Читать книгу Kuckucks Uhr - Ninni Martin - Страница 6
1. Ein leichtes Leben
ОглавлениеIm Halbschlaf streckte Darius die Hand hinter sich und fühlte in einer sanften leeren Mulde noch ihre Wärme und Feuchte, bis seine Finger an einen Schlüsselbund stießen. Das Metall, das nichts vom Klima des warmen Bettes angenommen hatte, war kalt geblieben und ließ ihn für einen kurzen Augenblick schaudern. Anjela musste eben erst gegangen sein. Verlassen zu werden, auch wenn eine Trennung das Beste bedeutete und sie zuletzt beide darauf zugesteuert hatten, schmerzte ihn. Niemals wäre er einen solchen Schritt als Erster gegangen, nicht weil er das Ende nicht wollte, sondern weil er immerzu zögerte. So fehlte ihm auch diesmal der Mut, im Nachhinein Reue über das Vorpreschen überwinden zu müssen. Unentschlossener, jedoch aus Erfahrung weitaus einfacher, schien es Darius hingegen erneut, der Verlassene zu sein. Die Enttäuschung eher über seine Bequemlichkeit verflog so rasch, wie sie gekommen war, und Darius Wolfer haderte nicht weiter mit sich und der steten Flüchtigkeit seines Liebesglücks. Im Grunde erleichtert und mit einem müden Lächeln versuchte er, wieder in den Schlaf zu finden. Darius zog die Decke weit über sich. Anjelas verbliebener Geruch aus Parfüm, Schweiß und Kohlsuppe des Vorabends schlich ihm in die Nase und wog ihn traumhaft in Erinnerung an so viele schönen Stunden zusammen mit ihr. Beinahe bis zum Schluss war sie ihm im Bett eine nahezu vollendete Geliebte geblieben. Erinnerungen an all das Zermürbende in ihrer kurzen Beziehung ließ er gar nicht erst aufkommen. So schnell heilte die Zeit die Wunden. Nun war ein weiteres Kapitel zu Ende gegangen und ein neues wartete längst darauf, begonnen zu werden. Völlig einschlafen konnte er dennoch nicht. Blähungen, mit denen er die ganze Nacht und selbst während des Versöhnungsaktes zu kämpfen hatte, drückten noch immer in seinem Darm und nur dann und wann gelang es ihm, Druck abzulassen. Anjela war es nicht besser ergangen, wie er roch, denn aus den Federn ihrer Betthälfte dünstete noch immer eine nicht weniger scharf schwefelige Note aus. Er hätte eben mehr Kümmel als Zutat in die Suppe streuen sollen, dann wäre sie verdaulicher gewesen. Auf den Batzen Bauchspeck, den er zu brauchen glaubte, um dem Mal überhaupt Gehalt zu geben, hätte Darius zunächst nicht bestehen dürfen. Der Streit, der daraufhin hatte entbrennen müssen, war im weiteren Verlauf ziemlich hässlich geworden. Glaubte er wirklich, dass sie das Ganze zum Spaß äße und ihr Kohl schmecken würde, hatte Anjela anfangs noch die sachliche Auseinandersetzung gesucht und ihm abermals die Segnungen einer Kohldiät vorgepredigt. Darius verfluchte das Zeitgeistmagazin, das Anjela vor etwa zwei Wochen auf diesen Trichter gebracht hatte. Mit dem Einwand, dass keine Frau, die weder die Schwelle zum Übergewicht noch zur Magersucht zu überschreiten drohte, eine Diät nötig hätte, hatte er sie nicht überzeugt. Und überhaupt, warum sollte er fasten? Ein Schweinebauch gehörte in die Suppe, unbedingt! Tränen ihres Unverständnisses und Trotzes, ihrer Macht- und Hilflosigkeit waren daraufhin geflossen und damit jede Sachlichkeit in einem Schwall aus Wort und Widerwort davongespült worden. Wie gemein er wäre, ihre Figur, mehr noch sie als Frau und Mensch so infrage zu stellen. Er wäre es doch gewesen, vor einiger Zeit angedeutet zu haben, dass er sie zu dick fände, ihm ihre Hüfte zu füllig wäre und zudem die Orangenhaut an ihren Schenkeln störte. Darius konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals solche Bemerkungen fallen gelassen zu haben, obwohl er durchaus daran gedacht hatte. Vor vier Wochen erst hatten sie sich kennengelernt und bald eine weitere musste verstreichen, bis sie miteinander geschlafen hatten. Wann sollte er in einer so kurzen Zeitspanne des Über-beide-Ohren-Verliebtseins je in Verlegenheit gekommen sein, sich offen und abfällig über ihre Figur zu äußern. Konnte Anjela Gedanken lesen? Sie wurde ihm unheimlich. So hatten sie sich letzten Endes wie ein altes Ehepaar laut und heftig über eine Nichtigkeit des Alltags und des Älterwerdens gestritten. Erschöpft und schweigend waren sie dann am Tisch vor einem Topf magerer, salzarmer und nahezu kümmelloser Kohlsuppe gesessen. Darius hatte nachgegeben und doch gespürt, dass bei Anjela die Würfel gegen ihn gefallen waren.
Das knarrende Gartentor und leise Schritte im Kies auf dem Weg vor dem Haus schreckten Darius auf. Er ahnte die Peinlichkeit, als ginge Anjela auf und ab, als zögerte sie. Große Unruhe befiel ihn, nicht nur deshalb, was die Nachbarn denken mussten. Wollte sie ihn locken, damit er aufstünde, ihr nachliefe und sie in die Arme nähme? Alles wäre nur ein Missverständnis, denn beide waren sie müde und zu betrunken gewesen. Ein Streit im Alkohol ist niemals der Rede wert. Doch daran lag es nicht. Sie waren eben nicht füreinander bestimmt und die Regel, dass Gegensätze sich einander anziehen, hatte bei ihnen am Anfang Bestand und galt nicht für die Ewigkeit.
»Geh doch endlich!«, flehte Darius leise und vergrub sein Gesicht tief im Kissen, »lass mich endlich zufrieden mit Bloch und Habermas und Deinem ganzen intellektuellen Gewese!« Er konnte ihrem Maß nicht gerecht werden. Wären die Lehrer der Frankfurter Schule zwar erwiesenermaßen geniale, jedoch ein wenig in Vergessenheit geratene Erfinder, Konstrukteure oder nur einfache, patente Ingenieure gewesen, hätte er vor Anjela gerade noch bestehen können. Unterlegen in Eloquenz hätte er mit biederem, sprödem Fachwissen sowie überspielten Wissenslücken dagegengehalten. Habermas und Heidegger hatten zu sehr nach Leuten aus der Technik geklungen und so war ihm leichtfertig der Fehler unterlaufen, sich aus den Untiefen eines belanglosen Bargeplauders leiten zu lassen. Zuvor hatte Darius urplötzlich gespürt, dass er sie zu langweilen begann und sie daran gewesen war, zu gehen. Aus Angst, die Eroberung zu verlieren und um sie tiefer in ein Gespräch zu verwickeln, hatte er sie unbedacht nach Bloch gefragt und was sie von ihm hielte. Darius kannte sonst keine Soziologen oder Sozialphilosophen und bestünde keine zufällige Namensgleichheit mit einer Serienfigur im Fernsehen, wäre er überhaupt auf niemanden aus dieser Richtung gekommen. Unversehens war daraufhin der Flirt seiner Herrschaft entglitten und die Unterhaltung über den Weg einer kurzen Diskussion und dann doch und unabänderlich zu Anjelas überlegenem sozialwissenschaftlichen Exkurs gewandelt. Schließlich war daraus noch am selben Abend ein im Weiteren über Wochen und bis zuletzt wie gefühlt ununterbrochener Monolog entwachsen. Von Anfang an hatte Darius ihr nur sein Ohr hingehalten und versucht, interessiert dreinzuschauen. Von gesellschaftsökonomischen Umwälzungen und konkreten Utopien verstand er nichts und wollte auch nichts wissen. Niemals wieder würde er die unsägliche Mühe, den Wissbegierigen zu mimen, auf sich nehmen, nur um mit einer Frau ins Bett zu kommen und sollte sie noch so schön und begehrenswert sein. Und das traf auf Anjela fraglos zu. Mit Mitte dreißig war sie gute zehn Jahre jünger als er und äußerlich voll blendender Ausstrahlung. Ihre in einem womöglich letzten Anflug erscheinende Jugendlichkeit gepaart mit der ganzen Lebenserfahrung einer gestandenen Universitätsdozentin bestimmten den ersten Eindruck und unwiderstehlichen Reiz, dem Darius sich nicht hatte erwehren können. Anjela bedeutete ihm genau die Art von Frau, welche sein Sammlerherz begehrte. Sie in sein Haus, in sein Schlafgemach, Walhall und Himmelreich zu bringen, entsprach einem Wettkampfstreben, gleichwohl eine weitere Trophäe in die Vitrine errungener Siegespokale zu stellen. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt, er musste sie gewinnen und nur die Eroberung zählte. Nach außen hin waren sie stets in bewundernswerter Zweisamkeit erschienen, eben als ein Traumpaar. Tatsächlich hatte Darius sein 'animalisches' Mannsein in vollen und selbstsüchtigen Zügen ausgelebt, bis der Reiz am Lustobjekt verflogen war und die Suche nach einem neuen begann. Ohne Zweifel hatte er sich während der vergangenen zwei Jahre seit der Scheidung und der damit wiedererlangten schier grenzenlosen Freiheit wiederholt, unverbesserlich und mit großem Eifer unehrenhaft verhalten. Wenn einige der Verflossenen ihn inzwischen als ausgemachtes Schwein bezeichneten und übelst über ihn herzogen, durfte er sich nicht beklagen, denn sie alle kannten guten Grund dazu. Was jedoch Anjela betraf, ließe er sich gewiss nichts nachsagen. Ihr gegenüber war er anständig geblieben, großherzig und duldsam, wie er fand. Denn Anjela versprach er nicht die Ehe, ein leichtes Leben in Wohlstand und angestrebten gemeinsamen Kindern ein treusorgender Vater zu werden. Gegenüber Anjela brauchte er sich nicht als Fels in der Brandung verkaufen, als Universalversorger und Lebensversicherer. Gesellschaftlich gefestigt stand Anjela zu ihm mindestens auf Augenhöhe, eher sogar darüber. Sie hätte sich gewiss nicht mit ihm abgegeben müssen, um sich zu verbessern. Wahrscheinlich wirkte gerade deshalb ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit wie ein Reizverstärker, mit dem sie Darius zusätzlich anstachelte. Mit Anjela war es ihm offenbar ein zweites Mal gelungen, eine Frau zu finden, die ihn allein seinetwegen und nicht des Geldes wegen anzunehmen schien. Mehr noch als bei seiner geschiedenen Gattin, die ihn einst aus einem Grund geheiratet hatte, den er lange nicht verstand, spürte er zuletzt bei Anjela ein Hauch von Gewissheit und Selbstbestätigung.
»Bilde Dir bloß nichts ein!«, murmelte Darius sich in ernüchternder Selbsterkenntnis zu, hob die Decke und blickte auf seinen Schmerbauch. Nein, er war gewiss kein Adonis und kam sich beinahe vor wie ein Buddha. Bereits in jungen Jahren war er wegen seiner wenig beeindruckenden Erscheinung beim Werben um Bekanntschaften oft genug im Nachteil gewesen. Nicht gerade groß gewachsen, etwas krummbeinig, buckelig und mit früh schütter werdendem Haarwuchs lernte er schnell, meistens von vornherein zu verzichten und den Spaß auf später zu verschieben. Das Rennen machten derweil jedoch andere und das Später erwies sich immerfort als Vertrösten auf die Ewigkeit und als Warten bis zum Sankt Nimmerleinstag. So war er zwangsläufig zu einem Streber geworden, dem nichts anderes übrig blieb, als das Lernen und Studieren und mit Fingerfertigkeiten und technischer Begeisterung sein Ingenieurstalent zur Vollendung zu formen. Genau genommen hatte sich der Erfolg bei Frauen für Darius erst in späten Jahren eingestellt und besonders ausgiebig nach der Scheidung. Die Gier nach ständig neuen Liebschaften musste sich seitdem aus einem übergroßen Nachholbedarf schöpfen und tatsächlich empfand er dabei mehr Freude und Erfüllung, als er in jungen Jahren je gefunden hätte. Das Knirschen von Anjelas Schritten im Kies ebbte ab wie ein Pendelschlag, welches rasch an Schwung verlor. Schließlich hörte Darius nur noch die Blätter der Birken rund um sein Haus in einem leichten Morgenwind rauschen und das lose Gartentor schlug quietschend den Takt dazu. Von einer Ahnung aufgeschreckt richtete er sich auf. Anjela konnte sich gewiss nicht in Luft aufgelöst haben. Ungelenk kroch er aus dem Bett und schlich grundlos geduckt und übervorsichtig zum Fenster, dessen Flügel offenstanden und vor dem der Rollanden bis auf schmale Spalte heruntergelassen war. Mit angehaltenem Atem spähte Darius hinaus. Gegen den Zaun gelehnt wühlte Anjela in ihrer Handtasche. Darius sah ihr die Erregung, die Wut und Enttäuschung an. Endlich zog Anjela ihr Telefon heraus und begann, darauf einzutippen. Unerbittlich wandelte die Ahnung sich in ihm zur Gewissheit und auf der Suche nach seinem eigenen Mobiltelefon sprang er jäh zurück und stürzte über die Bettkante hart zu Boden. Dabei riss er die Weinflasche um, die sie mitten in der Nacht nach einem Schlummertrunk vor dem Bett abgestellt hatten. Die zerberstenden Gläser daneben, deren Scherben sich in das Fleisch eines Handballens drückten, ohne zum Glück tief einzuschneiden, gaben mit lautem Klirren ein Übriges zum Lärm, den Darius unbedingt vermeiden wollte. Zu allem Überfluss schrie er vor Schmerz lauf auf. Dennoch gelang es ihm, mit der unverletzten Hand gerade rechtzeitig nach dem Telefon zu greifen, das auf einem Ankleidestuhl zuoberst auf der Wäsche lag. Noch ehe das Gerät einen Laut von sich geben konnte, schaltete er es aus und fühlte dessen kurze Vibration mit eingestelltem Sende- und Empfangsbetrieb als Rettung in der Not. Regungslos blieb er liegen, ließ Stille einkehren, so als wäre nichts geschehen und doch zeigte er damit Anjela das Ende ihrer Beziehung überdeutlich. Darius fühlte sich nicht gut dabei. Ein leiserer Ausklang hätte noch als Zeichen der Achtung gegolten. Eher als Ausdruck seiner Bequemlichkeit wäre im Stillen der Schlussstrich leichter gezogen worden. Von Anjela vernahm er lange nichts weiter, an ihrer statt das Rauschen der Bäume im Wind. Wie aus Boshaftigkeit, schien es ihm, ließe Anjela ihn liegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er erlösend das Heranrollen eines Fahrzeugs. Türen schlugen im bekannt dumpfen und satten Ton eines Taxis und Anjela fuhr endlich davon. Mit Mühe wälzte Darius sich aus seiner Rückenlage auf die Beine und gab sich einem Wunschdenken hin. Anjela hätte nichts anderes unternommen, als nur nach dem Taxi zu telefonieren und ihm gar keine Nachricht gesendet. Wahrscheinlich hätte sie ihn auch nicht fallen hören. So schlecht schien der Tag also nicht begonnen zu haben.
