mehr. Schweigend tranken sie ihren Wein, dann verabschiedete sich Adrian. Er fiel sofort in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

*

Rainer hatte sich schon sehr früh verabschiedet, weil er einen wichtigen Termin hatte. Nun saßen Gabriele und Florian am Frühstückstisch. Sie war so müde, daß sie kaum aus den Augen gucken konnte, aber irgendwie würde sie den Tag schon überstehen.

Ihrer Müdigkeit war es wohl auch zuzuschreiben, daß ihr erst sehr spät auffiel, wie still Florian an diesem Morgen war. »Sag mal, Flo, ist irgend was passiert gestern abend?« fragte sie.

»Nee, was soll denn passiert sein?« nuschelte er, während er sich eifrig Cornflakes in den Mund schaufelte.

»Das weiß ich nicht. Hast du dich mit Rainer gut verstanden?«

»Mhm.«

»Was habt ihr denn gemacht den ganzen Abend?«

»Gelesen und ferngesehen. Außerdem hat er mich ziemlich früh ins Bett geschickt.«

»Das war ja auch vernünftig«, stellte Gabriele fest. »Sei froh, daß du nicht so müde bist wie ich.«

Endlich hob er den Kopf. »Hast du viele Leute operiert?«

»Ja, so viele wie noch nie zuvor. Es war schrecklich, Flo. Eine richtige Katastrophe. Viele Menschen sind einfach aus dem Fenster gesprungen, weil sie nicht verbrennen wollten.«

Er dachte nach. »Ich glaube, das würde ich auch machen.«

Sie hob hilflos die Schultern. »Die Folgen sind so oder so schrecklich. Entweder hatten die Menschen furchtbare Brandverletzungen, oder sie hatten sich sämtliche Knochen gebrochen. Aber die meisten sind gerettet worden.« Sie sah auf die Uhr. »Wir müssen fahren, Flo, sonst kommst du zu spät!«

Er widersprach nicht, sondern stand sofort auf. Und er trödelte auch nicht wie sonst herum. Zwei Minuten später war er bereits fertig, und sie hätte ihn am liebsten gefragt, ob wirklich alles in Ordnung mit ihm war. Aber wenn er nicht reden wollte…

Sie fuhr ihn zur Schule und sah ihm mit stolzem Lächeln nach. Er war ein großartiger Junge, sie war froh, daß sie ihn hatte. Sie wartete noch, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, dann fuhr sie zurück nach Hause. Sie hatte noch ein bißchen Zeit, bis sie in der Klinik sein mußte.

*

Florian kam erst in der großen Pause dazu, Max zu erzählen, was passiert war.

»So ein Schwein!« sagte Max entrüstet. Er drückte sich immer sehr deutlich aus. »Wie du da unten aussiehst, geht ihn doch überhaupt nichts an.«

Dieser Ansicht war Florian auch. »Aber er hat immer weitergeredet«, sagte er. »Daß alle über mich lachen und daß ich nie ein richtiger Mann werde und immer am Rockzipfel meiner Mama hänge – und lauter so Sachen hat er gesagt.«

»Wir können zur Polizei gehen!« schlug Max vor. »Die nimmt ihn vielleicht fest.«

»Glaub’ ich nicht, er hat mir ja nichts getan. Nur geredet hat er. Aber das war schlimm genug.«

»Du mußt es deiner Mutter sagen«, meinte Max. »Die wird sich auch schrecklich aufregen.«

Florian schüttelte den Kopf. »Ich laufe weg. Und du mußt mir dabei helfen.«

»Du willst abhauen?« fragte Max entrüstet. »Und ich? Willst du mich allein lassen? Was soll ich denn mit den anderen Pennern hier anfangen?«

Das tat Florian gut, aber er würde seinen Entschluß dennoch nicht ändern. »Ich muß weg!« sagte er ernst. »Sonst heiratet sie ihn. Aber wenn ich weglaufe und ihr einen Brief schreibe, was passiert ist, dann jagt sie ihn weg. Und dann kann ich wieder nach Hause zurück.«

Max sah das Ganze von der praktischen Seite. »Erzähl’s ihr doch einfach«, schlug er vor. »Dann mußt du gar nicht erst weglaufen.« Er fand Florians Vorhaben einfach zu aufwendig.

»Sie glaubt mir vielleicht nicht«, entgegnete Florian bedrückt. »Er wird sagen, daß alles ganz anders war und daß ich nur übertreibe. Aber wenn ich weglaufe, dann sieht sie, daß es mir ernst ist. Deshalb will ich das machen.«

Max dachte lange nach. »Wahrscheinlich hast du recht«, meinte er schließlich. »Aber dann komme ich mit. Seinen besten Freund läßt man nicht allein abhauen.«

Florian war sehr erleichtert, dennoch widersprach er seinem Freund. »Aber dann sind deine Eltern traurig, und sie werden gar nicht verstehen, warum du auf einmal nicht mehr da bist.«

»Ich schreibe ihnen auch einen Brief«, erklärte Max.

Es klingelte zum Ende der großen Pause, und sie gingen zurück zum Schulgebäude. »Ich weiß schon, wie wir das machen«, sagte Max. »Ich erklär’s dir auf dem Nachhauseweg.«

Florian nickte, seltsam getröstet. Immerhin war er nicht ganz allein auf der Welt. Es war doch gut, einen allerbesten Freund zu haben.

In Gedanken begann er, den Brief an seine Mama zu entwerfen. Deshalb war er an diesem Morgen so unaufmerksam, daß sich die Lehrer über ihn wunderten, denn sonst war er eigentlich ein guter und wißbegieriger Schüler.

*

»Und ich habe von der ganzen Aufregung überhaupt nichts mitbekommen«, sagte Konrad Eder zu Adrian Winter, mit dem er wieder einmal einen Kaffee zusammen trank. »Ich hatte ein paar Tage frei und bin weggefahren. In der Zeitung habe ich dann von dem Brand gelesen.«

»Wir sind immer noch überbelegt«, erwiderte Adrian. »Die Notaufnahme konnte zwar geräumt werden, aber auf den Stationen liegen die Leute noch auf den Gängen.«

Konrad nickte. »Sogar bei uns auf der Kinderstation. Aber in den nächsten Tagen normalisiert sich das bestimmt wieder.«

»Ich habe übrigens mein Urteil über Frau Plessenstein revidiert«, sagte Adrian. »Sie hat auch die halbe Nacht operiert, bei der Gelegenheit haben wir uns dann offiziell kennengelernt. Wir haben ein paar Worte gewechselt, als alles vorbei war. Vielleicht hattest du doch recht. Sie wirkte tatsächlich nicht eingebildet, sondern eigentlich nur sehr nett.«

»Hab’ ich dir ja gesagt, aber du wolltest mir nicht glauben.« Konrads braune Augen lächelten.

»Wußtest du, daß sie einen Sohn hat?«

»Einen Sohn?« fragte Konrad. »Nein, davon wußte ich nichts. Und – einen Mann hat sie auch?«

»Einen Freund, wenn ich das richtig sehe. Sie hat so etwas erwähnt, daß er bei dem Jungen geblieben ist, als sie in die Klinik mußte. Sie hat allerdings ›ein Freund‹ gesagt und nicht ›mein Freund‹.«

Nachdenklich rührte Konrad in seiner Kaffeetasse. »Komisch, auf die Idee, daß sie ein Kind haben könnte, bin ich gar nicht gekommen. Dumm, nicht? Aber sie wirkt so selbständig und unabhängig, daß ich automatisch gedacht habe, sie müsse alleinstehend sein.«

»Ja, unsere Vorurteile«, sagte Adrian. »Sie spielen uns doch immer wieder nette Streiche.«

»A propos Vorurteile. Was ist mit deiner Abneigung gegen den neuen Verwaltungsdirektor? Hat sich die bei der Gelegenheit auch gegeben? Ich habe gehört, daß er die ganze Nacht auf den Beinen war und organisatorisch ziemlich viel geleistet hat.«

»Das stimmt«, gab Adrian zu. »Aber ich traue ihm nicht. Das tut er alles, um einen guten Eindruck zu machen, wenn du mich fragst. Bei vielen ist ihm das ja auch gelungen. Aber warte mal ab, was passiert, wenn wir mit unseren ganz normalen Problemen ankommen. Mehr Personal für die Notaufnahme hat er mir jedenfalls nicht bewilligt.«

»Das kann er ja auch nicht im Alleingang«, gab Konrad zu bedenken. »Sei nicht so hart, bisher hat er sich nichts zuschulden kommen lassen.«

»Wart’s ab«, wiederholte Adrian stur. »Ich sage dir, er ist ein Bürokrat, wie er im Buche steht!«

Konrad widersprach ihm nicht mehr. Wenn Adrian so ein Gesicht machte wie eben jetzt, dann konnte man sich seine Argumente sparen, das wußte er aus Erfahrung.

*

Auch an diesem Abend fand Gabriele, daß Florian stiller war als sonst, aber was sie auch versuchte, um ihn zum Sprechen zu bringen, es half nichts. Er antwortete ihr ausweichend, zumindest empfand sie es so. Schließlich rief sie die Mutter von Max an, um zu hören, ob diese etwas wußte. Vielleicht hatten sich die beiden gestritten?

Aber Max’ Mutter war nicht zu Hause, und sie hatte Max selbst am Apparat. »Sag mal, Max«, begann sie, »ist irgend was los? Flo ist so still, aber er will nichts sagen. Ihr habt euch nicht zufällig gestritten?«

»Nein!« Die Antwort kam sofort und erschien ihr ungewöhnlich heftig. »Darf Flo morgen bei mir schlafen? Ich glaube, er traut sich nicht, Sie zu fragen, weil er Angst hat, daß Sie nein sagen.«

»Warum soll ich nein sagen?« wunderte sich Gabriele. »Er übernachtet doch öfter bei dir.«

»Ja, aber das letzte Mal ist ja noch nicht so lange her«, sagte Max schnell. »Meine Mutter hab’ ich schon gefragt, sie hat nichts dagegen.«

»Ich hab’ auch nichts dagegen«, versicherte Gabriele. »Tschüs, Max, ich bin froh, daß ihr euch nicht gestritten habt.«

»Tschüs!« sagte Max und legte auf.

Gabriele ging in das Zimmer ihres Sohnes und sagte: »Ich habe gerade mit Max gesprochen.«

Er richtete sich kerzengerade auf und starrte sie an.

»Flo, willst du mir nicht endlich sagen, was los ist? Max sagt, du willst morgen bei ihm übernachten und traust dich vielleicht nicht, mich zu fragen. Was soll der Quatsch? Das macht ihr doch öfter! Ich habe ihn gefragt, ob ihr gestritten habt. Aber das habt ihr ja wohl nicht.«

»Nein«, antwortete Florian. Er wirkte jetzt wieder etwas entspannter. »Alles okay, Mama. Wirklich.«

Sie ging zu ihm. »Gute Nacht, mein Schatz. Ich mache mir aber Sorgen um dich, wenn du nicht fröhlich bist.«

»Ich bin fröhlich«, versicherte er. »Superfröhlich sogar.«

»Du bist ein Spinner«, sagte sie zärtlich und gab ihm einen Kuß. »Schlaf schön. Bis morgen.«

»Ja«, sagte er. »Bis morgen, Mama.«

Sie verließ das Zimmer und rief Rainer an. »Sag mir jetzt bitte, ob irgend etwas vorgefallen ist zwischen Flo und dir«, begann sie. »Der Junge verhält sich eigenartig.«

Rainer zögerte. Er hatte einen harten Tag hinter sich und keine Lust auf anstrengende Gespräche über Gabrieles Sohn. Dieser Junge ging ihm ohnehin gehörig auf die Nerven.

