Читать книгу Dschihad als Ausweg - Nina Käsehage - Страница 8
2.Historischer Exkurs
ОглавлениеUm die besondere politische Haltung, das hervorgehobene Nationalbewusstsein und die Kriegsentschlossenheit der »Tschetscheninnen« nachzeichnen zu können, ist es ratsam, in einem kurzen Abriss die tschetschenische Geschichte und insbesondere die beiden tschetschenisch-russischen Kriege darzustellen, die aufgrund des Kräfte-Ungleichgewichts der Kriegsparteien, der verbalen General-Stigmatisierung der Tschetschenen und der damit einhergehenden Belagerungssituation ihres Landes an die derjenigen Völker erinnern lässt, an denen ein Genozid verübt werden sollte, wie bspw. die Armenier.6
Diese Annahme speist sich aus der spezifischen russischen Zielsetzung, die im Kontext beider Kriege zwischen Russland und Tschetschenien erkennbar wurde:
Das Ziel der russischen Kriegsführung bestand infolge des ersten russisch-tschetschenischen Krieges, bei dem die tschetschenischen Widerstandskämpfer die russischen Angreifer deutlich zurückgedrängt hatten,7 darin, die tschetschenische Bevölkerung aufgrund des ihr unterstellten »gemeinsamen Nationalcharakters der Immoralität und einer genetischen Tendenz zugunsten krimineller Handlungen«8 durch die russischen Medien im Rahmen des zweiten tschetschenischrussischen Krieges wie folgt diskreditieren zu lassen:
»Den Charakter dieses Feindes als Banditen, Kriminelle und als antihumane und antirussische (Personen) darzustellen. […] Diesen Feind als Fremden und als Parasiten am gesunden russischen Volkskörper darzustellen, dessen Zerstörung für jeden einzelnen russischen Staatsbürger eine heilige Sache sein sollte. […] Eine einfache Form zu finden, um die Führer des Feindes als primitiv, aufsässig, grausam und vertiert zu schildern. […] Soweit wie möglich zu vermeiden, über militärische Niederlagen der russischen Armee zu berichten. Die Opfer auf der russischen Seite zu verbergen und den Feind nach Möglichkeit als bereits geschlagen darzustellen.«9
Darauf folgend veranlasste Wladimir Putin10, der Boris Jelzin11-Nachfolger und ehemalige Inlandsgeheimdienstchef des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB),12 dass es während des zweiten tschetschenisch-russischen Krieges eine Einreise-Sperre für ausländische Nachrichtensender und Journalisten gab, so dass diese nur noch über verschlungene Pfade ins tschetschenische Landesinnere gelangen und medial bezeugen konnten, wie bspw. die Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, vier Wochen lang unentwegt durch »Bomben- und Artilleriebeschuss zerstört wurde, obwohl nur ein kleiner Teil der Bevölkerung die Gelegenheit hatte, die Stadt vorher zu verlassen«.13
Hinzu kamen die unangekündigten, menschenverachtenden und permanent stattfindenden sogenannten »Säuberungs-Aktionen« gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung, bei denen scheinbar Verdächtige nicht nur erniedrigenden Leibesvisitationen und stundenlanger Folter vor dem eigenen Zuhause ausgesetzt waren, welches in der Zwischenzeit geplündert wurde, sondern auch vielfach willkürlich in so genannte »Filtrations-Lager« gebracht wurden, die Anna Politkovskaja, als »mobile KZ’s« beschreibt.14
Nahezu mit an Hohn grenzender Menschenverachtung konstatiert der »Instruktionsbrief«, der aus der Feder russischer Generäle und des ehemaligen Geheimdienstchefs Putin stammt, folgende Unwahrheit: »[…] Dieses aussterbende Volk ist aus humanitären Gründen jahrhundertelang von Russland künstlich unterstützt worden. […].«15 Dass das tschetschenische Volk tatsächlich jedoch auf eine sehr alte Geschichte zurückblicken kann16, weil es vor Tausenden von Jahren bereits die nord-östlichen Berggebiete des Kaukasus bewohnte,17 die stets von russischen Versuchen begleitet wurden, die tschetschenische Ethnie gänzlich auszulöschen, zeigt der folgende historische Abriss, der im 18. Jahrhundert beginnt:
Von 1785 bis 1791 wurde ein ›Befreiungskampf‹18 von den alliierten nordkaukasischen Völkern, angeführt vom »tschetschenischen Scheich Mansur19, zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer gegen das russische Imperium geführt«, welcher diese Region geographisch sowie wirtschaftlich vermittels der Muriden, der sufischen Kampftruppen-Schüler, unter seine Alleinherrschaft bringen wollte.20 Hintergrund für diese Auseinandersetzung war die sogenannte Kaukasus-Linie, eine Art Grenzbefestigung, welche vom Kaspischen Meer bis zum Schwarzen Meer von Russland im Jahr 1785 gezogen worden war und darauf abzielte, die ertragreichen Ländereien der Gebirgsregion zu annektieren sowie Zölle in Bezug auf Waren zu erheben, die über tschetschenische Regionen transportiert würden.21
Im 19. Jahrhundert wurde von russischer (zaristischer) Seite aus der Versuch unternommen, sich das tschetschenische Gebiet gänzlich anzueignen und die tschetschenische Identität in eine gesamtrussische Identität zwangsweise zu transformieren.22 Im Jahr 1813 hatte sich das Zarenreich in Transkaukasien etabliert und in der Folge den Nordkaukasus zum Hinterland dieses Reiches degradiert.23 Der kaukasische Statthalter Alexej Jermolow24 wurde lt. Politkovskaja durch eine gnadenlose Kolonialisierungspolitik zum verhassten Gegner der tschetschenischen Bevölkerung, bspw. durch die Zementierung des Kosakentums vermittels einer gezielten Umsiedlungspolitik in Tschetschenien, in deren Folge zahlreiche Tschetschenen ihr Leben lassen bzw. bei Verweigerung einer Umsiedlung in die Berge mit den schlimmsten Strafmaßnahmen rechnen mussten.25 Im Jahr 1818 entstand als tschetschenische Abwehrreaktion auf diese Marter die Festung Grosjana, die Bedrohliche, die der Grundstein der heutigen Stadt Grosny ist.26
Der russische Schriftsteller Lew Tolstoi27, der als Offizier in der zaristischen Armee im Nordkaukasus eingesetzt wurde, schrieb über den Überlebenswillen des »Volkes der Tschetschenen« Folgendes:
»Der Strauch der Tatarendistel bestand aus drei Stängeln. Einer davon war abgerissen, und der Stumpf ragte wie ein abgehauener Arm empor. Aber doch stand der Strauch noch da. Er sah aus, als hätte man ihm ein Stück herausgerissen, das Innere herausgedreht, den Arm gebrochen, die Augen ausgestochen. Aber er stand da. Er steht noch immer da. Ergibt sich dem Menschen nicht, der seine Brüder rings um ihn vernichtet hat!!«28
Die tschetschenische Bevölkerung reagierte auf die Repressionen Jermolows mit Widerständen, die Jermolow niederzuringen versuchte, wodurch sich der erste Kaukasische Krieg, beginnend ab dem Jahr 1818, mit sukzessiven Unterbrechungen bis zum Jahr 1859 erstreckte.29 Im Jahr 1834 wurde der Tschetschene und berühmte Muride Schamil zum Imam ernannt und rief zum Partisanenkrieg gegen die russischen Okkupatoren auf, an dem sich zahlreiche Tschetschenen beteiligten.30 Sechs Jahre später kam es zu einem tschetschenischen Volksaufstand, in dessen Folge die Tschetschenen versuchten, ein theokratisches System, das Schamil-Imamat, auszurufen dass sich sowohl auf den bedingungslosen Gehorsam seiner Anhänger im Hinblick auf seinen Personenkult, als auch auf den sufischen Gruppenzusammenhalt stützen konnte.31 Dieses wurde jedoch nicht etabliert, da die russische Unterwerfungsstrategie von zunehmender Brutalität sowie zahlenmäßiger Überlegenheit begleitet wurde und final 1859 in der Niederlage der Tschetschenen endete, in dessen Kontext Schamil inhaftiert und Tschetschenien großflächig geplündert und zerrüttet wurde.32 Dennoch widersetzte sich das eigentlich vollkommen zerstörte Land bis zur zaristisch verkündeten, offiziellen »Befriedung« des Kaukasus im Jahr 1861 seinem Anschluss an Russland.33
