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Der Schwertkämpfer und die Bogenschützin

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Enttäuscht wachte Nela in einer fremden Umgebung auf. So sehr hoffte sie, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Doch sie wurde herb enttäuscht, als sie ihre Augen aufschlug. Der Albtraum war Realität. Mutlos warf Nela die Felldecke beiseite, anschließend schwang sie ihre Beine aus dem Bett. Auf dem Fußboden lag ihr Schicksalswächter, der noch tief und fest schlief. Still schlich sie aus der kleinen, aber gemütlichen Schlafkammer.

Langsam ging sie die Treppe hinunter und blickte sich neugierig um. Sie befand sich alleine in dem großen Raum, der aus dem Eingangsbereich, der Küche und dem Wohnzimmer bestand. Vor dem Kamin, in dem nur noch schwach Glut glomm, standen zwei robuste Ledersessel. Rechts daneben war ein langer Holztisch mit zwei dazu passenden Bänken. Dunkel erinnerte sich Nela daran, dass sie sich gestern Nacht in diesem Raum aufgehalten hatte, bevor sie todmüde schlafen gegangen war. Vor ihren Füßen entdeckte sie einen hölzernen Trinkbecher. Kurzerhand bückte sie sich, hob das Trinkgefäß vom Boden auf und stellte es auf die Holzplatte zu dem anderen Becher sowie der Weinflasche. Rote Spritzer zierten den Dielenboden.

Nela betrat den Küchenbereich, dabei stellte sie fasziniert fest, dass auch hier alles aus Holz gefertigt war: die Regale, Schränke und Arbeitsflächen. Sogar die Spüle war ein kleiner Zuber. Über der offenen Feuerstelle hing ein Topf, der an Eisenstangen befestigt war. Neugierig schaute sie in den Schornstein über der Kochstelle. Alsbald fiel ihr auf, dass hier noch nie gekocht worden war. Es gab weder Spuren von Feuer noch von irgendeiner Abnutzung. Vielleicht war es nur eine Attrappe. Nela öffnete einfach einen Schrank, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Leer. Sie entschied, nicht weiter so unhöflich zu sein, die Küche ihres Gastgebers zu durchstöbern.

Kurz entschlossen trat Nela nach draußen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Ein idyllisches, kleines Dorf mit Wohnhäusern, Ställen, Vorratsgebäuden und einer Windmühle lag vor ihr. Schützend umringte eine riesige Wallanlage aus Stein, Holz und Erde die Siedlung. Interessiert ließ Nela ihren Blick über die Langhäuser schweifen, dabei sah sie einen Bauern, der sein Arbeitspferd zu einer Tränke vor einem Stallgebäude führte. Die Stimmen spielender Kinder drangen an ihr Ohr, während sie die Frau im Gemüsegarten bemerkte. Anscheinend blieb ihr vorerst keine andere Wahl, als sich an diesem fantastischen Historienspiel zu beteiligen, solange sie sich hier vor den Birgern verstecken konnte.

„Das sind meine Leute“, erklang hinter ihr eine freundliche Stimme. Erschrocken drehte Nela sich um. Unbeirrt sprach Till weiter, der sich im Schatten des Blockhauses aufhielt. „Eigentlich sind wir keine Bauern, sondern Krieger. Vor vielen Jahren wurde ich in den Dienst der Garde gerufen, so wie mein Vater und seine Väter vor ihm. Es ist die Berufung unserer Familie, in der Garde zu dienen. Sie kehrten alle zu ihren Familien zurück. Mir war es nicht vergönnt.“ Verwirrt runzelte Nela ihre Stirn.

Während Till neben Nela in die Sonne trat, warf er die Kapuze seines Umhangs über seinen Kopf. „Ich erhielt die Ehre, ein Drauger zu werden. Nur sehr wenigen Menschen in der Garde kommt diese Ehre zuteil. Die Garde setzt sich aus Asen und Mitgliedern bestimmter menschlicher Familien zusammen.“ Nela schwieg, da sie ihre Unwissenheit über diesen authentischen LARP-Ort nicht verraten wollte. „Sie wissen nicht, wovon ich spreche.“

„Ich…“, begann Nela ertappt, „... natürlich weiß ich, was die Garde ist.“

Verstehend lächelte er sie an. „Und was sind Asen?“ Seine Augenbrauen wanderten fragend nach oben.

