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Der rebellische Drauger
ОглавлениеSpätabends, gerade als die Sonne den fernen Horizont berührte, wurde die Klingel am Tor des Anwesens betätigt. Zügig überwand Nela die wenigen Schritte bis zur Gegensprechanlage. „Wer ist da?“, erkundigte sie sich, als sie den Knopf drückte.
„Johannes Gerber. Ich ersuche ein Gespräch mit Herrn Jarick Richter“, nannte der Besucher sein Anliegen, bevor er nach einer kurzen Pause hastig hinzufügte, „Ivo Lindbur schickt mich.“
„Einen Augenblick.“ Nela verließ das Foyer, begab sich zu Jarick ins Wohnzimmer. Mit geschlossenen Augen saß ihr Wikinger im Lieblingssessel ihres Vaters, während im Fernsehen eine Geschichtsdokumentation lief.
„Wer hat geklingelt?“, fragte Jarick hellwach, als sie neben ihm stand. Zwar benötigte ein Lysane weniger Schlaf als ein Mensch, aber gänzlich konnte auch er nicht auf die Ruhephasen verzichten. Seit fast 40 Stunden war ihr Wikinger wach, um die Villa vor Feinden zu schützen.
„Ein gewisser Herr Gerber möchte dich sprechen“, teilte Nela ihm mit.
„Gerber?“, wiederholte Jarick den Nachnamen mit einem Stirnrunzeln.
„Ivo schickt ihn“, fügte Nela noch hinzu.
„Lass ihn bitte herein.“
„Sicher, dass ich die Tür öffnen soll?“, fragte Nela abwartend.
„Till?“, rief er den Huscarl sogleich, der bereits verschlafen im Wohnzimmer stand. „Öffne Herrn Gerber die Tür.“ Mit zerzausten Haaren, nur mit einer Jeans bekleidet, ging der Huscarl wachsam zur Haustür.
„Guten Abend, Herr Gerber“, begrüßte Till den Gast überdeutlich laut an der Haustür. „Entschuldigen Sie meine Aufmachung.“
„Guten Abend“, erwiderte dieser. „Ich möchte zu Herrn Richter.“
„Wenn Sie mir bitte folgen, Herr Richter befindet sich im Wohnzimmer“, bat Till ihn herein.
Da Jarick Nela nicht ausdrücklich aufforderte, den Raum zu verlassen, um alleine seinen Besuch zu empfangen, blieb sie. Sie musste erfahren, warum dieser Drauger das Gespräch mit Jarick suchte.
Nachdem Till den Drauger ins Wohnzimmer geführt hatte, zog sich der Huscarl zurück. Zumindest gab er es vor, Nela hingegen, bezweifelte es. Gewiss achtete der Huscarl im Hintergrund auf mögliche Gefahren.
Unsicher, den Blick auf den Boden gerichtet, verharrte Johannes Gerber an der Tür. Nela beäugte ihn eingehend. Nach seinem Äußeren zu urteilen, war er ungefähr in Nelas Alter, trug die Kluft eines Motorradfahrers und an seinem Kopf waren die Abdrücke des Helms erkennbar. Er schaute kurz zu Nela, als er ihren neugierigen Blick auf sich spürte.
„Du möchtest mich sprechen?“, durchbrach Jarick die Stille.
Johannes räusperte sich. „Ja.“
„Nun, dann fang an“, forderte Jarick ihn auf, daraufhin sah Johannes erneut zu Nela, diesmal fragend.
„Du kannst frei sprechen“, reagierte Jarick auf seine wortlose Frage.
„Wer ist sie?“, fügte Johannes noch verbal hinzu, als der ältere Lysane ihm keine klare Antwort gab.
„Lunela Vanadis, die Herrin dieser Villa und angehende Großpriorin des Ordens Elhaz. Ihr Wächter ist Tristan Paladin, den du und deine Kumpane letzte Nacht töten wolltet“, stellte Jarick sie vor.
„Ich verstehe“, erwiderte Johannes kleinlaut. „Ich bin gekommen, um mich in aller Form für mein fehlgeleitetes Verhalten bei Ihnen, Herr Richter, Frau Vanadis und Herrn Paladin zu entschuldigen. Außerdem möchte ich mich dafür bedanken, dass Sie mein Leben verschonten.“ Für Nela klangen die Worte des Draugers aufrichtig.