Ab dem Jahr 1893 wurde in Grosny erfolgreich und sehr umfangreich Erdöl gefördert, wodurch sich ausländische Investoren und Banken vor Ort ansiedelten und ein industrieller und wirtschaftlicher Aufschwung für Tschetschenien zu verzeichnen war.34 Im Zuge folgender russischer Kriege näherten sich die Tschetschenen sogar den ehemaligen Aggressoren an und waren zum Teil auf Seiten der ehemaligen russischen Besetzer anzutreffen.35 Ihr besonderer Mut, ihre taktische Stärken im Kampf sowie ihre Entbehrungsfähigkeit, wurden von vielen Militärhistorikern lobend erwähnt.36
Zu Beginn des Jahres 1921 traten die Tschetschenen zunächst der Sowjetischen Bergrepublik (GSR) unter der Vereinbarung bei, dass die ehemals zaristisch annektierten tschetschenischen Gebiete ihnen wieder zurückgegeben, die Adaten, die seit Jahrhunderten das tschetschenische Gemeinschaftsleben regelnden Statuten, sowie das Schariat offiziell gebilligt würden.37 Ende des Jahres 1922, nachdem die GSR sich aufgelöst hatte, wurde das tschetschenische Gebiet in eine unabhängige, administrative Einheit transformiert und im Kontext der ehemaligen Sowjetunion38 im Jahr 193639 mit Inguschetien zur autonomen Republik, der tschetschenisch-inguschetischen Republik (Tschetscheno-Inguschetische Autonome Sowjetrepublik, AdSSR) ernannt,40 dessen Hauptstadt das Erdölzentrum Grosny war.41 Die muslimischen Tschetschenen bezeichnen die Inguschen und sich als Vai Nakhk, was im Tschetschenischen so viel wie »Unser Volk« bedeutet.42 Sie bilden zusammen mit Ingutschetien und Neu-Ossetien die größte ethnische Gruppe im nördlichen Kaukasus und bezeichnen einander als »Brüdervölker«.43
Ab Mitte der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts war ein spürbarer wirtschaftlicher und bildungspolitischer Aufschwung in Tschetschenien wahrnehmbar, den die Machthaber der beginnenden UdSSR zu unterbinden versuchten, indem sie in dieser Zeit im Zuge der sogenannten »Ersten Welle« eines lt. Politkovskaja »roten Staatsterrors« 35 000 Opfer, überwiegend aus angesehenen Schichten des Landes wie den Mullahs sowie vermögenden Landwirten, in Tschetschenien durch Mord, Folter und den Folgen von »Säuberungsaktionen« und miserablen Haftbedingungen infolge einer willkürlich veranlassten Inhaftierung, verschuldeten.44 Die »zweite (russische) Terrorwelle« habe 3000 Todesopfer der kurz zuvor entstandenen tschetschenischen Intelligenzija gefordert.45 Vom 31. Juli auf den 1. August 1937 seien weitere 14 000 Tschetschenen inhaftiert worden, weil diese sich aufgrund eines höheren Bildungsstandes oder sozialer Tätigkeiten von der breiten Bevölkerungsmasse unterschieden und Bildung von russischer Seite mit »Ideologie« gleichgesetzt und somit als potentielle Gefahr betrachtet wurde.46 Einige dieser Opfer wurden sofort exekutiert, während andere in Lagern interniert wurden und darin nach einem längeren Martyrium infolge der Arbeits- und Lebensbedingungen verstarben.47 Diese Verhaftungswelle dauerte bis zum Jahr 1938 an und wird in Tschetschenien als das Jahrzehnt der Repressionen tituliert, da zwischen den Jahren 1928 und 1938 über 250 000 Menschen im Zuge dieser willkürlichen Verschleppungs- und Tötungs-Aktionen ihr Leben verloren.48