Darius saß am Küchentisch beim Frühstück und bohrte sich mit dem Käsemesser den letzten Glassplitter aus der Hand. Ein wasserdichtes Pflaster langte hernach zur Wundversorgung, zumal die Verletzung kaum geblutet hatte. Die wenigen Blutspuren auf dem Schlafzimmerteppich wie auch auf dem Badevorleger reichten jedoch aus, um Berta Stuck aus der Fassung zu bringen und sie zur Raserei zu treiben. Darius hörte sie in einem Tobsuchtsanfall die Treppe herunterpoltern und ahnte, was ihm blühte. Sie würde ihm sogleich eine Strafrede halten, wenn nicht gar die Ohren lang ziehen, ähnlich einem Schuljungen, der beim Fußball soeben im Nachbarhaus ein Fenster eingeschossen habe. Ohne es bereits zu ahnen, würde seine Haushalshilfe damit nicht einmal falsch liegen. Kurt, ihr Ehemann und zu Darius' Glück ein Mensch von ausgesprochener ruhiger Natur, musste den Schaden der Nacht im Garten und am Gästehaus bereits entdeckt haben. Sonst frühstückten sie beide gemeinsam und Kurt war noch nicht erschienen. Sicher hatte auch er Bertas Wutausbruch vernommen und dachte im Moment wohl nicht daran, seiner Frau wie ein Hiob mit weiteren Neuigkeiten zu begegnen. Darius gab seiner Haushälterin freien Lauf, ließ sie hereinstürmen und schimpfen, denn zu gut kannte er sie. Berta war der liebenswürdigste Mensch, den er sich wünschen konnte und schneller noch, als sie sich in Jähzorn steigerte, regte sie sich wieder ab, und das Gewitter war verzogen. Darius schätzte Berta und Kurt mit grenzenloser Dankbarkeit, denn was sollte er ohne sie allein mit dem großen Haus anfangen. Er war nicht häuslich, ganz und gar nicht, und ein Schlamper wie aus dem Struwwelpeter. Sie hätten sein Angebot, weiterhin für ihn stundenweise zu arbeiten, nicht annehmen brauchen. Beide waren sie weit über sechzig und nach dem Ende ihrer Vollzeitbeschäftigung als Hausmeisterehepaar, welches damals noch das Gästehaus bewohnt hatte, in den Ruhestand gegangen. Nun lebten sie in einem Hochhaus in der Stadt nahe am Wasser und mit einem wunderschönen Ausblick über die Havel nach Osten. Mit dem Fensterblick hätten sie zwar nicht wie einst den stimmungsvollen Sonnenuntergang über dem Spiegel des Flusses vor den Augen, hatten beide anfangs noch bemängelt, als sie in die neue Wohnung eingezogen waren. Ihres fortschreitenden Alters bewusst lernten sie jedoch den ersatzweisen Anblick des Sonnenaufgangs, sofern ihn die Witterung zuließ, als weitaus hoffnungsfroheren Gruß für jeden weiteren Lebenstag zu schätzen. In einem nur noch leicht missmutigen Selbstgespräch suchte Berta unter dem Spülbecken nach Putzmitteln wie Essigkonzentrat und Zitronensäure, um sich für den Kampf gegen die Blutflecke zu wappnen. Darius gab ihr derweil ein Kompliment für den gelungenen Apfelkuchen. Er nahm einen etwas übertrieben genussvollen Bissen von dem bereits zweiten Stück in den Mund, das er sich auf seinen Teller geladen hatte. Geschmeichelt richtete Berta sich auf:
»Wirklich?«, entgegnete sie in nicht weniger gespielter Ungläubigkeit, denn alles andere als Lob und Anerkennung hätte sie tief enttäuscht. Dann setzte sie sich an den Tisch, aß selbst ein Stück Apfelkuchen und weihte Darius wie einen Zauberlehrling in die Geheimnisse ihrer Backkunst ein. Er kannte das Rezept längst wie aus dem Schlaf. Jedes Mal, wenn sie Kuchen mitbrachte, musste genau dieses Spiel folgen, und sie beide hatten ihren Spaß daran. Satt, gut gelaunt, entspannt und nichts ahnend gestärkt für den kommenden Schimpfanfall suchte Berta noch Bürsten, Tücher und Schrubber zusammen und ging die Treppe hinauf ans Werk. Nur wenig später streckte Kurt seinen Kopf durch das Küchenfenster:
»Ist sie oben?«, fragte er prüfend und Darius gab ihm mit dem Daumen ein Zeichen. Kurt kam herein und füllte am Herd in eine übergroße Tasse mit der Aufschrift 'Vater ist der Beste' schwarzen ungesüßten Kaffee, ehe er sich zu ihm an den Tisch gesellte. Berta und Kurt waren kinderlos geblieben und dennoch hatte der Schriftzug auf dem Porzellan eine Berechtigung. Darius musste sich eingestehen, dass er selbst in seiner ehrgeizlosen Vaterrolle keinen Ruhm erringen würde. Die Erziehung der beiden Töchter hatte er von Anbeginn der Mutter und bis zur Trennung von der Familie auch Berta und Kurt überlassen. Noch immer ärgerte es ihn, dass Erika die Leistungen des alten Hausmeisterpaars von vornherein wenig anerkannt und deren Weiterbeschäftigung auf ihre und der Dynastie Kosten wieder aus dem Vertragsentwurf genommen hatte. Wie gewohnt rührte Kurt ausgiebig im Kaffee. Darius wollte ihn längst nach dem Sinn fragen, denn außer Kaffeesatz gab es nichts umzurühren. Doch abermals schaute Darius nur wortlos zu und seine Blicke folgten dem kreisenden Löffel wie dem Pendel eines Hypnotiseurs. Endlich war die Zeit für das eigentliche Frühstück gekommen. Aus der Schublade unter der Tischplatte holte Kurt eine Zigarrenkiste hervor, die gerade noch zwei Coronas enthielt. Kurt würde im Anschluss an ihre Raucherstunde aus dem unermesslichen im Vorrat, der unter dem Dach des Hauses lagerte, für Nachschub sorgen. Dort verwaltete Bertas Ehemann einen wahren Schatz, den er nach dem Zusammenbruch des Ostens als ehemaliger Landarbeiter eines brandenburgischen VEB Tabakkombinats dem Zugriff der Treuhandgesellschaft entzogen hatte. Nach ihrer Abwicklung waren in einer Nacht und Nebelaktion er, Berta und ein Verwandter nur einen Tag vor einer Übergabeinventur auf das Betriebsgelände eingedrungen. Nach mehreren Traktorfuhren hatten sie eine der Hallen nahezu leergeräumt und die Zigarren in einer Scheune des Verwandten zwischengelagert. Als dieser nach einigen Jahren verstarb und dessen Erben die landwirtschaftliche Pacht aufgaben, wollten Darius und Erika nichts dagegen einwenden, den Rest des Diebesguts von den Stucks eben in ihrem Haus verstecken zu lassen. Wann immer Kurt und Berta Geld für eine Reise oder das Auto benötigten, brauchten sie nur einige Kisten der Stumpen mithilfe eines befreundeten Vietnamesen auf dem Schwarzmarkt als täuschend echte Bolivars verkaufen. Für das Kombinat hatte Berta einst für ein gutes Jahr das Handwerk des Zigarrendrehens auf Kuba von den Besten lernen dürfen. Das Umarbeiten der sozialistisch märkischen Standardstumpen auf die jeweils am Markt gefragtesten Nobelmarken bereitete ihr deshalb weder sonderlichen Aufwand noch Schwierigkeiten. So waren Cohibas allmählich aus der Mode gekommen, Bolivars gerade hoch im Kurs und den Schimmelpennicks stand offenbar die Wiederentdeckung bevor. Das Geschäft erwies sich bislang als krisensicher und ungeachtet einer nur kleinen Rente brauchten Berta und ihr Mann Geldnot nicht wirklich fürchten.
Gedankenversunken schmauchten Darius und Kurt vor sich hin. Kurt lehnte sich weit in den Rücken und blies kreisrund gezirkelte Kringel in die Luft. Ein wunderbares süßlich schweres Aroma erfüllte die Küche, welches während des ganzen Tages auf alles, das hier zubereitet werden würde, unnachahmlich abfärben musste. Dem Kohldunst des Vorabends wurde die Atmosphäre entzogen und Darius bekam noch weniger Grund, sich lange an Anjelas Diätwahn zurückzuerinnern. Im Gegenteil, je dichter der Rauch um ihn herum wurde, um so fruchtbarer wurde der Nährboden für eine neue Aussaat bereitet. Mit leichtem Geist überlegte Darius, wie er an diesem Tag vorgehen würde. Er dachte an eine Bekanntschaft, die er zur Mittagszeit in Berlin-Mitte treffen wollte. Schon seit ein paar Tagen hatte er es sich fest vorgenommen, bei dieser jungen schönen Frau mit den engelsblonden Haaren eine klare Absicht zu verfolgen. Die Zeit schien endlich reif dafür, sie für den Abend auf ein Essen in einem der angesagten Sternrestaurants am Gendarmenmarkt einzuladen. Oder sollte er sich auf jemand anderes verlegen? Ihm kam die brünette Assistentin des Hotelgeschäftsführers in den Sinn, mit dem er dann und wann auf der Havel um die Wette segelte. Bestimmt würde er sie am Nachmittag in der Marina des Hotels antreffen. Zuletzt hatte sie ihm schöne Augen zugeworfen und unbedingt hätte er herauszufinden, ob nicht ein koketter Finger, sondern die ganze Hand, im Sturm ihr Herz zu nehmen wäre. Nach vielen verlorenen Wettfahrten gegen den Hotelier wertete Darius einen solchen Triumph überragender noch als den Raub der Sabinerinnen und in einem alles übertreffenden Gegenschlag würde er die Schöne dem Biest entrissen haben. Kurt pfiff derweil leise eine Melodie durch die Zähne, die Darius ablenkte und daran hinderte, zu einer Entscheidung zu finden, um die Qual der Wahl zu beenden. Er kannte das Stück bestimmt, hatte es in seiner Jugend auf einer längst vergessenen Schallplatte gehört, konnte sich jedoch nicht auf den Namen des Titels entsinnen. Die Musikgruppe lag ihm auf der Zunge, der Refrain des Lieds im Ohr und die Frage, welches Frauenherz er nächstens erobern würde, rückte weit von ihm ab.
