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Lidam einer Sebjo

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Eingehend betrachtete Nela die Wappen der Orden, Familien und Institutionen der eingeweihten Welt. Jedes war ein kleines Kunstwerk, genau auf seinen Besitzer abgestimmt. Einige stilisierende Darstellungen konnte Nela gleich zuordnen, doch andere sprachen in Metaphern, deren Bedeutung sie erst noch erkennen musste.

Oftmals trugen die Eingeweihten eine vereinfachte Ausgabe des Wappens als Amulett bei sich: ein Erkennungszeichen für jeden Eingeweihten und ein Schmuckstück für die Unwissenden. Gedankenvoll griff Nela nach ihrem Anhänger. Dieser kleine Steinanhänger mit der Runengravur hütete sie wie einen kostbaren Schatz. Nicht, da er überaus wertvoll wäre, nein, es handelte sich um ein Geschenk ihres Schicksalswächters. Auch er trug stets das Symbol des Ordens bei sich. Meistens verbarg er den Anhänger unter seiner Kleidung.

Bald trug Tristan ein weiteres Erkennungszeichen, das der Alvaren. Ihre Augen betrachteten das Wappen der Gesetzeshüter, das auf dem ersten Blick an einen dreiblättrigen Klee erinnerte. Die drei miteinander verbundenen Ellipsen ruhten auf einem schwertgleichen Stiel. Im oberen Blatt erkannte Nela die Rune Elhaz, und in den seitlichen befanden sich jeweils zwei Punkte. Unweigerlich wanderten ihre Gedanken zu dem geheimnisvollen Bündnis der Alvaren, das Jarick und Tristan in naher Zukunft eingingen.

Gerade wollte sie das Wappenbuch zuschlagen, als ihr Blick am Emblem der Berserker hängen blieb, welches eine Bärenpranke darstellte, bei dem die Krallen Schwertern glichen und die Zehen Schilde, dachte sie an Bado. Der grummelige Krieger hatte sich einen Platz in ihrem Herzen ergattert und zählte zu ihrer neuen Familie. Gedanklich verbesserte sie sich: Bado gehörte zu ihrer neuen Sebjo, zu der auch ihr geliebter Wikinger, ihr Schicksalswächter Tristan, ihr Freund Till und ihre geduldige Lehrerin Amala zählten.

Irritiert sah sie auf, als ein Poltern durch das Haus hallte. Sofort beherrschte die Angst vor Angreifern ihre Gedanken. Regungslos horchte sie nach weiteren Geräuschen. Stille. Dann ertönte ein lautes Rumsen, das von einem schmerzerfüllten Fluchen abgelöst wurde. „Verdammte Truhe!“ Das war Tristan!

Neugierig, was sich nebenan abspielte, verließ sie das Arbeitszimmer ihres Vaters und folgte Tristans Flüchen. Ganz klar hörte sie nun Jaricks Stimme heraus, daraufhin vollführte ihr Herz einen euphorischen Sprung.

Sie erinnerte sich an den kurzen Ausflug nach Asgard, an den atemberaubenden Biss, der Nela in unvorstellbare Sphären führte. Ein magischer Kuss, in dem ein verborgenes Versprechen lag.

Als sie das Foyer erreichte, betrachtete Jarick sich Tristans leicht gequetschte Hand.

„Was macht ihr?“, fragte Nela verwundert, während sie zu ihrem Wächter ging, um sich um ihn zu kümmern.

„Uns auf den Kampf vorbereiten“, erwiderte Tristan.

Kurz berichtete Jarick ihr von dem Treffen mit Wigald Rabe. „Mitnichten lasse ich mir von Theo Frankus und dem dahergelaufenem Drauger Fido Tanner vorgeben, wann ich Tristan in meine Sebjo aufnehme“, klärte Jarick sie auf.

„Fido? Dieser geldgierige Nichtsnutz!“, regte Nela sich auf, bevor sie sich mitfühlend bei Tristan erkundigte, „wie ist das passiert?“

Noch bevor der Wächter antworten konnte, scherzte Till: „Ich sagte doch, dass du das Tragen der schweren Truhe lieber den Lysanen überlassen solltest. Wir sind stärker.“

„Ist ja gut“, erwiderte Tristan mürrisch, dabei seine Schmerzen unterdrückend.

„Das sollte sich ein Arzt ansehen“, mahnte Nela besorgt.

„Lass uns fahren“, sagte Amala schon auf dem Weg zur Tür. „Noch ist die Frist nicht abgelaufen, also werden dir keine tagscheuen Drauger auflauern.“

„Fahr mit Amala zum Heiler!“, stimmte Jarick zu.