Im Februar 1944 veranlasste der russische Oberbefehlshaber Josef Stalin49 aufgrund einer fälschlicherweise unterstellten Kollaboration des tschetschenischen Volkes mit den deutschen Nationalsozialisten, die Deportation des gesamten tschetschenischen Volkes in die kasachische Steppe.50 In diesem Zusammenhang wurde die Löschung sämtlicher Aufzeichnungen zur tschetschenischen Nation angeordnet, und dessen Existenz wurde als Republik von jeder sowjetischen Landkarte und aus jedem Buch entfernt, beinahe so, als ob man sie aus dem kollektiven Gedächtnis streichen wollte.51 Diejenigen Tschetschenen, die in den Bergen wohnten und sich weigerten, an dieser Deportation teilzunehmen, wurden zusammen mit ihrem Besitz und ihren Tieren verbrannt.52 Aufgrund der harten klimatischen Bedingungen während des Winters des Jahres 1944 kam im Zuge jener Deportation schätzungsweise ein Drittel der tschetschenischen Gesamtbevölkerung ums Leben.53 Die Überlebenden durften erst zum Ende der 1950er Jahre wieder nach Tschetschenien zurückkehren und seien lt. Sager bis heute ob dieser Ereignisse stark traumatisiert.54 Politkovskaja zufolge habe jeder dritte Tschetschene diese Zwangsaussiedlung selber erlebt und das daraus resultierende Trauma sei noch immer in der panischen Furcht der Tschetschenen vor einer Wiederholung dessen spürbar und ein Grund dafür, warum sie »hinter allem ›die Hand des KGB‹ aufspürten und Anzeichen für eine neuerliche Vertreibung erkennen wollten.«55
Nach dem Zerfall der UdSSR und den beginnenden Reformbemühungen des KPdSU-Parteichefs Nikita Chruschtschow versuchte sich Tschetschenien zu einer unabhängigen Republik zu erklären56, und dessen ursprüngliche Bevölkerung versuchte seit 1956 in kleinen Gruppen in ihr Heimatland zurückzukehren.57 Ihre Heimkehr wurde jedoch von den dort in der Zwischenzeit ansässig gewordenen russischen und kosakischen Siedlern behindert, indem diese die Tschetschenen nicht offiziell als Eigentümer der Ländereien und Besitztümer anerkennen wollten.58 Die Tschetschenen kämpften jedoch kontinuierlich für ihr Recht auf Rückkehr, so dass die sowjetische Regierung ihre Rückkehr offiziell genehmigte bzw. »legalisierte«, und Tschetschenien (Nokhchi Mokhk) seine Unabhängigkeit im Jahr 1957 offiziell, jedoch mit veränderten Grenzen, erlangte.59
Der Name Tschetschenien oder Tschetschene ist nicht tschetschenischen Ursprungs, sondern dem Dorf entlehnt, das die zaristischen Armeen zuerst eroberten.60 Die Tschetschenen nennen sich selber Nokhcho bzw. ihr Volk die Nokhchi Q'am (die tschetschenischen Leute) und ihre Sprache Nokhchi Mott.61
Trotz der anhaltenden Verleumdung der Tschetschenen als »unzuverlässige Menschen« durch russische Medien und der kontinuierlichen, gewaltsamen Versuche der »Russifizierung« der Tschetschenen, konnte sich Tschetschenien in den 1960er und 1970er Jahren erneut zu einem Industriezentrum ausbauen, dessen Zentrum Grosny für seine kosmopolitische Prägung und die multikulturelle Harmonie weit über die Grenzen des Landes bekannt war.62
Im Winter 1990 wurde im tschetschenischen Volkskongress die Unabhängigkeit der Republik ausgerufen und durch eine schriftliche Erklärung diese staatliche Souveränität manifestiert.63 Infolge eines Putsches wurde im Zeitraum von August bis zum September 1991 »der Oberste Sowjet der Republik aufgelöst, die Macht ging auf außerkonstitutionelle Organe über, die Neuwahlen ansetzten und eine Loslösung Tschetscheniens von der Russischen Föderation« forderten.64 Fortan wurde eine »Tschetschenisierung« aller Lebensbereiche vollzogen, in deren Kontext viele russisch-sprachige Bevölkerungsangehörige das Land verließen.65 Der gemäßigte erste Präsident der tschetschenischen Republik Itschkeriya, Dshochar Dudajew,66 wurde zum Anführer der »tschetschenischen Revolution« und leitete die »neue« Republik von 1992 bis zu seinem Tod durch eine Zielsuchrakete im April des Jahres 1996.67 Zuvor war er in der sowjetischen Luftwaffe bis zum Generalmajor aufgestiegen und hatte Russland bis zu dessen Okkupationsversuch stets freundlich gegenüber gestanden.68