»Genau zwischen die Augen«, sinnierte Kurt mit Bewunderung im Unterton, »Erika hätte ich das Kunststück zugetraut.« Dann schmauchte er mit anerkennendem Nicken still in sich versunken weiter, denn Kurt war eben noch nie ein Freund vieler Worte gewesen. Darius achtete kaum auf die Bemerkung, viel eher kam ihm der Musiktitel und die ganze Geschichte, die sich damit verband, wieder in den Sinn. Berta hatte sie ihm viele Male erzählt. Als sie auf Kuba gewesen war, hatte es Kurt allein und ohne sie kaum ausgehalten. Das Doppelalbum, von dem er im Westradio gehört hatte, in seine Hände und von dort auf einen Plattenteller zu bekommen, war ihm der Versuch einer Republikflucht wert gewesen. Der Hängegleiter, der von einem Freund aus Abfallstoffen und Lattenrosten gezimmert worden war, hatte sein Gewicht kaum getragen, das Schleppseil war viel zu kurz und der Trabant viel zu langsam und zu schwach gewesen. Dass Kurt bereits kilometerweit vor der Sperrzone mit dem Gleiter niedergegangen war, war strafmildernd bewertet worden. So war er nur zwei Jahre in Bautzen eingesessen, ehe ihn die Volksgemeinschaft des Arbeiter- und Bauernstaates geläutert wieder zurück auf die Felder geschickt hatte. Ein Jahr länger als vorgesehen von seiner lieben dicken Berta getrennt gewesen zu sein, bereute Kurt noch immer verbittert, wann immer er auf seine Vergangenheit angesprochen wurde, wäre die wirkliche Strafe gewesen. Wie dumm wäre er damals gewesen! Nach einer Weile erst begriff Darius, dass Kurt eben von der toten Wildsau in seinem Garten hinter dem Haus gesprochen hatte.
»Anjela hat es erlegt«, erklärte Darius freimütig und gab zu, benebelt vom Alkohol wohl das Gästehaus getroffen zu haben.
»Anjelas einziger Schuss und nichts anderes als ein Zufallstreffer!«, kommentierte Darius noch hastig hinterher, um sich vor Kurt im Vergleich zu Anjela nicht völlig unbedarft erscheinen zu lassen. Mit Erika konnte er tatsächlich nicht mithalten. Seine von ihm geschiedene Frau war in Kanada aufgewachsen und hatte dort das Jagen und Angeln bereits im Kindesalter erlernt. Wenn sie neuerdings ihren Vater zweimal im Jahr zur Bärenjagd auf Kamtschatka begleitete, unternahm sie solche Reisen um die halbe Welt nicht zuletzt deshalb, um Kindheitserinnerungen zu wecken. Im Eigentlichen jedoch ging es bei diesen Unternehmungen nicht um die Jagd, sondern um Geschäfte vornehmlich mit Russen, Chinesen, Koreanern, Amerikanern und Kanadiern. Als spätere Alleinerbin und künftiges Haupt des Unternehmens musste Erika von ihrem Vater allmählich aufgebaut und an solche Geschäftspartner herangeführt werden. Anjela hingegen war in Warschau als Stadtkind groß geworden. Vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie in der vergangenen Nacht ein Jagdgewehr im Anschlag gehalten, geschossen und zweifellos zufällig getroffen.
»Die Wildsau ist ein Überläufer, nicht allzu groß und würde und ausgenommen in eine Kühltruhe passen«, bemerkte Kurt, der sich nun vorbeugte, als wollte er Darius überreden.
»Du bist Tabakpflanzer und kein Fleischer«, winkte Darius ab, »Berta würde sich gehörig bei Dir für die Sauerei bedanken, die Du ihr damit aufbürdest. Wir werden klüger sein, nachher den Kadaver in den Fluss zu ziehen und abtreiben zu lassen. Wir verfahren damit genauso wie die anderen, und wenn wir Glück haben, wird Deine Frau davon nichts gesehen haben.«
Darius' Ablehnung klang wie eine Ausrede. Tatsächlich ekelte ihn der Gedanke, dass bereits Ratten an dem toten Tier genagt haben könnten, obwohl ihm Kurts Vorschlag einer kulinarischen Verwertung durchaus durchdacht erschien. So gäbe es außer Küchenabfällen keine Spuren und deshalb kein weiteres Gerede in der Nachbarschaft. Auch ohne dies bildeten Wildschweine seit Langem das einzig hitzige Thema in der Waldsiedlung, denn alle waren davon betroffen und niemand blieb verschont. Vornehmlich nachts und neuerdings tagsüber fielen mit wachsender Hemmungslosigkeit Wildschweinrotten aus der umliegenden Natur in die Siedlung ein und wüteten, wie es ihrer Art entspricht. Zäune, Hecken, Beete, Rasenflächen, Müllplätze wurden gierig nach Fressbarem durchwühlt, um der überhandnehmenden Nachkommenschaft Nahrung zu bieten. Diese bedankte sich dafür ihrerseits bereits nach wenigen Monaten mit eigenen Frischlingen. Darius selbst hatte erst vor einigen Wochen für viel Geld einen neuen Rasen verlegen lassen müssen, nachdem eine Schweinerotte über den Fluss schwimmend auf seinem Besitz angelandet war. Die massive Umzäunung des Anwesens gegen Zutritt Unbefugter hatte sich umgehend als Verschlimmerung seines Unglücks erwiesen. Gehindert am zügigen Weiterziehen war in einer anderen Nacht eine Rotte allein bei ihm mit apokalyptischer Zerstörungskraft zugange gewesen. Unvermeidlich waren tags darauf zum Schaden viel Spot und Schadenfreude der Nachbarn hinzugekommen. Darius, der kaum Leidenschaft für die Jagd empfand, hatte sich deshalb dazu entschlossen, ein Exempel zu setzen und aufzurüsten. Er hatte sich von Erika ein Gewehr und Munition geben lassen, denn schließlich lag es vertragsgemäß in seiner Verantwortung, weitgehend ihren Grund und Boden zu pflegen, erhalten und zu schützen.
Im Umgang mit der Schweinefrage zeigte sich die Einwohnerschaft der Waldsiedlung ziemlich übereinstimmend mit ihrer Herkunft tief in zwei Lager gespalten. Ein Teil der Menschen, die hier lebten, waren bereits zu DDR-Zeiten mit ihren Familien als höhere Offiziere der NVA, des Staatssicherheitsdienstes oder als Führungskader der Partei zugezogen. Die Wohngegend, welche einst aus einem kaiserlichen Jagdrevier hervorgegangen war, galt bereits in der Nazizeit als gehoben und insbesondere wegen der Abgeschiedenheit und der Nähe zum Wasser als bevorzugt. Hier lebten die Menschen ungeachtet des Zeitenwandels bis noch vor einem Jahrzehnt vornehmlich unter ihres gleichen. Allesamt besaßen die Alteingesessenen voll bestückte Waffenschränke. Schüsse in der Nacht gehörten hier zum guten Schlaf dazu und schreckten kaum noch jemanden auf. Zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen wurde auf alles geschossen, das Einbrecher hätten sein können: Tauben, Birkhühner, Enten, Kormorane, Graureiher und natürlich Wildschweine. Alarmierte Polizeistreifen kamen schon lange nicht mehr. Gelegentliche Anzeigen wurden unter Hinweis auf das Recht der Selbstverteidigung in den meisten Fällen nicht weiterverfolgt. In diesem Sinne und mangels Zeugen etwa war eine entsprechende Klage gegen Darius' Nachbarn zur rechten Seite des Grundstücks bald wieder fallengelassen worden. Seither galt dieser alte, halsstarrige, einäugige, schwerhörige und uneinsichtige, ewig gestrige Betriebskampfgruppengeneral in Pension als ebenso unantastbar wie schießwütig. Darius mied den Kontakt zu ihm, konnte jedoch im Gegenzug darauf vertrauen, auch von ihm in Ruhe gelassen zu werden.
