Читать книгу Kuckucks Uhr - Ninni Martin - Страница 7
2. Reisetag
ОглавлениеKarin Allgaier versuchte das Gute im Übel des Stillstands zu finden und folgte dem bereits dritten Durchgang der Übungsdiskette für den Sprachtest mit ungebrochener Aufmerksamkeit. Mit wachsamen Blicken in den Schminkspiegel der Sonnenblende studierte sie genau ihre Tochter Lotta, welche in einem Begleitheft die richtige Auswahl aus den vorgeschlagenen Lösungen anzukreuzen hatte. Missmutig saß das Mädchen eingezwängt auf der vollgestopften Rückbank des Kombis und äffte mit tonlosen Grimassen die sympathische Lautsprecherstimme nach. Überdeutlich war Lotta die Lust am Lernen vergangen, und würde Karin sie nicht unentwegt antreiben, wäre sie längst damit beschäftigt, über das Mobiltelefon gewohnheitsmäßig nichtige Kurznachrichten für unbekannte Freunde in ihr soziales Netz zu stellen. Highway to Hell. Urlaub wider Willen. Stecke im Stau. Hilfe! würde sie mit flinken Fingern auf der Bildschirmtastatur tippen und ihre aktuelle Lagebeurteilung zum Besten geben, wen immer dies interessierte. Karin blickte dann und wann auch hinüber zu Ralf, der hinter dem Steuer inzwischen zur Salzsäule erstarrt zu sein schien. Tatsächlich verfolgte ihr Ehemann jedoch gebannt den Beziehungsstreit, der im Wagen vor ihnen zu eskalieren drohte. Vor gut zwei Stunden, als der Verkehrsfluss zumindest im Schritttempo die Hoffnung auf baldige Besserung genährt hatte, war das Paar noch ein Muster von Eintracht gewesen. Er hatte immer wieder seinen Arm um sie geschlungen und sie hatte sich bei ihm mit Liebkosungen von Körperteilen bedankt, die von den darum herumkriechenden Fahrzeugen aus nicht weiter einsehbar waren. Ralf hatte darüber Witze gerissen über die Karin kaum lachen konnte, denn was sollte Lotta von ihr denken. Insgeheim schätzte sie seinen Humor der derberen Art, denn für prüde hielt sie sich ganz und gar nicht. Soweit nicht offensichtlich, ließ Karin sich von dem Schauspiel unterhalten, dass die beiden vor ihnen gerade aufführten: Sie schlug auf ihn ein mit allem, das sie in die Hände bekam. Er wehrte sich dagegen mit heftigen Stößen und Ausweichbewegungen, um nicht von Schirm, Handtasche, Thermoskanne, Straßenkarte, Hamburgerbrötchen, Deodorantspray und weiteren Reisebedarfsgegenständen getroffen zu werden. So leicht also können die Fehlprogrammierung des Navigationsgeräts oder Missachtung der Stauumfahrung sich als Sollbruchstelle einer längst maroden Beziehung offenbaren und letzten Endes absehbar zu Trennung oder Scheidung führen. Karin verspürte eine gewisse Erleichterung, denn ihre Ehe erwies sich demgegenüber als ziemlich intakt. Ralf gab sich nicht einmal der Mühe hin, jenes elektronische Orientierungshilfsmittel aus dem Handschuhfach zu nehmen, und für Zieleingaben, wären sie methodisch noch so durchdacht, hätte er niemals die Geduld. Karins Ehemann fuhr oft wie im Schlaf und nach Gefühl, wodurch den Mitfahrern nicht selten ein Erlebnis der besonderen Art beschert wurde. Kritik an der Fahrweise dieses Don Quichotte der Straßen zu üben, wäre überdies sinnlos. Nichtsdestoweniger ließ Karin sich lieber von Ralf chauffieren, als selbst zu steuern, und kaum etwas störte sie am Autofahren mehr als Radiohören. Gute-Laune-Moderatoren und Musikberieselung waren ihr seit jeher ein Graus. So blieb das Radio aus und anstatt Meldungen zu erfahren, würde sie die Übungsdiskette auch ein viertes oder fünftes Mal abspielen. Wenn Lotta damit ihren Punktestand nur leicht steigerte, käme Karin der erbarmungslos längste Stau gerade recht. Die Sonne stach derweil noch immer vom Himmel und zur Gluthitze des späten Nachmittags trug der heiße weich gewordene Asphalt der Autobahn einen beträchtlichen Teil bei. Bei Fahrzeugen, die bereits Treibstoff sparen mussten, wurden die Motoren abgestellt. Weil damit den Insassen der Vorzug der Klimaanlage verloren ging, stiegen sie aus, vertraten sich die Beine oder suchten Schutz im Schatten der Büsche am Randstreifen. Einige Urlauber stellten Gartenstühle auf und begannen zu grillen, als spielte es keine Rolle, wo die Ferien verbracht wurden und sei es mitten auf der Autobahn, denn jeder Urlaubstag war kostbar. Wie durch eine Gedankenübertragung aufeinander abgestimmt, warfen Karin und Ralf gemeinsam einen Blick auf die Tankuhr. Bald würden auch sie den Motor abstellen müssen, denn der Dieselverbrauch war bedingt durch den schweren Anhänger, den ihr Wagen hinter sich herzog, übermäßig hoch gewesen. Nun schien es sich zu rächen, dass sie die teurere Variante, ihren Messestand in Leichtmetallbauweise fertigen zu lassen, ausgeschlagen hatten. Die billigere, jedoch deutlich schwerere Stahlkonstruktion, hatte sich als kaum handhabbar erwiesen, denn deren Montage setzte beinahe ein Ingenieursstudium voraus. Karin zweifelte daran, ob sie aus den unüberschaubar vielen Einzelteilen in nur einem halben Tag in der Messehalle einen ansprechenden Schauraum für ihre Kollektion von Kuckucksuhren würden zusammenbauen können. Der Probelauf vor einigen Tagen war erwiesenermaßen katastrophal verlaufen, alles war krumm und schief heruntergehangen und nichts hatte wirklich gut zusammengepasst.
