Читать книгу Nela Vanadis - Nina Lührs - Страница 9

Neue Wegbegleiter

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In dem einzigen Blothus der Stadt saß Jarick in einer dunklen Ecke, gedankenverloren starrte er den Lebenssaft in seinem Becher an. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu den beiden Menschen aus Midgard. Zufällig war er ihnen im Eichenhain begegnet und ohne zu zögern, befreite er sie aus einer lebensbedrohlichen Situation mit dem aufgehetzten Wolfsrudel. Innerlich lachte Jarick spöttisch auf. Es war kein Zufall, sondern Schicksal. Immer war es das Schicksal.

„Huscarl!“, erklang Fidos erfreute Stimme, ihn gefunden zu haben. Eilig durchquerte er den Gastraum. „Seid Ihr endlich diese Nervensägen losgeworden?“ Wieder setzte er sich ungebeten zu ihm. „Das hier ist der richtige Ort für uns.“ Der Drauger breitete seine Arme aus, als er den letzten Satz verkündete, und Jarick seufzte resigniert. Wann gab dieser Fido es endlich auf, ihm hinterherzulaufen?

„Wirt, bringt mir Lebenssaft!“, verlangte er laut.

„Wenn Ihr an diesem Tisch sitzen bleiben wollt, dann benehmt Euch“, mahnte Jarick kühl, da er keine Muße hatte, ihn schon wieder vor die Tür zu setzen.

Verständnislos drehte Fido seinen Kopf zu ihm. „Ich benehme mich doch immer!“ Fassungslos lachte Jarick auf, denn Fidos Vorstellung von Benehmen unterschied sich erheblich von der Norm.

Der drauganische Wirt brachte einen Krug gefüllt mit Lebenssaft und einen Becher. „Wohl bekommt`s“, wünschte er dem Drauger, flugs verschwand er wieder. Gierig schenkte Fido seinen Becher voll und nahm einen großen Schluck. Mit Wucht stellte er das kleine Gefäß auf den Holztisch, sodass etwas von der Flüssigkeit hinausschwappte, dabei rote Spritzer auf der Tischplatte hinterlassend.

„Ihr müsst mir erzählen, wie Ihr und Till es angestellt habt, in die Garde aufgenommen zu werden“, verlangte Fido.

Der Angesprochene lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Fido, stellt Euch bei der Garde vor, wenn Ihr unbedingt ein Huscarl werden wollt.“

„Das werde ich auch. Aber ich muss wissen, was ich tun muss, damit ich ganz sicher aufgenommen werde.“

„Ich weiß es nicht“, log Jarick. Er kannte die Eigenschaften, die ein Anwärter für die Garde besitzen musste. Fido besaß keine Fähigkeiten, um als außenstehender Drauger in der Garde zu dienen. Schlichtweg eignete er sich nicht dafür. Unweigerlich stellte Jarick sich die Frage, warum Fido ausgerechnet zur Garde wollte.

„Wie habt Ihr es geschafft?“, forschte Fido nach. Ahnungslos zuckte Jarick mit den Schultern. „Was ist mit Till Vegard? Er ist ebenfalls ein Drauger und ein Huscarl.“

„Da müsst Ihr Till fragen“, wich Jarick teilnahmslos auf seine wiederholenden Fragen aus.

Desinteressiert ließ Jarick seinen Blick durch den Gastraum gleiten, der zu dieser Abendstunde noch nicht sehr belebt war. Umringt von drei leicht bekleideten Blotjas, stillte ein Drauger seinen Durst. Seine Fangzähne hatte er in den Hals einer hübschen Rothaarigen versenkt. An einem anderen Tisch saßen zwei weitere Drauger, die Karten spielten. Abwesend putzte der Wirt aus Langeweile seinen sauberen Tresen. Es war niemand da, der sich gerne mit Fido unterhalten würde. Gab es überhaupt jemanden in Asgard oder gar in den neun Welten, der Fidos Gegenwart genoss? Verzagt nahm Jarick einen Schluck seines Getränks, wohltuend lief der rote Saft seine Kehle hinunter. Ganz bestimmt spielte Jarick nicht Fidos Unterhalter, daher stand er auf und warf ein paar Münzen auf den Tisch. Keine unnötige Minute länger wollte er in der Gegenwart dieses Plagegeistes verbringen.

„Ihr wollt schon gehen?“, fragte Fido gekränkt.

