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Der Störenfried

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Gelassen wartete Jarick auf die Ankunft des Verfolgers, dessen Aura er nun zweifelsfrei zuordnen konnte, während Samru ungeduldig auf der Stelle tänzelte. Versteckt hinter Büschen hatte er eine gute Sicht über die Grasfläche, wo jeden Moment Fido Tanner auftauchen musste. Dieser Nichtsnutz konnte durch seine Beharrlichkeit, Jarick wiederzufinden, die Birger direkt auf ihre Fährte bringen.

Endlich kam der Drauger in Sichtweite. Er hetzte sein Pferd über die Wiese. Schützend hatte er die Kapuze seines dunklen Umhangs über seinen Kopf gezogen, da die Mittagssonne dem Drauger zusetzte. Natürlich wollte er schnell in den Schatten des Waldes gelangen, der unmittelbar hinter Jaricks Versteck begann.

Jarick blinzelte durch die wenigen Äste eines Baumes in die Sonne. Eigentlich sollte auch sie ihn schwächen und starke Kopfschmerzen hervorrufen oder gar Verbrennungen auf seiner Haut entstehen lassen, wenn er sich ihr zu lange aussetzte, aber sie tat es nicht. Wann immer er wollte, konnte er die warmen Strahlen genießen.

Als Fido auf seiner Höhe ankam, hatte Jarick sich ihm schon mit Samru in den Weg gestellt. Panisch und gehetzt hob der braune Hengst seinen Kopf, während Fido an den Zügeln riss. Im allerletzten Moment konnte er sein Pferd stoppen.

„Warum verfolgt Ihr mich?“, fragte Jarick mit einer kühlen, machtvollen Stimme. Fido kämpfte mit seinem Pferd.

„Ohne ein Wort seid Ihr verschwunden!“, erwiderte Fido vorwurfsvoll.

„Ich bin nicht dazu verpflichtet, Euch über meine Pläne in Kenntnis zu setzen“, fauchte Jarick.

„Freunde benachrichtigen den anderen, wenn sie sich auf ein Abenteuer begeben.“

„Wir sind keine Freunde!“ Jarick bezweifelte, dass Fido wusste, was Freundschaft bedeutete. Er versuchte nur, einen Vorteil daraus zu schlagen, dass er Jarick und auch Till begegnet war.

Gleichgültig überging Fido seine Äußerung. „Ich kann Euch bei Eurem Vorhaben behilflich sein.“

Verärgert funkelten ihn Jaricks heller werdende Augen an. Sein zweites Gesicht kam zum Vorschein, denn seine Iris war nun fast weiß mit einer Nuance Blau, und seine Eckzähne verlängerten sich merklich.

„Wohl kaum“, stieß Jarick zwischen seinen Zähnen bedrohlich aus. „Kehrt wieder um und lasst mich in Ruhe!“

Erneut wagte Fido es, ihm zu widersprechen. „Ich verstehe Euch nicht. Ich biete Euch meine Unterstützung an, und Ihr verweigert sie. Anscheinend muss man Euch zwingen, Hilfe anzunehmen.“ Krampfhaft biss Jarick seine Zähne zusammen und ballte die Fäuste, um seine Wut zu bändigen. Am liebsten hätte er diesem Drauger eine Lektion erteilt, aber er wollte ihm nicht seine wahre Stärke zeigen. Nur das Nötigste sollte dieser Aufschneider von ihm erfahren. Es reichte vollkommen, wenn Fido Tanner ihn für einen ehemaligen menschlichen Gardisten hielt, dem die Ehre zuteilgeworden war, in einen Drauger verwandelt worden zu sein.

Im Augenwinkel nahm er seinen Freund Till wahr. Als dieser sich im Schatten des Gebüschs befand, warf er seine Kapuze zurück. „Warum dauert es so lange?“, fragte er sogleich.

„Fido bietet uns seine Hilfe an“, ließ Jarick ihn in einem kühlen Ton wissen.