Hingegen entsprach Darius' Nachbarfamilie zur linken Seite mustergültig dem zweiten gängigen Einwohnertypus der Waldsiedlung. Dieser ergab sich nahezu vollständig aus Zugezogenen aus dem Westen. Zumeist im mittleren Alter, mit Familie und halbwüchsigen Kindern arbeiteten sie als höhere Beamte oder wissenschaftliche Angestellte in Ministerien, Landes- oder Bundesämtern sowie den Hochschulen. Nach außen hin und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung um das Gemeinwohl folgend nahmen diese Neubürger alles sehr regeltreu in die Hand: Sie schossen nicht auf Schweine, sondern schrieben Petitionen und organisierten Bürgerinitiativen. Mit solchen Aktionen kamen sie oft und gern in die Medien und genossen ihre Selbstdarstellung im Licht der Öffentlichkeit. Der Schweineplage konnten sie damit jedoch nicht Herr werden. Weitgehend billigend und mit wortloser Unschuldsmiene begannen sie insgeheim dann doch auf die Erfahrung der alten Mauerschützen zu setzen und ließen von diesen mit unausgesprochenem Schießbefehl das Problem standrechtlich lösen. Als erforderte das Hinwegsehen einen Ausgleich, zeigten die Neubürger jedes andere, noch so kleine Vergehen um so leichtfertiger an, wie Falschparken oder Lärmbelästigung durch Rasenmähen zur Mittagszeit. Ausgerechnet Darius' Nachbarin, Ehefrau eines Konzertdirigenten, selbst erklärte vegane Tierschützerin und zu allem Übel dazu Grundschullehrerin mit ausgiebiger Freizeit am Nachmittag, hatte sich in dieser Hinsicht als besonders streitsüchtig und gefährlich erwiesen. Als seine Töchter vor Jahren eine Übernachtungsparty gegeben hatten, war ein anwaltliches Schreiben gefolgt, in dem die Lehrerin rechtliche Schritte hatte ankündigen lassen, sollte sie sich in ihrer Nachtruhe ein weiteres Mal gestört fühlen. Damit war sie jedoch bei Darius' geschiedener Frau an die Falsche geraten. Kurzum hatte Erika gleich die namhafteste ihrer Unternehmenssozietäten damit beauftragt, der überempfindlichen Pädagogin ihre Vorstellung von guter Nachbarschaft nahezulegen. Seither herrschte eine Art von Waffenstillstand. Die Veganerin schaute zwar dann und wann noch neugierig über den Zaun, denn nachmittags blieb ihr reichlich Zeit, und Darius grüßte ihr freundlich zu, sonst jedoch zeigte sie sich eingeschüchtert. Nichtsdestoweniger versprach der trügerische Frieden, nur brüchig zu sein, denn die Nachbarin schwor bestimmt auf Rache und würde Darius' geminderten Rückhalt nach der Scheidung bereits bei der nächstbesten Gelegenheit leidlich ausnutzen.
»Hat sich die Hexe schon gerührt?«, fragte Kurt, der in Gedanken offenbar derselben Besorgnis nachhing und zu bereuen schien, das Schwein wenigstens nicht mit einer Plane abgedeckt zu haben. An einem Samstagmorgen konnte die vegane Tierschützerin über eine nach ihrer allseits bekannten Überzeugung qualvoll verendete Kreatur nicht hinwegsehen, sobald sie sich aus dem Fenster gelehnt haben würde.
»Sie ist mit ihren Kindern gestern Nachmittag ans Meer gefahren. Saßnitz, Binz oder sonst an einem Ort auf Rügen, an dem ihr Mann für den Sommer ein Engagement für ein Kurorchester übernommen hat«, antwortete Darius und mutmaßte, »vor morgen Abend wird sie wohl nicht zurückkehren.«
»Glück gehabt!«, lachte Kurt auf und drückte seinen Stumpen aus, um wieder an die Arbeit zu gehen. »Kann ich die 'OTTOMAR' klarmachen? Wir sollten das Schwein bis zur Eisenbahnbrücke ziehen, denn dort ist die Strömung am stärksten«.
»Zweihundert Meter mit dem Ruderboot in den Fluss hinein reichen aus«, bestimmte hingegen Darius, der die Jacht nicht aus dem ordentlichen Zustand gebracht haben wollte, den er anfangs der Woche mühevoll hergestellt hatte. Er hoffte noch immer darauf, den Motorsegler für ein paar Tage an seine nächsten Gäste vermieten zu können. Bei der Buchung am Telefon hatte die Familie zwar noch kein Interesse gezeigt, jedoch würde er nicht nachlassen, dieser die Vorzüge von Segelausflügen auf Havel und Spree bis hinein nach Berlin schmackhaft zu machen. Wenn sie ihn zusätzlich als Boots- und Reiseführer buchten, und damit rechnete er sehr, würde das Geschäft für ihn besonders einträglich werden. Seinen letzten Gast, der bereits am Vortag abgereist war, hatte Darius nicht für das Zusatzangebot erwärmen können. Wie Anjela herausgefunden hatte, wäre dieser alleinreisende Sonderling ohnehin nur schwerlich für Wassersport der herkömmlichen Art zu begeistern gewesen. Aus einem Gefühl heraus, das die Zeit drängte, folgte Darius seinem Hausangestellten hinaus in den Garten. Gemeinsam zogen sie das Schwein bis zu einem schmalen Bootssteg, der unmittelbar vom Gästehaus und dann über eine Böschung für ein paar Meter und auf dünnen Stelzen in die Havel ragte. Außer Atem ließ Darius von Kurt den Rest erledigen. An den Läufen zusammengebunden wurde das Schwein ins Wasser gestoßen. Als Kurt sich anschickte, das Ruderboot mit dem anderen Ende der Leine zu besteigen, wurde er jedoch von Berta, die vom Schlafzimmerfenster der Villa aus das Treiben beobachtet hatte, heftig zurückgerufen:
»Wenn Du das wagst, lasse ich mich scheiden!«, brüllte sie von fern herunter und Kurt zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen. Wenn seiner Frau etwas nicht passte, drohte sie gewöhnlich mit allem Möglichen, brachte sie die Scheidung ins Spiel, war es ihr besonders ernst. Niemals würde sie sich wirklich von ihrem Mann trennen, eher wollte sie sterben. Doch nicht selten trieb sie die Angst um ihn bis zum Äußersten. Kurt war Nichtschwimmer. Bereits ihren Ehemann in der Nähe des Ufers Gartenarbeiten verrichten zu sehen, trieb Berta stets in große Unruhe und Gereiztheit. Das Schicksal, so redet sie sich dann ein, wartete nur darauf, ein zweites Mal grausam zuzuschlagen, denn in ihrer Kindheit war auch einer ihrer Brüder beim Spielen an einem See ertrunken. Darius bedeutete Berta mit einer beschwichtigenden Geste, endlich Ruhe zu geben, fasste Kurt am Arm und zog ihn zurück.
»Ist schon recht, Kurt, ich beseitige das Schwein«, sagte Darius sich bereits ausdenkend, dass Kurt sogleich für eine Fahrt zu einem Baumarkt nützlicher einzusetzen wäre. »Wir sollten uns vorher aber noch den Schaden ansehen, den ich heute Nacht hier angerichtet habe.« Darius' Vorahnung bestätigte sich, als beide das Gästehaus betraten. Eine Fensterscheibe war zersplittert und das Waschbecken im Badezimmer lag in Stücke zerbrochen am Boden. Das Geschoss, das Glas und Porzellan zerschlagen hatte, steckte verformt zwischen den Holzsplittern einer aufgerissenen Zwischenwand.