„Die Bewohner von Asgard und außerdem Götter“, antwortete Nela.

Anerkennend nickte Till. „Ich weiß, dass Sie eine Unwissende sind. Ich bin oft in Midgard. War es Absicht nach Asgard zu kommen?“ Nela schüttelte den Kopf. „Dann werden nicht nur die Birger nach Ihnen und Tristan suchen, sondern auch der Orden, Ihre Familie und vielleicht sogar die Polizei.“ Abwesend starrte sie auf den Boden, als wieder schreckliche Bilder von dem Angriff der Birger vor ihrem Auge erschienen.

„Es tut mir leid“, murmelte Till einfühlsam, bevor er sich mit den Worten, „ich werde Ihnen Frühstück beschaffen“, alleine ließ.

Aufgewühlt ging Nela zurück ins Hausinnere. Tristan stand auf der Treppe und atmete erleichtert auf, als er sie sah. „Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du plötzlich verschwunden warst.“ Nela schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln.

Augenblicke später erschien Jarick auf der Galerie. Er hielt sein Schwert in der ledernen Halterung. Der dazugehörige Gürtel war um die Scheide gewickelt. Auf direktem Weg ging er zu dem Tisch, griff nach der Weinflasche und zog den Korken heraus. Verwundert sah Nela ihn an, dass er am frühen Morgen schon Rotwein trank. Gehörte das auch zu dem Spiel? Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, dass Jarick ein Alkoholproblem hatte. Während Till mit Bado zurück ins Haus kehrte, kam Runa die Treppe herunter.

„Das Frühstück wird gleich hier sein“, verkündete Till gut gelaunt.

„Ich habe die Pferde versorgt“, sagte Bado, während er sich an den Tisch setzte.

„Danke“, erwiderte Tristan, der sich ebenfalls an den langen Holztisch niederließ. Nelas Blick flog wieder zu Jarick, der immer noch Wein trank. Till gesellte sich zu ihm, um sich auch den gegorenen Traubensaft einzuschenken. Missbilligend runzelte Nela ihre Stirn und setzte sich neben ihren Schicksalswächter.

Mitfühlend sprach Runa sie nun an. „Es wird bestimmt alles wieder gut. Die Birger geben bald auf, dann könnt Ihr zu Eurer Familie zurückkehren.“ Ihre Stimme klang so zuversichtlich.

„Sie sind tot“, brachte Nela nur stockend heraus. Warum sollte sie den Tod ihrer Familie verschweigen?

„Das wusste ich nicht. Das tut mir unendlich leid“, stammelte Runa verlegen.

Eine unangenehme Stille stellte sich ein, bis eine ältere Frau mit einem Tablett das rustikale Blockhaus betrat. Behilflich eilte Till ihr entgegen und nahm das Frühstück. Brot, Käse, Obst und zwei Krüge stellte sie auf den Tisch. Jarick holte für seine Gäste Becher und Holzteller.

„Danke Gelsa“, nickte Till freundlich der Frau zu, als sie in der Tür stand und ihn warm anlächelte. Zaghaft nahm sich Nela eine Scheibe Brot und Käse. Durstig trank sie von dem Wasser in ihrem Becher.

„Wie sieht unser Plan aus?“, fragte Bado mit vollem Mund. Er war voller Tatendrang.

„Unentdeckt nach Folkwang gelangen“, erwiderte Jarick und nahm einen Schluck seines Weins.

„Wie lange dauert es bis nach Folk…“

„…wang“, half Jarick Nela, indem er auch gleich ihre Frage beantwortete. „Auf direktem Weg nur wenige Tage. Aber wir werden einen Umweg nehmen, da die Gefahr zu groß ist, dass uns die Birger auf der Hauptstraße entdecken. Dementsprechend wird sich die Reise verlängern.“

„Ihr kennt den Palastnamen Eurer Anführerin nicht?“, entfuhr es Runa verwundert. Hilflos schaute Nela zu Tristan, der sich räusperte, aber noch mit sich haderte, dafür eine Erklärung zu geben.

„Nela ist eine Unwissende“, sagte Jarick ernst. „Ich denke, Bado und Runa sollten es wissen, wenn sie uns begleiten.