„Wir brauchen Eure Unterstützung nicht“, zischte Till resolut an den Drauger gerichtet.

„Wieso seid Ihr Zwei nur so dumm? Birger sind hinter Euch her, und Ihr verhaltet Euch wie dumme Kinder, die meine Hilfe nicht annehmen wollen“, konterte Fido ungehalten.

„Ich hoffe für Euch“, drohte Jarick kalt, „dass Ihr die Birger nicht zu uns geführt habt.“

Till schenkte ihm einen vielsagenden Blick. Durch verbale Überzeugungskraft wurden sie Fido nicht los, aber sie konnten ihn auch nicht außer Gefecht setzen, denn das käme gleich, ihn zu richten. Die Birger würden eine solche Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, einem hilflosen Drauger den Garaus zu machen. Ihnen blieb wohl nichts anderes übrig, als ihn zu dulden. Zumindest vorerst, bis sie eine Möglichkeit fanden, ihn wieder zu verlieren.

Schweigend trieb Jarick Samru an, während Till und auch Fido sich ihre Kapuzen über den Kopf stülpten, bevor sie ihm folgten. Unnötigerweise zog auch Jarick sich die Kapuze über sein Haupt, rasch holte er die anderen galoppierend ein.

Neugierig schaute Nela zu dem neuen Mitglied ihrer kleinen Kolonne. Als sie ihn erkannte, flackerte Unbehagen in ihren Augen auf.

„Wer ist das?“, fragte der Berserker misstrauisch, während er sein Pferd zwischen Fido und Tristan lenkte. Demonstrativ zeigte er, dass er seinen Schwur, die beiden zu beschützen, ernst meinte. Eher würde ein Berserker sterben, als sein Versprechen zu brechen.

„Fido Tanner. Er bietet uns seine Hilfe an.“ Allerdings schwang in Tills Stimme ein Ton mit, der klarstellte, dass der Huscarl dem Neuankömmling nicht vertraute. Daraufhin legte Bado eine Hand an seinen Schwertknauf.

„Weiter“, befahl Jarick, daraufhin setzte sich die kleine Gruppe wieder in Bewegung. Die vier Menschen ritten vorne, währenddessen die drei Drauger die Nachhut bildeten. Immer ein wachsames Auge auf Fido gerichtet, konzentrierte Jarick sich auch auf die Umgebung. Nur ungerne ließ er sich von den Birgern überraschen.

Viel zu lange und zu gierig starrte Fido den zarten Hals der Walküre an. Das gefiel Jarick gar nicht! „Sie ist eine Walküre!“ Augenblicklich wandte der Ermahnte seinen Blick von ihr ab.

„Wirklich?“, stieß Fido überrascht aus. „Ich dachte, sie wäre eine Blotja.“

Alarmiert schaute Tristan zu dem ungebetenen Gast in ihrer Mitte. Die angespannte Körperhaltung des Schicksalswächters signalisierte eindeutig, dass er Fido nicht in Nelas Nähe haben wollte und sofort mit ihr verschwand, sobald er seinen Schützling in Gefahr sah.

„Wie lautet unser Auftrag?“, fragte Fido nach einer Weile, als sie einen abgelegenen Waldpfad folgten. Nur spärlich ließ das Blattwerk die Sonnenstrahlen hindurch.

„Es gibt keinen Auftrag“, erwiderte Till genervt.

„Es hat etwas mit den Birgern zu tun, oder?“, flüsterte Fido verschwörerisch. Resignierend atmete Till aus und stülpte nun seine Kapuze nach hinten. Absichtlich ließ Jarick den Abstand zu den anderen größer werden. Er hoffte, dass sich eine Möglichkeit ergab, Fido gewaltfrei loszuwerden.

Im Schutz seiner Kapuze schaute Jarick unbemerkt zu Nela, die sich mit ihrem Schicksalswächter unterhielt. Neugierig strengte er sein Gehör an, um dem Gespräch zu lauschen.