„Wieso hintergehst du deinen Ansu?“, wollte Jarick wissen, ohne auf die Entschuldigung einzugehen.
„Ich hintergehe meinen Ansu nicht...“, entfuhr es Johannes empört.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ivo sein Einverständnis für dich gab, Fido Tanners Handlanger zu werden. Zudem greifst du Ivos Ansu an“, stellte Jarick fest.
„Ivo wusste nichts davon“, gab Johannes zerknirscht zu. „Woher sollte ich wissen, dass Sie der Ansu meines Ansus sind? Ivo verriet mir nur, Sie seien ein mächtiger Jarl in Asgard, der nur äußerst selten sein Domizil verlasse. Ich gehöre nicht länger zu Fidos Männern“, fügte Johannes bedauernd, aber auch erleichtert hinzu.
„Als Jüngling muss man seinem Ansu bedingungslos gehorchen.“
„Ich bin kein Jüngling“, versetzte der Drauger. „Ich bin Kenninger.“
„Wie alt sind Sie?“, konnte Nela ihre Neugierde nicht zügeln.
„Dieses Jahr werde ich 100, davon habe ich 25 Jahre als Mensch und 75 als Drauger gelebt“, antwortete Johannes ihr.
„Wow, für einen 100-Jährigen haben Sie sich gut gehalten“, äußerte Nela unüberlegt.
„Es ist also wahr, was sich erzählt wird“, erkannte Johannes.
„Was wird sich denn erzählt?“, hakte Nela gleich nach.
„Die zukünftige Großpriorin ist eine Unwissende.“
Nela ergriff die Möglichkeit, mehr über Drauger in Erfahrung zu bringen: „Jüngling? Kenninger?“
„Jüngling ist die Bezeichnung für die ersten sieben Jahre eines Draugers“, erwiderte Johannes. „Danach befindet er sich in der Kenning und ist dementsprechend ein Kenninger.“
„In Asgard verwenden wir die Bezeichnung Zögling für die ersten Jahre und Jüngling für die erste Hälfte der Kenningphase.“
„Wie lange dauert Ihre Kenning noch?“, fragte Nela.
„Noch 100 Jahre. Für jedes menschliche Lebensjahr befinde ich mich sieben Jahre in der Ausbildung als Drauger“, antwortete Johannes.
„Also dauert Ihre Kenning insgesamt 175 Jahre?“, rechnete Nela aus.
„Ja.“
„Johannes, warum hast du dich Fido Tanner angeschlossen, obwohl du dich noch in deiner Kenning befindest?“, forderte Jarick eine Antwort.
„Jugendlicher Leichtsinn?“, gab er mit einem ironischen Unterton zurück. Dafür erntete er von Jarick einen missgestimmten Blick, der ihn augenblicklich in Alarmbereitschaft setzte. Jederzeit konnte dieses bisher doch recht friedliche Gespräch kippen und in einem Kampf enden, deshalb mischte sich Nela erneut in die durchaus interessante Unterhaltung ein.
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie schon längst dem jugendlichen Alter entwachsen. Warum schließen Sie sich einer Bande von Meuchelmördern an? Können Sie mir das verraten, Herr Gerber?“
„Dass Sie seine Männer als eine Bande von Meuchelmördern bezeichnen, darf Theo Frankus niemals erfahren“, warnte Johannes ernst. „Jeder gehört zu einem Orden und jeder Orden hat ein Oberhaupt. In meinem Fall ist das der Orden der Drauger und demzufolge Theo Frankus.“
„Aber Sie gehören auch zu der Sebjo ihres Ansus, Herr Gerber. Die Sebjo steht über dem Orden“, entgegnete Nela ihm herausfordernd.
„Sie wollen uns also ihre wahren Beweggründe nicht anvertrauen?“, folgerte Nela aus seinen Worten. Fasziniert verfolgte Jarick das Gespräch zwischen dem Drauger und seiner Minamia.
„Ich kenne Sie nicht, folglich vertraue ich Ihnen auch nicht.“
„Aber Ivo Lindbur vertraut Jarick Richter“, hielt Nela dagegen.
„Jeder Kenbur fühlt sich seinem Ansu gegenüber verpflichtet“, sagte Jarick ernst.
