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Kapitel 5

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Als Ayden aufwachte, lag Nathan fest an ihn gekuschelt hinter ihm und grummelte verschlafen, während Ayden sich den Schlaf aus den Augen rieb. Das Gästehaus, was man wohl eher als Poolhaus bezeichnen konnte, war ein weißer Block, der an der kurzen Seite des Pools fast nahtlos ins Becken überging, sobald man die Glasschiebetüren öffnete. Sie lagen in einem runden Bett mit direktem Blick auf das in der Sonne glitzernde Wasser, das Ayden durch die gerafften Leinenvorhänge erblicken konnte.

Nathan fuhr mit seinen warmen Händen unter der Decke an Aydens Körper hinab und streifte mit den Fingern an der Innenseite seines Oberschenkels entlang, woraufhin Ayden ein Kichern entkam. Es war, als wäre es für Nathan jeden Morgen völlig belanglos, wo sie aufwachten, solange Ayden in seinen Armen lag. Während er seinen Kopf in den Nacken warf und Nathan bereitwillig seinen Hals küssen ließ, bemerkte er nicht, dass Vincent in der Tür stand, bis dieser sich schließlich lautstark räusperte.

»Ich störe nur ungern, aber der Schneider wäre jetzt da«, informierte Vincent sie beide. »Ich mache dann jetzt beim Vermessen den Anfang. Das Frühstück steht auch auf der Terrasse für euch bereit. Wenn du fertig bist, kannst du in den 1. Stock auf der rechten Seite kommen, Ayden.« Vincent wartete keine Antwort ab, sondern machte auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter den vom Luftzug wehenden Leinenvorhängen.

»Findest du nicht auch, dass er sich etwas betrübter anhört als gestern?«, fragte Ayden den Rotschopf hinter sich, der Vincent keinerlei Beachtung geschenkt hatte.

»Besonders du solltest dir keine Gedanken darüber machen, ob Vincent betrübt ist oder nicht«, entgegnete Nathan mit kratziger Stimme. »Sogar mir ist egal, wie es ihm geht.« Geschockt von Nathans Worten drehte Ayden sich in Nathans Armen zu ihm um. Nathan konnte so oft er wollte sagen, dass Vincent ihm nichts mehr bedeutete. Und vielleicht stimmte es sogar, dass Nathan Vincent für seine Taten und verletzenden Worte hasste. Aber Ayden konnte zweifelsfrei in Nathans Augen erkennen, dass er litt. Dass er traurig war.

Ayden robbte auf der Matratze etwas nach oben und drückte Nathans Gesicht an seine Brust. »Nate, ich liebe dich über alle Maßen. Unter anderem auch deshalb, weil ich weiß, dass du ein extrem großherziger Mensch bist, der vergeben kann. Ich sage nicht, dass du Vincent vergeben sollst. Aber ich konnte dir schon gestern ansehen, dass du an eure Kindertage zurückgedacht hast und ihn für das liebst, was er damals war. Rede dir bitte nicht ein, dass dir ein Mensch egal wäre, der es offensichtlich nicht ist.«

»Aber Yuki…«, flüsterte Nathan mit zittriger Stimme.

»Ich weiß.« Ayden strich Nathan durchs Haar und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf. Erst einen, dann zwei. So viele, bis Nathans Atem sich wieder etwas normalisiert hatte. »Ich sehe es wirklich nicht als Verrat an, wenn du ihn wie deinen Bruder behandelst. Das ist er nun mal. Und auch er kann nicht leugnen, dass du ihm wichtig bist. Ich weiß nicht, was sein Ziel mit der ganzen Sache ist, aber es scheint ihm wichtig zu sein, dass es dir gut geht. Diese hochnäsige Art und Weise kann er zwar wohl nicht ablegen, aber trotzdem kommt er mir vor wie ein anderer Mensch, wenn ich an unsere erste Begegnung oder die Arena zurückdenke.«

»Das hier ist falsch. Ich sollte dich nach dem gestrigen Abend aufbauen, nicht du mich«, murmelte Nathan und drückte sich fest an Ayden.