„… dauert es noch?“, bekam er noch von dem Satz mit.

„Wir können sicherlich bald eine Pause machen“, meinte Tristan verständnisvoll.

Leider musste Jarick sie enttäuschen. Noch konnten sie keine Pause einlegen. Je größer der Abstand zu ihren Verfolgern wurde, desto sicherer und freier konnten sie sich bewegen. Er trieb Samru an, um zu den beiden aufzuschließen.

„Erst, wenn es dunkel wird, können wir rasten“, sagte er streng. Verstehend bewegte sie ihren Kopf, aber schaute ihn auch überrascht an, dass er ihr Gespräch mitbekommen hatte. Es war offensichtlich, Nela war diese Art von Strapazen nicht gewohnt. Seit Stunden saß sie mit schmerzenden Schenkeln im Sattel und hatte jetzt erst dezent nach einer Pause gefragt. Ihre Stärke und Willenskraft beeindruckten ihn.

„Sobald wir einen geeigneten Platz für das Nachtlager finden, werden wir halten“, versprach Jarick. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Jarick einen passenden Standort für ihr Lager fand. In der Nähe gab es sogar einen kleinen Weiher. Dort konnten sie die Pferde tränken und sich waschen. Tief in Gedanken versunken, beobachtete Jarick die kleine Gruppe beim Aufbauen des Nachtlagers und strich über Samrus Mähne.

„Warum haben Sie vorhin aus heiterem Himmel erwähnt, ich sei eine Walküre?“, sprach Nela ihn unerwartet an.

„Fido ist ein Drauger, und es ist jedem Drauger untersagt, das kostbare Blut einer Walküre nach Belieben zu trinken. Sehr strenge Vorgaben regeln diese Angelegenheit.“

Nelas Lippen kräuselten sich zu einem Schmunzeln, dabei schüttelte sie verständnislos den Kopf. „Drauger sind Vampire, oder?“, vergewisserte sie sich.

Doch Jarick war nicht derjenige, der ihr antwortete. „Ja“, mischte Till sich ein. Ungläubig setzte sie an, etwas zu sagen, aber entschied sich dann doch dazu, ihre Äußerung für sich zu behalten. Steifbeinig ging sie zum Lagerfeuer, das Bado gerade entzündet hatte, und kramte die Kochutensilien aus einem Rucksack heraus. Zögernd begab sich Jarick zu ihr, während die anderen den Baldachin aufbauten.

„Ihr könnt Till und mir vertrauen“, musste er jetzt einfach äußern. Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck schaute sie ihn an.

„Ich möchte nicht unhöflich oder beleidigend sein, aber das ist doch alles nicht wahr. Es ist nicht real. Es gibt keine Vampire und auch keine Walküren“, entgegnete Nela überzeugt.

Wieder kam Till Jarick zuvor, der gerade Holz auf das Feuer legte. „Die Tür zu einer anderen Welt hat sich Ihnen geöffnet. Fangen Sie an, an das Mysteriöse und Mystische zu glauben. Sie sind davon umringt.“ Augenblicke später bedachte der Drauger sie mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck. „Sie werden die Wahrheit mit Ihren Augen erkennen.“

Nela kam nicht mehr dazu, sich zu Tills Bemerkung zu äußern, weil Fido schneller als erwartet Ärger verursachte. Lautstark blaffte er Bado an. Schnell stand Jarick auf seinen Füßen, um mit großen Schritten zu den Streitenden zu eilen.

„Das ist mein Schwert!“, erwiderte Bado besitzergreifend und hielt das Heft eisern fest.

„Ich will es mir doch auch nur ansehen, du Trampeltier!“, entgegnete Fido verärgert und griff wieder nach der Hiebwaffe.