Im Kontext der Revolution des Jahres 1991 ereignete sich auch ein gesellschaftlicher, tschetschenischer Umschwung, bei dem die »tschetschenische Intelligenzija«, beeinflusst von gesellschaftlichen Randfiguren mit radikalen Tendenzen, einen weniger sachlich fundierten, jedoch aggressiveren politischen Kurs anstrebte, wie Politkovskaja konstatiert:
»Die ökonomische Führung fiel an Menschen, die nicht wussten, wie man eine Wirtschaft leitet. Die Republik war wie im Fieber, übte sich in endlosen Meetings und Demonstrationen, während das tschetschenische Erdöl still und heimlich in unbekannte Richtung abfloss. Als Folge dieser Ereignisse begann im November-Dezember 1994 der erste Tschetschenien-Krieg.«69
Die russische Strategie, die unterschiedlichen teips gegeneinander auszuspielen, schlug fehl, da diese sich stattdessen verbündeten, und das gemeinsame tschetschenische Nationalbewusstsein kulminierte. Infolgedessen wurden den russischen Truppen zahlreiche Verluste während der Gefechte im Zuge des Sturms auf Grosny von tschetschenischen Einheiten beigebracht.70 Nach vier Monaten andauernder Kämpfe war die Stadt stark zerstört, und der Krieg erstreckte sich über das ganze Land.71 Im Jahr 1996 gab es auf russischer sowie auf tschetschenischer Seite über 200 000 Opfer zu beklagen.72 Mitte des Jahres 1996 reiste der Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, General Alexander Lebed,73 nach Tschetschenien, um ein Ende dieses Krieges mit den Tschetschenen auszuhandeln. Im August 1996 kam es zu einem Friedensschluss in Form einer politischen Artikulation, der Chassawjurt Erklärung74, sowie der Aushandlung von »Prinzipien für die Bestimmungen der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Tschetschenischen Republik«, welche einen Status der »Nicht-Kriegszeit« für fünf Jahre festlegte und von Lebed und Maschadow, Dudajews früherem Generalstabschef, unterzeichnet wurde.75 Die russischen »Förderations-Streitkräfte« waren mit Chassawjurt nicht zufrieden, da dieser Vertrag sie ihrer Ansicht nach daran hinderte, »die Sache zu beenden und sie stattdessen öffentlich demütigte«.76
Nach dem ersten tschetschenisch-russischen Krieg, bei dem Russland schwere militärische Niederlagen erfahren und in der Folge Reparationsleistung an Tschetschenien zugesichert, jedoch nie gezahlt hatte77, erstarkte eine wahabitisch geprägte Religionsgemeinschaft in Tschetschenien, die von dem saudischen Omar Ibn al-Chattab78 angeführt wurde und die tschetschenische Bevölkerung mit Geld und extremistischer Ideologie vereinnahmte79, die u. a. den kriegerischen Dschihad als ehrbare Aufgabe und die Gemeinschaft der Wahabiten als bedeutsamer als den Zusammenhalt der traditionellen teips, der tschetschenischen Klan-Struktur, postulierte.80
Dudajews Nachfolger wurde Anfang des Jahres 1997 Aslan Maschadow,81 Dudajews früherer Generalstabschef und ehemaliger Oberst der sowjetischen Armee.82 Im Mai 1997 unterzeichnete Maschadow einen »Vertrag über Frieden und die Prinzipien friedlicher bilateraler Beziehungen«83 mit Jelzin.84 Weitere Friedensbeziehungen wurden jedoch von verschiedenen, untereinander verfeindeten, militärischen Anführern85, darunter u. a. Schamil Bassajew86, ein radikal-islamischer Fundamentalist, gestört. Dieser nutzte den verzögerten staatlichen Strukturaufbau und die damit verbundene, desolate Situation der Bevölkerung in Tschetschenien mit Hilfe saudischer Geldgeber und wahabitischer Gelehrten dazu, um die zunehmende Perspektivlosigkeit in Kriminalität und radikal-islamischen Terrorismus zu kanalisieren.87 Bassajew