„Außerdem hat Tristan vieles nicht gelernt, was wir von ihm erwarten würden“, fügte Till erklärend hinzu. „Midgard unterscheidet sich zu Asgard.“

„Ich habe davon gehört, dass es in Midgard Unwissende gibt, die zu unserer Welt gehören“, begann Runa nachdenklich. „Für Euch muss Asgard sehr mysteriös und seltsam sein.“ Nela nickte nur. Und wie seltsam und mysteriös ihr das alles vorkam!

Schweigend beendeten sie das Frühstück, dabei dachte Nela flüchtig über die letzten Tage nach. Denn nur langsam löste sie sich aus ihrem Schutzkokon, der sie davor bewahrte, durchzudrehen. Sie war doch nur von ihrer Wohnung losgefahren, um bei ihren Eltern dem alljährlichen Familientreffen beizuwohnen. Nun waren alle tot, sie saß in einer altertümlichen Blockhütte irgendwo in Norddeutschland und skurrile, aber nette Menschen wollten ihr in ihrer Notlage helfen. Sie vertraute diesen Menschen immer mehr, vor allem ihrem Schicksalswächter, der ihr so furchtlos das Leben gerettet hatte.

Jeder suchte seine Habseligkeiten zusammen, packte Proviant ein, anschließend wurden die Pferde gesattelt. Nela ritt hinter den Männern her und betrachtete Jarick und Till nachdenklich, weil nur sie bei diesen sommerlichen Temperaturen ihre schwarzen Umhänge trugen, während Bados dunkelbrauner Umhang hinter ihm auf dem Rücken des Pferdes lag. Jarick führte noch ein weiteres Pferd mit, das mit Proviant und anderen nützlichen Dingen fürs Übernachten im Freien bepackt war.

Beeindruckt von dieser unberührten Natur ließ sie ihren Blick über die herrliche Landschaft schweifen. Die Schönheit und die Einsamkeit vermittelten einen trügerischen Frieden, denn jederzeit konnten die Verfolger auftauchen und den Albtraum fortführen, aus dem sie einfach nicht aufwachen wollte.

Dunkle, bedrohliche Wolken zogen auf, die nur allzu gut zu ihrer Gefühlsverfassung passten. „Es wird bald regnen“, stellte Nela besorgt fest, daraufhin schaute Jarick zum Himmel. „Es wird noch eine Weile trocken bleiben.“

Entschlossen sich auf keinen Fall dem nahenden Regen auszusetzen, trieb Nela ihre Stute an und schloss zu Jarick auf. „Wir sollten uns vor dem Unwetter eine Unterkunft suchen.“

„Hier gibt es keine Unterkunft. Wenn es so weit ist, werden wir Schutz suchen“, entgegnete Jarick ihr strikt.

„Wir brauchen aber einen Unterschlupf“, blieb Nela beharrlich.

Erstaunt über ihre Hartnäckigkeit stoppte Jarick seinen Hengst. Daraufhin brachte auch Nela ihre Stute zum Stehen. „Nein. Es ist viel zu gefährlich, eine Herberge aufzusuchen.“ Während die anderen langsam weiterzogen, lenkte Tristan sein Pferd zu ihnen.

„Irgendeine Scheune würde auch schon reichen“, konterte Nela. Ungläubig schaute Jarick sie an. Hatte ihm noch nie jemand widersprochen?

„Nela, bitte“, forderte Tristan sie auf. „Jarick kennt sich hier aus. Wir sollten ihm vertrauen.“ Widerwillig gab sie nach, denn Tristan hatte damit Recht, dass sie Jarick vertrauen mussten. Er kannte den Weg aus diesem Albtraum. Sie trieb ihr Pferd wieder an.

Sich auf das Reiten konzentrierend, zogen sie still durch die Wildnis. Einerseits war es Nela ganz recht, nicht zum Smalltalk gezwungen zu werden, aber andererseits ärgerte sie sich auch, weil sie die Chance verstreichen ließ, Tristan, Jarick und die anderen besser kennen zu lernen. Doch ihre Probleme beschäftigten sie so sehr, dass ihr nicht zum Plaudern zumute war. Wenn sie eine kurze Rast einlegten, beschränkten sich die Gespräche nur auf das Nötigste. Meistens sprachen die Männer über die weitere Route.