»Ein Glück nur, dass Dein Gast bereits vorzeitig abgereist ist«, stellte Kurt erleichtert fest, »nicht auszudenken, er wäre die Nacht über noch geblieben. Du hättest ihn beim Pinklen erschossen!«
»Oder bei Sexspielen mit den beiden jungen Männern«, ergänzte Darius in Gedanken, ohne vor Kurt ein Wort darüber zu verlieren. Berta und ihr Gatte brauchten nicht alles wissen. Das, was es zu sehen und zu riechen gab, reichte bereits aus. Der Geruch im Häuschen erinnerte stark an ein Bordell. Es stank nach billigem Parfüm von Gelen, Körperölen und Lederpflegemitteln. Überall auf dem Boden lagen kot- und blutverschmierte Papiertaschentücher verstreut und entsprechende Flecke übersäten das Betttuch. In der Toilette schwammen gebrauchte Kondome, die dank der darin eingeschlossenen Luftblasen und dem Auftrieb von Gleitcremen jedem noch so intensiven Spülvorgang beharrlich widerstanden. Kunterbunt dümpelten die Präservative im Sifon wie kleine Bojen in einem Miniaturmeer. Gleich bei der Ankunft vor einer Woche war Anjela dieser Gast seltsam vorgekommen. Als dann ab dem Folgetag regelmäßig bei Anbruch der Dunkelheit Besucher mit dem Taxi herangefahren und frühmorgens ebenso wieder abgeholt worden waren, war Anjela nicht länger um Zurückhaltung zu bitten gewesen. In einer Nacht hatte sie sich an das Gästehaus herangeschlichen und durch einen Spalt am Fensterladen gespickt. Darius hatte ihr nur ungern zugehört, als sie ihm tags darauf beim Frühstück von ihren Beobachtungen und den offensichtlichen Vorgängen im Häuschen berichtet hatte.
»Warum vermietest Du überhaupt?«, hatte Anjela ihn verständnislos angeherrscht, »ein solches Zusatzeinkommen hast Du doch gar nicht nötig! Die Gefahr, dass dieses Gesindel eines Nachts sich auch an Dir und mir vergreifen würde, siehst Du nicht?«
»Ich vermiete mein Gästehaus, um Berta und Kurt zu beschäftigen. Allein nur mir hinterher zu putzen und den Rasen zu mähen, kann sich für sie kaum lohnen. Sie würden dann bei anderen als Haushaltshilfen arbeiten. Immerhin decke ich mit den Einnahmen Bertas und Kurts Lohnkosten vollständig ab.«
Darius hatte Anjela eine plausible Erklärung gegeben und sie dennoch nicht zufriedengestellt. Tatsächlich brauchte er das Geld. Er verfügte zwar über ein ansehnliches Vermögen, bezog zudem ein üppiges Gehalt und weitere Einkünfte, doch sein aufwendiger Lebensstil mit all den zur Schau gestellten Attitüden fraß seine Mittel unversehens wieder auf. Darius lebte im gehobenen Luxus an der Grenze des Finanzierbaren. Im gewissen Sinne galt er durchaus als wohlhabend, täglich reicher wurde er jedoch nicht. Im Gegenteil, seit geraumer Zeit zehrte er sogar von der Substanz und das Fließgleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben schien auch dauerhaft gestört zu bleiben. Deswegen breitete er sich noch keine Sorgen, denn Zukunfts- und Existenzängste kannte er nicht und mochte sich gewiss keinen Grund vorstellen, die ihn jemals so weit führen würden. Große Kuchen werden nicht gebacken, damit nur die Krümel gegessen werden.
»Familien mit Anhang als Gäste sind sicher nicht das Schlechteste«, urteilte Kurt beim Anblick der Verwüstung und kratzte sich unsicher im Nacken. Bislang hatte er diese Art von Kundschaft verpönt, denn nach seiner Einschätzung brachten nur Kinder alles in Unordnung. Künftig würde er sich auch auf Alleinreisende nicht mehr freuen.
»Anjela hat im Netz über den Mann nachgeforscht«, erklärte Darius entschuldigend, »ein Pastoralreferent aus dem Niederbayerischen klingt besonders harmlos, wenn dieser in sozialen Medien seine Freude darüber kundgibt, bald eine eigene Pfarrstelle übernehmen zu dürfen.« Weiter äußerte er sich nicht. Im Stillen gönnte er dem angehenden Pfarrer den Spaß, den er hier ausgelebt hatte, denn in dessen Heimat, und damit zurück in das tiefste Mittelalter, reichte allein der Verdacht auf solche Neigungen aus, um gesteinigt zu werden. So hatte Darius Anjelas Drängen nicht nachgegeben, dem Urlauber die zusätzlichen Übernachtungsgäste in Rechnung zu stellen.
Kurt rieb sich nachdenklich am Kinn: »Ich räume besser die allzu deutlichen Kampfspuren beiseite, ehe Berta kommt, um die Zimmer vorzubereiten. Was sollte sie sonst von Dir denken. Am Ende fühlte sie sich noch als Puffmutter.« Er betätigte den Lichtschalter, doch der Leuchter brannte nicht. Ebenso fiel auf, dass ein Rinnsal aus dem Kühlschrank tropfte. Offensichtlich war der Strom ausgefallen. Die Ursache erkannten Darius und Kurt, als sie an der Außenseite der Hauswand unter dem Dach den zerschossenen Hauptsicherungskasten entdeckten. Demnach hatte Darius' zweiter Fehlschuss in der Nacht die Metallabdeckung durchbohrt und das Starkstromkabel gekappt.
»Ich werde heute weder einen Elektriker, Glaser noch Installateur finden, also versuche Du, die Schäden zu beheben!«, forderte Darius Kurt auf:
»Im Baumarkt gibt es neben einem Waschbecken und einer Glasscheibe sicher auch alles Elektrische, das Du dafür brauchst.«
»Ich bin nicht vom Fach«, wehrte Kurt ab, »ich bin Tabakpflanzer und Gärtner!«
»Du bist Bauer mit geschickten Händen«, entgegnete Darius kurz und ließ keinen Widerspruch gelten, »Du schaffst das schon! Die Familie aus Süddeutschland wird erst am Spätnachmittag eintreffen, so bleibt Dir noch genügend Zeit.« Darius zog ein paar Scheine aus seiner Brieftasche und reichte sie Kurt, der das Geld mit einem missmutigen Blick entgegennahm. Eine weitere Banknote, die Darius ihm direkt die Brusttasche am Hemd steckte, hellte seine Miene deutlich auf. Darius hatte sich noch nie lumpen lassen: »Das und der Rest ist für Dich.«
Darius erreichte mit dem Ruderboot etwa die Mitte der Havel, die an diesem Flussabschnitt mit einer Breite von mehreren hundert Metern deutlich wie ein langgestreckter See wirkte. An den Schifffahrtszeichen konnte er ungefähr den Verlauf der Fahrrinne abschätzen, in der ab dem späteren Vormittag ein reger Verkehr von Ausflugsdampfern einsetzen musste. In der Hoffnung, dass bald Schiffsschrauben den Kadaver zerteilen würden, band er das Schwein los. Anstatt dass Forstaufsicht, Ordnungsbeamte, Lokalreporter und Tierschützer Anstoß nähmen, sollten eher Aale am Grund des Flusses die Überreste spurlos beseitigen. Als er in der Ferne ein Polizeiboot herannahen sah, beeilte er sich zurückzurudern. Jedoch ließen seine Kräfte bald nach. Er war noch nie sportlich gewesen und beinahe jede Art der körperlichen Betätigung brachte ihn schnell an den Rand der Erschöpfung. Die Ursache hierfür lag nicht am mangelnden Willen, sich in Form zu halten, sondern an einem angeborenen Herzfehler, den bislang Kardiologen übereinstimmend als ziemlich harmlos eingestuft hatten. So hatte Darius auch ein ärztliches Attest einen Tag vor Unterzeichnung des Ehevertrags und Hochzeit den Familienoberen der Nettelblaads und der Eisenhaupts vorlegen müssen, das die Unbedenklichkeit seiner Herzanomalie bestätigte. Im Grunde war er seit jeher kerngesund und, weil ihm bereits seit geraumer Zeit jede berufliche oder familiäre Belastung erspart blieb, fühlte er sich ausgezeichnet, unbeschwert und wohl. Darius holte die Ruder ein und ließ sich treiben. Die Strömung blieb dabei unmerklich