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Kapitel 4
ОглавлениеNathan und Ayden hatten sich dazu entschieden, die Nacht in Vincents Gästehaus zu verbringen. Einerseits war Vincent froh, dass die beiden ihm genügend Vertrauen entgegenbringen konnten, um bei ihm zu übernachten. Andererseits hatten ihm Nathans Reaktionen, die er ihm gegenüber den ganzen Abend lang gezeigt hatte, bewusst gemacht, wie sehr Nathan ihn doch verabscheute. Aber Vincent konnte es seinem kleinen Bruder nicht verübeln. Er hatte Nathan über Jahre hinweg gedemütigt, erniedrigt und ihm immerzu das Gefühl gegeben, dass er der ungeliebte Sohn dieser Familie war.
Dass Nathan in seiner Gegenwart am heutigen Abend überhaupt - wenn auch nur leicht - gelacht hatte, war für Vincent kaum zu fassen. Seinen Bruder so glücklich zu sehen brachte ihn in eine ungewohnte Situation. In seinem Inneren kämpften Vernunft und Gefühl miteinander und obwohl Vincent niemandem von ihnen je etwas antun wollte, wusste er, dass Nathan seine Pläne, wenn er sie kennen würde, niemals gutheißen würde.
Natürlich hatte er Nathan und Ayden nicht die ganze Wahrheit gesagt. Aber angelogen hatte er sie auch nicht wirklich. Vincent wusste, dass Nathan seine Gedankengänge nicht nachvollziehen konnte und um ehrlich zu sein war er froh darüber, dass Nathan nicht so dachte wie er. Er hatte Nathan immer darum beneidet, wie großherzig er war und wie positiv er die Welt sah. Jede Erschütterung schien seinen kleinen Bruder nur noch stärker zu machen. Zu einem gewissen Zeitpunkt in seiner Pubertät hatte ihn Nathans Optimismus so stark irritiert, dass er jede Möglichkeit genutzt hatte, um diesen Optimismus zu erschüttern. Aber alles, was er Nathan jemals an den Kopf geworfen hatte, war an seinem Bruder nur abgeprallt.
Im Nachhinein schämte Vincent sich für das Verhalten, das er Nathan gegenüber an den Tag gelegt hatte. Aber es war bereits zu spät, daran etwas zu ändern. Für Vincent hatte nur das Rätsel um das Portal gezählt, jahrelang. Und wenn das bedeutet hatte, seinen Bruder von sich stoßen zu müssen, hatte Vincent auch das in Kauf genommen. Dass es ihm aber viel mehr zusetzte, als er anfangs angenommen hatte, merkte er erst, als Nathan ihm bei jedem Treffen unmissverständlich zu verstehen gab, dass er Vincent hasste. Aus tiefstem Herzen.
Dass Vincent Yuki Cavender gefangen genommen hatte, war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Schon zuvor war Nathan zum unliebsamen Anhängsel der Familie geworden, was nicht zuletzt an seinem großen Bruder gelegen hatte. Vincent war zwar aufgrund seiner Arbeitsmoral und seiner nur spärlich vorhandenen Empathie schon immer der geeignetere Kandidat gewesen, um einen Posten in der Firma zu übernehmen, aber Vincent hatte auch nicht gerade wenig dafür getan, dass Nathan nur noch weiter hinten abfiel.
Nathan hatte es irgendwann niemandem mehr recht machen können. Irgendwann war alles, was er getan hatte, einfach falsch. Sein kleiner Bruder hatte sich immer weiter von ihm entfernt, was Vincent zwar verstanden hatte, aber kaum hatte ertragen können. Er liebte seinen Bruder. Nathan und er waren sich so gegensätzlich, dass man hätte denken können, sie wären nicht zusammen aufgewachsen. Aber Vincent hatte jedes Mal Nathans Schmerz in seiner eigenen Brust gespürt, wenn er Nathan Worte an den Kopf geworfen hatte, die er nie so hatte sagen wollen und noch weniger so meinte. Aber Vincent war gefangen in einer Spirale, in der es ihm lieber war, von Nathan gehasst zu werden, als gar keine Reaktion mehr von seinem Bruder zu bekommen.
Als Vincent über fünf Ecken erfahren hatte, dass Nathan allem Anschein nach eine feste Beziehung zu einer Person aufgebaut hatte, war er natürlich interessiert gewesen. Ohne ihren Eltern etwas davon zu erzählen, hatte Vincent sich auf eigene Faust genauer darüber erkundigt und war so auf Kyla gestoßen. Als Kyla zuerst den Namen „Ayden“ erwähnt hatte, hatte er noch gedacht, es könne auch Zufall sein, dass es genau der Name war, mit dessen Ausruf Yuki sich in ihrer Zelle des Öfteren in den Schlaf geweint hatte. Nach Kylas Personenbeschreibung war ihm aber sofort klar geworden, wer dieser ominöse Ayden war. Vincent war schließlich der Einzige, der ihn damals von Nahem gesehen hatte. Und damit auch seine unverwechselbaren, eisblauen Augen.
