Читать книгу Dschihad als Ausweg - Nina Käsehage - Страница 10
4.Tschetscheninnen
Оглавление»Wir sind geboren in der Nacht, als die Wölfin Junge warf.
Früh beim Löwengebrüll gab man uns unsere Namen.
In Adlernestern fütterten uns unsere Mütter,
Stiere zu zähmen lehrten uns unsere Väter.
Unsere Mütter weihten uns unserem Volke und unserem Lande.
Wenn sie uns brauchen, stehen wir ohne Furcht auf.
Wir wuchsen mit Bergadlern in der Freiheit auf.
Schwierigkeiten und Hindernisse überwanden wir mit Würde.
Eher schmelzen die Feuersteinfelsen zu Blei,
als dass wir in Leben und Kampf unsere Würde aufgeben.
Eher bricht die Erde durch die brennende Sonne,
als dass wir unsere Ehre verraten.
Nie sind wir irgendjemandem Untertan.
Entweder Freiheit oder Tod.
Ein Drittes gibt es für uns nicht.
Unsere Schwestern heilen unsere Wunden mit Liedern,
die Augen unserer Geliebten geben uns Kraft für den Kampf.
Beugt uns der Hunger, werden wir an den Wurzeln nagen.
Krümmt uns Durst, werden wir Tau vom Gras trinken.
Wir sind geboren in der Nacht, als die Wölfin Junge warf.
Diener sind wir nur Gottes, des Volkes und des Vaterlandes.«127
Die aufgeführte tschetschenische Nationalhymne zeigt sehr deutlich den Wertekanon, der jedem Tschetschenen von Geburt an vermittelt wird: Stolz, Tapferkeit, Würde, Ehre, Furchtlosigkeit, Mut, Durchhaltevermögen und der unbezähmbare Wille nach Freiheit, der von einem ausgeprägten Nationalbewusstsein und einer tief verwurzelten Frömmigkeit begleitet wird. Sie ist zugleich ein Abbild der wesentlichen Charaktereigenschaften, die im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung hinsichtlich der drei Kämpferinnen mit tschetschenischen Wurzeln sehr deutlich zutage treten werden, unabhängig davon, ob sie die tschetschenisch-russischen Kriege selber erlebt oder nur in der familiären Retrospektive erzählt bekamen. Wie im weiteren Verlauf erkennbar wird, internalisierten offensichtlich alle drei Respondentinnen den Wortlaut der tschetschenischen Nationalhymne dergestalt, als ob es sich dabei um ihr fleischgewordenes Schicksal handeln würde.
Die Interview-Partnerinnen wurden in Neu-Ossetien und Inguschetien geboren, die sich selbst als »Bruderländer« Tschetscheniens verstehen und die zu Kriegszeiten sehr viele geflohene Tschetschenen aufnahmen.128 Da sich alle drei Dschihadistinnen in der Selbstbeschreibung als Tschetscheninnen betrachten und ebenfalls primär für ›die tschetschenische Sache‹ ihrer Familien, die tschetschenischen Ursprungs sind, einstehen, werden sie in der Folge als Tschetscheninnen bezeichnet.
Die Interviews mit den Tschetscheninnen wurden in zwei deutschen Städten, hiervon eine Stadt im Norden sowie eine Stadt im Osten Deutschlands, geführt.129 Die Respondentinnen befanden sich an diesen spezifischen Orten, da sie eigenen Aussagen zufolge über nicht näher thematisierte Verbindungen zu Familienangehörigen deutscher und deutsch-türkischer Dschihadisten verfügten, die kurzzeitig bei der tschetschenisch dominierten130 Gruppe Junud al-Sham von Murad Margoshvili (Abu al-Walid al-Shishani)131 in Syrien kämpften.132