»Streich das Wort „falsch“ bitte aus deinem Wortschatz. Hieran ist absolut nichts falsch. Ja, meine Mom ist gestorben, aber sie hat mir gesagt, dass sie mich noch hören kann und daran glaube ich. Außerdem habe ich die Hoffnung, dass ich sie wiedersehen kann. Mir geht es soweit gut, wirklich.« Ayden strich Nathan tröstend über den Oberarm und legte ein angewinkeltes Bein auf Nathans Bauch ab. »Nur wegen meiner Vergangenheit sind deine Probleme nicht weniger schlimm. Vincent ist nicht bis in die letzte Pore boshaft, das glaube ich nicht. Was er getan hat ist mit nichts zu entschuldigen, aber vielleicht finden wir ja doch noch etwas Menschlichkeit in ihm.«

»Verdammt, ich liebe dich so sehr«, flüsterte Nathan, sah zu Ayden auf und drückte ihn mit einer Hand an Aydens Hinterkopf zu sich hinunter, sodass sich ihre Lippen trafen und sie sich in einem zärtlichen Kuss verloren. »Ich hab schon mal gesagt, dass ich nicht verstehe, wo du diese Geduld hernimmst. Sowohl für Kyla am Anfang, als auch jetzt für Vincent. Ich wünschte, Vincent könnte dieselbe Wendung machen wie Kyla, aber dafür ist schon zu viel passiert. Ich kann mir aber nicht erklären, warum ich meine Eltern noch mehr verachte als Vince, obwohl er hinter all dem steckt. Ich versteh’s einfach nicht, Ayden.«

»Manchmal ist Liebe schwer zu verstehen. Auch Geschwisterliebe.« Ayden setzte Nathan einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und lächelte ihn an, woraufhin Nathan sein Lächeln erwiderte. »Ich nehme an, dass du wahrscheinlich noch ein bisschen liegen bleiben willst, hm?«, hauchte Ayden lächelnd. Nathan warf Ayden seinen einstudierten Hundeblick zu und wollte ihn gleichzeitig daran hindern, sich aufzusetzen. »Ich gehe dann schon mal hoch zu Vincent, ja?«

»Was?«, brach es schockiert aus Nathan heraus, bevor er sich auf seine Ellenbogen stützte. »Alleine?«

»Er tut mir nichts, Nate«, versicherte Ayden ihm. »Und ich bin ehrlich gesagt gespannt, wie er sich mir gegenüber verhält, wenn du mal nicht danebenstehst.«

»Dabei ist mir nicht wohl«, seufzte Nathan und ließ sich zurück in die Kissen fallen.

»Vertrau mir einfach, ja?«, säuselte Ayden und schälte sich aus dem Bett. Er zog sich seine Kleidung an, die er am gestrigen Abend über eine Stuhllehne geworfen hatte und trat aus dem Poolhaus ins Freie, nachdem er Nathan noch einen Luftkuss zugeworfen hatte. Die Sonne strahlte auf Ayden hinab und reflektierte auf den beigefarbenen Marmorfliesen so grell, dass er fast nicht sehen konnte, wo er hinlief.

Er machte einen kleinen Abstecher über den gedeckten Tisch, auf dem das üppige Frühstück schon bereitstand, von dem Vincent gesprochen hatte. Der Geruch von reifen Erdbeeren, noch warmen Brötchen und frisch gepresstem Orangensaft stieg ihm in die Nase und ließ ihn automatisch tief einatmen. Nachdem er ein Glas Saft in wenigen Zügen geleert hatte, griff Ayden nach einer Scheibe Olivenbrot und tauchte sie in einen mediterranen Aufstrich. Mit seinem kleinen Proviant machte er sich auf den Weg in den 1. Stock des Hauses.

Vincents Villa war durch die Galerie und die hohe Glasfront lichtdurchflutet und luftig. Der Boden im ersten Stock war nicht wie im Erdgeschoss gefliest, stattdessen war dort hochwertiges, dunkles Holzparkett verlegt. Ayden bog am oberen Ende der Treppe angekommen rechts ab und spazierte einen langen, breiten Flur entlang, während er sich den letzten Bissen seines Frühstücks in den Mund schob.

Die hölzerne Tür am Ende des Ganges war einen Spalt breit geöffnet, wodurch er Vincents und eine zweite, unbekannte Stimme vernehmen konnte. Ayden stellte sich in den Türrahmen und klopfte, bevor er die Tür etwas weiter öffnete und seinen Kopf vorsichtig durch den Spalt streckte.

»Ah, da bist du ja!«, begrüßte Vincent ihn und winkte ihn ins Zimmer. »Matteo, dieser junge Mann braucht bis Freitag bitte auch einen Anzug für die Gala. Das sollte machbar sein, oder?«

Vincents Schneider nickte bekräftigend und wandte sich Ayden zu. »Ich bin sofort bei Ihnen«, sagte er und verließ den Raum durch eine Tür zum Nebenzimmer.

»Er aktualisiert noch kurz meine Maße«, erklärte Vincent. Er stellte sich an das einzige Fenster des Raumes und wirkte so, als würde er es absichtlich vermeiden, Ayden anzusehen. »Hör zu, ich kann das mit deiner Mutter nicht ungeschehen machen, aber ich möchte euch am Freitag trotzdem helfen.«

»Helfen?«, fragte Ayden verwundert.