Während Tristan und Amala aufbrachen, schaute Nela ihren Wikinger eindringlich an, um weitere Einzelheiten über den bevorstehenden Angriff zu erhalten. „Das Foyer ist der beste Ort, um mich den Draugern zu stellen.“

„Nein“, widersprach Nela ihm vehement. „Nicht alleine.“

Ein verschmitztes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Du sorgst dich.“ Daraufhin zog er sie schmunzelnd in die Arme.

„Natürlich! Hör auf, mich zu belächeln!“

„Ich belächle dich nicht. Deine Sorge schmeichelt mir, aber sie ist unnötig.“

„Unnötig?“

„Ja“, versetzte Jarick, „ich kann mich gegen junge Drauger zur Wehr setzen, aber du nicht und Tristan noch nicht, deshalb werdet ihr euch an einem sicheren Ort aufhalten, während ich mich um die unleidliche Angelegenheit kümmere.“

„Du brauchst Hilfe...“ Sanft legte Jarick seinen Zeigefinger auf Nelas Lippen. „Nein, ich komme bestens alleine zurecht. Du weißt, du bist meine Schwäche.“

„Das ist anmaßend, zu behaupten, dass du alleine gegen wer weiß wie viele Drauger kämpfen und überleben könntest“, entfuhr es Nela aufgebracht.

„Nela, Fido wird höchstens zehn junge Drauger schicken.“

„Aber...“ Jarick stoppte ihren Einwand mit einem Kuss, den sich Nela schnell hingab, dabei ihre Widerworte vergessend.

„Ist der Keller sicher?“

„Eventuell eignet sich ein Raum“, antwortete Till.

„Eventuell reicht mir nicht“, erwiderte Jarick verstimmt.

Kurz haderte Nela mit sich, bevor sie ein mögliches Versteck vorschlug. Denn auch sie wollte Tristan in Sicherheit wissen, wenn diese Draugerbande ihr Anwesen stürmte, um ihren Schicksalswächter zu ermorden. „Im Arbeitszimmer meines Vaters gibt es eine Geheimkammer.“ Allerdings forderte ihr Herz, das alle, auch Jarick, sich dort vor den Feinden versteckten. Jedoch erfüllte sich dieser Wunsch nicht, denn Jarick war ein Krieger, ein Jarl, ein Asengott. Es lag in seinem Naturell, sich dem bevorstehenden Kampf zu stellen.

„Zeig mir das geheime Zimmer“, hoffte Jarick auf ein sicheres Versteck, daher setzte er sich zügig in Bewegung. Sofort folgte Till ihm, während Nela noch kurz im Foyer, nach einem anderen Ausweg suchend, wartete. Welche Alternative blieb? Flucht? Derzeit hatte ihr das Schicksal ein Leben, bestehend aus Flucht, Verstecken und Kampf, gesponnen. Würden die Nornen ihr eines Tages einen friedlichen Pfad weben?

„Nela“, rief Jarick sie ungeduldig.

„Ich komme“, eilte sie zum Arbeitszimmer.

„Wo?“, wollte Jarick gleich wissen, als sie den Raum betrat. Ohne unnötige Verzögerung öffnete sie die geheime Kammer ihres Vaters hinter der Apfelblütentapete.

„Wie erfuhrst du von diesem Raum?“, wollte Jarick wissen, als er hineinging und feststellte, dass die geheime Kammer, der einzige Ort in dieser Villa war, der die Handschrift des Ordens trug.

„Durch kleine Hinweise, die mein Vater mir gab. Sie fielen mir ein“, zuckte Nela mit den Schultern.

„Wer weiß von diesem Versteck?“, fragte Till, als er den schallisolierten Raum begutachtete.

„Nur Tristan.“

„Kann man ihn von innen verschließen?“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Nela, als sie genau die Tür betrachtete. Schnell entdeckte sie die Klinke, die sie aus dem Raum befreien würde, falls sie sich aus Versehen einschloss.

„Wir probieren es aus“, bestimmte Jarick, dabei streifte er Nela kurz beim Verlassen der Kammer. Zu gerne hätte sie die Berührung länger gespürt.

„Was ist, wenn es nicht funktioniert?“, entfuhr es Nela beunruhigt. Zum einen belastete sie die Vorstellung, in dieser engen Kammer eingesperrt zu sein, und zum anderen beunruhigte sie die Aussicht, dass es für Tristan kein sicheres Versteck in dieser Villa vor den Draugern gab.

„Nenne mir die Zeichenfolge“, beruhigte Jarick sie.

„Gut“, stimmte sie zu, unterdessen zog sie die Tür mit einem mulmigen Gefühl ins Schloss. Zum Glück regelte ein Bewegungsmelder das Ein- und Ausschalten des Lichts. Eine furchtbare Vorstellung im Dunkeln in dieser Enge auszuharren, während sie langsam, aber laut bis sechzig zählte. Als sie die Tür ohne nennenswerten Widerstand öffnete, sah sie einen zufriedenen Jarick.