„Ja.“ Schnellen Schrittes ging Jarick hinaus auf die Straße, um dem Mief des Blothuses und Fido zu entkommen. Tief atmete er die frische Luft in seine Lungen ein, gleichzeitig genoss er die anbrechende Nacht. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu Tristan und Nela. Er mochte nicht nur den jungen Walkür, der noch viel zu lernen hatte, sondern auch die Walküre mit dem umwerfenden Lächeln, ihren langen hellbraunen Haaren und ihren traurigen, grünen Augen.

Ziellos spazierte er durch die friedliche Kleinstadt. Die meisten Bewohner hatten sich schon zur Nachtruhe begeben. Nur gelegentlich begegnete Jarick Passanten, die wie er durch die einsamen Straßen spazierten oder eilig an ihr Ziel gelangen wollten. Wachsam hielt er nach einer Weile inne, da er sich beobachtet fühlte. Dem warnenden Gefühl folgend, richtete er all seine Sinne auf seine Umgebung. Tief sog er die Luft durch seine Nase, seine Augen sondierten die Gegend, und sein lysanischer Sinn verriet ihm, dass ein Drauger in der Nähe war. Sofort erkannte er die Aura des Verfolgers. Es handelte sich um Fido. Langsam folgte Jarick den Lauf der Straße, denn Fido sollte nicht wissen, dass er seine Gegenwart bemerkt hatte. Allmählich, aber unauffällig beschleunigte er seinen Schritt. Natürlich fiel Fido zurück, da er kein guter Verfolger war. Jeder seiner Spezies nahm ihn schnell wahr, konnte ihn aber auch wieder abschütteln. Definitiv gehörte das Verfolgen nicht zu Fidos Stärken. Seine Beharrlichkeit hingegen war nicht zu unterschätzen, da er nicht aufgab, bis er jemanden entdeckt hatte. Flink bog Jarick in eine Seitengasse ein und rannte los. Blitzschnell entfernte er sich etliche Straßen von Fido. Schließlich drosselte Jarick seine Geschwindigkeit und schlenderte an den unterschiedlichen Läden mit ihren Holzwappen, die an Eisengestelle über dem Gehweg ragten, vorbei. Das Wappen des Schneiders kam zum Vorschein, sofort stoppte Jarick in seiner Vorwärtsbewegung, um die aufgemalte Schere zu betrachten. Er dachte an Nela.

Der abnehmende Mond schien hell auf das kleine Städtchen herab und spendete den Umherwandernden genügend Licht. Vereinzelt gab es Laternen, die ebenfalls die verwaisten Straßen beleuchteten. Doch Jarick benötigte weder die eine noch die andere Lichtquelle, um seine Umgebung auszumachen, denn er sah sie fast genauso gut wie am Tag. Seine Pupillen hatten sich geweitet, dennoch nahmen sie das spärliche Licht dankbar auf. Seine Füße trugen ihn zu der Schmiede, dort schaute er auf das Wappen mit dem Amboss, einem Hammer und einer Zange.

Leise betrat er die große Scheune mit den Boxen, die von halbhohen Bretterwänden umrandet wurden. Lautlos ging er zu Samru, der friedlich in seinem Stallabteil stand. Gedankenvoll strich Jarick über die Stirn des Hengstes. Sein Blick wanderte zu den beiden Füchsen. Er musste endlich aufhören, an die beiden aus Midgard zu denken. Doch Fragen wirbelten in seinem Kopf. Warum waren sie hier? Flucht? Nur vor wem und weshalb?

Jarick riss sich aus seinen Überlegungen heraus und verließ den Stall. Diesmal ging er ruhelos die Straße entlang. Er musste endlich den Wächter sowie die Walküre aus seinem Kopf bekommen, doch er konnte den Gedanken an die Zwei nicht abschütteln. Das Schicksal wollte ihm eine Botschaft zukommen lassen. Nur welche? Noch verstand er das Flüstern der Nornen nicht. Unweigerlich kam er zurück zur Taverne. Als er schon auf der anderen Straßenseite an ihr vorbeigeeilt war, hielt er inne und drehte sich bedächtig um.