»Wegen meiner Eltern. Ich bin zwar auch nicht begeistert von der Idee, dass du dorthin gehst, aber du scheinst dir ja ziemlich sicher zu sein«, antwortete Vincent schulterzuckend. »Du hast ja mittlerweile mich erlebt, aber lass dir gesagt sein, dass unsere Eltern noch weniger Mitgefühl besitzen als ich.«

»Und wie willst du uns helfen?«, wollte Ayden von Vincent wissen und sah ihn dabei mit leicht zur Seite geneigtem Kopf fragend an. »Was haben sie denn vor?«

»Dass sie alles an Heiratsmaterial auflaufen lassen werden ist euch ja schon bewusst«, stellte Vincent fest, seinen Blick nun Ayden zugewandt. »Aber dabei wird es sicher nicht bleiben. Sie werden Nathan nicht bloßstellen, weil das auf unsere Familie zurückfallen würde. Also bleibst nur noch du.« Vincent steuerte einen der vielen Schränke an und öffnete eine Schublade, in der er seine Uhren verstaut hatte. »Unsere Eltern kannten den Code für die Untergrundstockwerke nicht. Ich habe ihnen den Code nur mitgeteilt, um mit den gebrochenen Armen von ihnen geholt werden zu können, ihn danach aber sofort geändert. Ich weiß also, dass sie nie dort unten waren, deinen Vater und deine Mutter nicht als deine Eltern kennen und damit auch nicht deine Vergangenheit. Also müssen sie sich irgendwas ausdenken, um dich zu diffamieren. Dich so zu verletzen, dass du in Nathan nur noch seine schreckliche Familie siehst.« Während Vincent seine Armbanduhr schloss, drehte er sich wieder zu Ayden um und hob seinen Blick, um ihn anzusehen. »Bist du dir sicher, dass du da drüberstehen kannst?«

»Schon als du mir weismachen wolltest, dass Nathan gerade auf der Gala mit anderen Frauen trinkt und flirtet, habe ich dir gesagt, dass er nicht so ist«, entgegnete Ayden unbeeindruckt, woraufhin Vincent sich beschämt am Hinterkopf kratzte. »Wie einfach gestrickt seid ihr denn, dass ihr immer denkt, man könnte einen Menschen nicht getrennt von seiner Familie betrachten?«

»Ziemlich leicht anscheinend«, seufzte Vincent betreten. »Ich will damit nur sagen, wenn es irgendetwas von dir gibt, womit man dich bloßstellen kann, dann werden sie es bis dahin gefunden haben und dich so darstellen, als wärst du ein Gold Digger, der es auf Nathans Geld abgesehen hat.«

»Abgesehen davon, dass er eh sein eigenes Geld verdient, können sie das ruhig tun, denn bis dahin hat doch trotzdem jeder gesehen, dass Nathan augenscheinlich mit einem Mann zusammen ist? Dann ist Nathans Ruf bei den ganzen Lackaffen dort doch eh schon im Eimer. Oder denkt sie, wir werden uns dort wie Fremde verhalten?«

»Also sie rechnet mit Sicherheit nicht damit, dass ihr auf die Bühne geht und vor allen Menschen miteinander rummacht, nein.« Vincents Augen öffneten sich besorgniserregend weit, als er das breite Grinsen auf Aydens Gesicht vernahm. »Oh Gott.«

»Was habt ihr denn gedacht?«, lachte Ayden lauthals los. »Dachtet ihr wirklich, ich würde mich neben Nate setzen und ihm dabei zusehen, wie ihn die hundertste Frau anmacht, die ihr ihm vorsetzt? Ich bin nicht eifersüchtig, aber das geb ich mir sicher nicht länger als eine Stunde. Nate und mir ist euer Ruf doch vollkommen gleichgültig und unser eigener noch mehr. Zugegeben, ich mache mir sicher mehr Gedanken um meine Außenwirkung, aber nicht mit Nate an meiner Seite. Nicht bei sowas. Er hat mir gestern vorm Einschlafen noch gesagt, dass er mich nicht verstecken will und das die perfekte Gelegenheit ist, alle Brücken einzureißen, die zwischen euren Eltern und ihm noch bestehen.«