„Fido“, ermahnte Jarick ihn mit einer durchdringenden Stimme, „einem Berserker sind seine Waffen heilig. Ein Krieger vertraut nicht jedem seine Waffen an. Das müsst Ihr doch wissen!“

Verständnislos entfuhr es Till: „Habt Ihr überhaupt keinen Anstand, Fido? Ihr könnt doch keinen Berserker beleidigen!“

„Berserker? Das ich nicht lache“, entfuhr es Fido belustigt. „Er ist eher ein ungeschicktes Trampeltier.“

„Das reicht!“ Drohend hob Bado sein Schwert.

Beschwichtigend sprach Jarick mit dem Berserker. „Bitte nehmt Euer Schwert beiseite. Wir sollten uns nicht gegenseitig bekämpfen. Wir sind eine Einheit, die dasselbe Ziel verfolgt.“

„Ja. Nur dieser Kerl gehört nicht dazu!“, erwiderte Bado kalt und deutete mit der Schwertspitze auf den Drauger.

„Hey! Was soll das heißen?! Natürlich gehöre ich dazu! Ich bin ein angehender Huscarl!“, empörte Fido sich. „Ich schlage vor, der Berserker verlässt unsere Truppe.“

„Fido“, knurrte Jarick ihn wütend an, „Ihr überschreitet eine Grenze.“

„So wird das nichts“, stieß Till aus. „Wir werden nicht sicher an unser Ziel gelangen, wenn ständig diese Unruhe in unseren eigenen Reihen droht.“

„An mir liegt´s nicht“, behauptete Fido überzeugt. Fassungslos schaute Jarick ihn an. Besorgt flog sein Blick zu Nela und Tristan. Beide saßen mit Runa am Lagerfeuer und bereiteten das Abendessen vor. Immer wieder schauten sie beunruhigt zu ihnen hinüber. Schleunigst musste Jarick eine Entscheidung treffen. Auf keinen Fall durfte er riskieren, dass Nela und Tristan oder auch Bado und Runa etwas zustieß, nur weil sich ein Querkopf in ihrer Mitte befand. Dieser aufdringliche Fido machte alles nur kompliziert, und vor allem drohte durch sein Verhalten Gefahr für die ganze Gruppe.

„Doch, es liegt an Euch“, entfuhr es Jarick ungehalten. „Ihr habt diesen Streit durch Eure Uneinsichtigkeit heraufbeschworen. Wenn Ihr noch länger bei uns bleiben wollt, dann werdet Ihr Euch zuerst bei Bado aufrichtig entschuldigen, und Ihr werdet Euch an meine Anweisungen halten.“

„Ich lass` mir doch nichts von einem Huscarl, der seine Einheit im Stich gelassen hat, befehlen“, antwortete Fido aufgebracht.

„Das ist ein Grund, warum Ihr kein Gardist werdet. Ungehorsam!“, entgegnete Jarick ihm kühl.

„Ich bin der geborene Befehlshaber!“, prahlte der Drauger selbstbewusst.

„Entweder Ihr tut, was ich Euch sage, oder Ihr werdet uns verlassen müssen.“ Leider konnte er ihn nicht gehen lassen. Jarick traute ihm zu, dass er geradewegs zu den Birgern lief und über ihre kleine Gruppe ausführlich plauderte. In seiner Vorstellung wäre es vermutlich auch noch nobel.

„Was denkt Ihr von mir?! Natürlich werde ich bleiben“, äußerte sich Fido gekränkt.

Aufgebracht ging der Berserker zum Lagerfeuer, um sich zu den beiden Midgardmenschen zu gesellen. Demonstrativ legte er sein blankes Schwert über seine angewinkelten Beine. Seine Botschaft war eindeutig. Es gab einen Feind in den eigenen Reihen, vor dem musste er Tristan und Nela beschützen.

„Es kann sehr ungemütlich für Euch werden, wenn Ihr Euch nicht an unsere Anweisungen haltet oder Euch wieder daneben benehmt“, warnte Till, woraufhin Fido empört Luft ausstieß. Mahnend blickte Jarick zu ihm, also entschied der Drauger sich doch dafür, nichts zu erwidern. Inständig bat Jarick das Schicksal, dass Fido nicht für Nela und Tristan den Tod bringen würde. Das könnte er sich nie verzeihen.