„Herr Gerber, Sie anscheinend nicht, sonst hätten Sie ihren Ansu nicht hintergangen“, forderte Nela ihn heraus. Es interessierte sie, warum Johannes Gerber die Laufbahn eines gewissenlosen Handlangers einschlug, währenddessen sein Ansu Ivo seine Berufung als Alvare folgte.
„Ich hinterging meinen Ansu nicht“, entfuhr es Johannes mit einer Intensität, die eindeutig zeigte, dass er niemals seinen Ansu verraten würde. Aber warum tat er es dennoch?
„Dann klären Sie mich auf!“ Nela versuchte den autoritären Blick ihres Vaters nachzuahmen, wenn er eine ehrliche Auskunft verlangte. Tatsächlich zeigte er Wirkung.
„Seit Jahren unterdrückt Theo Frankus die Mitglieder unseres Ordens. Er herrscht mit Willkür. Niemand ist vor seinen Launen sicher, deshalb hat sich eine geheime Widerstandsgruppe gebildet, um das Oberhaupt der Drauger zu stürzen“, erwiderte Johannes zuversichtlich.
„Also schlossen Sie sich der Widerstandgruppe an“, schlussfolgerte Nela.
„Ja. Aber damit habe ich gewiss nicht meinen Ansu verraten. Ivo lebt für die Gerechtigkeit. Auch er empfindet die momentanen Umstände als untragbar, aber er ist in seiner Verpflichtung gefangen.“
„Welchen Auftrag hattest du?“, beteiligte Jarick sich wieder an dem Gespräch.
„Ich sollte Theo Frankus in einem Kampf stellen. Leider kam ich nie nah genug an ihn heran. Nur seine treuesten Lakaien scharrt er um sich. Also musste ich mich der schweren Aufgabe stellen, ein niederträchtiger Lakai wie Fido Tanner zu werden.“
„Du wärest Theo Frankus unterlegen“, teilte Jarick ihm die schonungslose Wahrheit mit.
„Fido Tanner?“, nutzte Nela die Möglichkeit vielleicht mehr über den Drauger, der ihr immer einen eiskalten Schauder über den Rücken laufen ließ, herauszufinden.
„Ein furchtbarer Zeitgenosse. Er ist Theo Frankus` Lieblingslakai, weil er jeden Befehl widerspruchslos und grausam ausführt. Seine Taten grenzten schon oft an Hochverrat, aber stets begnadigte Frankus ihn. Wir vermuten, dass er jedes Mal in Frankus` Auftrag handelte. Allerdings konnten wir das nie beweisen.“
„Warum würde Frankus Fido Tanner nach Asgard schicken?“, stellte Jarick die Frage, die auch Nela auf der Zunge lag.
Johannes zuckte mit den Schultern. „Entweder um Geheimnisse herauszufinden oder um einen Konkurrenten umzubringen.“
„Ich nehme deine Entschuldigung an, Johannes Gerber. Ich hoffe, dass wir uns niemals wieder feindlich gesinnt gegenübertreten. Sollte das dennoch der Fall sein, werde ich keine Gnade walten lassen“, verabschiedete Jarick den Kenbur seines Kenburs mit einem Versprechen, das Nela frösteln ließ.
Johannes deutete eine Verbeugung an, daraufhin kehrte er Jarick und Nela den Rücken zu und sah in Tills Gesicht. Kurz darauf klackte die Haustür ins Schloss. Schweigend verharrten die beiden im Wohnzimmer, bis der Lysane ihr ein Zeichen gab, dass sich Johannes Gerber außer Hörweite befand.
„Welche Geheimnisse hat Fido in Asgard gesammelt?“, stellte sie sogleich die Frage, die ihr die ganze Zeit auf der Zunge brannte.
„Auf jeden Fall hatte es mit der Garde zu tun“, antwortete Jarick ernst.
„In Midgard ist sehr viel im Argen“, teilte Nela nun auch Jaricks Einschätzung.
„In den Welten der Eingeweihten gibt es keine Volksherrschaft, aber es darf auch keine Tyrannei geben“, äußerte sich Jarick heftig. „Sobald Tristan und ich in der Gemeinschaft der Alvaren aufgenommen sind, haben wir schon unseren ersten Fall.“
„Fido Tanner.“
„Je schneller er hinter Gittern verschwindet, desto besser ist es für die neun Welten.“