»Übung macht den Meister«, hatte Ralf dennoch voller Zuversicht festgestellt und sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, »Du wirst sehen, wie schnell wir fertig werden!« Seitdem waren Karins Zweifel nur umso größer geworden.
»Konzentriere Dich, Lotta!«, rief Karin ungehalten und ohne sich umzuwenden, »wir üben hier nicht zum Spaß!« Erneut mahnte sie ihre Tochter zur Disziplin, denn bei diesem Durchgang musste sie die Mindestpunktzahl endlich erreichen. Kaum dass die letzte Verständnisfrage zu einem vorherigen Zwiegespräch zweier Studenten über die Qualität des Mensaessens gestellt worden war, riss Karin Lottas Antwortheft an sich. Die Tochter wehrte sich noch nicht einmal dagegen, so gleichgültig war ihr die Vorbereitung auf den englischen Sprachtest als Teil der kommenden Aufnahmeprüfung geworden. Hastig legte Karin eine Schablone des Lösungsschlüssels über die Spalten mit den Auswahlfeldern und sackte nur wenig später tief und ernüchtert in den Beifahrersitz.
»So nicht, kleine Dame!«, schimpfte sie, »wenn Du den ganzen Aufwand leicht nimmst, vergiss dann bitte Eines nicht: Ich meine es ernst! Wir fahren nicht einen Meter weiter, ehe Du nicht die geforderte Punktzahl erreicht hast.«
»Ach, dann ist der Unfall da vorne also Deine Idee!«, patzte Lotta zurück, »die Leute werden staunen, wenn ich aussteige und herumerzähle, dass dieser gottverdammte Stau allein Deine Schuld ist.«
»Haha!«, lachte Karin daraufhin spöttisch auf, »wegen der Kindersicherung kannst Du gar nicht raus.«
»Ich bin kein Kind mehr«, brüllte Lotta wütend, mit hochrotem Kopf und in einer ohrenbetäubenden Lautstärke, »Seit Du so lange den Wagen von Opa fährst, hast Du noch nicht einmal diese verfluchte Tür reparieren lassen!«
Karin tat so, als überhörte sie den Protest ihrer Tochter und stellte die Übungsdiskette entschlossen wieder auf Anfang. Doch, noch ehe die euphemistisch süßliche Titelmelodie des Tonträgers abermals den Leidensgang durch die Übungslektionen einläuten konnte, presste Ralf beherzt den Ausschalter des Klangsystems. Ohne dass es ihm anzusehen gewesen war, hatte ihn das stundenlange, immer gleiche, einlullende und litaneiartige Englischgerede bereits die Nerven gekostet. Ralf, Karin, Lotta, sie alle waren mit ihren Kräften am Ende.
Verdutzt blickte Karin in die Mündungsöffnung des Zapfhahns. Die Tanksäule gab nicht einen Tropfen Treibstoff von sich. Alles Schütteln half nichts und wütend trat sie gegen die Metallverblendung. Die Wirkung blieb bescheiden, nur eine Eindellung, die zurückschnappte, anstatt einer bleibenden Beule, dafür jedoch schmerzende Zehen, zumal sie keine festen Schuhe, sondern Sandalen trug. Das Hubkonzert hinter ihr schwoll an. Wie sie wollte jeder nur tanken und schnell wieder fort von diesem unsäglichen Ort. Erst beim zweiten Blick auf das Anzeigefeld der Tankanlage entdeckte Karin den Schriftzug 'Außer Betrieb'. Unscheinbar beleuchtet flackerte der Hinweis in einem Feld auf, das sonst für die Preisangabe diente. In Karins Ausdruck der Hilflosigkeit mischte sich Verzweiflung. Wütende Autofahrer stiegen aus und preschten auf sie zu. Karin fühlte sich verlassen. Auf der Suche nach Zigaretten und einer Toilette trieben Ralf und Lotta sich auf der Rastanlage herum und hatten sie in einem Moment allein gelassen, in dem die Familie hätte zusammenstehen müssen. Der Volkszorn drohte sich an ihr zu entladen. Unweigerlich würde sie der Lynchjustiz eines gemeinen Mobs zum Opfer fallen, wohingegen jede mittelalterliche Hexenjagd in den absehbaren Folgen glimpflicher und für den Delinquenten gnadenvoller verlaufen würde. Eine Menschentraube rottete sich um Karin zusammen, wütende Schimpfworte und Flüche wurden ihr entgegengeschleudert, als wäre sie wirklich an allem schuld. Der völlige Stillstand auf der Autobahn hatte noch gute zwei Stunden angedauert und danach war es erneut nur kriechend weitergegangen. Die meisten Wagen waren bereits auf Reserve gefahren und diese Raststätte bot in einem Zug viel zu vielen Urlauber wie andernorts gestrandeten Flüchtlingen die letzte Rettung. Vor der Tankstelle bildete sich abermals ein schier endloser Stau, und Karin traf das Pech, die Erste zu sein, die leer ausging. Der Wagen vor ihr, mit dem Paar übrigens, das sich heftig gestritten hatte, war als