„Ich schaue mich um“, teilte er allen mit, zudem warf er Till einen bedeutungsvollen Blick zu. Der Gardist verstand sofort, dass er ein wachsames Auge auf Fido haben sollte, deshalb gab er ihm ein kaum wahrnehmbares Zeichen. Kurzerhand verwickelte er den Drauger in ein Gespräch und bot ihm Lebenssaft aus seinem Trinkbeutel an. Der Saft war mit besonderen Kräutern aus Iduns Garten angereichert, um ihn haltbar zu machen.

Wachsam streifte Jarick unweit des Nachtlagers durch die Gegend. Nicht nur die Birger stellten eine Gefahr dar, sondern auch noch andere Wesen, wie die Dunkelalben, Werwölfe oder frevlerische Drauger. Überall gab es Lebewesen, die einen schlechten Charakter besaßen und anderen aus den unterschiedlichsten Gründen Leid zufügten. Nela hatte bisher genug Kummer erfahren, daher brauchte sie nicht noch zusätzlichen Ärger von Geschöpfen, an deren Existenz sie zweifelte. Zwar wusste er selbst nicht warum, aber es wurmte ihn, dass sie ihm nicht glaubte. Eigentlich war sie doch nur eine Unwissende aus Midgard! Was interessierte es ihn, woran sie glaubte?

Das Schicksal wollte, dass er sie und ihren Wächter wohl behalten nach Folkwang brachte. Dort entschied sich, was weiter geschah. Bestimmt würde sie irgendwann in ihr altes Leben - zumindest was davon übrig geblieben war - zurückkehren sowie ihn und diese Welt wieder vergessen. Bei dem Gedanken verspürte er ein unbehagliches Gefühl in seinem Innern.

Mittlerweile hatte er das Nachtlager in einiger Entfernung fast umrundet. Nichts Verdächtiges oder Beunruhigendes fiel ihm in der unmittelbaren Umgebung auf. Vorerst waren sie an diesem Ort in Sicherheit, also kehrte er zu der Waldlichtung zurück, und sein Blick erfasste das Lager. Bado saß am Lagerfeuer, stocherte in der heißen Glut, während Tristan gedankenverloren neben ihm verweilte. Nacheinander tränkte Runa die Pferde an dem kleinen Weiher am Rand der Lichtung. Damit die Elfe sich nicht mit dem schwarzen Hengst abmühen musste, band Jarick ihn los. Zielstrebig trabte der Rappe zur Wasserquelle. Flüchtig schaute Jarick zu seinem sichtlich genervten Freund Till, der sich mit Fido unterhielt. Hektisch sah Jarick sich um, da er die Walküre nicht sofort entdeckte. Schließlich fand er Nela am Ufer des kleinen Gewässers. Kniend spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er ging zu ihr ans Ufer. Gerade trocknete Nela sich das Gesicht ab.

„Geht es Euren Beinen besser?“, fragte er sie fürsorglich.

„Ja... danke für die Salbe“, erwiderte Nela, während sie das Tuch zurück in ihre Tasche stopfte. Nachdenklich setzte er sich zu ihr auf einen Baumstamm.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Was war nur mit ihm los? Er war doch sonst um keine Konversation verlegen? Auf keinen Fall wollte er irgendwelche Wunden mit einem unüberlegten Thema aufreißen. Nachdenklich schauten sie in dieselbe Richtung, dabei beobachteten sie Runa beim Tränken der Pferde. Daneben stillte Samru seinen Durst, der nur Augenblicke später seinen Kopf hob und langsam zu seinem Herrn kam. Der Hengst stupste ihn sachte an die Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erhalten.

„Samru ist ein außergewöhnlicher Hengst“, sagte Nela beeindruckt.