Im Schutz der Dunkelheit beobachtete er das Haus, hinter dessen massiven Steinwänden Nela und Tristan friedlich schliefen. Natürlich hatte er ein Ziel gehabt. Wie konnte es auch anders sein? Die ganze Zeit spukten Tristan und Nela in seinem Kopf herum. Zwangsläufig musste er hier ankommen, denn die Zwei waren ihm nicht gleichgültig. Nachdenklich lehnte er sich an die Hauswand. Ohne es zu wollen, hatte er die beiden Schicksalsreisenden freundschaftlich in sein Herz geschlossen. Jarick seufzte. Was erwartete das Schicksal von ihm?

Dumpfe Fußschritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster, umgehend richteten sich seine empfindlichen Sinne auf das Geräusch. Fido. Natürlich! Jarick drückte sich weiter in den Schatten der Hausecke, zugleich konzentrierte er sich darauf, seine lysanische Präsenz zu verstecken. Eine schützende Aura legte sich um seine ohnehin schon verhüllte Identität. Fido stoppte vor der Taverne, spähte durch das Fenster hinein, doch enttäuscht ließ er einen verärgerten Seufzer aus, als er seine gesuchte Person nicht entdeckte. Kurz schaute er sich um und stampfte dann weiter die Straße hinunter. Erleichtert ließ Jarick Luft aus seinen Lungen entweichen. Fido war wirklich eine Plage. Wer hatte diesen aufdringlichen, unangenehmen Zeitgenossen nur in einen Drauger verwandelt?

Jarick löste sich aus seinem Versteck, aber auch nur sporadisch, da er im nächsten Moment vor einem Trupp Krieger in den Schutz der Dunkelheit zurückwich. Mit wachsamen Augen beobachtete er die Menschen. Nach ihrer Kleidung und ihren Waffen zu urteilen, stammten sie aus Midgard. Ein Späher schaute durch das Fenster in die Gaststube der Taverne und trat Augenblicke später mit einem Kopfschütteln zurück.

„Dann werden sie schon oben in einem Zimmer sein“, überlegte der Anführer der Gruppe laut.

„Worauf warten wir?“, wollte einer der Männer ungeduldig wissen.

„Keine übereilten Handlungen! Wir sind in Asgard!“, blaffte der Anführer seinen Untergebenen harsch an. Natürlich hatte es sich wie ein Lauffeuer in Aikoloh herumgesprochen, dass zwei Midgardmenschen dem Städtchen einen Besuch abstatteten. Für die Birger war es nicht schwer gewesen, sie ausfindig zu machen, da die Bewohner gerne plauderten.

Jaricks Vermutung war jetzt Gewissheit, Nela und Tristan befanden sich auf der Flucht. Die Nornen flüsterten ihm zu, die beiden so schnell wie möglich zu warnen und zu helfen.

„Ihr bleibt hier, die anderen kommen mit mir“, wies der Anführer seine Krieger an.

Ungesehen schlich Jarick im Schatten der Häuser weg, überquerte sehr flink die Straße und pirschte sich in die Seitengasse neben der Taverne. Mit einem geschulten Blick entdeckte er ein offenstehendes Fenster. Mühelos sprang er durch die Öffnung im ersten Stock und landete auf dem Flur. Poltern und Rufe kündigten die bewaffneten Männer in der Gaststube an. Jarick musste sich beeilen. Bisher setzten die Krieger aus Midgard ihre Waffen nicht ein, sondern verlangten lautstark Antworten von dem Wirt. Anscheinend sollte kein unnötiges Blut fließen.

Ein Zusammenspiel seiner Sinne ermöglichte es Jarick, Tristan und Nela rasch ausfindig zu machen. Plötzlich hallten Schüsse durch das Haus, daraufhin liefen Leute ängstlich an ihm vorbei zur Treppe. Aus einem Gästezimmer trat ein kampfbereiter Berserker, der sich besonnen umsah. Achtungsvoll nickte Jarick dem flüchtig bekannten Krieger zu, bevor er ohne Zögern die nächste Tür aufriss und das Zimmer betrat.

Schützend stand Tristan, der mit einer Midgardwaffe auf den Eindringling zielte, vor Nela. Jarick bewegte sich zu schnell für die Augen des Walkürs. Als er auf Tristan zueilte, zog er die Hand des Wächters fort, bevor er auf den Lysanen schießen konnte. „Ich bin ein Freund“, zischte Jarick eindringlich.