Letzter beinahe vollgetankt davongefahren. Das Gefühl von Triumph, unbegreiflichem Glück und Schadenfreude für all die Nachfolgenden, hatte scheinbar alle Wunden heilen lassen. Einander liebkosend hatten die beiden den Zurückbleibenden das Bild einträchtiger Flitterwöchner gegeben, als könnte nicht wieder ein Zwist ihre partnerschaftliche Zukunft auf die Probe stellen. Tatsächlich hatte Karin sich dabei ertappt, das Paar darum zu beneiden. Mit Wolfgang, dem Vater ihrer Tochter, hatte das Maß der Zuneigung nicht ausgereicht, um die alltäglichen Differenzen und Meinungsverschiedenheiten zu überwinden. Dabei hatten sie sich nicht offen, laut und heftig miteinander gestritten, waren stets achtungsvoll miteinander umgegangen und dennoch war ihnen das gemeinsame große Glück verwehrt geblieben. Noch immer fühlte Karin sich mit Wolfgang freundschaftliche verbunden, ungeachtet der langen Zeit, die inzwischen vergangen war und der beträchtlichen Entfernung, die sie voneinander trennte. Sicher wären sie auch ohne die gemeinsame Tochter in der einen oder anderen Form miteinander in Kontakt geblieben und wahrscheinlich wäre eine spätere Wiederannäherung noch möglich gewesen. Karin hatte sich längst eingestanden, dass es letztendlich an ihr gelegen hatte, mit Wolfgang nicht zu einer Ehe gefunden zu haben, und überdies hatte sie einst seinen Antrag abgelehnt. Bis zuletzt hatte sie nicht begriffen, dass Wolfgang sich so schnell mit ihrer ersten Ablehnung abgefunden hatte, denn offenbar war er nicht der Mann, der ihretwegen zu betteln oder zu buhlen gewollt hatte. Karin fühlte sich als Flasche, und nicht einmal das Pfand war sie Wolfgang wert gewesen. Sie hatte die Vierzig bereits überschritten, als dann mit Ralf eher unverhofft eine feste, wenn auch brüchige Beziehung entstand. Zügig hatte sie für klare Verhältnisse gesorgt. Aus Vernunft und Torschlusspanik hatte sie nicht erneut gezögert und ihm ihrerseits die Ehe vorgeschlagen. Lotta war darüber alles andere als begeistert gewesen und noch immer fiel es ihr schwer, den neuen Partner an ihrer Seite zu akzeptieren. Darauf wollte und konnte Karin keine Rücksicht nehmen. Sie brauchte Ralf und Lotta musste nun weichen. Sie hatte Wolfgang, dem im Gegensatz zu ihr der berufliche Aufstieg mustergültig gelungen war, nicht lange überreden müssen, die Tochter zunächst für ein Jahr bei sich aufzunehmen. Als Professor in Berkeley, Kalifornien, konnte er ohnehin viel eher und weitaus einflussreicher für Lottas Ausbildung und spätere Entwicklung sorgen. In dem erbärmlichen Kaff auf der Schwäbischen Alb hingegen, in dem sie mit ihrem Familienunternehmen ein vergleichsweise kümmerliches und weltfremdes Dasein führte, würde Lotta als ewiges Landei verkümmern müssen. Dieses Schicksal wollte Karin ihr unbedingt ersparen. Dass sie ihre Tochter dauerhaft zu Wolfgang nach Amerika überzusiedeln beabsichtigte, behielt sie noch für sich, denn bislang war nur die Zeitspanne eines Jahres besprochen und vereinbart worden. Am Ende jedoch würde sie sich einfach weigern, Lotta zurückzunehmen und somit das Beste für sie erreichen. Natürlich gab Karin sich einem Wunschdenken hin. Gewiss würde Wolfgang sie nicht so leicht aus der Verantwortung ihrer Mutterrolle entlassen und sich von ihr solch einen Klotz in Form einer nur noch schwer erziehbaren Pubertierenden anhängen lassen. Dennoch hoffte sie, dass Lotta in Amerika Fuß fasste und von sich aus darauf pochte, bei ihrem Vater zu bleiben. Nur erwiese sich für Karin alles Hoffen als vergeblich, wenn Lotta nach den Sommerferien nicht diese Aufnahmeprüfung in jene elitäre Privatschule bestünde, in welche Wolfgang sie während des Auslandsjahrs in Berkeley unterbringen würde. Wegen Mathematik und Naturwissenschaften brauchte Karin sich nicht um Lottas Leistungen sorgen. Als leidenschaftliche und promovierte Biologin hatte sie offenbar mit den Genen ihre ganze Begabung für alles Naturwissenschaftliche an die Tochter vererbt. Leider hatte sie wohl genauso auch ihr Unvermögen für vieles andere an sie weitergegeben, denn sie beide haderten mit dem Erlernen und Beherrschen von Fremdsprachen. Nur mit eiserner Disziplin und mütterlicher Härte konnte sie Lotta so weit bringen, im Englischtest wenigstens das geforderte Mindestmaß an Befähigung nachzuweisen.