Das Glück war auf ihrer Seite, da die Regenwolken über sie hinwegzogen. Erleichtert atmete Nela durch, als sie die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht spürte. „Die Sonne scheint“, hielt Nela ihr Gesicht den warmen Strahlen entgegen.

„Es ist schön, Euch lächeln zu sehen“, begann Runa plaudernd ein Gespräch.

„In meinem Herzen befindet sich unendliche Trauer“, erwiderte Nela schwermütig.

„Das wird vergehen. Ihr müsst stets daran denken, dass Eure Familie bei Euch ist. Auch nach dem Tod bleiben die Ahnen beschützend an der Seite ihrer Sippe. Sie werden zu unseren Fylgjen, zu unseren Schutzgeistern. Seit Eurer Geburt begleitet Euch bereits eine Fylgja, die Euch möglicherweise schon einmal in einem Traum begegnete. Meistens zeigen sie sich in der Tiergestalt, die die Seele des Schützlings widerspiegelt. Erst wenn wir sterben, offenbaren sie uns ihre wahre Identität und begleiten uns ins Totenreich.“ Interessiert hörte Nela der Elfe zu.

„Haben Sie Ihre Fylgja im Traum gesehen? Welchem Tier gleicht sie?“

„Eine Luchsin“, antwortete Runa stolz.

„Zweifellos haben Sie Augen und Ohren wie ein Luchs, aber Sie wollen doch gewiss niemanden etwas abluchsen, oder?“, witzelte Nela, und Runa schenkte ihr einen amüsierten Blick. In ihren Erinnerungen suchend, dachte Nela über ihre Fylgja nach. Ein weißer Schwan.

„Die Sippe ist ein mächtiger Verbund. Zu ihm gehören die Lebenden wie die Toten. Stets kehren wir in den Schoß unserer Familie zurück, denn dort ist unser vorgesehener Platz“, fügte Runa gefühlvoll hinzu.

„Meine Sippe ist tot“, flüsterte Nela bedrückt.

„Nein. Erst, wenn es keine Nachfahren mehr gibt, stirbt eine Sippe gänzlich“, widersprach Runa energisch, unverzüglich driftete Nela mit ihren Gedanken zurück zu ihrem Kummer.

„Tristan, wo ist Euer Schwert?“, fragte Jarick nach einer Weile des Schweigens.

„Ich habe keins.“ Dankbar für die Ablenkung, die ihr diese Unterhaltung bot und sie aus ihren Sorgen herauszog, schaute Nela zwischen den beiden Männern hin und her, die unmittelbar vor ihr ritten. Jarick setzte an, um nachzuhaken, aber Tristan kam ihm zuvor und gab ihm ohne Aufforderung die Antwort. „Ich gehöre zu dem Orden Elhaz und bin ein Walkür, aber ich bin kein Wächter, deshalb besitze ich keins. Allerdings habe ich mir das Kämpfen selbst angeeignet, indem ich in unserer Welt Schulen besuchte, in denen es unterrichtet wird.“

Verstehend nickte Jarick. „Trotzdem solltet Ihr ein Schwert besitzen. Zu einem Wächter gehört auch ein Schwert!“

„Aber…“, wollte Tristan protestieren.

„Nein“, unterbrach Jarick ihn konsequent, „ich habe schon sehr viele Walkür kennen gelernt, Tristan. Einige waren für die Aufgabe des Wächters geeignet und andere nicht. Ihr seid als Wächter geboren. Ihr habt es in Eurem Blut. Der Orden in Midgard mag es Euch nicht zugestehen, aber das Schicksal tut es.“

„Wer hat sich solch eine dumme Regel ausgedacht, dass Ihr kein Schwert habt? Ihr seid ein Walkür!“, mischte Bado sich verständnislos ein.

„Damit nimmt man Euch die Möglichkeit, ein Alvare zu werden. Kaum ein Meister würde Euch wählen“, wusste Runa.

„Es sei denn, es ist vom Schicksal bestimmt“, fügte Till noch hinzu.

„Was ist das? Alvare?“ Nela konnte sich die Nachfrage nicht verkneifen.

„Die Alvaren sind Gesetzeshüter und sorgen für Recht und Ordnung in unserer Welt. Eine Einheit besteht meistens aus einem Meister, einer Walküre und einem Wächter, die die Blutsbrüderschaft Threnning eingegangen sind. Für die Alvaren gibt es einen eigenen Codex“, antwortete Tristan.