»Mit mir hat das bestimmt nichts zu tun!« behauptete er. »Wir haben doch kaum miteinander gesprochen, du weißt ja, wie er sich mir gegenüber immer verhält. Ich habe gelesen, er auch. Und dann ist er ins Bett gegangen.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Gabriele. »Er ist so in sich gekehrt, das kenne ich gar nicht von ihm.«

»Es wird etwas mit der Schule sein, mein Schatz. Sehen wir uns morgen?«

Sie zögerte kaum merklich. »Ja, gern«, sagte sie dann. »Florian will morgen bei Max übernachten.«

»Wunderbar!« Seine Stimme klang jetzt voller Wärme. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

Ja, überlegte Gabriele, als sie sich voneinander verabschiedet hatten. Warum hatte sie das nicht gleich gesagt?

*

Thomas Laufenberg, der neue Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik, grübelte über dem Stellenplan. Es war später Abend, aber tagsüber gab es immer soviel anderes zu tun, so daß er oft abends noch lange in seinem Büro saß, um Dinge aufzuarbeiten, die er während des Tages nicht geschafft hatte.

Er war ehrgeizig – aber nicht für sich selbst, sondern für die Klinik. Er wollte der Verwaltungsdirektor eines ganz besonderen Krankenhauses sein. Es sollte nicht nur medizinisch-technisch auf dem neuesten Stand sein, sondern er träumte auch davon, daß das Personal hochmotiviert und begeisterungsfähig war und gern dort arbeitete.

Von diesen Träumen wußte außer ihm selbst niemand etwas, und das war gut so. Solange er ihrer Verwirklichung noch nicht näher gekommen war, sollte das auch so bleiben. Aber eines Tages würde es ihm gelungen sein, zumindest ein paar seiner Vorstellungen in die Tat umzusetzen.

Seufzend studierte er die Abteilung, die ihn im Augenblick besonders interessierte. Die Notaufnahme. Dr. Winter und seine betonte Abwehrhaltung reizten ihn. Ein großartiger Chirurg war er, das hatte Thomas Laufenberg schon gehört. Und er war als Leiter der Notaufnahme außerordentlich beliebt, auch das hatte sich bis zu ihm herumgesprochen. Eines Tages würde es vielleicht möglich sein, daß sie einmal wie zwei vernünftige Menschen miteinander redeten, aber im Augenblick konnte Dr. Winter seine Abneigung gegen die Verwaltung im allgemeinen und den neuen Direktor im besonderen wohl noch nicht überwinden.

Er schob die Papiere von sich. Das sah in der Tat nicht gut aus für neues Personal in der Notaufnahme. Dabei hatte Dr. Winter mit seiner Klage völlig recht. Die Notaufnahme war unterbesetzt. Man mußte dringend etwas unternehmen, denn auf Dauer konnte niemand so arbeiten.

Müde schloß er die Augen. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen – und zwar möglichst bald. Aber nicht mehr in dieser Nacht, dazu war er viel zu müde. Er sah auf die Uhr. Soeben brach der neue Tag an, und er murmelte sich selber zu: »Guten Morgen, Tom!«

Dann stand er auf und verließ die Klinik.

*

Sie waren morgens gleich mit der U-Bahn aus der Stadt gefahren, hatten sich auf eine Bank in einem Park gesetzt und überprüften jetzt ihre Vorräte.

»Damit kommen wir ein paar Tage hin, ohne etwas zu kaufen«, sagte Max fachmännisch. »Das ist sehr gut, denn wir haben ja nicht viel Geld. Als erstes müssen wir jetzt die Briefe schreiben, damit deine Mutter und meine Eltern morgen gar nicht erst anfangen, sich Sorgen zu machen. Ich habe alles mitgenommen, was wir brauchen.«

»Und wo wollen wir die Briefe schreiben?« erkundigte sich Florian. »Hier draußen auf der Bank?«

»Wir müssen sparsam mit unserem Geld umgehen«, meinte Max. »In einem Café etwas zu bestellen, ist teuer. Wenn wir jetzt schon anfangen, Eis und Kuchen zu kaufen, dann müssen wir vielleicht zu früh zurück, weil wir kein Geld mehr haben. Und dann hat deine Mutter ihren Freund vielleicht noch nicht weggejagt, und wir sind ganz umsonst weggelaufen. Das wäre doch total blöd.«

Das leuchtete Florian ein. »Wir nehmen die Schultasche als Unterlage«, schlug er vor. »Darauf kann man ganz gut schreiben.«

Und so machten sie es auch: Es wurden zwei ausführliche Briefe, die nicht direkt in Schönschrift geschrieben, aber doch gut leserlich waren. Jedenfalls fanden die beiden Jungen das. Sie halfen einander bei den Formulierungen und waren am Schluß sehr beeindruckt von ihren Werken. Besonders gelungen fand Max die Wendung am Ende seines Briefes. Er hatte mit Euer Euch ewig liebender Sohn Max unterschrieben.

»So macht man das«, erklärte er. »Das habe ich in einem Buch gelesen. Damit die Eltern gleich wissen, daß man nichts gegen sie hat. Du mußt das bei deinem Brief auch machen.«

Florian nickte. Ihm gefiel die Wendung auch, und seine Mama war bestimmt glücklich, wenn sie sie las.

Als beide Briefe fertig waren, wurden sie sorgfältig gefaltet, in die bereits vorbereiteten Umschläge geklebt, und dann machten sich die Jungen auf die Suche nach einem Briefkasten.

»Bis jetzt klappt alles wie geschmiert«, stellte Max zufrieden fest. »Und wenn ich mir vorstelle, daß die anderen in der Schule sitzen, dann finde ich es richtig cool, daß wir abgehauen sind.«

Florian nickte. Er fand es nicht ganz so cool, aber das behielt er für sich. Er wollte nicht, daß Max glaubte, ihn habe der Mut verlassen – auch wenn das der Wahrheit ziemlich nahe gekommen wäre.

*

»Ist es nicht herrlich, wenn wir mal einen Abend ganz für uns allein haben?« fragte Rainer Wollhausen zärtlich und ließ seine Hand über Gabrieles Rücken gleiten.

»Ja«, gab sie zu, »das ist schön, aber ich habe trotzdem ein merkwürdiges Gefühl dabei, wenn du nur gern mit mir zusammen bist, ohne daß Florian dabei ist. Er ist nun einmal ein Teil meines Lebens, Rainer, ob dir das gefällt oder nicht.«

Es war etwas in ihrer Stimme, das ihn zur Vorsicht mahnte, und so sagte er nur sehr sanft: »Wer behauptet denn, daß es mir nicht gefällt?«

Sie rollte sich auf den Bauch und sah ihm direkt in die Augen. »Dachtest du, ich merke das nicht? Das kann ich gar nicht glauben! Ich bin doch nicht blind, Rainer. Du kannst mit ihm nichts anfangen, und du machst dir auch sonst nichts aus Kindern, das weiß ich längst. Aber ich habe einen Sohn, und ich werde ihn nicht ständig wegorganisieren, nur weil du lieber mit mir allein bist.«

Etwas an ihrem Tonfall ärgerte ihn, und so sagte er: »Ach, er ist dir also wichtiger als ich?«

»Was soll das denn heißen? Er ist mein Sohn! Ich möchte erst gar nicht in die Verlegenheit kommen, entscheiden zu müssen, wer mir wichtiger ist. Er ist mein Sohn, ich will mir ihm zusammenleben.«

»Und wenn ich nicht mit ihm zusammenleben will?« fragte er, obwohl er wußte, daß er diese Frage besser unterdrückt hätte.

»Dann tut es mir leid«, antwortete sie. »Meine Haltung wird sich nicht ändern. Ich würde ihn niemals in ein Internat geben, wie du dir das so schön ausgedacht hast. Niemals!«

Allmählich wurde er richtig wütend. »Da würden sie ihn auch ganz schön aufziehen!« platzte er heraus.

Mit einem Ruck richtete sie sich auf. »Was soll das heißen?« fragte sie scharf.

»Ach, komm schon!« sagte er. »Du hättest mir ruhig sagen können, was mit ihm los ist.«

»Was ist mit ihm los? Wovon redest du?«

»Daß er keine Eier hat!« antwortete er brutal.

Sie wurde blaß, aber auf einmal war sie sehr ruhig. »Mach, daß du aus dieser Wohnung kommst«, sagte sie leise, aber bestimmt. »Und laß dich hier nie wieder blicken, hörst du! Nie wieder!«

Er starrte sie an, dann fing er an zu lachen. »Ach, komm schon, Schatz, wir wollen uns doch diesen Abend nicht verderben. Ich habe ihn nackt gesehen, und es wäre mir vielleicht noch nicht einmal aufgefallen, wenn er nicht so verzweifelt versucht hätte, es zu verbergen.«

»Was ihm offenbar nicht gelungen ist«, stellte sie mit kalter Stimme fest. »Wahrscheinlich hast du hartnäckig versucht herauszufinden, was er verbergen wollte.«

»Was soll denn das jetzt wieder heißen?« fragte er. »Es ist schließlich das Natürlichste von der Welt, daß Menschen, die sich nahestehen, einander auch einmal nackt sehen…«

»Sicher ist es das«, erwiderte sie. »Wenn beide Seiten das so sehen. Flo hat aber zu diesem Thema bestimmt eine andere Meinung als du. Außerdem steht ihr beiden euch nicht nahe. Und jetzt verschwinde – und zwar ein bißchen plötzlich.«

Er begriff erst jetzt, daß sie es ernst meinte, und wurde wieder wütend. »Bitte schön!« sagte er. »Es ist zwar überhaupt nichts passiert, aber offenbar hast du einen Vorwand gebraucht, um dich mit mir zu streiten. Ich gehe, aber eines sage ich dir: Wenn ich jetzt diese Wohnung verlasse, siehst du mich nicht wieder.« Er sah sie an in der Erwartung, diese Drohung werde sie zum Einlenken bewegen.

Doch Gabriele stand auf und verließ das Zimmer. In der Tür wandte sie sich noch einmal um. »Verschwinde!« wiederholte sie mit Nachdruck. »Je schneller, desto besser!«

*

»Mir ist kalt«, sagte Florian. Er sehnte sich nach seiner Mama, die ihm einen Gutenachtkuß geben sollte, und nach seinem warmen Bett. Außerdem zweifelte er mittlerweile heftig daran, daß Weglaufen wirklich so eine gute Idee gewesen war.

Auch Max war ruhiger und nachdenklicher geworden. Tagsüber war das alles noch lustig und aufregend gewesen, daß sie weggelaufen waren und die Schule geschwänzt hatten. Aber jetzt war es dunkel, und auch wenn er nicht besonders ängstlich war, so ertappte er sich doch dabei, daß er sich immer wieder umsah, ob ihnen auch wirklich niemand folgte, der sie überfallen wollte. Alle Grusel- und Abenteuergeschichten fielen ihm wieder ein, die er jemals gelesen oder im Fernsehen gesehen hatte.