Wieder einmal, wenn ihr alles zu viel und zu schwierig wurde, rückten diffuse Zukunftssorgen sowie steter Missmut über ihre bescheidene Lebensleistung mit beständig unerreichten Zielen Karin weit von der Wirklichkeit des Augenblicks ab. Sie nahm kaum wahr, wie sie immer heftiger von den Menschen um sie herum bedrängt wurde, und dass sie sich endlich zu Teufel scheren solle, überhörte sie. Nur die ernüchternde Bilanz ihres Lebens, das ihr vorkam, als bestünde es zumeist aus Fehlentscheidungen, zählte in diesem Moment und das Ergebnis bedrückte sie. Die Wut der Autofahrer und Reisenden, welche sie vermeintlich am Weiterfahren hinderte, ließ sie zunehmend kalt. So hielt sie stoisch und geistesabwesend die Zapfpistole in der Hand wie ein in die Enge getriebener Bankräuber, der die Aussichtslosigkeit der Lage begriff, einen Revolver. Würde dieser damit auf die Verfolger, die Geiseln oder gleich sich selbst in den Kopf schießen? In einer kaum anders deutbaren Unentschlossenheit entfaltete Karin bereits eine abschreckende Wirkung, als wäre sie von Sinnen und bereit, bis zu Äußersten zu gehen. Letztendlich wagte es niemand, sie anzurühren. Der Aufruhr rief endlich das Tankstellenpersonal auf den Plan. Eine erklärende Lautsprecherdurchsage, dass die Tanklager aller Kraftstoffarten nun geleert seien und Nachschub zwar bestellt sei, jedoch an einem Samstagabend nicht geliefert werden könne, verhallte nahezu ungehört. Erst als zwei herbeigeeilte Mitarbeiter die persönliche Ansprache Einzelner in der aufgebrachten Menge suchten, verbreitete die Schreckensnachricht sich wie ein Lauffeuer bis hin zum hintersten Zipfel der Warteschlange. Panik brach aus und die Woge der Entrüstung schwappte über Karin hinweg, um mit aller Wucht in den Verkaufsraum der Tankstelle hinein zu branden. Dort begannen die besonders Starken und Gemeinen unter den Wütenden erbittert mit Ellenbogen, Tritten und Bissen um die wenigen Reservekanister in den Regalen zu kämpfen. Die Siegreichen würden sogleich nach Taxis telefonieren oder unverzüglich und ohne Umwege zu Fuß über Wiesen und Äcker ziehen, um im nächsten Dorf nach einer Tankstelle zu suchen. Angesichts der wilden Rangelei um die Kanister stellte Karin sich vor, dass ihr Ehemann es niemals so weit gebracht haben würde, einen davon für ihre Weiterfahrt zu sichern, denn Ralf kannte sie nicht als Kämpfernatur. Ebenso konnte sie sich kaum ausmalen, ihn ohne Auto eine Besorgung erledigen zu sehen. Wie es offenbar seiner ganz eigenen Art entsprach, schien ihn eine tief eingeschliffene Bequemlichkeit beharrlich vor jeder körperlichen Anstrengung abzuschrecken. Wenigstens noch im Bett wollte Karins Mann sich bis zur Verausgabung erschöpfen, um den ehelichen Pflichten nachzukommen.