„Ja, das ist er“, stimmte Jarick ihr stolz zu, während er sanft über die Stirn des Rappen strich.

„Züchten Sie Pferde?“, vermutete Nela neugierig.

„Ja. Woher wisst Ihr das?“, hakte Jarick erstaunt nach.

Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ihre Hilfe beim Pferdekauf, Samru und dann die vielen Pferde auf der Weide neben der Blockhütte. Es passt einfach zu Ihnen.“

„Das wissen nicht viele“, erwiderte Jarick, unterdessen hielt er in der Bewegung inne, weiterhin Samrus Stirn zu kraulen.

„Zum Beispiel Fido“, bemerkte die Walküre angespannt. Ihre Augen wanderten zu dem Drauger, der immer noch mit Till auf dem Baumstumpf saß.

Jarick seufzte. „Fido versteht vieles nicht. Er lebt in seiner eigenen, verdrehten Welt. Seine Ansichten sind sehr bizarr.“ Der Rappe nickte mit seinem Kopf, um Jaricks Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Allerdings lag sein Augenmerk doch mehr auf Nela. Das erneute Streicheln war eher ein Reflex.

„Das macht ihn gefährlich“, erkannte Nela und wandte ihren Blick von Fido ab.

„Ja. Macht Euch keine Sorgen. Er wird Euch nicht zu nahe kommen“, versprach er. Alles, was in seinen Möglichkeiten lag, würde er tun, um Fido von ihr fernzuhalten. Notfalls würde dieser Störenfried mit seinem Leben bezahlen müssen, wenn er Nela ein Haar krümmte. Samru hatte genug von den Streicheleinheiten, deshalb zog er sich zurück.

Tief atmete Nela durch und starrte aufs Wasser. „Dies ist ein schöner Platz: der Weiher, die Lichtung, die alten Bäume. Dieser Anblick lässt mich fast alle Sorgen und jeden Kummer vergessen.“

„Solche Momente muss es auch in einer schweren Zeit geben. Es erinnert uns daran, wie schön das Leben sein kann. Es gibt uns Hoffnung“, philosophierte Jarick.

„Vermutlich. Von einer Minute zur anderen wurde mein Leben auf den Kopf gestellt“, seufzte Nela.

„Entweder werdet Ihr Euer altes Leben wieder in die richtige Bahn lenken können oder einen ganz neuen Weg gehen. Das Schicksal wird Euch den Weg weisen“, erwiderte Jarick nachdenklich. Unweigerlich kam bei ihm das Gefühl auf, dass er nicht wollte, dass sie in ihr altes Leben zurückkehrte.

„Das Schicksal kann mir gestohlen bleiben“, entfuhr es Nela wütend, allerdings war ihre Stimme gesenkt. Ihre Wut mischte sich mit Traurigkeit. Selbstverständlich konnte Jarick ihre Gefühle sehr gut nachvollziehen, denn sie hatte ihre Familie verloren, zudem war sie auf der Flucht in einer fremden Welt.

„Niemand entflieht seinem Schicksal. Die Nornen haben immer ein Auge darauf, dass ihre Schicksalsfäden, die sie webten, auch in Erfüllung gehen.“

„Was sie wohl für mich zusammen gesponnen haben?“, seufzte Nela leise.

„Zumindest wollten sie, dass wir uns begegnen“, entwischte Jarick ein Gedanke, den er eigentlich für sich behalten wollte. Erschrocken über sich selbst, schaute er Nela erwartungsvoll an.

Ein Lächeln. Von ihr kam tatsächlich ein Lächeln. „Ja, das ist etwas Gutes.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem erfreuten Schmunzeln.