„Wer ist der Meister?“

„Meister sind…“, begann Jarick, hielt aber inne, als er das markerschütternde Heulen eines Wolfes hörte. Hektisch schaute Nela sich um, doch sie konnte nirgends das Tier ausmachen. Unweigerlich sah sie die Zähne fletschenden Wölfe vor sich. Alarmiert schauten sich die anderen um.

„Wir sollten weiterreiten“, drängte Bado ernst, bevor er sein Pferd antrieb. Die anderen folgten ihm galoppierend.

Langsam versank die Sonne am Horizont und färbte den Himmel in unterschiedliche Rottöne. Wehmütig betrachtete Nela diesen wunderschönen, schon fast magischen Moment der Dämmerung. Noch bevor es dunkel wurde, schlugen sie ihr Lager für die Nacht auf. Mühselig stieg Nela von ihrem Pferd, weil ihre Beine vom Muskelkater und den wundgescheuerten Innenseiten ihrer Oberschenkel schmerzten.

Jarick verteilte die Aufgaben. „Nela, Ihr sucht Brennholz in der Nähe.“ Ohne Widerworte machte sie sich auf den Weg. Allerdings taten ihr die Beine bei jedem Schritt weh, deshalb presste sie die Zähne zusammen, damit ihr kein Wehlaut versehentlich entfuhr. Vorsichtig bückte sie sich, um die kleinen Äste aufzusammeln, die auf dem Boden verstreut herumlagen.

Mit einem Arm voll Brennholz stand sie vor dem Nachtlager und schaute den anderen beim Zeltaufbau zu. Till und Tristan spannten eine Plane von einem zum anderen Baum. Mit einem langen Stab hob Runa mittig die Plane an, danach breitete sie eine Decke auf den Boden aus, währenddessen Bado die Pferde versorgte. Jarick hingegen kümmerte sich ums Lagerfeuer. Beeindruckt schaute Nela ihm dabei zu, wie er die kleinen Zweige zum Brennen brachte. Ermattet ließ sie das gesammelte Brennholz neben der Feuerstelle fallen.

Anerkennend schenkte Jarick ihr ein Lächeln und sprang aus der Hocke auf. „Till, lass uns gehen und nachsehen, was oder wer sich hier in der Nähe herumtreibt.“ Die beiden ehemaligen Gardisten verließen das Nachtlager in unterschiedlichen Richtungen.

Vorsichtig, sich möglichst selbst keine Schmerzen verursachend, setzte Nela sich ans Feuer. Runa reichte ihr Brot und Obst. Hungrig biss Nela in das Stück Brot, als auch der Berserker und der Walkür sich zu ihnen ans Feuer gesellten, um ihren Hunger zu stillen. Kaum miteinander redend, saßen sie vor dem flackernden Feuer. Alle waren von den Strapazen des Tages müde, daher wollten sie sich nur noch zur Ruhe begeben. Zuerst verabschiedete Runa sich und machte es sich unter dem großen Segelzelt gemütlich. Nur kurz darauf folgten ihr Bado und Tristan.

Zwar war Nela auch sehr müde, aber sie ließ ihren Körper und ihre traurige Seele noch weiter vom Feuer wärmen. Diese Wärme tat ihr so unheimlich gut. Außerdem gab es noch einen Grund: Die Innenseiten ihrer Oberschenkel schmerzten höllisch. Sie wähnte sich alleine, als sie vorsichtig den Rock hochhob, um die wunden Stellen zu untersuchen. Leider hatte sie keine Salbe. Warum hatte sie ihre Hose nicht unter den Rock gezogen? Missgestimmt nahm sie die Feldflasche, anschließend goss sie etwas Wasser auf ein Tuch. Den nasskühlen Lappen legte sie vorsichtig auf eine ihrer wundgescheuerten Stellen.

„Die Salbe wird Euch helfen“, ertönte plötzlich Jaricks Stimme neben ihr. Erschrocken fuhr sie zusammen und ließ den Lappen fallen. Fürsorglich hockte er sich neben sie und bot ihr die kleine Schatulle an, in der sich der beruhigende Balsam befand. Schnell bedeckte Nela ihre Beine.