Nun in Ruhe gelassen, bestieg Karin den Kombi und setzte das Gespann von der Tankanlage ab. Die Suche nach einer freien Parklücke auf dem überfüllten Rastgelände erwies sich jedoch als aussichtslos. Im Niemandsland der beton- und asphaltversiegelten Fläche, zwischen Straßengräben und Zaun, Müllcontainern und Bänken sah sie Ralf rauchend auf- und abgehen. Offensichtlich konsumierte er die Zigaretten auf Vorrat und mindestens eine halbe Schachtel im Voraus wie in einem Zug, nur um den letzten Rest der Reise ohne Nikotin durchzustehen. Karin, die beinahe alles an Ralf hinnahm, hatte ihm, dem Kettenraucher, das Rauchen in ihrer Gegenwart abgewöhnt. Sie ließ sich noch nicht einmal von ihm küssen, wenn er zuletzt vor Stunden den blauen Dunst inhaliert hatte und kaum noch einen schlechten Atem haben konnte. Karin kümmerte es nicht, zu einem Verkehrshindernis zu werden, und stellte den Wagen neben Ralf ziemlich quer und sperrig an den Straßenrand. Sie stieg aus und fluchte. Dabei meinte sie nicht Ralf, sondern die schreckliche Aussicht, an diesem Ort bis weit in nächsten Tag warten zu müssen. Mit dem Rest an Diesel würden sie keine zehn Kilometer mehr weit kommen und auf der Autobahn stehen bleiben, sollten sie dennoch versuchen, die Fahrt fortzusetzen. Ralf stellte das Rauchen ein und hielt seinen Kopf für Karins Wutausbruch hin, den sie brauchte, um sich wieder einzufinden. Davon völlig ungerührt blieb Ralf jedoch voller Zuversicht, die von der Messeleitung für Nachzügler eingeräumte allerletzte Möglichkeit, die Vorbereitungen bis spätestens Sonntagnachmittag zu treffen, dennoch zu nutzen:
»Wir werden am Sonntagabend keine drei Stunden brauchen, um unseren Stand aufzubauen und am Montagmorgen werden wir den allerbesten Eindruck von uns geben und Aufträge in Massen einfahren.«
»Oh nein, wir werden morgen Abend niemanden mehr finden, der uns in die Halle hineinlässt«, lamentierte Karin des Streitens müde, »wir müssten bis in Nacht warten, bis jemand vom Wach- und Schließdienst käme.« Karins Hoffnung flammte für einen kurzen Moment auf, dann verwarf sie das trügerische Gedankenspiel vom freundlich hilfreichen Wachmann sogleich wieder.
»Vergiss die Messe, Ralf, wir haben verloren! Kein Wächter dürfte uns die Schlüssel geben. Im Grunde könnten wir genauso gut auf der Stelle umdrehen und wieder nach Hause zurückkehren.«
»Wir fahren weiter, sobald wir können!«, beharrte Ralf entschlossen und seine Worte klangen wie ein Befehl, denn schließlich war er der Geschäftsführer der Manufaktur und einen besseren, oder überhaupt einen anderen, würde Karin kaum finden. In der Erkenntnis, dass von Fahren ohnehin keine Rede sein konnte, gab sie keine Widerworte und fügte sich. Sie wollte sich an diesem Tag gewiss keiner Sinnfrage mehr stellen und schreckte vor dem Eingeständnis zurück, einst sich womöglich zu voreilig für Ralf entschieden zu haben. Missmutig und einander die Blicke meidend, gingen nun beide auf und ab. Als Ralf das Gespann hinter dem Anhänger umrundete, blieb er mit einem Aufschrei der Fassungslosigkeit stehen und deutete wütend auf die Ladeklappe. Karin eilte herbei und entdeckte ebenso, dass das Schloss tatsächlich aufgebrochen war und nur zum Schein und ohne Funktion am Schließbügel hing. Offensichtlich waren während des stundenlangen Staus Diebe an ihrer Ausrüstung zugange gewesen. Hektisch und mit einer bösen Vorahnung öffneten Karin und Ralf den Anhänger, um das Ausmaß der heimtückischen Plünderung in Augenschein zu nehmen. Beide brauchten darüber kein Wort zu verlieren, um zu wissen, dass unversehens ihre ganze Existenz auf dem Spiel stand. Wunderbarerweise erwies der Schaden sich jedoch als äußerst überschaubar. Das Material für den Messestand war unberührt geblieben und jedes Einzelteil hing oder steckte noch an dem dafür vorgesehenen Platz. Nur einige Warenkisten und Schachteln waren aufgerissen, vom Inhalt jedoch fehlte nichts. Nicht eine der Kuckucksuhren war gestohlen worden und an den drei Standuhren, die sie mitführten, hätten die Diebe sich ohnehin einen Bruch gehoben. Die einzigen Dinge, die fehlten, waren im hinteren Teil des Anhängers ein Besen mit Kehrichtschaufel sowie ein Schrubber. Karin erinnerte sich noch genau daran, dass sie die Reinigungsutensilien beim Beladen dort hinten in einen der beiden Putzeimer gestellt hatte.