„Nichts“, verkündete er glücklich. „Keine Regung. Kein Ase, kein Vane und auch kein Drauger, ob jung oder alt, wird dich in der Kammer aufspüren.“

„Natürlich ist das Geheimversteck des Großpriors der Elhazen sicher“, sagte Till begeistert. „Ich werde ...“ Noch bevor er das letzte Wort aussprach, verschwand der Drauger geisterhaft. Eigenartig verzerrt hallte das Wort „...weitermachen.“ im Raum.

„Wo ist Till?“, sah Nela sich erstaunt um.

„Im Foyer. Für dein menschliches Auge hat er sich zu schnell bewegt“, erklärte Jarick. Nachdenklich ging er zum Schreibtisch, dort nahm er das Wappenbuch, in dem Nela zuvor las, in die Hand.

„Besitzt du auch ein Wappen?“

„Ja“, antwortete Jarick wortkarg. Daher hakte Nela gleich nach: „Wie sieht es aus?“ Bisher entdeckte sie sein Emblem nicht in dem dicken Wälzer.

Bedächtig legte er das Buch zurück und drehte sich zu ihr. „Nela, ich war, nein, ich bin wütend auf mich selbst, weil ich dich gebissen habe. Ich verlor die Kontrolle über mein lysanisches Ich und missbrauchte damit dein Vertrauen.“ Jetzt verstand Nela sein in sich gekehrtes Verhalten. Ihr Wikinger kämpfte mit seinem schlechten Gewissen, welches in ihren Augen keinerlei Berechtigung hatte. Auf keinen Fall durfte sein schlechtes Gewissen zu einer unsichtbaren Mauer zwischen ihnen werden, daher holte Nela aus, um das Fundament mit allen nötigen Mitteln zu zerstören.

„Ich muss zugeben, dass ich zu wenig über dich, über dein Dasein als Lysane weiß. Schon längst hätte ich mich ausgiebig über Lysane informieren müssen, aber ich möchte es von dir erfahren, wer und was du bist. Natürlich kann ich nicht einschätzen, welche Konsequenzen deine Kontrollverluste haben, aber der Biss war definitiv keiner. Nicht für mich! Dein Biss war unglaublich! Nach meiner Erfahrung mit diesem frevlerischen Drauger habe ich nicht erwartet, dass ein Biss solch fantastische Gefühle auslösen kann. Die ganze Zeit vertraute ich dir voll und ganz. Du hast mein Vertrauen nicht missbraucht, Jarick“, platzte es aus Nela heraus.

Sanft nahm Jarick sie in den Arm und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Dort verweilten seine Lippen, als er flüsterte: „Es war ein ganz besonderer Biss, Nela.“

„Ja, er war magisch“, entfuhr es ihr begeistert. „Ich weiß, dass du hin und wieder frisches Blut von Blotjas trinkst. Wage es nicht, sonst jemanden diesen besonderen Biss zu geben!“

„Das verspreche ich dir! Du bist und wirst die Einzige sein.“ Seine Augen nahmen ihre gefangen, langsam senkte sein Mund sich auf ihren. Sanft liebkoste er ihre Lippen. „Dennoch hätte ich dich vorher über das Beißen, über die unterschiedlichen Arten aufklären müssen und ...“ Verzweifelt suchte er nach den richtigen Worten. Geduldig wartete sie. „Nela, du bist eine sehr bedeutende Lidam meiner Sebjo.“

Freudestrahlend sah sie ihn an. „Du gehörst auch zu meiner neuen Familie.“

Sofort war Nela alarmiert, als sie seine ernste Mimik bemerkte. Dieser selbstquälerische Ausdruck in seinen Augen versprach nichts Gutes. „Ich rede nicht von einer emotionalen Aufnahme in eine Familie. Ohne dein Wissen und ohne meine Absicht nahm ich dich in meine Sebjo auf. Du gehörst jetzt mir.“

Definitiv machte Jarick ihr keine romantische Liebeserklärung, sondern sprach von Zugehörigkeiten in einer archaischen Welt. Ahnungslos ließ Nela sich auf eine Samana mit ihrem Wikinger ein, ohne jegliches Wissen über die Lebensweise der Lysanen. Ungewollt, ungefragt, unwissend wurde sie zu einer Lidam seiner Sebjo. Jetzt erkannte sie, dass Jarick tatsächlich ihr naives Vertrauen ausgenutzt hatte.