Da Vincents und Nathans Eltern sich nicht für die Experimente interessiert hatten, sondern Vincent auch nach mehreren Jahren vertrauten, hatten sie Yuki nie richtig gesehen, auch nicht am Tag des Angriffs. Nie hatten sie ihre ebenso grellen, blauen Augen zu Gesicht bekommen. Sie hielten sich aus Vincents Geschäften raus, weil sie sich nicht die Finger schmutzig machen wollten. Aber aufgrund seiner verqueren Moral und Ethik war es für Vincent nicht der Rede wert, die Drecksarbeit zu erledigen. So hatte er sich schon immer ihr Vertrauen erarbeitet, was ihm letzten Endes in die Hände spielte.
Nur dadurch war Vincent in der Lage dazu gewesen, Ayden vor ihnen zu verstecken, oder besser gesagt, sie über die Jahre vergessen zu lassen, dass noch ein weiterer Eisfuchs existierte. Obwohl Kyla Vincent mitgeteilt hatte, wie „ekelhaft glücklich“ Nathan und Ayden waren, hatte er gewusst, dass es besser war, wenn sie getrennte Wege gehen würden. Vincent hatte die durchaus berechtigte Sorge gehabt, dass ihre Eltern von der Beziehung erfahren und Nathan unter Druck setzen würden. Er hatte es sich weniger schmerzhaft vorgestellt, wenn Ayden Nathan aufgrund des Vertrauensbruches verlassen hätte, anstatt aufgrund der Erpressung ihrer Eltern.
Dass sie jetzt aber beide Szenarien durchleben mussten, hatte Vincent nicht kommen sehen. Er hatte angenommen, dass Ayden weitaus leichter zu beeinflussen wäre, als er es in Wirklichkeit war. Natürlich hatte Vincent auch in der Arena schon gesehen, wie weit sie füreinander gehen würden. Aber am heutigen Abend, während sie auf seiner Terrasse gesessen hatten, hatte Vincent ihre Verbundenheit hautnah spüren können. Nathan hatte diesen kleinen, blassen Jungen immerzu angesehen, als wäre er Nathans ganzes Universum.
Auch nachdem sich die beiden ins Gästehaus zurückgezogen hatten, saß Vincent noch immer auf der Terrasse und sah auf das lebendige Lichtermeer am Fuße der Anhöhe, auf welcher sich seine Villa befand. Ihm schwirrten so viele Gedanken durch den Kopf, bei denen er sich sicher war, dass er sie im Bett niemals ruhigstellen können würde. Deshalb zündete er sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Nacht.
»Kannst wohl auch nicht schlafen.«
Vincent schrak augenblicklich hoch, als Nathan sich auf die Polster neben ihm fallen ließ. Nathan steckte die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans, legte den Kopf auf die Rückenlehne und drehte Vincent das Gesicht zu.
»Warst du in Gedanken?«
»Kann man so sagen, ja«, antwortete Vincent und sah auf die Zigarette zwischen seinen Fingern. »Warum bist du noch wach?«
»Derselbe Grund«, antwortete Nathan knapp und sah wieder in den Nachthimmel. »Ich kann nicht verstehen, warum du all die Jahre so zu mir warst. Und warum du nicht einfach mit uns die Portale öffnen und die andere Welt erkunden willst, sondern wieder irgendeine Weltherrschaftssache daraus machen musst.«
Vincent seufzte erschöpft und aschte über dem Lagerfeuer seine Zigarette ab. »Warum reicht es dir nicht, zu wissen, dass euch nichts passieren wird?«
»Weil ich nicht nur an uns denke. Ich habe das Gefühl, in deiner Welt gibt es nur dich, und alle anderen Leben stoppen in der Zwischenzeit. Aber jeder Mensch, dem du auf der Straße über den Weg läufst, hat sein eigenes Leben. Der Mann, über den du dich auf der Autobahn aufregst, weil er dir aufgeblinkt hat, fährt vielleicht gerade ins Krankenhaus, weil seine Frau in den Wehen oder im Sterben liegt. Die Bedienung, die einem wichtigen Gast wie dir vielleicht aus Versehen im Restaurant den Wein überkippt, wird im nächsten Moment gefeuert und weiß nicht, wie sie ihre nächste Miete und das Essen für ihre Kinder bezahlen soll. Der Junge, dessen Mutter du ihm als Kind entrissen hast, wächst ohne Bezugsperson oder Zuhause auf, kämpft sich alleine durch und lebt über Jahre in Höhlen, während du in deinem Palast jeden Abend in ein großes, weiches Bett steigst und ausblendest, dass seine Mutter auf deinen Befehl hin gefoltert wird, was dir aber ja egal sein kann, weil du es nicht selbst tust.«
Es gab nichts, was Vincent seinem kleinen Bruder entgegenzusetzen hatte. Nichts, was er hätte sagen können, um seine Taten zu rechtfertigen, weil die Erklärung in Nathans Augen mit Sicherheit keine war. Er war nicht völlig empathielos und er konnte mit Sicherheit sagen, dass es ihm leidtat, was Ayden und Yuki durchleben mussten. Aber Nathan hatte ins Schwarze getroffen. Alles, was ihn nicht uneingeschränkt selbst betraf, blendete Vincent ohne zu zögern aus. Er quälte sich nicht mit Gedanken über den Frieden auf der Welt, wenn er abends ins Bett stieg. Am Ende konnte er sich nicht um jedes einzelne Leben kümmern. Jeder Mensch war seines Glückes Schmied. Niemand war mehr für das eigene Wohlbefinden verantwortlich, als man selbst.