»Wir müssen eine verlassene Scheune finden, in der wir schlafen können«, sagte er und versuchte, seine Stimme fest und sicher klingen zu lassen. »Da ist es warm, und keiner kann uns etwas tun.«

»Aber wie sollen wir denn so eine Scheune finden?« fragte Florian verzagt. »Es ist doch ganz dunkel, und wir können nicht mehr gut sehen.«

»Scheunen gibt es hier massenhaft!« behauptete Max. »Hier gibt es Bauernhöfe, also gibt es auch Scheunen. Und so dunkel, daß man nichts sehen kann, ist es nun wirklich nicht.«

Florian widersprach ihm nicht, aber sein Mut sank noch weiter. Sie waren ganz allein, niemand war da, um ihnen zu helfen. Am liebsten hätte er geweint, aber das ging natürlich nicht, denn dann hätte er sein Gesicht verloren.

»Aber Bauern haben immer Hunde«, wandte er ein. »Und die bewachen bestimmt die Scheunen, dann kommen wir da gar nicht ’rein.«

»Die bewachen den Hof, aber nicht die Scheune«, behauptete Max, der keine Ahnung hatte, ob das stimmte, was er sagte. Aber er wollte einfach keine Angst haben, und deshalb fing er jetzt auch noch fröhlich an zu pfeifen.

»Sei doch still!« sagte Florian ängstlich. »Sonst wissen die Bauern doch gleich, daß wir kommen, und passen auf, daß wir nicht in ihre Scheunen gehen.«

Also verstummte Max, denn die Richtigkeit von Flos Argumenten war nicht von der Hand zu weisen. Schweigend marschierten sie weiter, und wenn ihnen jemand entgegenkam und sie erstaunt ansah, dann redeten und lachten sie eifrig, damit nur niemand auf die Idee kam, sie zu fragen, was sie so spät allein noch auf der Straße zu suchen hätten.

Es waren aber sowieso kaum Leute unterwegs, und endlich rief Max mit unterdrücktem Triumph in der Stimme: »Da vorn, guck doch mal! Die Scheune ist ideal! Flo, dort werden wir schlafen.«

»Da ist aber eine Mauer«, wagte Florian einzuwenden.

»Da klettern wir drüber, die ist doch nicht hoch.«

Besonders hoch war sie wirklich nicht, das stimmte. »Na gut«, sagte Florian. »Ich bin nämlich ziemlich müde. Und Hunger habe ich auch.«

»Wenn wir in der Scheune sind, essen wir erstmal, und dann schlafen wir wie die Murmeltiere«, behauptete Max. »Los, über die Mauer, dann über die Wiese – und hinein in die Scheune.«

Florian wurde bewußt, daß er in der letzten halben Stunde sicherlich keine große Hilfe für Max gewesen war. Dabei war dieser aus lauter Freundschaft zu ihm weggelaufen – er hatte ja eigentlich gar keinen Grund dazu gehabt. Jedenfalls beschloß Florian jetzt, als erster über die Mauer zu klettern.

Sie war nicht sehr hoch, aber für einen Siebenjährigen immer noch hoch genug, und Florian war froh, als er endlich oben war. Auf der anderen Seite war es stockfinster, kein Lichtstrahl verirrte sich dorthin. Wenn er hinuntersprang, wußte er nicht, wo er landen würde.

»Und?« fragte Max von unten. »Wie sieht’s aus?«

»Ich kann überhaupt nichts sehen auf der anderen Seite. Total dunkel«, berichtete Florian.

»Warte«, meinte Max, »ich komme auch hoch.«

Aber das war leichter gesagt als getan, denn Max hatte Florian von unten geschoben, aber das konnte Florian nun nicht tun, denn er war ja schon oben. Er setzte sich rittlings auf die Mauer, um sicherer zu sitzen, und streckte seine Hand aus. »Komm, ich zieh dich rauf!« sagte er.

»Aber fall bloß nicht runter«, meinte Max.

»Nein, mach’ ich nicht«, versprach Florian. »Ich sitze hier oben ganz fest und sicher.«

Max ergriff seine Hand und zog sich hoch. Er hatte es gerade geschafft und landete schwungvoll neben seinem Freund, als dieser doch noch das Gleichgewicht verlor. Vergebens versuchte Max, ihn festzuhalten, doch er hatte selbst Schwierigkeiten, die Balance nicht zu verlieren. Also fiel Florian auf die andere Seite in die Dunkelheit.

»Verdammter Mist!« schimpfte Max.

Florian schrie auf, danach gab es ein platschendes Geräusch, gefolgt von einem häßlichen Krachen und Knirschen, und dann war alles still.

»Flo!« rief Max voller Panik. »Was ist passiert? Ist alles in Ordnung bei dir da unten?«

Er bekam keine Antwort.

*

Dr. Adrian Winter und Dr. Konrad Eder hatten in derselben Woche Nachtdienst, und diesen Umstand nutzten sie, um die eine oder andere ihrer Pausen zusammen zu verbringen. »Sonst würden wir uns wahrscheinlich überhaupt nicht mehr treffen«, stellte Konrad fest. »Wie sieht’s denn aus bei euch nach den Aufregungen der letzten Zeit?«

»Alles wieder normal. Und heute nacht war es bisher noch ziemlich ruhig«, stellte Adrian fest. »Wenn es so bleibt, habe ich nichts dagegen, da ist Nachtdienst direkt erholsam.«

Konrad lachte. »Bei mir ist es ähnlich, nur eines der Kinder bereitet mir ein bißchen Kummer. Aber die anderen schlafen alle und weinen heute nacht nicht einmal nach ihren Eltern.« Er sah Adrian an. »Daß Frau Plessenstein einen Sohn hat, geht mir nicht aus dem Kopf.«

»Ich hätte meinen Mund halten sollen«, sagte Adrian voller Reue. »Jetzt wirst du dich nie mehr trauen, sie anzusprechen, wie ich dich kenne.«

»Du kennst mich schlecht«, widersprach Konrad lächelnd. »Ich warte nur darauf, daß meine Stunde schlägt. Es ist noch zu früh, das weiß ich.«

Adrian sah ihn kopfschüttelnd an. »Manchmal kann ich mich über dich nur wundern. Aber wahrscheinlich hast du sogar recht. Du hattest ja auch sonst recht. Sie scheint wirklich nett zu sein.«

Konrad nickte, ein sanftes Lächeln im Gesicht. »Ja«, sagte er leise. »Das ist sie auch. Und wahrscheinlich hat sie auch einen sehr netten Sohn – jedenfalls, wenn er ein bißchen Ähnlichkeit mit seiner Mama hat.«

»Aber in Wirklichkeit ist es der Freund, der dich beschäftigt, oder?« fragte Adrian. »Gib’s zu, Konrad: Du denkst weniger über den Sohn nach als über den Freund.«

Konrad schüttelte den Kopf. »Nein, tue ich nicht. Sie hätte einen anderen Ausdruck in den Augen, wenn sie glücklich wäre, das habe ich dir doch schon gesagt.«

»Ich bin wirklich gespannt, wie diese Geschichte weitergeht«, meinte Adrian. »Im Augenblick ist es ja noch gar keine Geschichte, aber wenn ich dich höre, mit welcher Sicherheit du davon ausgehst, daß es eine werden wird… Also, ehrlich, so sicher möchte ich auch mal sein.«

Konrad lachte. »Na ja, wenn ich ehrlich bin, dann spiele ich dir manchmal auch was vor. Besonders, wenn mich mal wieder komplett der Mut verlassen hat. Das passiert ungefähr alle zwei Tage.«

Sie lachten beide und standen auf, um sich wieder an die Arbeit zu machen. »Weiterhin eine ruhige Nacht, Adrian«, wünschte Konrad.

»Und dir noch schöne Träume«, gab Adrian anzüglich zurück.

*

Gabriele Plessenstein konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Als Rainer Wollhausen gegangen war, hatte sie zunächst geweint – aber mehr vor Wut als vor Kummer. Es war ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, daß sie mit diesem Mann niemals glücklich werden konnte. Und er würde nie ein zweiter Vater für Florian werden. Durch die herzlose Art, in der er sich an diesem Abend geäußert hatte, waren auch ihre letzten Zweifel verflogen, und sie sah auf einmal so klar, daß sie sich selbst nur wundern konnte, warum sie diese Einsichten nicht schon viel früher gehabt hatte.

Doch das stimmte natürlich nicht, denn eigentlich hatte sie es längst gewußt, sagte sie sich nun. Aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen – aus Angst, wieder für lange Zeit allein zu sein. Merkwürdigerweise war sie nicht nur wütend und traurig, sondern sie fühlte sich auch befreit, und das wunderte sie nicht wenig.

Sie lief in ihrer Wohnung herum und hätte am liebsten bei Max’ Eltern angerufen, aber es war viel zu spät. Sie hätte so gern noch mit Flo gesprochen und ihn gefragt, was genau Rainer gesagt hatte. Florian war sehr empfindlich, ein falsches Wort konnte bei ihm viel Unheil anrichten. Allerdings würde sie bis zum nächsten Tag warten müssen. Vielleicht konnte sie ja morgens vor der Schule anrufen? Aber dann würde er vielleicht das Gefühl haben, daß sie ihn wie ein Baby behandelte, und das konnte er überhaupt nicht leiden.

Sie seufzte unglücklich. Also würde sie warten, bis er ganz normal nach Hause kam – dann erst würde sie mit ihm reden. Und sie konnte nur hoffen, daß er ihre Fragen aufrichtig beantwortete.

Erneut fühlte sie Wut auf Rainer in sich hochsteigen. Dieser elende Egoist, dachte sie. Fehlt nur noch, daß er spöttische Bemerkungen gemacht hat. Dann wüßte ich auch, warum der Junge so bedrückt gewirkt hat. Schlagartig unterbrach sie ihre Wanderung durch die Wohnung und blieb wie angewurzelt stehen. Natürlich, das war der Grund gewesen. Wieso hatte sie das nicht gleich gewußt?

Sie beschloß auf der Stelle, am nächsten Tag Flos Lieblingsgericht zu kochen und ein langes, liebevolles Gespräch mit ihm zu führen, sobald er nach Hause kam. Und sie würde ihm vor allem erzählen, daß sie sich endgültig von Rainer getrennt hatte. Nie wieder würde dieser ihre Wohnung betreten, das stand felsenfest!

Flo würde sich sehr darüber freuen, das wußte sie. Dieser Gedanke beruhigte sie immerhin soweit, daß sie aufhören konnte, in der Wohnung herumzulaufen. Sie setzte sich in einen Sessel und schloß die Augen. Ganz allmählich wurde sie etwas ruhiger.

*

Max hatte noch ein paarmal verzweifelt nach Florian gerufen und sich dann vorsichtig an der Mauer hinuntergleiten lassen. Nach einigen Augenblicken hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte feststellen, was passiert war: Ein Steinbasssin voller Wasser stand genau dort, wo Florian von der Mauer gefallen war. Aber sein Freund war nicht in der Mitte des Beckens aufgeschlagen, sondern am Rand – das was das gräßliche Knacken gewesen, das Max gehört hatte!

»Flo!« flüsterte er und fragte sich einen schrecklichen Augenblick lang, ob sein Freund wohl tot sei. Florian gab keine Antwort. Er hing, merkwürdig verdreht, halb im Wasser und halb auf der steinernen Einfassung des Beckens.