und brachte ihn kaum von Fleck. Tatsächlich bildete die Havel an diesem Flussabschnitt eine geradezu bezaubernde, gemächlich verträumte, malerische Flusslandschaft, weit schöner noch als an jedem anderen Ort ihres Verlaufs. In diesen Anblick hatte er sich unsterblich verliebt, als er vor etwa 18, nein, vor 20 Jahren mit einem Faltboot von Berlin kommend über die Spree bis Spandau und dann bis hier hinabgepaddelt war. Gefangen von den Eindrücken hatte er nicht länger daran gedacht, noch am selben Tag zurückzukehren, sondern hatte sich über das Wochenende und einen weiteren Tag in Blau gleich am Ufer im Fischerhaus eines Gutshofs einquartiert. Ihm war die Gegend um das Gehöft wie Liebe auf den ersten Blick vorgekommen. Etliche Landhäuser und Villen waren in der Nachbarschaft und den Fluss entlang gerade im Bau gewesen, denn offenbar schien bei den Neureichen und Bildungsbürgern der Geheimtippstatus der Waldsiedlung zu schwinden. Die Immobilienpreise waren über die Maßen angestiegen, und Darius hatte unbedingt dabei sein wollen, ehe er mit dem noch bescheidenen Ingenieursgehalt als Berufsanfänger nicht länger hätte mitbieten können. Unweigerlich war ihm bald auch der ungünstigste Bauplatz unerschwinglich geworden, sodass seine Pläne bis auf unabsehbare Zeit unerfüllbar schienen. Darius hatte jedoch den Kontakt zu seinem Gastgeber und Gutsbetreiber erhalten und sich zumindest für die Wochenenden als Dauermieter für das Nebenhaus empfohlen. Nach gut einem Jahr war die Adresse dann zu seinem wirklichen Wohnsitz geworden, und er wäre auch fester Mieter geblieben, wenn nicht ein Blitzschlag den Geräteschuppen des Gehöfts in Brand gesetzt hätte. Der Bauer war unterversichert gewesen. Weil dieser zu jener Zeit noch nicht daran gedacht hatte, den Betrieb aufzugeben, Bankkredite jedoch gescheut und dennoch Geld für die Wiederherstellung benötigt hatte, war Darius unversehens zum Zuge gekommen. Für einen vergleichsweise überschaubaren Betrag und mithilfe eines Hypothekendarlehens hatte er das kleine Fischerhaus und einen schmalen Grundstücksstreifen darum herum, mitsamt dem Bootssteg, zum Eigentum erwerben dürfen. Darius horchte auf. Das Motorenbrummen des Polizeiboots nahm plötzlich an Kraft zu und eine weiß aufschäumende Bugwelle wies auf eine starke Beschleunigung hin. Offensichtlich hatte die Besatzung etwas Verdächtiges entdeckt. Zunächst meinte er noch, das Polizeiboot würde unmittelbar auf ihn zuhalten, dann jedoch schwenkte es leicht ab und nahm Kurs auf den in einiger Entfernung dahinschwimmenden Schweinekörper, der nicht recht unterging. Vermutlich war das Tier mit seiner Rotte am Vortag in einen Gemüsegarten eingefallen und hatte ebenfalls Unmengen von Kohl in sich hinein geschlungen. Gemessen an der Wölbung des Rumpfes, schien der Körper entsprechend aufgebläht. Darius durfte nicht hektisch werden und mühte sich, jeden Anschein von Flucht zu vermeiden. So streckte er die Glieder von sich und mimte den sonnenbadenden Frühsportler, der den Samstagvormittag für eine Ruderpartie und die Ruhe auf dem Wasser nutzte, als gäbe es nichts Entspannenderes. Das Polizeiboot kam derweil längs des Schweins und Beamte beugten sich mit Einholhaken über die Reling.
»Eine Leiche?«, rief Darius im Tonfall einer ängstlich besorgten Frage den Männern auf dem Boot zu und zielte darauf ab, mit einer aufgeschreckten und hochgereckten Betroffenheitshaltung besonders überzeugend zu wirken. Meine Güte, wie schlecht ist es um diese Welt bestellt, an der am helllichten Tag Menschen ertrinken, wenn nicht gar Opfer eines Verbrechens werden! Nichts anderes dachte er, durch furchtbar übertriebene Neugierde und fehlplatzierte Anteilnahme zum Ausdruck zu geben.
»Keine Sorge!«, rief einer der Polizisten zurück und bekundete Entwarnung, »es ist nur ein Schwein. Fahren Sie weiter! Sie behindern mit Ihrem Ruderboot den Schiffsverkehr!«
Weit und breit war jedoch von großen Motorbooten, Frachtschiffen und Ausflugsdampfern nicht eines zu sehen. Darius spielte dennoch mit einem allzu übertriebenen Wink und einem entspannenden Zurechtrücken auf der Ruderbank den Erleichterten, der den Anweisungen beflissentlich folgen würde. Die Polizei, Dein Freund und Helfer, und nie hätte dieses Motto sich als wahrer erwiesen. Die Beamten begannen, verwundert zu ihm hinüberzusehen, unternahmen jedoch nichts weiter, als dass sie das Schwein mit den Haken an Bord zogen. Darius fing an, zu rudern und nahm sich vor, nicht wieder dick aufzutragen, um von sich abzulenken. Beim nächsten Mal zudem, wenn er wieder einen toten Körper im See zu versenken hätte, würde er zuvor den Kopf abgetrennt haben und, wenn nötig, auch die Gliedmaße. Die Kugel, die sicher noch im Schädel des Schweins steckte, konnte die Ermittler auf seine Spur führen. Doch Darius verwarf diese Sorge sogleich, denn ein Tierkadaver wie dieser wäre keine Ermittlungen wert und sollte unbesehen einer Tierkörperbeseitigungsanstalt zugeführt werden. Hingegen schlich sich ein anderes Ärgernis in Darius' Gedanken, als er auf dem Uferweg seinen schweren BMW davonfahren sah. Offenbar hatte Kurt die Limousine für die Besorgungen im Baumarkt als Dienstwagen in Beschlag genommen. Die einst als Ausnahme zugestandene Billigung, dass das Hausmeisterpaar in wirklich dringenden Fällen auf seinen Fuhrpark zugreifen durfte, bestätigte sich ungefragt als Regelfall. Das Material, das sein Haus- und Gartenhelfer zu besorgen hatte, hätte auch in dessen altem Ford Fiesta Platz gefunden und würde dort die zerschlissene Innenausstattung kaum weiter beanspruchen oder verschmutzen. Abgesehen davon wollte Darius selbst lieber mit dem BMW als mit seinem Porsche zur Mittagszeit nach Berlin fahren, und ohne bewusst darüber nachzudenken, hatte er sich in diesem Moment für den blonden Engel entschieden. Sie würde seine Einladung zu einem Mittagessen annehmen, würde mit ihm einen schönen Nachmittag in den bekanntesten Straßencafés verbringen, über die Prachtstraßen promenieren und mit ihm am Abend durch die Bars ziehen. Darius fühlte sich sicher, sie dann für die Nacht mit nach Hause zu bringen. Für den Augenblick blieb die brünette Assistentin des Hoteldirektors nur zweite Wahl und warum sollte er sich mit dem Guten begnügen, wenn das Bessere so leicht zu erobern war? Er hatte die Blonde in einem Bistro in der Friedrichstraße kennengelernt. Soweit er herausgefunden hatte, arbeitete sie als Juristin im wissenschaftlichen Dienst der Bundestagsverwaltung und war noch keine dreißig Jahre alt. Vor allem jedoch schien sie ihm gegenüber nicht abgeneigt, denn sie hatten ihre Telefonnummern ausgetauscht und sich für dieses oder nächstes Wochenende verabredet. Darius nahm sein Mobiltelefon zur Hand und schaltete es ein, aus Sorge, dass etwas dazwischen gekommen wäre und sie bereits versucht hätte, das Treffen abzusagen. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass auf dem Sichtfeld kein Anrufversuch während der Zeit ohne Empfang vermerkt war. Beim zweiten Hinsehen fiel ihm jedoch ein blinkendes Symbol für den Eingang von Textnachrichten auf. Darius erinnerte sich an Anjela und tatsächlich hatte sie ihm zwei Botschaften gesendet.