»Schwaben! Wer sonst käme bei einem Einbruch auf einen dermaßen kranken Einfall, ausgerechnet Putzmittel zu stehlen?«, kommentierte Ralf nüchtern und ohne den traurig sarkastischen Hintersinn dieser Feststellung für den Moment selbst zu begreifen. Karin hingegen lachte laut und befreit auf, denn sie musste ihrem Mann recht geben:
»Was längst zu beweisen war! Unbestreitbar ist die schwäbische Kehrwoche Gruppenzwang der grausamsten Art und treibt selbst Diebe in den Wahn. Was für ein unfassbares Glück hat mich getroffen, dass Lotta und ich dank meines Vaters nur Hereingeschmeckte sind. Wir Badener haben mit Württembergern wirklich nichts gemein!«
Die Erleichterung und Fröhlichkeit, die beide nun ergriff und sie mit noch weiterem Spott über die Schwaben witzeln ließ, hielt nicht lange an. Eine neue Erkenntnis, welche dieser Zwischenfall ebenso mit sich gebracht hatte, drängte sich ihnen unausgesprochen auf und verdarb ihnen allmählich die Freude. Waren die Uhren tatsächlich so wenig wert, dass nicht einmal Diebe diese mitnähmen? Wem erst wollten sie ihre Warenkollektion dann gegen Geld verkaufen, und würden sie während der Messe überhaupt auch nur eine Order in das Auftragsbuch schreiben? Mit Schrecken beschlich Karin eine Ahnung, dass sie auf ihrem neuen Verkaufsstand, der mit hohen Zinsen nur auf Kredit vorfinanziert war, tagelang dazu verdammt wären, sich die Beine in den Bauch zu stehen. Finanziell befand sich ihr Unternehmen hart am Abgrund und auch für die Bank, die kaum noch stillhielt, galt diese Verkaufsreise als Nagelprobe. Wenn nicht in Berlin auf der 'AMBIENTERIA', wo sonst konnten sie für den langersehnten Umsatz sorgen. Auch Ralf war still und nachdenklich geworden. Sorgenfalten sah Karin in seinem Gesicht selten. Nun fühlte sie sich dazu bewegt, ihn aufzumuntern:
»Die 'AMBIENTERIA' ist eine Leistungsschau für das Fachpublikum und nicht für gewöhnliche Autobahndiebe. Die Einkäufer der großen Waren- und Versandhäuser werden von der Qualität unserer Uhren überzeugt sein. Völlig untergehen werden wir auf der Messe sicher nicht. Wir werden bestimmt nicht mit leeren Büchern nach Hause fahren.«
»Vor einem Jahr in Köln hatten unsere großen Erwartungen sich auch nicht erfüllt«, gab Ralf zu bedenken und erinnerte Karin an den Fehlschlag ihres letzten Messeauftritts. Sogleich bohrte er nach und brachte sie erneut auf den bereits wundgescheuerten Punkt eines seitdem schwelenden Streits über die Firmenausrichtung:
»Du musst Dich endlich ändern, Karin! Du kannst nicht bis zum bitteren Ende an längst überkommene Modelle, wie sie Dein Vater und Großvater noch entworfen haben, festhalten. Wir dürfen nicht länger nur für Nostalgiker und Museen produzieren, sondern für junge Menschen, die in modernen Wohnungen und in einer Welt von heute und morgen leben.«
»Komm mir jetzt nicht wieder mit Deiner Sex-Sells-Double-Use Vermarktungsfantasie«, brauste Karin wütend auf und fuhr Ralf bitter an, »solange ich Alleingesellschafterin unserer Uhrenmanufaktur bin, habe ich das Sagen über alles Grundsätzliche und die Firmenausrichtung. Vergiss das nicht, Ralf! Auf Deinen Schweinekram werde ich mich niemals einlassen!«
Damals, als Ralf ihr vor etwa einem Jahr jene scheinbar belanglose Stehgreifidee vorgeschlagen hatte, war sie ihm wohl nicht vollkommen ablehnend erschienen. Karin war es nur als Witz vorgekommen, was er hingegen mit vollem Ernst im Sinn geführt hatte. Ungewollt hatte sie ihm damit ein falsches Signal gegeben. Was hat jede Frau auf ihrem Nachttisch? Eine Weckuhr. Auf diese Antwort war Karin noch leicht gekommen. Was hat beinahe jede Frau in der Nachttischschublade? Ralf hatte sie lange raten lassen. Ein Dildo? Genau und Ralf hatte vor Begeisterung gestrahlt. Wäre es nicht genial, das eine mit dem anderen zu verbinden und einen dezenten Lustspender zu entwickeln, der augenscheinlich wie eine harmlose Uhr aussähe, welche jedoch ebenso eine Frau sehnsuchtsvoll zwischen ihre Beine nähme? Statt eines Kuckucks würde einfach ein Vibrator aus dem rückseitigen und anschmiegsamen Teil des Gehäuses herausfahren, der wie der Negativabdruck einer Vulva geformt wäre. Der Gedanke war tatsächlich lustig gewesen und sie beide hatten darüber sehr gelacht. Als dann einige Zeit später Ralf mit entsprechend ausgefeilten Formentwürfen und Kostenplänen nicht nur für Kuckucksuhren, sondern auch für die Standuhrlinie der Manufaktur aufgewartet war, hatte der Spaß für sie ein schnelles Ende gefunden. Seine detailgetreue Skizzen, wie eine Sehnsuchtsvolle sich vor einem mannsgroßen und mit Wipp- und Wiegemechanismen versehenen Kasten räkelte, um sich zu vollen Stunden von einem hervor pumpenden Riesenstößel in den Unterleib fahren zu lassen, empfand Karin schlicht widerlich. Dies wären die einzigen Uhren auf dem Markt, die wirklich bei jeder Frau die Glocken läuten ließen, hatte Ralf dagegengehalten und über die Wochen und Monate wiederholt versucht, sie darauf einzustimmen. Nein, nein und nochmal nein! Karin war hart geblieben und hatte sich nichts von alledem einreden lassen. Dieser Streit hatte seither nicht zu schwelen aufgehört und flammte nun erneut wieder auf:
»Der Name Allgaier steht für Qualität. Unsere Uhren waren immer nur für das gehobene und stilbewusste Publikum bestimmt. Niemals wird es so weit kommen, dass wir unser Geld durch Vermarktung von Lustspielzeugen über billige Schmuddelläden verdienen werden!«
»Wen wir so weiter stümpern wie bisher, wird der Name Allgaier bald vom Markt verschwunden sein. Das einzige Geld, das Du dann sehen wirst, wird vom Sozialamt kommen!«, höhnte Ralf zurück. Die besondere Gehässigkeit dieser Bemerkung bestand darin, dass es ihr kaum entgehen sollte, ihren Gatten in einem Atemzug vom 'Wir' in das 'Du' wechseln zu hören. Unbestreitbar kannte auch ihre Ehe Sollbruchstellen und dieser unablässige Disput bedeutete nur eine davon. Sie hatten aus Vernunft und Ausweglosigkeit zueinandergefunden und geheiratet, entgegen der Redensart entfaltete ihre Gegensätzlichkeit kaum Anziehung und Verbindendes. Der leidige Streit hätte leicht ausufern können, denn Karin und Ralf waren aufgekratzt, müde, erschöpft und voneinander enttäuscht. Doch als Lotta zu ihnen herantrottete, schien der ganze Unfriede wie weggewischt. Einträchtig, wenn auch wortkarg, ließen sie die Fassade einer harmonischen Beziehung mit gut gespielten Minen wieder auferstehen. Niemals würden sie sich vor Karins Tochter offen streiten und ebenso nicht Geschäftliches ausdiskutieren. Lotta hingegen brachte gerade ihre ganz eigenen Sorgen mit. Mit verheulten Augen und hochrotem Kopf kämpfte sie um Worte und Fassung. Sie war völlig außer sich und Karin musste sie in den Arm nehmen und trösten, ohne zunächst zu erfahren, was ihre Tochter so schwer getroffen hatte.