Max erwachte aus seiner Erstarrung. Flo war garantiert nicht tot! Er versuchte, ihn aus dem Becken zu ziehen, doch das war viel schwieriger als gedacht. Sein Freund schien auf einmal tonnenschwer, und Max kam richtig ins Schwitzen, bis er ihn endlich aus dem Wasser gezogen hatte. Dann bettete er ihn neben dem Bassin auf den Boden. Eilig kramte er eine der Decken aus seiner Tasche und wickelte sie um Florian, der sich noch immer nicht rührte.

Max klopfte ein bißchen gegen seine Backe – das hatte er schon mal in einem Film gesehen, daß man das so machte. Im Film wachten die Leute dann immer hustend und spuckend auf, und alles war wieder gut. Aber Florian hatte gar kein Wasser geschluckt, deshalb hustete er auch nicht. Allerdings wachte er auch nicht auf.

Max überlegte, was er nun tun sollte. Er mußte Hilfe holen, das war klar. Allerdings mußte er Flo dazu allein hier liegen lassen, und das gefiel ihm gar nicht. Doch er sah schnell ein, daß ihm nichts anderes übrigbleiben würde.

Ein letztes Mal sagte er: »Flo! Hörst du mich?« Er bekam wieder keine Antwort. Er richtete sich auf und sah sich um. Der Bauernhof, zu dem die Scheune vermutlich gehörte, lag nicht allzu weit entfernt. Dorthin würde er laufen. Er mußte sich beeilen, deshalb schob er alle Gedanken an das, was passieren würde, weit von sich und rannte los. Er rannte so schnell wie noch nie in seinem Leben, und später wußte er nicht mehr, ob es die Angst vor der mittlerweile ziemlich dunklen Nacht gewesen war, die ihn gejagt hatte – oder die Angst um seinen Freund Florian, der stumm und reglos neben einem steinernen Wasserbecken auf einem fremden Grundstück lag.

*

Der Bauer Johann Friedrichs schimpfte und knurrte, als er durch lautes Geschrei und Gehämmer an der Haustür aus tiefstem Schlaf geweckt wurde. Der Hund schlug an, und allmählich wurde Johann Friederichs richtig wach.

»Was ist denn los?« fragte seine Frau schlaftrunken.

»Das werden wir gleich wissen«, antwortete er grimmig und stieg aus dem Bett. Er warf sich einen alten Bademantel über und lief nach unten. Wer wagte es, mitten in der Nacht wie ein Verrückter an seine Tür zu hämmern?

Als er unter weiterem Gebrumm und Geschimpfe öffnete, starrte er verblüfft auf den zitternden Jungen, der mit blassem Gesicht und Augen, die vor Angst riesengroß waren, vor ihm stand.

»Ja, da soll doch…!« rief er. »Was ist denn mit dir los, Jungchen? Komm rein, du zitterst ja wie Espenlaub!«

Aber der Junge schüttelte den Kopf und wies mit seinem rechten Arm hinter sich in die Dunkelheit. »Mein Freund!« keuchte er. »Bitte, er ist von der Mauer gefallen, halb in Ihr Wasserbecken. Er ist ohnmächtig, ich weiß nicht, ob er vielleicht tot ist…«

»Wovon redest du denn?« fragte der Bauer erschrocken. »Nun mal ganz langsam. Was ist passiert?«

Aber nun fing Max an zu schreien und zu weinen und rief: »Nicht langsam, schnell, schnell, sonst stirbt Flo. Rufen Sie einen Rettungswagen, bitte. Er braucht einen Arzt, sonst stirbt er – ganz bestimmt!«

Die Bäuerin erschien nun ebenfalls und fragte: »Was ist denn los?«

»Mein Freund liegt neben Ihrem Wasserbecken!« schrie Max, weil diese Erwachsenen einfach nicht begreifen wollten, was er sagte. Wie konnten sie nur so schrecklich langsam sein, wo es doch eilig war, Flo zu retten. »Er ist von der Mauer gefallen und bewußtlos und braucht einen Arzt. Bitte, rufen Sie einen Rettungswagen, bitte. Sein Bein ist ganz verdreht, und er sagt nichts mehr.«

Die Bäuerin hatte schon den Telefonhörer in der Hand. »Ich rufe an, und du holst den Jungen ins Haus«, sagte sie zu ihrem Mann.

Johann Friedrichs nickte. Mittlerweile war er hellwach, und allmählich verstand er auch, was Max sagte. »Einen Augenblick noch, Jungchen!« brummte er. Er lief die Treppe wieder hinauf, zog sich in Windeseile ein paar Sachen über, nahm eine starke Taschenlampe mit und rannte wieder nach unten.

»Auf geht’s, Jungchen. Ich habe eine Lampe dabei, dann finden wir ihn schneller.«

Max sagte nichts, er rannte

bereits wieder los, und Bauer Friedrichs folgte dem Jungen in die schwarze Nacht.

*

»Adrian!« rief Schwester Monika. »Zwei siebenjährige Jungen werden gleich gebracht, der eine ist offenbar bei einem Sturz von einer Mauer schwer verletzt worden, der andere hat einen Schock oder ist zumindest sehr durcheinander. In fünf Minuten sind sie hier.«

»Sturz von der Mauer?« fragte Adrian verblüfft. »Mitten in der Nacht? Was ist das denn für eine Geschichte?«

»Die Sanitäter konnten nichts Genaueres sagen. Sie wissen nicht, wer die Jungen sind. Der Bauer, auf dessen Grundstück das Unglück passiert ist, hat den Rettungswagen gerufen.«

Adrian schüttelte den Kopf. »Was es nicht alles gibt!« seufzte er. »Das sind also nicht die Kinder des Bauern?«

»Soviel ich weiß, nein.«

»Und wo sind die Eltern von den Kindern?«

»Keine Ahnung. Die wissen offenbar von nichts.«

»Was sind denn das für Eltern, die nicht wissen, daß ihre Kinder nachts draußen herumlaufen?« wunderte sich Adrian. »Oder meinst du, die sind erst ganz normal ins Bett gegangen und dann heimlich abgehauen?«

»Mich darfst du nicht fragen«, antwortete Monika. »Ich weiß genauso wenig wie du.«

Sie machten sich an die Vorbereitung von zwei Notfallkabinen, und Adrian sagte: »Ruf doch Dr. Eder mal an, Moni. Er hat auch Nachtdienst. Sag ihm, daß hier gleich zwei Kinder eingeliefert werden, vielleicht kann er mal kurz vorbeikommen.«

Monika Ullmann nickte und lief zum Telefon. Sie war noch nicht wieder zurück, als die Sanitäter die angekündigten Jungen brachten.

»Der Kleine hier heißt Florian und ist von einer Mauer in ein mit Wasser gefülltes Steinbecken gefallen – zum Teil ins Wasser, zum Teil auf die Steine. Dabei hat er sich ein Bein gebrochen und eine Gehirnerschütterung zugezogen. Außerdem ist er unterkühlt. Er ist jetzt wieder bei Bewußtsein. Wir haben ihm bereits eine Infusion mit Kochsalz gegeben«, berichtete einer der beiden Männer.

Dann wies er auf den Jungen, der mit einem weiteren Sanitäter langsam hereinkam. »Und das ist Max, der Junge, der zu dem Bauern gelaufen ist und um Hilfe gerufen hat. Der Schock, den er bekommen hat, wirkt erst jetzt.«

»Vielen Dank«, sagte Adrian zu den Männern, die sich sofort wieder verabschiedeten.

»Kümmere dich zuerst einmal um Max«, meinte er leise zu Schwester Monika, die gerade zurückkehrte. »Er hat einen Schock. Versuch ihm ein paar Informationen zu entlocken, damit wir wissen, was eigentlich passiert ist, und gegebenenfalls die Eltern verständigen.«

»Dr. Eder kommt, sobald er kann. In einer halben Stunde etwa«, erklärte sie. Dann legte sie Max einen Arm um die Schultern und sagte freundlich: »So, und du brauchst erst einmal etwas Warmes zu trinken, glaube ich. Komm mal mit, Max. ich heiße Moni.«

Mit gesenktem Kopf trottete er neben ihr her.

Adrian Winter und Julia Martensen zogen Florian unterdessen vorsichtig die nassen Sachen aus, denn der Junge klapperte laut mit den Zähnen.

»Florian?« fragte Adrian. »Du heißt doch Florian?«

»Ja«, kam die leise Antwort.

»Sag uns bitte genau, wo es dir weh tut. Machst du das?«

»Mein Bein!«

Julia hatte die Hose mittlerweile aufgeschnitten, weil es unmöglich war, sie über das verletzte Bein zu ziehen, ohne dem Jungen Qualen zu bereiten. Sie untersuchte es rasch und sagte: »Es ist gebrochen. Er muß sehr unglücklich gefallen sein.«

Adrian tastete vorsichtig Florians Bauch ab. »Tut das weh?«

»Nein«, wisperte der Junge. »Nur mein Bein. Und mein Kopf. Mir ist schrecklich kalt.«

»Wir brauchen warme Dekken«, sagte Adrian. »Und wir sollten ihm eine erwärmende Infusion geben. Danach muß er in den OP, das Bein muß operiert werden, es ist ein komplizierter Bruch.«

»Ich hole die Decken«, erklärte Julia und verschwand.

»Ich will meine Mama sehen.«

»Sie kommt, sobald wir sie erreicht haben«, sagte Adrian beruhigend, während er seine Untersuchung fortsetzte.

Als Julia mit den Decken zurückkehrte, meinte er: »Innere Verletzungen hat er offenbar nicht, also können wir ihn wenigstens hier noch aufwärmen.«

Julia beugte sich über den Jungen und sagte leise. »Er hat Kryptorchismus, Adrian.«

Adrian nickte. »Ja, ich habe es gesehen. Aber darüber reden wir später, das ist im Augenblick das geringste Problem.«

Sie hüllten den Jungen in die angewärmten Decken. Noch immer klapperten seine Zähne. »Ich werde ihm ein Schmerzmittel geben«, meinte Adrian. »Und dann sollten wir ein OP-Team vorwarnen.«

Schwester Monika kam und sagte leise: »Könnt ihr bitte mal mit mir nach draußen kommen?«

Sie folgten ihr verwundert. »Was ist los?« fragte Adrian.

»Das ist Frau Dr. Plessensteins Sohn«, antwortete sie. »Florian Plessenstein, so heißt er. Und sein Freund heißt Max Sennelaub. Er hat mir eine ziemlich wirre Geschichte erzählt, aber was ich verstanden habe, ist: Sie sind gemeinsasm weggelaufen, weil Frau Plessensteins Freund sich über Florian lustig gemacht hat. Auf welche Weise, weiß ich nicht, das will der Junge nicht sagen. Es muß etwas mit seinen Geschlechtsteilen zu tun haben.«

»Seine Hoden sind noch in der Bauchhöhle oder im Leistenkanal«, erklärte Adrian. »Das haben wir gerade festgestellt.«

Schwester Monika nickte. »Dann ist das ja geklärt. Jedenfalls sind sie weggelaufen, damit die Mutter einen Schrecken bekommt und sich von ihrem Freund trennt. Wie gesagt, das ist die Geschichte, die ich verstanden habe.«

»Ach, du liebe Güte«, murmelte Adrian. »Dann werde ich jetzt mal unsere Kollegin Plessenstein anrufen. Und danach die Eltern von Max. Das ist ja wirklich eine schöne Geschichte.«

»Und was machen wir mit Florian?« fragte Julia Martensen.