»Um ehrlich zu sein wüsste ich auch nicht, womit sie Nate oder dir überhaupt noch drohen sollten«, entgegnete Vincent. Ob Vincent wirklich so ahnungslos war, wie er gerade wirkte, sollte sich noch zeigen. Aber in diesem Moment entschied Ayden sich dafür, ihm zu glauben. »Ich verstehe sowieso nicht, warum sie dich eingeladen hat. Sie kennt Nate schließlich und sollte wissen, dass es ihm egal ist, was sie denkt. Ich bin gespannt, was sie da für ein Ass im Ärmel hat. Aber sollte ich etwas erfahren, werde ich euch helfen.«

Das Laminat des Türrahmens zum Nebenzimmer knarzte, als Vincent sich in den anderen Raum lehnte, um den Schneider wieder zu ihnen ins Zimmer zu winken. Bevor Ayden sich für die Vermessung obenrum freimachte, verabschiedete Vincent sich nach draußen und ließ den Schneider und Ayden alleine zurück.

Nathan fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass Vincent und Ayden alleine in einem Raum waren. Aber er wollte Ayden nicht bevormunden und vertraute darauf, dass Ayden wusste, worauf er sich einließ. Anstatt Ayden also zu folgen, hatte Nathan sich an den reichlich gedeckten Tisch auf der Terrasse gesetzt und wartete mehr oder weniger geduldig. Nathans Bein wippte ruhelos auf und ab, während er mit den Fingern seiner einen Hand auf die Tischplatte trommelte.

Bevor allerdings Ayden auftauchte, ließ Vincent sich plötzlich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches sinken. Ihre beiden Stühle waren zum Pool gewandt, weshalb sie sich nicht direkt ansahen.

»Keine Sorge, ich habe ihm nichts getan, ihn nicht angefasst, beschimpft oder-«

»Ich weiß«, unterbrach Nathan seinen Bruder prompt. »Ich sage es ungern, aber… auch wenn ich nicht weiß, was du vorhast, bin ich dir dankbar, dass du unsere Fragen, hoffentlich auch wahrheitsgemäß, beantwortet hast.« Nach einem tiefen Atemzug sprach Nathan weiter. »Und ich habe mich gestern etwas harsch ausgedrückt. Ich wünsche mir nicht, dass du als Mensch nicht mehr existierst, sondern der Teil in dir, der dich zu dem Menschen gemacht hat, der du seit über zehn Jahren bist.« Nathan drehte seinen Kopf zu Vincent, der ihn mit leicht geöffnetem Mund und überraschtem Gesichtsausdruck anblickte. Mit gerunzelter Stirn sah Nathan seinen großen Bruder ahnungslos an und konnte sich keinen Reim darauf machen, warum Vincent so entsetzt und gleichzeitig doch so erleichtert aussah.

»Können wir bitte kurz so tun, als wären wir noch sieben und zwölf? So tun, als gäbe es nichts auf der Welt, was uns trennen könnte? Bitte, Nate. Lass mich dich einmal umarmen.« Vincent sah aus wie ein Häufchen Elend, während er Nathan um eine Umarmung anflehte. So verzweifelt hatte er Vincent noch nie gesehen und obwohl Nathan sich wie ein Verräter fühlte, überhaupt in Erwägung zu ziehen, Vincents Geste zuzulassen, erinnerte er sich an Aydens Worte. An Ayden, der ihm gesagt hatte, dass es vielleicht wirklich noch ein bisschen Menschlichkeit in Vincent geben könnte und es in Ordnung für Ayden war, wenn Nathan Vincent wie seinen Bruder behandelte, der er nun mal war.

Nathan hatte nicht wenig Sorge, dass das alles eine einzige Falle war. Einer von Vincents durchtriebenen Plänen, oder vielleicht sogar der ihrer Eltern. Vielleicht hatte Vincent Ayden und Nathan nicht die Wahrheit erzählt. Vielleicht wussten Helen und Graham Bescheid und manipulierten Nathan mit Vincents Hilfe. Vielleicht waren sie beide naiv, Vincent überhaupt ein Wort zu glauben. Aber Nathan sehnte sich so sehr nach seinem großen Bruder. Nach dem Jungen, der ganz früher noch sein Wegweiser gewesen war. Bevor alles den Bach runtergegangen war.