»Weißt du, Vince. Ich habe sicher auch nicht alles richtig gemacht, aber ich hab immer zu mir und den Menschen, die mir lieb sind, gestanden, und das hast du nicht. Du kannst noch so oft sagen, dass ich dir etwas bedeuten würde, aber gezeigt hast du mir ab einem bestimmten Punkt nur das Gegenteil. Und ich wusste nie, was ich verbrochen hatte. Was meine Familie dazu veranlasst hat, mich abzustoßen. Ich wusste nie, was an mir so falsch war, dass sich mein eigener Bruder, den ich so geliebt und respektiert hab, gegen mich wenden musste.«
»Nichts an dir ist falsch, Nate«, sagte Vincent leise, aber mit aufrichtiger Ernsthaftigkeit in seiner Stimme. »Rein gar nichts.« Den leichten Tränenfilm, der seine Augen überzog, blinzelte er schnell weg, bevor Nathan ihn bemerken konnte. »Kann ich… Darf ich dich umarmen?«
»Nein«, wies Nathan ihn schonungslos ab. »Ich werde nicht den Menschen umarmen, der mich jahrelang wie Abschaum behandelt und die Mutter meines Partners auf dem Gewissen hat.« Dann stand Nathan auf und sah Vincent an. So kalt und gebrochen, dass Vincent der Atem stockte. »Es war gut, noch mal bestätigt zu bekommen, dass du nicht mal jetzt ehrlich zu mir sein kannst. Dass du mir nicht mal heute sagen kannst, was so wichtig ist, dass du dafür die Beziehung zu deinem eigenen Bruder restlos zerstörst. Ich tue das hier für Ayden und ich werde in diesem Rahmen mit dir arbeiten. Aber auch wenn ich vielleicht wirklich nicht in der Lage bin, dich umzubringen, wünschte ich mir, dass du nicht mehr existieren würdest. Dieses Gefühl hat noch niemand in mir auslösen können. Herzlichen Glückwunsch.«
Nathan schenkte Vincent noch einen fast mitleidigen Blick und ging ohne ein weiteres Wort zurück zum Gästehaus. Noch nie zuvor hatte Vincent sich so leer gefühlt. Das, was er immer hatte vermeiden wollen, war passiert. Nathan hatte nicht mal mehr Hass für ihn übrig, sondern nur noch pure Gleichgültigkeit.
Es war, als würde ihn all seine Hitze verlassen und nur ein ausgekühltes Stück Kohle zurückbleiben. Vincent starrte auch nach Minuten immer noch auf die Stelle, an der Nathan gerade noch gestanden hatte. Vielleicht war es naiv, aber ein Funken Hoffnung war bei dem Gespräch mit Ayden und Nathan in Vincent entstanden. Ein Funken, der ihn kurz daran hatte glauben lassen, dass Nathan und er sich vielleicht über die nächste Zeit noch mal annähern könnten.
Doch dieser Funken war durch Nathans entschlossenen Worte noch im Keim erstickt worden. So schnell, dass Vincent gar nicht realisierte, wie schmerzhaft das wirklich für ihn war. Als Vincent daran dachte, wie es sich für ihn anfühlen würde, wenn Nathan diese Welt für immer verlassen würde, überkam ihn immense Panik. Obwohl er schon lange kein wirklicher Teil von Nathans Leben mehr war, wollte er trotzdem immer, dass es ihm gut ging.
Zu hören, dass Nathan sich nichts mehr wünschte, als Vincents Tod, brachte ihn schon jetzt fast um.
Und die Tatsache, dass Nathan niemals gutheißen würde, wofür er das alles tat, noch mehr.