»In den OP, sobald er aufhört, mit den Zähnen zu klappern – und wenn die angewärmte Infusion durchgelaufen ist«, bestimmte Adrian. »Außerdem muß er noch geröntgt werden wegen seiner Gehirnerschütterung. Moni, sag bitte oben Bescheid, daß sie in der nächsten Stunde einen Jungen mit einem offenen Beinbruch operieren müssen.«

Seufzend ging Adrian zum Telefon. Während er wählte, fragte er sich, ob er Frau Plessenstein überhaupt zu Hause antreffen würde. Sie mußte doch außer sich vor Sorge sein darüber, daß ihr Sohn verschwunden war. Wahrscheinlich war sie längst verzweifelt auf die nächste Polizeistation gelaufen.

*

Als das Telefon klingelte, saß Gabriele direkt daneben. Sie erschrak, dachte aber nicht daran, den Hörer abzunehmen. Es konnte nur Rainer sein, und er war wirklich der letzte Mensch, mit dem sie jetzt sprechen wollte. Sie hatte den Anrufbeantworter eingeschaltet und wartete darauf, was er zu sagen hatte.

Doch es war nicht Rainers Stimme, die gleich darauf erklang. Es war ein Mann, den sie nicht sofort erkannte, bis er seinen Namen nannte. »Frau Plessenstein, sind Sie zu Hause? Oder schlafen Sie? Wenn Sie zu Hause sind, dann heben Sie doch bitte ab, es ist dringend. Hier ist Adrian Winter von der Notaufnahme – wir haben uns kürzlich kennengelernt. Ihr Sohn ist mit einem Beinbruch bei uns eingeliefert worden, und er hat schon nach Ihnen gefragt. Ich weiß, daß Sie…«

Gabriele riß den Hörer von der Gabel und schaltete zugleich den Automaten aus. »Herr Winter?« rief sie. »Was sagen Sie da? Florian hat sich ein Bein gebrochen? Wie ist das passiert? Ist es schlimm?«

»Nun ja«, antwortete Adrian zögernd, »es ist ein offener Bruch, und er hat außerdem eine Gehirnerschütterung und ist völlig unterkühlt, weil er ins Wasser gefallen ist…«

»Aber wo denn? Und wieso mitten in der Nacht?« rief sie.

»Haben Sie ihn denn noch nicht vermißt?«

»Er wollte bei seinem Freund Max übernachten«, antwortete sie.

»Der ist auch hier. Er hat einen Rettungswagen gerufen, und jetzt steht er unter Schock. Es scheint eine längere Geschichte zu sein.«

»Ich komme!« rief sie. »Wird er schon operiert?«

»Noch nicht, wir wärmen ihn erstmal auf. Aber der OP ist bereits verständigt.«

»Warten Sie noch!« bat sie. »Ich will vorher mit ihm sprechen, das wird ihn beruhigen. Bis gleich, in einer Viertelstunde bin ich da.« Sie legte auf und hatte kaum fünf Minuten später die Wohnung verlassen.

*

Dr. Konrad Eder kam in die Notaufnahme, als Adrian seine Gespräche mit Gabriele Plessenstein und Frau Sennelaub, Max’ Mutter, gerade beendet hatte.

»Schwester Monika sagte, daß ihr zwei Jungen hier habt, Adrian?« fragte er.

»Gut, daß du kommst«, erwiderte dieser ernst. »Einer davon ist der Sohn von Frau Plessenstein.«

»Was sagst du da? Was ist passiert?« fragte Konrad.

Adrian erzählte ihm, was er wußte, und fügte dann hinzu: »Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Die beiden sind jedenfalls weggelaufen, soviel steht fest. Frau Plessenstein ist auf dem Weg hierher, sie will noch kurz mit dem Jungen reden, bevor er operiert wird. Und ich hätte gern, daß du mit seinem Freund sprichst, er heißt Max und ist ziemlich durcheinander.«

Konrad Eder nickte. »Natürlich«, sagte er ruhig. »Wo ist er denn?«

Adrian zeigte ihm den Weg, und gleich darauf setzte sich der junge Kinderarzt neben die Liege, auf der Max lag. Der Junge war noch immer sehr blaß und zitterte. Schwester Monika hatte ihn ebenfalls in eine angewärmte Decke gehüllt, aber sie schien nicht viel zu nützen, denn das Zittern wollte nicht aufhören. Trotzdem hatte er kalten Schweiß auf der Stirn.

»Max?« sagte Konrad sanft und lächelte den Jungen an. »Ich bin Konrad Eder und arbeite hier als Kinderarzt.«

Er wartete, ob Max reagierte, doch das tat er nicht. Immerhin schien er zuzuhören.

»Deine Eltern sind auf dem Weg hierher«, fuhr Konrad fort. »Ich habe gehört, daß du dafür gesorgt hast, daß ein Rettungswagen für deinen Freund kommt – das hast du ganz großartig gemacht.«

Max zitterte noch ein bißchen stärker. »Ich dachte, er wäre vielleicht tot. Flo, meine ich. Er war so still und lag so komisch da – ich hatte solche Angst.«

Er würgte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, denn er wollte nicht anfangen zu weinen, doch der Arzt sagte: »Heul ruhig ein bißchen, das hilft. Wußtest du das nicht? Wenn man geweint hat, fühlt man sich oft viel besser.«

Er strich dem Jungen sanft über die Wange und lächelte so lieb, daß Max sich nicht länger anstrengte, die Tränen zurückzuhalten. Er schluchzte leise, dann erzählte er dem Arzt stoßweise die ganze Geschichte. Sie klang noch immer ziemlich wirr und durcheinander, aber Konrad Eder hatte schon viele Gespräche mit Kindern geführt, und er konnte sich das, was Max nicht erzählte, recht gut zusammenreimen.

»Flo kann froh sein, daß er einen so guten Freund wie dich hat«, sagte er, als der Junge schwieg. »Und du mußt um ihn keine Angst mehr haben. Er hat eine Gehirnerschütterung, deshalb war er auch bewußtlos. Und er hat sich ein Bein gebrochen. Außerdem bekommt er sicher eine böse Erkältung. Aber er wird wieder gesund werden, und das ist ja die Hauptsache, nicht?«

»Meine Eltern denken, ich schlafe heute nacht bei Flo«, schniefte Max. »Und Flos Mutter denkt, er schläft bei mir. Das haben wir uns ausgedacht, damit sie uns nicht so schnell suchen.«

»Ganz schön schlau«, meinte Konrad. »Aber habt ihr nicht daran gedacht, welche Sorgen sie sich machen würden, wenn sie euer Verschwinden bemerken?«

»Wir haben doch deshalb die Briefe geschrieben«, erklärte Max. Er wirkte jetzt schon wieder etwas lebhafter, nicht mehr so apathisch wie zuvor. Und das Zittern ließ ebenfalls nach.

»Was für Briefe?« wollte Konrad wissen.

»An meine Eltern und an Flos Mama«, antwortete Max. »Damit sie wissen, daß wir nichts gegen sie haben. Flo wollte ja nur nicht, daß dieser Rainer sein neuer Papa wird. Aber er wollte seiner Mutter keine Angst machen.«

»Ach, so ist das«, meinte Konrad. »Aber die Briefe haben sie wohl noch nicht bekommen, oder?«

»Haben wir doch vorhin erst losgeschickt.«

»Ich bin sicher, das kommt alles in Ordnung«, sagte Konrad beruhigend. »Geht’s dir ein bißchen besser?«

Max nickte. »Das Heulen hat wirklich geholfen«, erklärte er. »Vielleicht mach’ ich das in Zukunft öfter.«

»Es hilft nur, wenn man wirklich Kummer hat«, erklärte Konrad. »Nicht etwa, wenn man seinen Willen durchsetzen will und aus Trotz heult, wie kleine Kinder das manchmal machen.«

»Das mach’ ich sowieso nicht«, erwiderte Max verächtlich.

»Ich geh’ mal nach deinem Freund gucken«, sagte Konrad.

»Aber du kommst wieder!« Das klang fast wie ein Befehl, und Konrad nickte lächelnd.

*

Gabriele Plessenstein rannte vom Parkplatz aus direkt in die Notaufnahme, wo sie völlig außer Atem ankam. Adrian sah sie kommen und wartete auf sie.

»Wo ist er?« keuchte sie völlig außer Atem.

»Kommen Sie«, sagte er ruhig. »Gut, daß Sie da sind, er hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt, wir wollen ihn jetzt gern in den OP bringen.«

Gemeinsam betraten sie die Notfallkabine, in der Florian lag. Neben ihm stand Konrad Eder und sprach leise mit dem Jungen. Er lächelte Gabriele aufmunternd zu, zog sich aber sofort zurück, um sie mit ihrem Sohn allein zu lassen.

»Flo!« Mit Tränen in den Augen beugte sie sich über ihn und streichelte seine Wangen. »Warum hast du nicht mit mir gesprochen? Warum bist du einfach weggelaufen?«

Er war sehr blaß. Das Schmerzmittel und die warmen Decken hatten ihn außerdem müde gemacht. »Er soll nicht mein neuer Papa werden«, murmelte er. »Ich mag ihn nicht, Mama. Er ist gemein.«

»Er wird nicht dein neuer Papa«, flüsterte sie. »Ich habe ihn heute abend weggeschickt. Er hat sich über dich lustig gemacht, nicht wahr?«

»Er hat gesagt, ich werde nie ein richtiger Mann und hänge immer noch an deinem Rockzipfel. Das war doch gemein, oder?«

»Sogar sehr gemein«, versicherte sie und sah dabei richtig böse aus. »Aber keine Sorge, den sehen wir nicht wieder, Flo.«

»Nie mehr?«

»Nie mehr! Großes Ehrenwort. Ich war dumm, Flo.«

»Frau Plessenstein?« fragte Adrian. »Der Junge muß jetzt nach oben, wir sollten die Operation nicht länger aufschieben.«

Gabriele nickte, gab Florian einen Kuß und sagte: »Ich bleibe hier, bis alles vorbei ist. Und wenn du aufwachst, dann sitze ich an deinem Bett.«

»Und du bist nicht böse?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Ich werde jetzt noch zu Max gehen und mit ihm reden. Wir sehen uns später, mein Schatz!«

Noch einmal küßte sie ihn, dann schob Schwester Monika das Bett aus der Kabine. Als Gabriele den Flur betrat, traf sie auf Konrad Eder, der sich leise mit Adrian Winter unterhielt. Die beiden Männer sahen auf, als sie zu ihnen trat.

»Guten Abend, Herr Eder«, sagte sie, »ich habe Sie eben gar nicht richtig gesehen.«

»Verständlich«, meinte er ruhig, »wenn man mitten in der Nacht eine solche Nachricht bekommt.«

»Kann ich mit Max reden?« fragte sie. »Vielleicht kann er mir diese ganze Geschichte etwas genauer erklären. Es gibt da noch einiges, das ich nicht verstehe.«

»Ich glaube, ich kann Ihnen weiterhelfen«, sagte Konrad. »Ich habe ausführlich mit dem Jungen gesprochen.« Er berichtete ihr von seinem Gespräch, und sie hörte ihm gebannt zu. Als Konrad wiedergab, was Max über Rainer Wollhausens Äußerungen gegenüber Florian gesagt hatte, wurde sie blaß, aber ihre Augen sprühten wahre Blitze vor Zorn und Empörung.