„Sichert Ihr Euch einen guten Tropfen?“, fragte Fido unerwartet hinter ihm. Kurz erschrak Jarick. Das durfte doch nicht wahr sein! Was war nur mit ihm los, dass seine Konzentration so sehr nachließ? Seine Aufmerksamkeit galt Nela, aber deshalb durfte er doch seine Aufgabe nicht aus den Augen verlieren. Durch seine Unachtsamkeit konnte Fido sich unbemerkt an ihn heranschleichen. Unbedingt musste er besser aufpassen und durfte sich nicht ablenken lassen. Niemand durfte ihn momentan überraschen können. Das konnte sehr gefährlich werden, sogar tödlich enden.

„Fido!“, ermahnte Jarick den Drauger, der ihn neidisch musterte.

„Es ist nicht fair, dass Ihr eine Blotja habt, Huscarl“, klagte Fido ihn an.

„Nela ist nicht meine Blotja! Sie ist eine Walküre! Schon vergessen?! Auch wenn es Euch nichts angeht, wir unterhalten uns nur“, herrschte Jarick ihn zornig an. Fido hatte nicht nur das Gespräch mit Nela beendet, sondern jetzt musste er sich schon wieder mit diesem nervigen Drauger auseinandersetzen. Warum hatte er ihn bloß mitgenommen?

„Das eine schließt das andere nicht aus“, entgegnete Fido ihm eingeschnappt, und Jarick bedachte ihn mit einem konsternierten Blick. Tatsächlich war diese Nervensäge beleidigt, weil Jarick angeblich frischen Lebenssaft bekam und er nicht.

Nela stand auf und griff nach ihrer Tasche. Jarick konnte es ihr nicht verdenken, dass sie so schnell wie möglich aus Fidos Nähe verschwinden wollte. Auch er erhob sich, um nicht weiter zu Fido hinaufschauen zu müssen. Hastig bahnte sich Nela einen Weg von ihm fort, indem sie sich an Jarick vorbeischob. Fast berührten sie sich. Zwangsläufig musste sie auch an Fido vorbei, der die Gelegenheit nutzte, um nach Nela zu fassen. In Sekundenbruchteilen befreite Jarick sie aus Fidos Griff, stellte sich beschützend vor Nela, anschließend beförderte er den Drauger blitzschnell gegen einen dicken Baumstamm. Dort hielt er ihn in Schach, indem er ihn mit einer Hand gegen das Holz drückte. Nela stieß einen leisen Laut aus.

Drohend zeigte Jarick Fido sein zweites Gesicht und sprach mit einer eiskalten Stimme. „Wenn Euch Euer Leben lieb ist, dann rührt Nela nie wieder an!“

Hinter sich hörte Jarick das schnelle, aufgewühlte Atmen der Walküre. Es galt dem Schreck, denn sie konnte sein verändertes Gesicht nicht sehen.

„Ist ja gut! Ich habe es verstanden. Ihr teilt nicht gerne!“, erwiderte Fido auf seine Drohung. Am liebsten würde er ihm den Hals umdrehen, was einem Drauger nicht den Tod brachte, aber doch unerträgliche Schmerzen. Diese Vorstellung besänftigte seine Wut.

„Jarick, er ist es nicht wert“, riet Till eindringlich, dabei berührte er seinen Arm beruhigend. Energisch schaute er zu seinem besten Freund. Natürlich hatte Till Recht. So schnell wie möglich mussten sie diesen Plagegeist loswerden, sonst würde noch etwas Furchtbares geschehen.

Widerwillig ließ Jarick seinen Gefangenen los, danach trat er ein paar Schritte zurück. Sofort nutzte Fido die Gelegenheit, um fortzuschleichen. Jaricks Gesicht normalisierte sich wieder, nur allmählich verschwand seine übersteigerte Wut. Als er sich umdrehte, blickte er in Nelas verängstigtes Gesicht. Diese Vorfälle machten es der Walküre nicht leicht, aus ihrem immerwährenden Angstzustand herauszukommen. Beschützend legte Tristan einen Arm um sie und warf einen abfälligen Blick zu Fido hinüber.

„Alles in Ordnung?“, fragte Jarick die Walküre.

Nela Vanadis

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