Erschaudert starrte der Walkür ihn an. „Jarick?“, stieß er atemlos aus. Dicht hinter ihm stand Nela, zitternd am ganzen Körper. Die Walküre hatte Todesangst, aber dennoch ging von ihr eine Entschlossenheit und eine Zuversicht aus, diese Situation zu überleben. Sanft ergriff Jarick ihren Arm. Erschrocken zuckte sie bei der Berührung zusammen, aber stieß keinen Laut aus. In ihren Augen spiegelte sich neben der ganzen Angst auch Freude, ihn zu sehen.

„Schnell, wir müssen hier weg“, drängte Jarick.

„Zu spät“, erklang eine männliche Stimme. Schutzsuchend stürmten der Berserker und die blonde Bogenschützin, die vorhin in der Gaststube gewesen war, in das Zimmer. Schleunigst verriegelte er die Tür.

„Sie haben verfluchte Midgardwaffen“, warnte der Krieger sie zeitgleich mit dem Knallen der Schüsse.

„Ich bin schnell“, erwiderte Jarick trocken.

„Wie viele sind es?“, fragte Tristan eilig.

„Zehn“, antwortete Jarick, während sein Blick jeden in dem Raum streifte. Verteidigungsbereit stand der rotblonde Kämpfer mit seinem Schwert in der Hand vor der Tür. Direkt neben ihm verharrte die Kriegerelfe mit gespanntem Bogen. Angespannt mit einem starren Blick zur Tür, stand der Walkür neben Jarick, und die Walküre hielt krampfhaft den Riemen ihrer Wildledertasche fest, der quer über ihrer Schulter lag.

„Wir können nicht auf die Alvaren warten“, forderte der kampfbereite Krieger, der erwartungsvoll sein Schwert gekonnt in dem kleinen Raum schwang.

„Ihr könnt uns Deckung geben“, befahl Jarick der Elfe.

Im nächsten Moment riss der Krieger die Tür auf, während die Bogenschützin lautlos tödliche Pfeile auf die Angreifer sausen ließ. Leise stürmten Jarick und der Krieger auf zwei Männer, als diese sich schutzsuchend vor den Geschossen in die Türrahmen stellten. Blitzschnell schwang Jarick sein Schwert und tötete einen Mann, während der Krieger ebenfalls einen Angreifer ausschaltete. Mit einem Pfeil in der Brust lag ein Eindringling mitten auf dem Korridor, ein weiterer kauerte sterbend an der Wand.

Wachsam schaute Jarick sich um und horchte nach verräterischen Geräuschen, die den Feind ankündigten. Prügelwütige Gäste lieferten sich einen Kampf mit den noch in der Gaststube Verbliebenen. Das ermöglichte eine unbemerkte rasche Flucht, die im Augenblick die beste Überlebensstrategie darstellte, denn es war schwer einzuschätzen, wann noch weitere auftauchten.

„Birger“, stieß der Krieger verachtend aus, als er das Symbol des Ordens erkannte. Ein Kreis mit grünen und blauen Flächen, das Midgard darstellte.

Hurtig schlichen sie den Flur entlang und die Treppe hinunter. Ungesehen schafften sie es zu dem Hinterausgang, durch den sie leise hindurchschlüpften, als die Stimmen der Birger auf der Treppe lauter wurden. Im Schutz der dunklen Gasse verharrte die kleine Gruppe, um die Lage um sich herum zu prüfen. Von weitem hörte Jarick Hufschläge auf dem Pflaster dröhnen. Schnell führte er seine Begleiter aus dem Schutz der dunklen Gasse auf einen parallelen Weg zu der Zunftstraße. Laufend begaben sie sich zur Schmiede, damit sie die Kleinstadt schleunigst verlassen konnten.

Vorsichtig näherten sie sich der Scheune. Zu Jaricks Erstaunen hielt sich dort kein Birger auf. Entweder war der Anführer nicht sonderlich intelligent oder er war so von sich überzeugt, dass er die Eventualität ausschloss, dass seine beiden Zielpersonen ihm entkommen konnten. Trotzdem blieb Jarick wachsam.

Eilig sattelten sie die Pferde. Schweigend brachte die kleine Gruppe möglichst ruhig die Pferde aus der Stallung, um dann zügig aufzusitzen. Die Elfe besaß eine Grauschimmelstute, die sie nun mit ihren Hacken antrieb. Schnell folgte der Krieger auf seinem braunen Kaltblut der Bogenschützin.