»Dieser Mistkerl«, sagte sie schließlich. »Ich hatte mir das schon so ungefähr zusammengereimt. Florians Hoden stecken noch in der Bauchhöhle. Als er noch ein Baby war, haben wir es mit einer Hormontherapie versucht, aber sie hat nicht angeschlagen. Ich habe ihm erklärt, daß ich mit einer Operation gern noch warten möchte, solange noch Hoffnung besteht, daß sie von selbst an die richtige Stelle wandern. Einer der Hoden bewegt sich gelegentlich und war auch schon einige Male draußen – deshalb dachte ich, ich kann Flo die Operation ersparen. Er ist so zart und war früher auch öfter mal krank… Aber mir war nicht klar, daß er jetzt in einem Alter ist, wo fehlende Hoden schon ein Problem darstellen können.«

Konrad nickte. »Ja, es scheint so zu sein, daß ihn auch schon Klassenkameraden gehänselt haben. Aber die Bemerkungen Ihres Freundes müssen ihn ganz besonders tief getroffen haben.«

»Er ist nicht mehr mein Freund«, stellte Gabriele energisch fest. »Niemand, der meinen Sohn so behandelt, ist mein Freund.«

Konrad nahm diese Aussage schweigend zur Kenntnis. Nur Adrian ahnte, was sie für ihn bedeutete.

»Trotzdem müssen wir darüber noch einmal reden, Frau Plessenstein«, sagte Konrad. »Man weiß nämlich heute, daß es nicht gut ist, wenn die Hoden zu lange in der Bauchhöhle steckenbleiben. Dort ist es zu warm, das kann auf Dauer zu Unfruchtbarkeit führen.«

Er sah, daß sie erschrak, und lächelte beruhigend. »Kein Grund zur Aufregung. Ich denke nur, daß eine Operation vielleicht doch die beste Lösung wäre. Aber das muß kein Thema sein, das Sie heute nacht beschäftigt. Sie sollten sich nur grundsätzlich mit dem Gedanken vertraut machen, daß es für Ihren Sohn besser wäre, wenn er operiert wird. Gerade auch nach dem, was jetzt passiert ist. Für seine Psyche wäre es sicherlich eine große Erleichterung, wenn seine Hoden endlich dort säßen, wo sie bei allen anderen auch sitzen.«

»Danke, daß Sie so offen mit mir gesprochen haben«, erwiderte sie leise. »Sie wissen ja, daß man als Mutter oft blind ist, wenn es um das eigene Kind geht – gerade auch als Ärztin. Ich wollte ihm die Operation ersparen, weil ich mir eingebildet habe, sie stellt eine zu große Belastung für ihn dar.«

Adrian Winter schaltete sich ein. »Das ist normalerweise ja auch richtig, Frau Plessenstein«, sagte er ruhig. »Aber Herr Eder hat recht. Denken Sie darüber nach, wenn diese ganze Geschichte überstanden ist.«

Einen Augenblick schwiegen sie alle drei. Dann sagte Gabriele: »Ich danke Ihnen beiden sehr. Sie haben mir mehr geholfen, als Sie sich vielleicht vorstellen können.«

*

Max war vor Erschöpfung eingeschlafen. Er träumte wilde Geschichten, die alle in pechschwarzer Nacht spielten. Er war mit Flo auf der Flucht vor riesigen Hunden und feuerspeienden Drachen, doch immer gelang es ihnen in letzter Sekunde, sich zu retten. Aber dann verfing er sich in einem wirren Dornengestrüpp, und als er um Hilfe rief, mußte er feststellen, daß Flo ebenfalls feststeckte. Nun konnten sie sich beide nicht mehr bewegen, und der Drachen kam näher und näher mit seinem heißen Atem, den er schon spüren konnte…

»Mäxchen, wach auf!« sagte eine Stimme, die ihm bekannt vorkam und ihn sofort tröstete. »Du hast schlecht geträumt, wach ganz schnell auf.«

Er schlug die Augen auf und blickte in das besorgte Gesicht seiner Mutter. Und direkt neben ihr stand sein Vater und sah genauso besorgt aus. Er war so sehr erleichtert, daß er am liebsten sofort wieder geweint hätte, aber er war nicht sicher, ob seine Eltern das richtig verstanden hätten. Sonst weinte er nämlich nie – jedenfalls nicht, wenn sie es sehen konnten.

»Maximilian Sennelaub«, sagte nun sein Vater. »Was machst du nur für Geschichten mitten in der Nacht!« Wie er das sagte, klang es nicht einmal besonders böse, sondern eher erleichtert, und das beruhigte Max sehr.

»Seid ihr sauer?« fragte er schläfrig. »Bitte nicht, ich kann es euch genau erklären.«

»Davon sind wir überzeugt«, erwiderte sein Vater. »Wir fahren jetzt nach Hause, da schläfst du dich richtig aus – und morgen erklärst du uns alles ganz genau. Aber nicht mehr heute nacht. Sieh mal, wer hier ist!«

»Hallo, Max!« sagte Gabriele leise. »Danke, daß du Flo nicht allein gelassen hast. Ich glaube, das war für ihn sehr wichtig.«

»Er ist ja auch mein allerbester Freund«, murmelte Max. »Wo ist er jetzt?«

»Er wird operiert, sein Bein ist doch gebrochen. Aber ich glaube, es wird ihm bald wieder gut gehen. Ich bleibe noch hier in der Klinik, bis die Operation beendet ist. Und dann warte ich noch, damit er nicht allein ist, wenn er aufwacht.«

»Und wir fahren jetzt«, sagte Frau Sennelaub. »Wir kommen morgen wieder, Frau Plessenstein, um zu hören, wie es Flo geht. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen. Und nochmals vielen Dank, Max.«

Max nickte nur. »Aber laufen kann ich nicht mehr«, sagte er und rollte sich auf die Seite. Im nächsten Moment war er schon wieder eingeschlafen. Sein Vater hob ihn hoch und trug ihn aus der Notaufnahme.

»Sollen wir noch einmal wiederkommen mit ihm, Herr Dr. Winter?« fragte er. »Weil er doch einen Schock hatte.«

Adrian wandte sich an Konrad. »Was meinst du dazu, Konrad?«

»Ich glaube, wenn er Ihnen morgen alles in Ruhe erzählen kann und wenn Sie nicht allzu sehr mit ihm schimpfen, dann wird er wieder völlig der alte sein«, antwortete der junge Kinderarzt lächelnd. »Er hatte einen Schock, weil er gedacht hat, sein Freund sei vielleicht sehr schwer verletzt oder sogar tot – aber seit er weiß, daß das nicht der Fall ist, geht es ihm schon bedeutend besser. Sie sollten ihn aber vielleicht zwei oder drei Tage zu Hause behalten und viel mit ihm reden. So wird er am besten verarbeiten können, was passiert ist.«

»Wenn Sie allerdings den Eindruck haben, daß etwas nicht in Ordnung ist«, fügte Adrian hinzu, »dann kommen Sie lieber noch einmal wieder.«

Max’ Eltern bedankten sich und verließen die Notaufnahme.

»Und Sie, Frau Plessenstein?« fragte Konrad. »Darf ich Ihnen einen Kaffee auf meiner Station anbieten, um Ihnen die Wartezeit zu verkürzen?«

Zu seiner Überraschung nickte sie und sagte: »Gern, vielen Dank. Auf Wiedersehen, Dr. Winter. Danke für die gute Betreuung meines Sohnes – und daß Sie mich sofort angerufen haben.«

»Nichts zu danken«, erwiderte Adrian und sah den beiden lächelnd nach, als sie die Notaufnahme verließen. Sie waren ein schönes Paar, rein optisch gesehen. Und sonst? Nun ja, man würde sehen. Die Zeit arbeitete offenbar für Konrad – aber das hatte dieser ja von Anfang an behauptet.

*

Thomas Laufenberg stand von seinem Schreibtisch auf und streckte sich. Auch dies war wieder ein langer Arbeitstag gewesen – er schlief in den letzten Wochen selten einmal länger als fünf oder sechs Stunden. Aber noch fühlte er sich ganz wohl dabei. Doch auf Dauer konnte er natürlich nicht die halben Nächte in der Klinik verbringen, es gab schließlich auch noch ein Leben außerhalb dieser Mauern.

Er verließ sein Büro und fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß. Er wollte den Eingangsbereich schon verlassen, als er, einer plötzlichen Eingebung folgend, den Weg zur Notaufnahme einschlug. Vielleicht hatte der störrische Dr. Winter ja Nachtdienst. Irgendwann würde er ihm sowieso sagen müssen, daß in den nächsten Monaten mit neuem Personal für die Notaufnahme nicht zu rechnen sei. Er hatte alles versucht, aber bisher keine Lösung gefunden.

Er hatte Glück und traf Adrian Winter tatsächlich an. Dieser verließ gerade eine der Kabinen und war sichtlich erstaunt, noch zu dieser späten Stunde den Verwaltungsdirektor zu sehen.

»Ist das ein Höflichkeitsbesuch?« erkundigte er sich mit kaum verhohlenem Spott in der Stimme.

»Guten Abend, Herr Dr. Winter«, sagte Thomas Laufenberg unbeirrt. »Nein, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie und dachte, ich überbringe sie Ihnen persönlich.«

»Eine schlechte Nachricht?« Adrian runzelte die Stirn und überlegte, ob der andere sich vielleicht über ihn lustig machte. »Mitten in der Nacht kommen Sie in die Notaufnahme, um mir eine schlechte Nachricht zu überbringen? Soll das ein Witz sein?«

»Leider nicht«, antwortete der Verwaltungsdirektor. »Ich habe unseren Stellenplan und unsere Finanzen ausführlichen Prüfungen unterzogen. In den nächsten sechs Monaten kann ich Ihnen bei Ihrem Personalproblem leider nicht helfen. Danach läßt sich vielleicht etwas machen.«

Adrian starrte ihn an. »Moment mal«, sagte er langsam. »Sie kommen tatsächlich mitten in der Nacht hierher, um mir zu sagen, daß Sie mir leider nicht helfen können?«

»Ich dachte«, erwiderte der andere sachlich, »daß es vielleicht besser ist, es Ihnen persönlich zu sagen, als es Sie durch eine schriftliche Mitteilung wissen zu lassen. So können Sie Ihren Ärger wenigstens wieder direkt an mir auslassen.«

Ein ganz kleines Lächeln lag in seinen Augen, aber es war zu klein, als daß Adrian es hätte entdecken können. Außerdem kannte er Thomas Laufenberg nicht gut genug, um auf solche Feinheiten zu achten.