ist in Bezug auf seine inkonsistente Loyalität als eine schillernde Persönlichkeit zu bezeichnen, da er sowohl mit Dudajew Seite an Seite in der sowjetischen Armee gekämpft hatte, Feldkommandeur im tschetschenischen Widerstand während des ersten tschetschenisch-russischen Kriegs war, jedoch zugleich vom russischen Auslandsgeheimdienst, Hauptverwaltung Aufklärung (GRU) des Generalstabs der Russischen Föderation, ausgebildet und als Söldner der Abchasen, die vom Kreml protegiert wurden, im Georgisch-Abchasischen Krieg, der von 1993 bis 1994 stattfand, gekämpft hatte.88 Zudem zeichnet er für den 1995 organisierten Streifzug seiner Truppen in Richtung Budjonnnowsk verantwortlich, bei dem sowohl Patienten als auch Personal eines Gebietskrankenhauses sowie eines Entbindungsheimes als Geiseln genommen wurden.89 Es kann demnach konstatiert werden, dass Bassajew und nicht Maschadow mit zivilen Geiselnahmen von sich reden machte und diese ohne zu zögern für seine politischen Zwecke einsetzte.90
Am 23. Juni 1998 gab es einen Attentats-Versuch auf Maschadow, den dieser jedoch überlebte, und drei Monate später verlangten die Feldkommandeure, die von Bassajew angeführt wurden, der zu dieser Zeit Premierminister Tschetscheniens war, Maschadows Rücktritt und trieben das Land durch ihre Partikularinteressen selber fast in einen Bürgerkrieg.91 Selbst die Einführung der Schariats-Jurisdiktion zu Beginn des Jahres 1999, nach der eigenmächtig agierende Feldkommandeure öffentlich exekutiert wurden, konnten die Segregationsbestrebungen der einzelnen Gruppen nicht mehr unterbinden.92
Zusammen mit Chattab93 unternahm Bassajew im Juli 1999 den Versuch, das Nachbarland Dagestan in den tschetschenischen Widerstand gegen Russland zu involvieren,94 indem beide mit ihren Truppen in die dagestanischen Siedlungen Sondak, Rachata, Bottlich und Ansalta im Gebirge sowie in die Täler Karamachi sowie Tschabanmachi vordrangen,95 was Putin im Oktober 1999 dazu veranlasste, russische Truppen nach Tschetschenien zu entsenden.96 Der nun beginnende, zweite tschetschenisch-russische Krieg97 wurde als »Kampf gegen den Terror im Nordkaukasus« deklariert98, was aufgrund der Vorgeschichte beider Länder als Kriegsgrund recht monokausal wirkte, obwohl zweifellos das Erstarken radikal-islamischer Kräfte eine tatsächliche Rolle im zweiten Krieg spielte, jedoch nicht ursächlich dafür war, sondern, wie zuvor beschrieben, als Folgeentwicklung aus dem ersten Krieg betrachtet werden kann, die Tschetschenien in desolate wirtschaftliche und soziale Verhältnisse zurückgeworfen und damit den Boden für wahabitische Extremisten bereitet hatte.99 Putin kultivierte als neuer russischer Premierminister seine Reputation als »eiserne Faust« gegenüber russischen Gegnern und wurde im März 2000 durch die Konstruktion dieses Images zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Obwohl er mehrfach die Möglichkeit gehabt hätte, den Krieg zwischen Tschetschenien und Russland zu beenden, beließ er es bei diesem lt. Politkovskaja auch unter der Voraussetzung, dass »ein Krieg Russlands im Kaukasus chronischen Charakter annehme, aufgrund von den folgenden fünf Vorteilen für Russland«100 dabei:
(1)Um die oberen militärischen Ränge nicht zu verärgern, indem er militärische Artikulationsfläche schuf, auf der sie ihre Abzeichen, Auszeichnungen und Karrieren aufbauen könnten.
(2)Um den mittleren sowie unteren militärischen Dienstgraden ihre von den Vorgesetzten legalisierten Diebeszüge in der Zivilbevölkerung als »zuverlässige« Nebeneinkunft zu gewährleisten.
(3)Um beiden Gruppen die illegale Ausbeutung tschetschenischer Erdölförderung zur persönlichen Bereicherung weiterhin zu ermöglichen.