Zögernd griff sie danach. „Danke.“ Jarick erhob sich, um sich ihr gegenüber auf die andere Seite des Feuers zu setzen. Fasziniert betrachtete Nela, wie die Flammen ihn in einen magischen Schein hüllten. Sein Blick hingegen war in die Dunkelheit gerichtet, dennoch wartete Nela mit dem Verarzten ihrer Beine und stellte die Schatulle neben sich auf den Boden.

„Worauf wartet Ihr?“, wollte Jarick wissen.

„Ich…“, stotterte Nela verlegen und starrte in die Flammen. Wie sollte sie das nur ausdrücken?

Plötzlich stand er vor ihr. „Soll ich Euch helfen?“, bot er ihr allen Ernstes an.

„Nein“, entfuhr es ihr hastig.

Wieder ging Jarick vor ihr in die Hocke. „Ihr werdet den morgigen Tag nicht überstehen, wenn die wunden Stellen nicht behandelt werden.“ Verstehend nickte sie, aber reagierte nicht.

Beherzt griff Jarick nach der Salbendose und öffnete den Deckel. „Je länger Ihr wartet, desto weniger Wirkung wird die Salbe morgen zeigen.“

„Was haben Sie vor?“, fragte Nela. Es war eindeutig, was er beabsichtigte.

„Da Ihr Euch nicht selbst die Salbe auftragen wollt, werde ich es tun“, teilte Jarick ihr streng mit.

„Nein“, widersprach sie ihm vehement mit einem energischen Kopfschütteln.

„Oh doch“, beharrte der Wikinger. Wie kam sie nur aus dieser unangenehmen Situation wieder heraus? „Nela, ich sehe nicht das erste Mal die Schenkel einer Frau“, sagte er einfühlsam.

„Aber meine“, antwortete sie ihm peinlich berührt. „Ich werde es tun.“ Entschlossen griff sie nach der Salbe, dabei berührten sich kurz ihre Hände. Mit Schwung löste er sich aus der Hocke und drehte sich höflich einige Schritte entfernt um. Hastig verteilte Nela die Salbe auf die Wunden, zugleich verzog sie ein schmerzerfülltes Gesicht.

„Danke.“ Sie hielt ihm die Schatulle mit der Heilsalbe hin.

„Ihr könnt sie behalten. Ihr werdet sie noch brauchen“, lehnte er die Rückgabe ab, als er sich zu ihr setzte. Schweigend schauten beide in das Lagerfeuer.

„Verzeiht, wenn ich Euch zu nah getreten bin. Das war nicht meine Absicht“, entschuldigte Jarick sich für sein aufdringliches Verhalten.

„Ist schon vergessen. Sie wollten nur helfen“, erwiderte Nela zaghaft. Wieder wurde es still, denn keiner von beiden wusste, was er sagen sollte. Angespannt schaute Nela zu ihrem schlafenden Schutzengel.

„Ihr solltet Euch auch schlafen legen. Es wird morgen sehr anstrengend“, riet Jarick.

„Was ist mit Ihnen?“

Ein Lächeln umspielte seinen Mund. „Macht Euch um mich keine Sorgen. Ich brauche nicht viel Schlaf.“

Umständlich stand Nela auf, um zum Schlafplatz zu gehen. Ermattet legte sie sich unter den Baldachin neben Tristan, augenblicklich übermannte sie der Schlaf.

Stimmen, Metallgeklapper und Hufscharren weckten Nela. Blitzschnell richtete sie sich auf, obwohl ihr Körper schmerzte. Ihr Blick blieb an Tristan und Jarick haften, die sich mit Schwertern bewaffnet gegenüber standen. Tristan lachte.

„Du musst deinen Arm höher halten“, erklärte Jarick. Parallel zum Boden hielt Tristan mit beiden Händen das Schwert am Heft fest. Sachte korrigierte Jarick mit der flachen Seite seines Schwertes Tristans Armhaltung. Gut gelaunt beobachteten Bado und Till die Kämpfenden, währenddessen sie hin und wieder Kommentare abgaben.

Nela schnappte sich ihre Tasche, um ihre Hose herauszuholen, bevor sie sich zu Runa ans Lagerfeuer begab. Frühzeitig bemerkte die Elfe sie und schenkte ihr ein heiteres Lächeln, während Nela sich einen Apfel aus der Vorratstasche nahm, in den sie hungrig hineinbiss.