»Das werde ich auch tun!« sagte er aufgebracht. »Wenn Sie glauben, ich nehme das hin wie ein Opferlamm, nur weil Sie sich die Mühe machen, mich mitten in der Nacht an meinem Arbeitsplatz aufzusuchen, um mir mitzuteilen, daß sich an unserer schlechten Situation nichts ändert – dann haben Sie sich gewaltig geirrt! Das ist doch bloß wieder ein Trick, um mich dazu zu bringen, daß ich endlich Ruhe gebe und aufhöre, mehr Personal zu verlangen. ›Wir tun, was wir können, Herr Winter, aber leider, leider…‹ Wenn Sie wüßten, wie oft ich das schon gehört habe! Es kommt mir allmählich zu den Ohren heraus!«

Er hatte unwillkürlich die Stimme erhoben, so daß Julia Martensen aus einer der Kabinen kam und erstaunt fragte: »Alles in Ordnung?« Dann erst erkannte sie, mit wem ihr Kollege in einen solch heftigen Wortwechsel verwickelt war, und grenzenlose Verblüffung zeigte sich auf ihrem Gesicht.

»Nichts ist in Ordnung, Julia«, antwortete Adrian. »Herr Laufenberg ist hierher gekommen, um uns zu sagen, daß wir auch in den nächsten Monaten mit zu wenig Personal auskommen müssen. Das sagt er mir persönlich mitten in der Nacht. Vielen Dank, Herr Laufenberg. Ich bin beeindruckt, daß Sie offenbar auch Überstunden machen!«

Der Verwaltungsdirektor lächelte, machte eine kleine Verbeugung und sagte höflich: »Es tut mir leid, daß Sie meinen Besuch offenbar ganz falsch aufgefaßt haben. Es war, offen gestanden, eine spontane Eingebung, noch in der Notaufnahme vorbeizugehen und zu sehen, ob ich Sie vielleicht zufällig erwische. Ich hatte mir die Zahlen gerade angesehen und dachte, je eher ich Sie informiere, desto besser. Das nächste Mal schreibe ich Ihnen, Herr Dr. Winter. Gute Nacht Ihnen allen.«

Er drehte sich um und ging. Nein, Adrian Winter war ganz und gar nicht sein Freund, daran gab es keinen Zweifel. Er würde es sich in Zukunft gut überlegen, ob er noch einmal den persönlichen Kontakt mit ihm suchte.

»Verdammt!« murmelte Adrian Winter, als Thomas Laufenberg nicht mehr zu sehen war. »Der Mann macht mich wirklich wahnsinnig!«

Julia Martensen öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloß ihn jedoch wieder. Adrian sah nicht so aus, als könne er in dieser Nacht auch noch Kritik vertragen.

*

Gabriele saß allein in dem Ärztezimmer auf der Kinderstation, während Konrad die Runde bei seinen kleinen Patienten machte. Sie hörte ihn leise mit dem Kollegen reden, der ihn vertreten hatte, solange er in der Notaufnahme gewesen war. Langsam trank sie den Kaffee, den er ihr fürsorglich eingeschenkt hatte, und versuchte, ihre noch immer reichlich wirren Gedanken zu ordnen.

Rainer hatte also sehr wohl gewußt, was mit Florian los war – er war nur zu feige gewesen, es ihr zu sagen. Sie würde ihren Sohn noch einmal ausführlich zu diesem Thema befragen, und sie konnte nur hoffen, daß Rainer keinen allzu großen Schaden mit seinen dummen und unsensiblen Bemerkungen angerichtet hatte.

Die Tür öffnete sich, und Konrad Eder kam zurück. »Alles in Ordnung«, sagte er lächelnd. »In dieser Nacht scheint es zumindest bei uns auf der Station ruhig zu bleiben.« Er sah sie prüfend an. »Sie sind noch immer ziemlich durcheinander, nicht wahr?«

»Ja«, gab sie zu. »Das bin ich. Und ich schimpfe gerade heftig mit mir. Ich habe nämlich in den letzten Tagen durchaus gemerkt, daß etwas nicht in Ordnung ist, aber Florian ist mir ausgewichen, als ich ihn danach gefragt habe. Ich hätte hartnäckiger sein müssen.«

»Ich weiß nicht, ob das viel genützt hätte«, meinte er nachdenklich. »Er mußte doch glauben, daß Sie die Sache herunterspielen würden, wenn er Ihnen davon erzählt hätte – denn dieser Mann war ja Ihr Freund. Es wäre Ihnen bestimmt schwergefallen zu glauben, daß er Florian mit Absicht verletzte, indem er ihn demütigte und verspottete. Sie haben ihm vertraut.«

»Schlimm genug!« Ihre Stimme war sehr leise, aber er verstand trotzdem, was sie sagte. »Wissen Sie, Herr Eder, mein Instinkt hat mir schon die ganze Zeit gesagt, daß das nichts werden kann. Rainer – also, mein Ex-Freund – konnte mit meinem Sohn nichts anfangen. Er wollte am liebsten, daß ich Florian in ein Internat geschickt hätte. Ich hätte mich schon von ihm trennen sollen, als er zum ersten Mal diesen Vorschlag machte. Ich bin nun mal eine Frau mit einem Kind. Und das werde ich auch bleiben.«

»Ich finde es wunderbar, daß Sie das sind«, sagte er ebenso leise wie sie. Seine Stimme war warm, und seine sanften braunen Augen lächelten sie an.

»Danke schön«, erwiderte sie verlegen. »Es tut mir gut, daß Sie das jetzt sagen. Es war eine schreckliche Nacht – auch schon, bevor der Anruf von Herrn Winter kam.«

Er fragte nicht, was sie damit meinte, er konnte es sich denken. Dann sah er, daß ihre Augen feucht wurden, und er lachte leise. »Ich habe schon Florians Freund Max vorhin den guten Rat gegeben, ruhig ein bißchen zu weinen, weil das erleichtert. Ihnen kann ich jetzt nur das gleiche empfehlen, Frau Plessenstein. Weinen Sie, es wird Ihnen gut tun. Und außer mir wird es niemand bemerken.«

Sie lachte auch, aber ihr Lachen ging schon bald in ein Schluchzen über. Er stand auf, setzte sich neben sie und nahm sie ganz selbstverständlich in den Arm. »Weinen Sie ruhig«, sagte er und wiederholte diese drei Worte noch öfter. Sie klangen wie der Refrain eines tröstlichen Liedes.

Und so weinte Gabriele. Sie weinte leise, und es schien, als könne sie gar nicht mehr damit aufhören. Aber endlich, nach ziemlich langer Zeit, beruhigte sie sich doch. Sie trocknete sich das Gesicht mit einem Taschentuch, und dann sagte sie, mit einer Stimme, die noch nicht wieder ganz fest war: »Ihr Rat an Max war ausgezeichnet. Ich glaube, es hat wirklich geholfen.«

Er strich ihr vorsichtig eine Strähne aus dem Gesicht, die ihr immer wieder in die Augen fiel. Es war eine Geste voller Zärtlichkeit.

*

Die Operation von Florians Bein verlief ohne Komplikationen. Er wurde zum Aufwachen auf die Intensivstation gebracht, aber danach sollte er gleich zu Dr. Eder auf die Kinderstation verlegt werden.

Gabriele saß an seinem Bett, wie sie es versprochen hatte, damit er sie sofort sah, wenn er aufwachte. Es war bereits Morgen, als er zum ersten Mal die Augen aufmachte, sie nur kurz ansah, »Mama«, murmelte und sofort wieder einschlief.

Sie hielt seine Hand und war unendlich froh, daß ihm nichts Schlimmeres passiert war – obwohl immer noch die Gefahr bestand, daß er eine Lungenentzündung bekam. Aber daran wollte sie gar nicht denken. Er sollte jetzt nur noch schnell gesund werden.

Und dann würde sie mit ihm über eine Operation zur Verlagerung seiner Hoden sprechen. Sie hatte in dieser Nacht viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und sie wußte auch schon, wen sie fragen würde. Sie würde Adrian Winter bitten, diese Operation durchzuführen.

Sie war am Ende wohl doch noch eingeschlafen, denn sie wurde von Florians Stimme wach, der leise fragte: »Mama, schläfst du?«

»Ja«, antwortete sie lächelnd und öffnete die Augen. »Aber nur ein ganz kleines bißchen. Und du? Wie geht es dir?«

»Geht so«, nuschelte er. »Der Kopf tut mir weh.«

»Du hast eine Gehirnerschütterung«, sagte sie. »Da tut einem immer der Kopf weh. Weißt du eigentlich, daß du großes Glück gehabt hast, Flo? Ich darf gar nicht daran denken, was euch beiden, Max und dir, alles hätte passieren können.«

»Ach«, meinte Florian wegwerfend. »So schlimm war das nicht.« Die Angst, die er gehabt hatte, war für den Moment vergessen. Jetzt fühlte er sich wie ein Held, der ein gefährliches Abenteuer siegreich bestanden hatte.

»Doch«, widersprach Gabriele. »Es war wohl so schlimm! Bei deinem Sturz auf dieses Steinbecken…« Erneut kamen ihr die Tränen, als ihr bewußt wurde, in welcher Gefahr die Jungen tatsächlich gewesen waren.

»Ach, Mama!« sagte Florian. »Nun wein doch nicht!«

»Gut«, sie schniefte noch ein bißchen, dann wischte sie sich energisch die Tränen ab, »ich weine nicht mehr, und du versprichst mir, daß du so etwas nie mehr in deinem ganzen Leben machst!«

»Weglaufen?« erkundigte sich Florian.

Sie nickte. »Weglaufen und nicht mit mir reden, wenn du Kummer hast.«

Er dachte nach. »Na gut«, sagte er schließlich großzügig. »Ich versprech’s dir. Aber, Mama…« Er brach ab und kaute auf seiner Unterlippe herum.

»Ja?« fragte sie.

»Könnte ich nicht vielleicht doch operiert werden? Ich will nicht mehr, daß mich jemand damit aufzieht.«

Sie nickte und lächelte. »Das will ich auch nicht, Flo. Ich habe ziemlich lange darüber nachgedacht und glaube, daß du recht hast. Wir sollten dich jetzt doch operieren lassen.«

Er strahlte und sah auf einmal gar nicht mehr krank und blaß aus. »Super, Mama!« sagte er.

Dann fielen ihm erneut die Augen zu, und auch Gabriele fiel noch einmal in einen unruhigen Schlaf.

*

Max schlief bis zum späten Vormittag. Als er erwachte, kam es ihm zunächst so vor, als habe er alles, was passiert war, nur geträumt. Dann aber fiel sein Blick auf seine Schultasche, aus der noch die Sachen ragten, die er eingepackt hatte, damit Florian und er ein paar Tage ›überleben‹ konnten, und er begriff, daß sie wohl wirklich ausgerissen waren.

Er sprang aus dem Bett und rannte in die Küche, wo er zu seiner großen Überraschung seine Mutter und seinen Vater vorfand. »Arbeitet ihr heute nicht?« fragte er.