»Dieses Schwein hat mich beim Pinkeln gefilmt«, presste Lotta endlich und unter Schluchzen hervor.
»Auf der Damentoilette?« Karin wollte kaum glauben, was Lotta, ihr zu erklären versuchte.
»Nein, nicht auf der Toilette«, stammelte Lotta leise, »diese war hoffnungslos überfüllt, offenbar bereits vollkommen verschmutzt und die Kabinen nur über eine Warteschlange zu erreichen gewesen. Ich konnte es kaum noch aushalten und musste mich kurzerhand auf dem LKW-Parkplatz zwischen zwei Lastzüge stellen, um einigermaßen ungesehen mein Geschäft zu verrichten.«
»Wer hat Dich gefilmt?«, drängte nun Ralf.
»Der Fernfahrer! Dieser notgeile Spanner hat einfach sein Mobiltelefon aus dem Fenster gehalten und mit der Kamera genüsslich aufgenommen, wie ich halbnackt in der Hocke gepinkelt habe. Mit der Aufnahme wird er nicht nur sich selbst befriedigen, sondern sein Vergnügen auch mit anderen teilen. Es wird nicht lange dauern, bis mich jeder im Netz auf einer versumpften Voyeur-Pornoseite als Pissschlampe bestaunen kann.«
»Diesem Schwein schlage ich die Zähe aus!«, eiferte Ralf in kriegerischer Entschlossenheit, »zeig mir den Lastzug und ich prügel den Fahrer windelweich!« Ralf stob in blinder Wut bereits davon, als Lotta zweifelnd zu ihrer Mutter aufblickte. Ihr Ehepartner erschien ihr eher als Hänfling, er würde niemanden, und erst recht nicht diesem Gorilla von Fernfahrer, einen Schrecken einjagen.
»Lass es gut sein, Ralf«, beschwichtigte Karin und hielt ihn gerade noch am Arm zurück. »Wir erkennen Deine tapfere Absicht an, aber Du bist kein Schläger. Am Ende wird der Mann Dir die Knochen brechen und nicht umgekehrt.«
Nicht sonderlich widerwillig ließ Ralf sich zurückhalten. Zwar konnte es ihm nicht recht sein, als Familienbeschützer nicht gerade einen hohen Stellenwert zugemessen zu bekommen, und dennoch hatte er froh zu sein, vor körperlichem Schaden unzweifelhaft bewahrt zu werden. Stattdessen ergriff Karin die Initiative. Kommentarlos kroch sie in den Anhänger und suchte polternd darin für eine kleine Weile herum. Schließlich zwängte sie sich bewaffnet mit zwei Eimern, einem meißelgroßen Schraubendreher sowie einem mächtigen Schlaghammer, dem unerlässlichsten Ausrüstungswerkzeug ihres Messestands überhaupt, wieder heraus.
»Es ist sicher nicht das Schlechteste, von den besonderen Neigungen anderer Menschen zu wissen«, stellte Karin beiläufig fest und drückte dem verdutzten Ralf Hammer und Meißel und Lotta die Henkel der Bottiche in die Hände. »Das einzig Wichtige ist, dass wir endlich von hier wegkommen! Dieser Voyeur soll bekommen, wonach er sucht, aber er wird dafür bezahlen.« Sie schmunzelte leicht verlegen und Lotta schien bereits zu ahnen, auf welchen Plan ihre Mutter abzielte. Für Ralf, der die Werkzeuge ratlos in der Hand wog, musste Karin jedoch deutlicher werden:
»Jetzt werde ich mich neben dem Lastzug hocken und dem Fahrer alles zeigen. Ich werde ihn so anspitzen, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Währenddessen schlagt ihr auf der anderen Seite der Zugmaschine ein Loch in den Tank und fangt den Diesel auf.«
Endlich kamen sie auf dem letzten Autobahnabschnitt zügig voran, der Verkehr ließ deutlich nach und die Abenddämmerung brachte die ersehnte Abkühlung. Ralf hatte die Klimaanlage nicht wieder angeschaltet, stattdessen stand das Seitenfenster einen Spalt weit offen und die Windgeräusche übertönten halbwegs das Autoradio. Zu Karins großem Missfallen ließ Ralf sich nicht davon abbringen, das Programm des regionalen Musiksenders mit einer Aufmerksamkeit zu verfolgen, als wartete er auf die Verkündung der Lottozahlen oder auf die Spielergebnisse im Fußball.