Jarick drehte sich noch einmal mit Samru, um einen Blick auf den hinteren Teil der Straße zu werfen. Bewaffnete Birger tauchten auf. Samru bäumte sich auf, bevor Jarick ihn herumriss und antrieb. Galoppierend folgte er den anderen zum Stadttor. Schüsse fielen. Die Birger machten ihren Ärger Luft, als sie bemerkten, dass Nela und Tristan ihnen erneut entkamen.

Erst als Jarick sicher war, dass niemand sie verfolgte, gab er ein Handzeichen, daraufhin drosselten die Reiter das Tempo. Abseits des Weges an einem kleinen Bach machten sie Rast.

„Ich bin Bado Behrens von den Berserkern“, stellte sich der Krieger zuerst vor.

„Runa Elfert“, nannte die Bogenschützin ihren Namen, anschließend führte sie ihre Stute an den Bach heran.

„Das ist Nela und ich bin Tristan.“

„Ich bin Jarick aus Vegard. Das war nicht der erste Angriff der Birger, oder?“

Mit Tränen in den Augen und einer bebenden Stimme antwortete Nela ihm: „Nein.“

„Die Birger sind ein lästiger Orden“, stieß Bado mit Verachtung aus.

„Warum jagen sie Euch?“, erkundigte Runa sich.

„Eigentlich jagen sie uns immer“, wich Tristan der Elfe aus, danach führte er die zwei Fuchsstuten zum Bach.

Konzentriert richtete Jarick seine Sinne auf die Umgebung. Bisher verfolgte sie niemand, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Birger in den Radius kamen, den er mit seinen Fähigkeiten erkunden konnte. „Ganz in der Nähe ist meine Bleibe. Dort können wir uns ausruhen“, schlug Jarick vor.

Achtsam begaben sie sich wieder auf die Straße, augenblicklich trieben sie die Pferde an. Nach einer Weile verließen sie den Hauptweg, um querfeldein auf das kleine Dorf Vegard zuzureiten, das mitten in einer großen Waldlichtung lag und von einem hohen, massiven Wall umgeben war. Vor dem mächtigen Eingangstor gab Jarick dem Wachhabenden in dieser Nacht ein Zeichen, jener ließ die Ankömmlinge hinein. Die kleine Gruppe folgte dem Weg zwischen den Weiden und Feldern zu Jaricks Bleibe.

Vor einem Blockhaus mit einem angrenzenden Stallgebäude und einer Koppel endete ihre Reise vorerst. Nachdem sie die Pferde untergebracht hatten, führte Jarick seine Besucher in sein Haus, sogleich entzündete er Öllampen. Misstrauisch blieb Bado am Eingang stehen und schielte immer wieder durchs Fenster nach draußen.

„Der Wachhabende wird sich melden, sobald Feinde sich nähern“, beruhigte Jarick den Berserker, der ihm zwar zunickte, aber trotzdem am Fenster verweilte.

„Es kommt jemand“, informierte Bado sich kampfbereit machend, flugs eilte Jarick zum Fenster. Der Wachhabende hatte keinen Alarm gegeben, also konnte es nur ein Einheimischer sein. Sofort erkannte Jarick seinen Freund, der sein Pferd gnadenlos antrieb, bis er es kurz vor dem Haus zum Stillstand brachte. Beruhigend legte er Bado eine Hand auf die Schulter, bevor er die Tür öffnete. „Till ist ein Freund und ein ehrenwerter Huscarl. Er lebt in Vegard.“

Der Ankömmling stürmte an ihm vorbei ins Haus. „Zum Glück bist du hier, Jarick. Wir müssen etwas unternehmen. Die Birger töten…“ Till hielt in seiner Bewegung und in seinem Redefluss inne, als er Tristan bemerkte, der sich schützend vor Nela stellte. „Till?“

„Tristan?“, erwiderte sein Freund genauso verblüfft.

„Ihr kennt Euch?“, hakte Bado nach, während er zwischen Till und Tristan hin- und herschaute.

„Ja“, antwortete Till knapp, dann wandte er sich wieder dem Walkür zu. Beschwichtigend hob er seine Hände. „Tristan, alles ist in Ordnung. Ich werde ihr nichts tun.“ Der Walkür atmete ein paar Mal tief durch. Danach ließ er Nela hinter seinem Rücken hervorkommen.