»Nein, tun wir nicht«, antwortete sein Vater, und seine Mutter fragte: »Gut geschlafen?«

Max nickte. »Ich hab’ Hunger«, verkündete er. »Und dann möchte ich Flo besuchen.«

»Das haben wir uns schon gedacht. Seine Mutter hat übrigens angerufen, er hat die Operation bestens überstanden. Jetzt tut ihm noch der Kopf weh wegen der Gehirnerschütterung, aber sonst geht’s ihm ganz gut.«

Max häufte sich verschwenderisch Marmelade auf sein Brötchen, aber niemand ermahnte ihn deshalb. Er beschloß, die Gunst der Stunde zu nutzen, und schob noch einen weiteren Löffel nach. »Mann!« sagte er kauend. »Echt cool, daß ich wieder hier bin. Besonders gemütlich war es da draußen wirklich nicht.«

»Da sind wir aber froh«, bemerkte sein Vater trocken und schwenkte einen Brief. »Der kam übrigens heute morgen an. Wenn ich mir vorstelle, wir hätten diesen Brief gefunden, ohne zu wissen, daß du längst wieder wohlbehalten in deinem Bett liegst – ich glaube, wir wären verrückt geworden vor Angst um dich.«

»Echt?« fragte Max. »Aber wir haben doch extra geschrieben, um euch zu beruhigen. Da steht doch alles ganz genau drin.«

»Max!« sagte seine Mutter nun, und ihre Stimme klang so ernst und eindringlich, daß er sich ungehaglich zu fühlen begann. »Das war sehr gefährlich, was ihr gemacht habt, das ist dir doch hoffentlich mittlerweile klar?«

»Nur weil Flo von der Mauer gefallen ist…«

»Damit hat das gar nichts zu tun. Es laufen nicht nur Leute auf der Straße herum, die es gut mit kleinen Jungen meinen. Darüber haben wir doch schon oft genug gesprochen.«

»Ich bin kein kleiner Junge!« sagte Max. »Ich bin sieben und werde bald acht.«

Sein Vater stand auf, schlug beide Arme so um seinen Körper, daß Max sich nicht mehr bewegen konnte, hob ihn hoch und sagte: »Ich entführe dich jetzt. Nun wehr dich mal!«

Max versuchte es, aber sein Vater hielt ihn mit eisernem Griff fest. Da nützte es nichts, daß Max mit den Füßen trat und strampelte. Endlich ließ Herr Sennelaub seinen Sohn los. »Reicht das, um dir klarzumachen, daß du gegen einen Erwachsenen keine Chance hättest?« fragte er.

Max senkte den Kopf und nickte. »Ja«, sagte er leise. »Aber wir waren doch zu zweit, Flo und ich.«

»Erwachsene sind manchmal auch zu zweit«, erwiderte sein Vater, und dagegen konnte Max nichts mehr vorbringen.

»Ich wollte doch bloß Flo nicht allein lassen«, sagte er unglücklich. »Das wär’ doch noch viel schlimmer gewesen, wenn er allein ausgerissen wäre.«

»Das stimmt«, meinte seine Mutter. »Aber besser wäre es gewesen, ihr hättet mit uns geredet.«

»Flo hat gemeint, das nützt nichts. Seine Mutter wird eher diesem Rainer glauben als ihm.«

»Da hat Flo sich aber ganz schön geirrt«, sagte Frau Sennelaub. »Willst du uns jetzt vielleicht mal die ganze Geschichte von Anfang an erzählen?«

»Mhm«, machte Max. Eigentlich hatte er gar keine richtige Lust mehr dazu, aber als er erst einmal begonnen hatte, konnte er auf einmal gar nicht mehr aufhören zu erzählen.

*

Einige Wochen später lag Florian Plessenstein erneut auf dem Operationstisch. Es war Dr. Adrian Winter, der die Operation vornahm, durch die Florians Hoden aus der Bauchhöhle an die richtige Stelle verlegt werden sollten.

Gabriele war sehr nervös während der Operation, aber sie hatte darauf verzichtet, im OP anwesend zu sein, obwohl Adrian es ihr angeboten hatte.

»Vielleicht beruhigt es Sie, wenn Sie dabei sind«, hatte er gesagt, doch sie hatte abgelehnt. Sie kannte sich schließlich. Zuzusehen, wie ihr eigener Sohn aufgeschnitten würde, ging über ihre Kräfte.

Sie saß mit Konrad Eder in einem der Warteräume und versuchte vergeblich, ruhig zu erscheinen. Konrad hatte an diesem Tag frei und war, wie es

schien zufällig, irgendwann aufgetaucht und hatte sich neben sie gesetzt.

»Frau Plessenstein«, sagte er schließlich, »was kann ich tun, um Sie ein bißchen abzulenken? Sie helfen doch Ihrem Sohn nicht, wenn Sie sich jetzt verrückt machen! Es ist keine schwere Operation. Adrian Winter ist ein ausgezeichneter Chirurg – es gibt also überhaupt keinen Grund, so nervös zu sein.«

»Doch, den gibt es wohl«, entgegnete sie. »Ich mache mir Vorwürfe, daß ich die Operation so lange hinausgezögert habe. Das hätte ich nicht tun dürfen. Wenn er jetzt unfruchtbar bleiben sollte…«

Konrad griff nach ihrer Hand, und sie entzog sie ihm nicht. »Wenn, wenn… Das hilft Ihnen doch nicht weiter. Sie hatten gute Gründe, gegen eine Operation zu sein. Florian ist wirklich sehr zart, und als er noch jünger war, war er das ja sicher noch viel mehr. Es ist also richtig, sich das gut zu überlegen, ob man einen noch ziemlich kleinen Jungen einer solchen Operation aussetzt.«

»Danke«, sagte sie und drückte seine Hand. »Ich weiß gar nicht, was ich in den letzten Wochen ohne Sie getan hätte.«

Er ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort: »Ich denke, daß die Operation für Florian noch rechtzeitig kommt und daß Sie sich keine weiteren Sorgen darüber machen sollten. Er ist doch jetzt schon ganz aufgeregt, weil er in Zukunft nichts mehr verbergen muß. Er hat sich ja richtig auf die Operation gefreut.«

Nun lächelte sie. »Das stimmt allerdings. Seit Tagen hat er über nichts anderes mehr geredet, er konnte es gar nicht erwarten, bis es endlich soweit war.«

Noch immer hielt er ihre Hand in seiner, es fiel ihnen gleichzeitig auf. Instinktiv wollte sie ihre Hand zurückziehen, aber er hielt sie fest. »Nicht«, sagte er leise. »Ich träume schon lange davon, deine Hand zu halten.«

Sie lächelte. »Nur davon?« fragte sie.

Er zog ihre Hand an seinen Mund und küßte sie. »Davon auch«, antwortete er. Dann beugte er sich zu ihr und küßte ihre Wange. »Und davon.« Nun zögerte er einen winzigen Augenblick, aber als sie sich nicht rührte und auch nicht zurückwich, küßte er sehr zärtlich und behutsam ihren Mund. »Davon ganz besonders«, murmelte er.

»Ich auch«, flüsterte sie. »Obwohl der Zeitpunkt äußerst unpassend ist, findest du nicht?«

»Überhaupt nicht!« behauptete er, und dann mußte er sie gleich noch einmal küssen.

*

»Fertig!« sagte Adrian müde, aber zufrieden. »Von nun an wird niemand mehr den jungen Mann hänseln.«

»Wieso hat Frau Plessenstein die Operation nicht früher machen lassen?« fragte Bernd Schäfer, als sie den OP verließen. »Dazu rät man doch heute, oder?«

Adrian nickte. »Ja, früher gab es die Lehrmeinung, daß man ruhig bis zur Pubertät warten soll, ob sich die Hoden von selbst noch bewegen. Doch das gilt heute nicht mehr. Ich denke, Frau Plessenstein hatte Angst um ihren Sohn. Sie wollte eine Operation möglichst vermeiden. Aber für den Jungen ist es gut, daß er jetzt endlich genauso ist wie die anderen.«

»Das glaube ich auch«, sagte Bernd. »Stell dir mal vor, was für ein Streß das ist, wenn du ständig etwas verbergen mußt.«

»Bisher wird es noch nicht so schlimm gewesen sein«, meinte Adrian. »Der größte Streß kommt erst, wenn die Geschlechtsorgane plötzlich das Wichtigste im Leben werden. Aber damit hat Florian ja noch ein bißchen Zeit.«

Sie lachten, zogen ihre OP-Kleidung aus und traten auf den Gang hinaus. Nach wenigen Schritten blieb Bernd wie angewurzelt stehen. Adrian sah ihn fragend an, dann folgte er dem Blick seines Kollegen.

Er mußte sich ein Lächeln verkneifen. Vor ihnen im Warteraum saßen Gabriele Plessenstein und Konrad Eder Hand in Hand, und die Art, wie sie einander ansahen, sprach Bände. Er freute sich für Konrad – und auch für Gabriele, die er in den letzten Wochen schätzen gelernt hatte.

»Ich fürchte, Bernd, es wird nichts mit dir und Frau Plessenstein«, murmelte er.

Bernd nickte trübsinnig. Dann jedoch straffte er sich und sagte tapfer: »Das macht nichts. Es gibt ja auch noch andere schöne Frauen.«

»Bravo«, sagte Adrian. Dann hatten sie Gabriele und Konrad erreicht.

Gabriele sprang sofort auf. »Und?« fragte sie und suchte ängstlich in Adrians Gesicht nach irgendeinem Anzeichen von Beunruhigung.

Er lächelte. »Alles in Ordnung, Frau Plessenstein. Sie müssen sich keine Sorgen mehr machen!«

Sie stand ganz ruhig da, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Vielen Dank, Herr Winter«, sagte sie leise. »Wenn Sie wüßten, was das für Flo und mich bedeutet.«

»Ich glaube, ich kann es mir vorstellen«, erwiderte Adrian. Dann verabschiedeten sie sich voneinander, wobei er es schaffte, Konrad leise ins Ohr zu flüstern: »Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke«, flüsterte Konrad zurück.

»Was tuschelt ihr da?« fragte Gabriele.

Konrad zog sie an sich, küßte sie und sagte lächelnd: »Adrian hat mir gratuliert.«

»Wozu?« erkundigte sich Bernd Schäfer.

»Wir werden heiraten«, erklärte Konrad schlicht. »Nur Florians Segen fehlt uns noch.«

Adrian fing an zu lachen. »Nach allem, was ich so gehört habe, hast du ganz gute Chancen«, meinte er. »Der Junge hat dich längst ins Herz geschlossen.«

»Bei seiner Mutter hat es etwas länger gedauert«, sagte Konrad. »Aber ich kann sehr ausdauernd sein.«

Nun lachten sie alle, selbst Bernd Schäfer stimmte mit ein. Eigentlich, dachte er, wäre Frau Plessenstein sowieso nicht die richtige Frau für ihn gewesen…

*

Frau Senftleben stand an der Tür, als Adrian nach Hause kam. »Und?« fragte sie gespannt. »Ist die Operation gelungen?«

»Jawohl«, antwortete er, »und nicht nur das. Mein Kollege Konrad Eder und die Mutter werden heiraten. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber er hat sie wirklich nach allen Regeln der Kunst erobert.«

»Kommen Sie rein«, kommandierte Frau Senftleben. »Ich habe zur Feier des Tages eine Flasche Champagner kalt gestellt.«

»Frau Senftleben, Frau Senftleben«, murmelte Adrian und folgte ihr in die Küche. »Das ist aber doch nicht der Champagner, der hier so duftet, oder?«

»Oh«, sagte sie mit unschuldigem Gesicht. »Wenn Sie natürlich Hunger haben, können wir auch noch eine Kleinigkeit essen. Zufällig…«

»… haben Sie gerade eines meiner Lieblingsgerichte gekocht.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Frau Senftleben aufrichtig überrascht.

»Manchmal habe ich gewisse Eingebungen«, antwortete Adrian bescheiden und machte sich fachmännisch daran, die Champagnerflasche zu entkorken, die sie ihm in die Hand gedrückt hatte.

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman

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