„Du hättest mich fragen müssen!“, platzte es aus Nela heraus. „Du kannst mich doch nicht einfach zu einer Lidam, zu einer Untertanin machen!“

„Nela, du bist keine Untertanin“, widersprach Jarick vehement. „Lidam bedeutet Mitglied, nicht Untertan.“

„Was bin ich denn sonst?“, entfuhr es Nela ungehalten, doch Jarick schwieg.

Nach einem Augenblick des Schweigens nahm Jarick sie bei den Schultern, sein Blick bohrte sich eindringlich in ihren. „Niemand weiß von der Aufnahme. Niemand muss es erfahren. Es bleibt unser Geheimnis. Ich werde keinen Anspruch auf dich erheben. Du bleibst Lunela Vanadis, die zukünftige Großpriorin des Ordens Elhaz in Midgard.“

Das klang alles so formell und gefühllos. „Was ist, wenn ich möchte, dass du deinen Anspruch geltend machst?“ Nela konnte es nicht fassen, dass sie diese Frage tatsächlich stellte. Sie strebte kein Leben als Untertanin an, sie wollte ein freier, unabhängiger Mensch sein. Allerdings wünschte sie sich sehnlichst, mit Jarick gleichberechtigt eine Liebesbeziehung innerhalb eines Familienbundes zu führen.

„Wenn ich dich öffentlich als meine Lidam beanspruche, trete ich eine Lawine los, die uns unaufhaltsam überrollen wird“, gestand Jarick niedergebeugt.

„Jarick, wir lieben uns. Wir sind ein Paar. Wenn ich die Entscheidung treffe, zu deiner Sebjo zu gehören, dann kann mir das niemand verwehren!“

„So einfach ist das leider nicht, Nela. Kein Hahn kräht danach, wenn ein Lysane mit einer Walküre eine unverfängliche Samana eingeht, aber sobald diese Samana eine offizielle, unauflösliche Verbindung erhält, interessiert es die Vorderen. Dann spielen nur noch politische, gesellschaftliche und persönliche Interessen der Mächtigen eine Rolle. Es tut mir leid, Minamia. Auf diese Art und Weise hätte ich dich nicht beißen dürfen. Ich bereue sehr, dass ich dich nicht gefragt habe, dass ich nicht dein Einverständnis, dein Ja-Wort zu der Arwa hatte. Ich bereue, dass ich uns in diese verzwickte Situation gebracht habe, die uns zum Verhängnis werden kann. Aber dennoch bereue ich niemals, dass ich dich mit diesem besonderen Biss an mich gebunden habe.“ Mit diesen Worten ließ er sie alleine in dem Arbeitszimmer zurück.

***

Dunkelheit umgab ihn, das Branden des Meeres rauschte immerfort in seinen Ohren. Unmöglich konnte er bestimmen, wie lange er schon in seinem nasskalten Verlies ausharrte. Durst und Hunger quälten seinen Körper, während das Unwissen über seinen Entführer seinen Verstand peinigte.

„Armin, Armin“, tadelte aus dem schwarzen Nichts eine weibliche Stimme. Erschrocken fuhr er zusammen. War sie ein Gespinst seines entkräfteten Verstandes?

„Wer bist du?“, stieß er beängstigt aus.

„Deine Fylgja“, antwortete die Stimme unheilvoll.

„Ich kann dich nicht sehen, also kommst du wohl nicht, um mich ins Reich der Toten zu holen“, bezweifelte Armin die Existenz der Folgegeister, dennoch starrte er gebannt in die Dunkelheit.

„Noch ist deine Zeit nicht gekommen, Armin“, erwiderte seine angebliche Fylgja, als ihn ein kalter Lufthauch streifte.

„Was willst du von mir?“

„Du bist eine dienliche Figur in meinem aufregenden Spiel“, verkündete sie begeistert.

„Wenn ich kein Wasser und Brot erhalte, werde ich in Kürze eine tote Figur in deinem Spiel sein, Fylgja“, sicherte Armin zuerst sein Überleben, bevor sich sein Verstand mit dieser Spielerin auseinandersetze.

„Mein Diener wird dir regelmäßig Nahrung bringen“, versprach sie.

„Wie heißt das Spiel?“

„Deurias Sebjo“, antwortete sie feierlich.

„Ich gehöre nicht zu Deurias Sebjo. Welche Rolle spiele ich in deinen Ränken?“

„Laut den Gesetzeshütern bist du der Mörder der Familie Vanadis.“

„Ich war es nicht“, schwor Armin aufbrausend.

„Ich weiß“, gestand die Spielerin, bevor sie sich mit kaum hörbaren Schritten entfernte.

„Warte!“, rief Armin ihr verzweifelt hinterher. „Lass mich nicht unwissend im Dunkeln zurück.“

Nela Vanadis

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