„Die Birger töten… Du bist mit deinem Satz nicht zu Ende gekommen“, erinnerte Jarick seinen Freund.

Entsetzt fuhr er fort: „Sie töten ganze Familie des Ordens Elhaz.“

„Ich fass` es nicht“, entfuhr es dem Berserker wütend. „Die Birger schüren einen neuen Krieg.“

„Es sieht danach aus. Zumindest in Midgard.“

„Ich bezweifle, dass der Orden Elhaz hier in Asgard davon weiß“, fügte Jarick nachdenklich hinzu. „Es gab keine warnenden Bekanntmachungen.“

„Wir sollten zurück nach Midgard“, entschied der Walkür aufgewühlt. „Wir können Euch nicht damit hineinziehen.“ Er griff nach seiner Tasche, damit signalisierte er Nela, wieder aufzubrechen.

„Das nächste Schicksalstor ist im Eichenhain, aber das Ordenshaus in Midgard ist von Birgern besetzt. Ich hatte Glück, dass ich ungesehen durch das Schicksalstor hindurch kam“, warnte Till.

Jarick stellte sich Tristan in den Weg. „Ich werde Euch nach Folkwang bringen. Dort seid Ihr in Sicherheit, und es gibt auch ein Schicksalstor nach Midgard.“

„Ihr habt schon mehr als genug für uns getan. Das ist unser Problem“, lehnte Tristan sein Angebot ab.

„Die Birger suchen jetzt auch nach einem Berserker, einer Elfe und mir“, argumentierte Jarick.

„Ich bin dabei“, schwur Bado. „Ich helfe Euch.“

„Auf mich könnt Ihr auch zählen“, versprach Runa.

Dankbar nickte Tristan. „Lebt Johanna noch?“, fragte er besorgt.

„Ja. Soweit ich weiß, konnte sie fliehen“, antwortete Till dem Walkür. „Bestimmt feilen sie und ihr Sohn Eduard bereits an einem Plan, um das alte Landhaus zurückzubekommen.“ Jarick wusste, dass sein Freund sich gerne und oft in Midgard aufhielt. Natürlich hatte er dort auch Freunde gewonnen.

„Morgen brechen wir auf. Bis dahin sollten wir uns alle ausruhen“, bestimmte Jarick. „Im ersten Stock findet Ihr Schlafmöglichkeiten.“ Zustimmend nickten Bado und Runa, anschließend begaben sie sich mit den anderen beiden nach oben.

Während Till aus dem Keller Lebenssaft heraufholte, entzündete Jarick ein Feuer im Kamin. Mit seinen Zähnen zog Till den Korken aus der Flasche und schenkte etwas von dem gewürzten Inhalt in zwei aus Holz gefertigte Becher ein. Langsam kam er zum Kamin, reichte Jarick einen Becher, danach setzte er sich in einen der beiden Ledersessel.

Durstig nahm Jarick einen Schluck, nachdem er sich auf seinen Platz niedergelassen hatte. „Du kennst Tristan und Nela?“

„Nur Tristan. Ich wusste gar nicht, dass sie Nela heißt“, antwortete Till gedankenvoll.

„Sie muss viel durchgemacht haben.“ Nachdenklich starrte Jarick auf seinen Becher.

„Sie wird noch mehr durchmachen. Ihr Martyrium ist noch nicht zu Ende“, fügte Till wissend hinzu.

„Die Birger geben nicht so schnell auf.“

„Sie ist eine Unwissende, Jarick! Sie weiß weder, was es bedeutet, eine Walküre zu sein, noch was wir sind“, bemerkte Till eindringlich.

„Tristan wird es ihr erzählt haben“, war Jarick sich sicher.

„Aber glaubt sie es auch? Ich bezweifle es“, gab Till zu bedenken. „Er kann ihr noch nicht alles erzählt haben. Dazu war die Zeit zu kurz.“

Jarick erinnerte sich daran, dass Nela es verneinte, eine Walküre zu sein. „Woher kennst du Tristan?“, hakte er neugierig nach.

„Aus der Ordensbibliothek. Wir sind befreundet. Ich mag die Paladins.“

Auf Jaricks Gesicht erschien ein Lächeln. „Tristan ist ein Paladin? Ich hatte solch eine Vermutung.“

„Er verschwieg seinen Nachnamen“, stutzte Till.