Vincent war, bis Nathan circa zehn Jahre alt gewesen war, immer für ihn dagewesen. Bis dahin waren sie Brüder gewesen, wie man sie sich vorstellte. Nathan hatte diese Tatsache weitestgehend verdrängt, weil es ihn nur noch mehr schmerzte, wenn er heute sah, was aus ihnen geworden war. Früher war Vincent ein liebevoller, großer Bruder gewesen, der auf seinen kleinen Bruder aufgepasst, ihm gezeigt hatte, dass man vor dem Überqueren der Straße nach links und rechts gucken sollte und sich immer die Hände wusch, wenn man von draußen hereinkam. Ein großer Bruder, der seinem kleinen Bruder sein Spielzeug geschenkt und ihn ein paar Brettspiele hatte gewinnen lassen, um ihn nicht zum Weinen zu bringen. Bis zu einem Zeitpunkt, ab dem Vincent ihm nur noch den Rücken zugekehrt hatte. Nathan nur noch an den Kopf geworfen hatte, wie kindisch und nervig er war und wie ungern er mit ihm spielte oder Zeit mit ihm verbrachte. Ein Tag, ab dem Vincent genauso kalt und herzlos zu Nathan gewesen war, wie ihre Eltern es von Anfang an waren.

Um einen kurzen Moment der damaligen Zeit zurückzubekommen, nur noch einmal zu spüren, wie es sich damals angefühlt hatte, stand Nathan von seinem Stuhl auf, stellte sich vor Vincent und reichte ihm die Hand. Vincent wusste allem Anschein nach nicht, wie ihm geschah, als er irritiert Nathans Hand schüttelte. Anstatt aber loszulassen, hievte Nathan Vincent mit einem Ruck auf die Beine und legte seinem großen Bruder seine andere Hand auf den Rücken. Bevor Nathan sich allerdings wieder lösen konnte, erwiderte Vincent seinen Griff und wandelte die zuvor etwas unbeholfene Umarmung in eine herzliche um. Sie standen sekundenlang einfach da und hielten sich in den Armen, beide unfähig, ihre Gefühle einzuordnen, die zwischen Hass, Abneigung, Gleichgültigkeit, Sorge und Geschwisterliebe umher tanzten.

»Danke«, murmelte Vincent und drückte Nathan ein letztes Mal fest, bevor sie sich voneinander lösten.

»Warum sagst du mir nicht, was los ist, Vince?«, fragte Nathan und schenkte Vincent einen Blick, der ihm zu verstehen geben sollte, dass Vincent sich ihm anvertrauen konnte. Dass schon genug passiert war und es auch diese Information wohl nicht mehr schlimmer machen konnte. Doch Vincent sah Nathan nur mit leeren, schwarzen Augen an. Nathan wusste nicht, ob er es sich einbildete, aber es kam ihm so vor, als hätte Vincent kaum merklich mit dem Kopf geschüttelt. Daraufhin schob Nathan die Augenbrauen fragend zusammen und hielt den Blickkontakt zu Vincent, der es ihm gleichtat. Vincents Augen sprachen in diesem Moment so viele Worte aus, die Nathan aber alle nicht verstehen konnte. Aber er verstand, wovon Ayden am Morgen gesprochen hatte. Vincent wirkte so verlassen, so einsam, so hilflos.

Sie kommunizierten bestimmt minutenlang nur über ihre Blicke. Als würden sie unter Wasser umhertreiben, sich anschreien, anbrüllen. Sich Dinge an den Kopf werfen, die beim anderen nur als Luftblasen ohne jegliche Information ankamen. Auf Nathan wirkte es so, als würden sie beide verzweifelt versuchen, dem anderen zu erklären, weshalb sie so dachten, wie sie dachten. Aber es funktionierte nicht. Alles was Nathan verstand, war, dass Vincent ihm etwas mitteilen wollte, was dieser aber nicht aussprechen, vielleicht nicht einmal denken konnte. Erst Aydens Ankunft auf der Terrasse ließ ihren Blickkontakt abbrechen.

»Habt ihr euch gerade so angestarrt, um rauszufinden, wer zuerst auf den anderen losgeht?«, fragte Ayden amüsiert.

»Fast«, antwortete Nathan und warf Vincent einen wissentlichen Blick zu, bevor er Ayden in die Arme schloss und seine Stirn küsste. »Bist du fertig?«

»Ja.« Ayden nickte und richtete seinen Blick auf Vincent. »Matteo hat gesagt, dass du den Anzug am Freitag bekommst und ich für letzte Änderungen noch mal vorbeikommen soll.«

»Kein Problem«, versicherte Vincent. »Ich bin da. Kommt einfach eine Stunde vor Beginn der Gala zu mir, dann machen wir das.«

Sie verabschiedeten sich von Vincent und machten sich sogleich auf den Weg nach Hause. Für den Abend stand in Shadows Bar noch eine große Feier an, um den Sommer gebührend zu verabschieden. Ayden und Nathan hatten versprochen, Shadow bei den Vorbereitungen zu helfen, wofür sie allerdings noch einen kurzen Abstecher über ihr Zuhause machen mussten, um ihre Kleidung wechseln und sich frisch machen zu können.

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