»Try draniu!«, lautete die Erste, gefolgt von einer Zweiten, welche gemäß dem Zeitstempel nur eine Minute später abgesandt worden war: »Dobrze ci tak.«
Darius hätte sich liebevollere Abschiedsworte gewünscht und musste begreifen, dass auch Anjela sich in den Chor der bitterlich Enttäuschten einreihte. Sie würde genauso hinter ihm herziehen wie all die anderen Verflossenen. Darius fand darin Trost, dass Anjela im Grunde nicht besser zu ihm gepasst hatte als jede der bisherigen Liebschaften. Bereits der kleine Zeitabstand um einige Stunden, der nach ihrem Abgang entstanden war, reichte ihm aus, auf ihre Beziehung etwas nüchterner zurückzublicken. Das Einzige offenbar, dass sie wirklich verbunden hatte, war das Polnische. Sie war Polin, wie er gebürtiger Pole war, ungeachtet des österreichischen Passes, den er besaß. Mehr und mehr wurde ihm klar, dass sie während der ganzen Zeit nur auf Polnisch miteinander gesprochen hatten. Ihr sozialphilosophisches Gerede, ihre tiefgründigen, nie endenden Vorträge über Ansichten und Einsichten der Gottväter ihrer Geisteswissenschaft stellten sich am Ende als Testläufe dar und Darius hatte als ihr Sparringspartner herzuhalten. In dieser Erkenntnis wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass Anjelas Mühe sich gelohnt haben sollte und sie doch noch einen Ruf auf einen Universitätslehrstuhl in Krakau, Posen, Danzig oder Warschau erhielte. Dann erst könnte sie dauerhaft auf Polnisch lehren, ihre Studenten von Habermas, Heidegger oder den weniger bekannten Gurus begeistern, und Darius würde ihr niemals wieder begegnen. In dieser Hinsicht glaubte er dennoch nicht an Utopien und an konkrete schon gar nicht. Von den vermeintlichen Segnungen des überstandenen Sozialismus sah Darius sich geheilt wie wohl die meisten seiner Landleute auch. Wen in Warschau oder in einer anderen Universitätsstadt Polens interessierte Bloch? Auch auf Polnisch klang der Begriff 'Frankfurter Schule' furchtbar deutsch und bliebe auf ewig ein Reizwort historischer Verdammnis. Wohl deshalb konnte Anjela mit ihren bisherigen Bewerbungen um freie Professorenstellen an Polens Universitäten niemanden überzeugen und auf einen Ruf sollte sie aller Voraussicht nach ihr Leben lang vergeblich warten müssen. Wie durch eine unangenehme Vorbestimmung festgelegt, bedeutete es eine Frage der Zeit, bis Darius ihr an jedem beliebigen Platz in Berlin und Umgebung wieder zufällig begegnen würde. »Try draniu«, wäre dann abermals alles, das von seiner Großherzigkeit übrig bliebe. Darius vergaß zu rudern und in Ufernähe drehte ein sanfter Wirbel im Wasser das Boot langsam im Kreis. Er schloss Anjelas Nachrichten auf dem Sichtfeld und versuchte, nicht weiter an sie zu denken. So ließ er sich vom Panorama der Havellandschaft einnehmen und lernte von Neuem das Glück, das ihm zugefallen war, zu schätzen. Das Landhaus, in dem er lebte, das größte und schönste weit und breit, erstrahlte im Sonnenlicht. Auch vor dreihundert Jahren hätten Waldschlösschen und Sommersitze kaum prunkvoller gebaut werden können. Die Nettelblaads hatten dem Gutsbetreiber ein unwiderstehliches Angebot unterbreitet, das ihm inzwischen einen glücklichen Lebensabend als Rosenzüchter auf St. Marteen ermöglichte. Anstelle des Gehöfts ließen Erikas Großeltern in ihrer herrschaftlichen Art die Mitgift in Ausgestaltung dieses prachtvollen Anwesens für die künftige Familienplanung ihrer Enkelin errichten. Deshalb glich auch das weiträumige Grundstück bis hin zum Ufersaum einem durchdachten Park, welcher sich zu jeder Jahreszeit vorbeifahrenden Ausflugsschiffen als beispielhaftes Schaustück der Gartenkunst präsentierte. Wie zur Untermauerung des Besitzstatus lag davor die 'OTTOMAR' vertäut an einem mächtigen Bootsanleger, der gut und gern noch Platz für zwei weitere Motorsegler gleicher Größe bot. Luxus und Pracht, wohin immer das Auge blickte. Bis auf das kleine Fischerhaus am Rand, das nun als Gästehaus diente, sowie der Porsche in der Garage gehörte Darius nur das wenigste von alledem. Der Zwillingstöchter und der obligatorischen Begleitperson wegen lief der BMW nicht auf seinen Namen, sondern wurde aufgrund von Vertragsklauseln sowie aus Sicherheitsgründen von Erika gestellt.
»Du wirst zur Made im Speck! Dich werden sie niemals wieder los«, hatte Tarik ihm bei der Hochzeit zugeflüstert und ihm die Ringe gereicht. Sein Trauzeuge hatte bislang recht behalten. Wäre die Aushandlung des Ehevertrags den üblichen Weg gegangen, hätte Darius auf sich allein gestellt ziemlich unbedacht unterschrieben. Mit einer beträchtlich dahinschwindenden Millionenabfindung unter Abtretung aller Rechte würde er nun andernorts für ein paar Jahre ein gutes Leben führen und in fernerer Zukunft alles verloren haben. Doch im Vorfeld der Eheplanung hatte Tarik ihm die Vertragsverhandlung aus der Hand genommen und sich um alles Weitere gekümmert. Der Hochzeitstermin war daraufhin mehrmals verschoben worden, so erbittert hatten die Unterhändler miteinander gerungen. Obwohl die recht bescheidene Anwaltsrechnung das wahre Ausmaß der Auseinandersetzung nicht widergespiegelt hatte, war Tarik tatsächlich alles andere als ein Einzelkämpfer geblieben. Ohne sich klar darüber zu äußern, hatte er wohl auf eigene Rechnung in seine Strategie unverkennbar auch die Härte und Durchtriebenheit versierter angloamerikanischer Scheidungsanwälte einfließen lassen und damit die Justiziare der Gegenseite niedergerungen. Letztendlich hatte Darius sein Patent nicht aus der Hand gegeben müssen. Neben vielen anderen Vergünstigungen war ihm von der Dynastie für das Verwertungsrecht von geschützter Konstruktion und patentiertem Verfahren im Gegenzug eine uneingeschränkte, unentgeltliche und unbefristete Nutzung an Haus und Grund zuzustehen. Soweit Darius keinen Vertragsbruch beginge, und Tarik würde immerwährend und peinlich genau darauf achten, sollte er im Ganzen für den Rest seines Lebens ausgesorgt haben. Obwohl ihm inzwischen ein Hausverbot für sämtliche Firmensitze und Niederlassungen erteilt worden war, blieb er dennoch auf der Gehaltsliste der Nettelblaad & Eisenhaupt GmbH & CoAG unkündbar als deren leitender Ingenieur eingetragen.
Nach nur noch wenigen Ruderzügen erreichte Darius schließlich den Bootssteg am Fischerhaus. Er hörte durch die offene Tür des Häuschens Bertas Gezeter, die drinnen mit dem Zimmermachen begonnen hatte und noch eine Weile brauchte, um der Unordnung und Zerstörung mächtig zu werden. Vorsichtig schwang Darius sich auf den Steg und schlich geräuschlos am Gästehaus vorbei. Sein Mobiltelefon klingelte und kaum eine Sekunde später lehnte Berta sich erbost aus dem Fenster und ließ ihren Unmut lauthals freien Lauf. Zunächst konnte er kaum verstehen, wer ihn anrief, und erst in einiger Entfernung erkannte er Tariks Stimme.
»Läuft das Techtelmechtel mit Deiner Professorin noch?«, erkundigte sich dieser.
»Nein, aus und vorbei!«, antwortete er knapp, und ehe er nachfragen konnte, was Tarik sein Liebesleben anginge, kam der Anrufer auf den eigentlichen Punkt seiner Neugier:
»Du triffst Dich heute mit der Blonden, hast Du mir neulich erzählt. Kam der Vorschlag für das Treffen von Dir oder von ihr?«
Darius musste kurz überlegen. Ihm wurde allmählich bewusst, dass Tarik einen unangenehmen Verhörton angeschlagen hatte.
»Ich glaube, der Vorschlag kam von ihr«, erinnerte er sich und blieb darüber verunsichert, worin jemals eine Bedeutung läge, von wem von beiden die Initiative für ein Rendezvous ergriffen werden würde. Weil nur das Ergebnis zählte, hatte er sich über solche Fragen noch nie den Kopf zerbrochen.
»Vergiss sie und such Dir eine andere!«, kommandierte Tarik unvermittelt scharf.
Darius holte Luft, um dagegen zu protestieren. Was fiel seinem alten Freund ein?
»Tue, was ich sage!«, fuhr Tarik ihn an und legte auf, bevor Darius auch nur ein Wort des Widerspruchs dagegen finden konnte.