„Ja. Und Nela?“, fragte Jarick gedankenvoll. „Zu welcher Familie gehört sie?“ Sein Freund zuckte ahnungslos mit den Schultern, aber seinem Gesichtsausdruck konnte er ansehen, dass er eine Vermutung hatte, aber sie nicht äußern wollte. Stattdessen nahm er einen tiefen Atemzug und lehnte sich nach vorne. Seine Stimme klang sehr ernst. „Hast du dich gar nicht darüber gewundert, dass Tristan sie vor mir beschützt hat?“

„Etwas“, gab Jarick zu.

„Tristan ist nicht Nelas offizieller Wächter. Unwissende werden vernachlässigt. Aber Tristan ist ihr Schicksalswächter. Es ist schon eine Weile her, als er mit mir darüber gesprochen hat. Allerdings nannte er mir keinen Namen, nur dass sie existiert und eine Unwissende sei. Tristan wurde nicht zu einem Wächter erzogen und ausgebildet. Der Orden Elhaz in Midgard unterscheidet sich inzwischen in vielen Dingen zu dem hiesigen Orden.“ Till machte eine Gedankenpause. „Tristan durfte sie weder retten noch in ihrer Nähe sein. Unwissende bleiben Unwissende. Wenn sie entdeckt werden, werden sie einfach ihrem Schicksal überlassen.“

„Was?“, entfuhr es Jarick aufgebracht und erhob sich von seinem Ledersessel. Fassungslos schaute er zu seinem Freund. „Die Unwissenden erhalten noch nicht einmal eine Warnung? Der Orden beschützt doch seine Mitglieder!“

Till lehnte sich zurück. „Dort hat sich einiges geändert. Einige Familien lassen ihre Kinder unwissend aufwachsen und weihen sie dann im Alter ein. Bis zu dem Zeitpunkt gelten sie nicht als Ordensmitglieder. Tristan wird eine Strafe bekommen, wenn der Orden seinen Ungehorsam herausfindet, ferner werden sie Nela ungeschützt ihrem Schicksal überlassen.“

Sogleich stieß Jarick einen empörten Laut aus, dabei schüttelte er seinen Kopf. „Dann ist sie tot.“

„Der jetzige Großprior des Ordens in Midgard heißt Ansgar Ferdinand.“

„Ferdinand!?“, stieß Jarick verwundert aus.

Abwägend schaute Till ihn an. Schließlich räusperte er sich. „Die Birger haben hauptsächlich eine Familie angegriffen. Es heißt, die Familie Vanadis sei ausgelöscht.“

Schockiert ließ Jarick sich in seinen Sessel fallen. „Das wird Freya das Herz brechen, und sie wird Rache nehmen.“ Schweigen breitete sich zwischen den beiden aus. Jarick überlegte, warum die Familie Vanadis in die Unwissenheit gegangen war. Das ergab keinen Sinn.

„Ich dachte, du wolltest deine Auszeit in vollen Zügen genießen und nicht den persönlichen Leibgardist von einer Walküre und ihrem Wächter mimen“, stichelte Till mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Was hättest du an meiner Stelle getan?“, fragte Jarick herausfordernd. „Sie einfach ihrem Schicksal überlassen?“

Auf Tills Gesicht erschien ein Schmunzeln, dann schaute er nachdenklich ins lodernde Feuer. „Nein. Ich hätte dasselbe getan.“ Die Männer sahen sich respektvoll an.

„Ich bringe sie nach Folkwang“, entschied Jarick abwesend, als er Holz auf das Feuer legte.

„Pass auf, dass dich keiner sieht, sonst ist deine Auszeit passé“, gab Till zu bedenken. Jarick nahm den letzten Schluck aus seinem Trinkbecher. Tatsächlich riskierte er für die beiden seine hart erkämpfte Anonymität als den ehemaligen Gardist Jarick aus Vegard. Gedankenvoll starrte er in das Feuer. Schnell stand seine Entscheidung fest.

„Ich schaue mich draußen um.“ Till verschwand durch die Haustür. Nachdenklich stellte Jarick seinen Becher auf den Tisch, drehte sich zur Treppe und ging langsam die einzelnen Stufen hinauf. Aus einem Gästezimmer drang das Schnarchen des Berserkers. Vor Nelas Zimmer verharrte er kurz, um dem stetigen Ein- und Ausatmen zu lauschen, bevor er sich in sein Schlafgemach begab.

Nela Vanadis

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