(4)Um den von Moskau entsandten bzw. bestimmten tschetschenischen Verwaltern, die als »die neue tschetschenische Macht« bezeichnet werden, weiterhin deren persönliche Bereicherung aus den Budgetmitteln des tschetschenischen Wiederbaus zuzugestehen.101
(5)Um aus PR-technischen Gründen den Kreml vor kritischen, innenpolitischen Fragen zur wirtschafts-politischen Entwicklung Russlands immer dann zu schützen, wenn die jeweiligen »Beweislagen« zu erdrückend zu werden drohten.102
Maschadow musste aufgrund des russischen Übergriffs in den Untergrund fliehen, und Putin setzte im Juni 2000 Achmad-Hadshi Kadyrow103 als tschetschenischen Verwaltungschef ein.104 Die Tschetschenen betrachteten jedoch Maschadow nach wie vor als Präsidenten, während die Russen Kadyrow sen., der noch im Jahr 1994 Mufti von Tschetschenien war und zum Gasawat (Heiligen Krieg) gegen die Russen aufrief, nach seiner persönlichen Annäherung an Russland und Putin als gemäßigteren Verwalter Tschetscheniens ansahen. Maschadow wurde hingegen von russischer Seite unterstellt, dieser schrecke auch vor zivilen Geiselnahmen zur Durchsetzung seiner Ziele nicht zurück, was tatsächlich nicht der Fall war.105 Im Oktober 2003 wurde Kadyrow sen. in einer höchst umstrittenen Wahl zum Präsidenten Tschetscheniens gekürt und nur wenige Monate später, im Mai 2004 Opfer eines Anschlags im Stadion von Grosny.106
Seitdem ist sein Sohn Ramsan Kadyrow107 der neue tschetschenische Präsident ›von Moskaus Gnaden‹.
Maschadow wurde im Jahr 2005, eine Woche, nachdem er Putin ein Friedensangebot unterbreitet hatte, von einer FSB-Sondergruppe getötet.108
Seit dem Jahr 2008 verließen zigtausende Tschetschenen ihre Heimat und zogen verstärkt nach Europa, hier insbesondere nach Belgien.109 Aus dieser Tatsache lässt sich z. T. die starke Gewaltaffinität der belgisch-dschihadistischen Szene ableiten, wie im Kontext der Feldforschung im europäischen salafistisch-dschihadistischen Milieu konstatiert werden kann.110
Die kategorischen Versuche Russlands, sowohl die ursprüngliche tschetschenische Bevölkerung staatlich gesteuert zu enteignen und sich ihre Bodenschätze anzueignen, indem man versuchte, diese auszusiedeln, zu inhaftieren oder zu ermorden, als auch sie ihrer Sprache zu berauben, wenn man das zuvor erwähnte, dreizehnjährige Sprachverbot betrachtet,111 wirken wie ein gezielter Versuch, eine Volksgruppe ihrer Identität zu berauben. Darüber hinaus mutet das Bestreben, tschetschenische junge Männer willkürlich bei den erörterten »Säuberungsaktionen« zu verstümmeln,112 zu entmannen und als potentielle Gegner frühestmöglich zu demoralisieren, in Verbindung mit der staatlich gesteuerten Konstruktion des Bildes vom »wilden« und scheinbar »unkultivierten Tschetschenen«113 mittels russischer Medien wie ein Indikator für das über Jahrhunderte betriebene Vorhaben an, einen Genozid an dieser Volksgruppe zu verüben.114 Warum diese anti-tschetschenische russische Politik seit so langer Zeit praktiziert wird, ist fraglich und vermutlich nicht ausschließlich wirtschaftlichen Gründen geschuldet, sondern entspricht vielmehr einem Konglomerat von autoritären Herrschaftsansprüchen gegenüber sämtlichen umliegenden Regionen Russlands und einem ausgeprägten Überlegenheitsgefühl hinsichtlich anderer Kulturen, Religionen und Ethnien, der durchaus als ›russischer Orientalismus‹ bezeichnet werden darf.
Wie im weiteren Verlauf anhand der Biographien der drei Tschetscheninnen erkennbar werden wird, erscheint Politkovskajas Fazit hinsichtlich der tschetschenischen Geschichte im Kontext der vorliegenden Untersuchung über die Gründe junger Tschetscheninnen, sich in den kriegerischen Dschihad zu begeben, als sehr plausibel, da die Journalistin konstatiert, dass die »prinzipielle Bedeutung von Freiheit und Unabhängigkeit des Kaukasus von Russland«, die durch die zwei Nationalhelden Mansur und Schamil personell in das kollektive Gedächtnis Tschetscheniens eingegangen ist, deshalb besonders prägend für »die tschetschenische Nationalpsychologie war, weil die Heimsuchungen und Nöte Tschetscheniens von Generation zu Generation immer wieder mit Russland in Verbindung gebracht würden«.115