„Tristan ist gut. Es ist ein Jammer, dass er nicht von Kindesbeinen an die Kunst des Schwertkampfes erlernt hat. Er wäre ein hervorragender Schwertkämpfer“, sagte Runa mit Blick auf die beiden Übenden. Sanft strich sie mit der Hand über ihren Bogen. „Ich habe den Bogen selbst gefertigt. Jede Bogenschützin stellt ihren Bogen selbst her, wenn das Ende des Lernens gekommen ist.“

Kurz warf Nela einen Blick auf den Bogen. Das helle, gebogene Stück Holz mit einer dünnen Grifffläche in der Mitte zeigte kaum Verzierungen.

„Wollt Ihr es einmal versuchen?“ Begeistert über ihren Vorschlag sprang Runa auf, um Nela die Hand zum Aufstehen zu reichen. Zögernd nahm Nela sie und ließ sich vom Boden hochziehen. Die Elfenkriegerin griff nach dem Köcher und dem Bogen. Suchend nach einem guten Ziel, blickte Runa sich um, und fand es in einer großen Buche. Geduldig zeigte sie Nela die Stellen zum Festhalten und Spannen des Bogens.

„Spannt den Bogen“, befahl Runa, und Nela agierte. Die Walküre zog mit der rechten Hand an der Sehne, die sich nach hinten dehnte, somit stand der Bogen unter Spannung.

„Das ist doch schon ganz gut“, lobte Runa sie, während sie ihr einen Pfeil reichte.

„Das Ende des Pfeils haltet Ihr zwischen dem Zeige- und Mittelfinger fest. Der Pfeil liegt parallel zu Eurem Arm“, erklärte Runa, während sie den Pfeil positionierte. „Hebt den Bogen höher, damit Ihr Euer Ziel anvisieren könnt. Ihr müsst eins mit dem Pfeil und dem Bogen werden. Euer angewinkelter und gestreckter Arm müssen zu einer Einheit verschmelzen. Sie führt den Pfeil zum Ziel. Achtet auf die richtige Höhe.“ Nela folgte den Anweisungen, die Runa ihr gab und visierte das Ziel an. „Spannt den Bogen, soweit Ihr könnt.“ Ihre Muskeln zitterten leicht von der ungewohnten Anstrengung. Leise, kaum hörbar flüsterte Runa ihr ins Ohr: „Lasst los!“ Der Pfeil zischte los und traf zu Nelas Verwunderung sein Ziel.

„Ich wusste, dass Ihr ein Talent dafür habt“, lobte Runa sie begeistert.

„Das war nur Anfängerglück.“

„Probiert es gleich noch einmal“, forderte Runa sie sofort auf und hielt ihr den nächsten Pfeil hin. Diesmal war Nela auf sich alleine gestellt. Konzentriert suchte sie das Ziel, spannte den Bogen und ließ los. Wieder steckte der Pfeil im Stamm, allerdings weiter unten.

„Ihr werdet eine hervorragende Bogenschützin“, platzte es aus Runa freudig heraus. Nela schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, aber sie wusste nicht so recht, was sie von dem Ganzen halten sollte.

Jetzt bemerkte Nela erst, dass die Männer ihre Beschäftigung unterbrachen und beeindruckt den beiden Frauen beim Bogenschießen zuschauten. Während Runa zu dem Baum ging, um die zwei Pfeile aus dem Stamm herauszuziehen, verharrte Nela an ihrem Platz.

„Sofort aufbrechen!“, stieß Jarick plötzlich alarmiert aus. In Windeseile bauten sie das Lager ab.

„Warum plötzlich die Eile?“, fragte Tristan besorgt, als er auf seinen Fuchs stieg.

„Verfolger sind in der Nähe“, gab Jarick ihm zur Antwort.

Ungewollt keimte wieder Panik in Nela auf. Schleunigst stieg sie auf ihre Stute. Fahrig suchte sie mit dem rechten Fuß nach dem Steigbügel, während sie sich hektisch umsah, aber konnte nirgends jemanden entdecken.

„Wir müssen hier weg“, drängte Jarick und eilte zu Samru.

Nela Vanadis

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