»Mach Dir keine Sorgen, Lotta, der Mann sah nicht so aus, als würde er sich mit dem Hochladen von Dateien auskennen!«, sagte Karin sich zu ihrer Tochter umwendend. Sie griff den Gesprächsfaden der vergangenen halben Stunde wieder auf und versuchte erneut, Lotta von der Befürchtung abzubringen, bald unauslöschbar im Netz bloßgestellt zu sein. »Der Fahrer kam bestimmt aus der Ukraine oder aus Kasachstan. Dort sind sie noch nicht so weit!«
»Du hast gut reden«, entgegnete Lotta zweifelnd, »Du hattest eine Sonnenbrille und einen Strohhut auf. Niemand wird Dich wiedererkennen. Außerdem leben auch tief im Osten die Menschen nicht hinter dem Mond und gewiss nicht aus Zufall steht 'www' für weltweites Netz.« Lotta antwortete auch diesmal mit dem besseren Argument und ließ sich noch immer nicht von ihrer Mutter beruhigen. Karin sah ein, dass sie für den Moment nicht mehr erreichen konnte, und ging endlich dazu über, das Thema zu wechseln. So suchte sie im Handschuhfach nach dem Navigationsgerät und reichte es zu ihrer Tochter nach hinten. »Wir werden bald die Autobahn verlassen. Es wäre gut, wenn Du Ralf hilfst, den Weg zu finden.«
»Ich brauche keine Hilfe!«, widersprach Ralf heftig, um am selben Tag nicht ein zweites Mal Zweifel an seinen Fähigkeiten aufkommen zu lassen. Eine Verkehrsmeldung unterbrach jedoch den aufbrausenden Protest. Der Sprecher berichtete in sensationsheischender Hektik von einem auf einem Autobahnrastplatz in Brand geratenen Lastzug. Bedingt durch die umfangreichen Löscharbeiten und der starken Rauchentwicklung sei die Rastanlage nun gesperrt worden und Autofahrern seien gebeten, andere Tankstellen anzufahren. Das also entsprach den Lottozahlen und Karin blickte entgeistert zu Ralf hinüber. Nun begriff sie, warum das Autoradio zu laufen hatte und warum ihr Mann, nachdem sie mit den Eimern voll Diesel den Wagen nachgetankt hatten und abfahrbereit waren, noch einmal zu dem Lastzug zurückgegangen war. Zuvor hatte er ungefragt aus ihrer Handtasche einen Tampon gefingert und bislang war er ihr dafür eine Erklärung schuldig geblieben. Ralf bemerkte wohl, wie er von Karins Blicken durchbohrt wurde:
»Ich hatte keine andere Wahl«, bestätigte er zunächst vorsichtig und kurz angebunden ihren Verdacht und zog dann nicht ohne Stolz aus seinem Sakko ein Mobiltelefon hervor:
»Lass das Navigationsgerät, Lotta, und kümmere Dich um das Telefon! Du kennst Dich mit Geräten wie diesem sicherlich aus und solltest die Filmaufnahmen von Dir und Deiner Mutter löschen. Vergiss aber nicht, zuvor die Telefonkarte herauszunehmen, denn wir möchten nicht geortet werden.«
Mit freudiger Überraschung nahm Lotta ihm das Gerät aus der Hand. Karin hingegen blieb für einige Augenblicke sprachlos und wie gelähmt:
»Musstest Du so weit gehen?«, stammelte sie schließlich.
»Mir blieb nichts anderes übrig«, bekräftigte Ralf. »Ich habe an der Zugmaschine über der Diesellache den glimmenden Tampon pendeln lassen, während ich meine Forderung gestellt habe. Der Fahrer musste mir das Telefon zuwerfen. Hätte ich mich damit dann nur einige Schritte entfernt, wäre der Mann sofort auf mich losgegangen, um sich den Apparat zurückzuholen. Ich konnte nicht anders und war gezwungen, die Lache in Brand zu setzen und ihn zum Löschen zu nötigen. Nur so konnte ich den Fahrer davon abhalten, mich am Kragen zu packen und krankenhausreif zu schlagen.«
Ralfs Worte sollten wie eine Entschuldigung klingen, doch Karin gab nichts darauf:
»Sie werden uns suchen, finden und zur Rechenschaft ziehen! In welch ein Unglück hast Du uns nur hineingeritten?« Sie sah das Schlimmste kommen, doch Ralf wiegelte ab:
»Außer dem Telefon gibt es nichts, das auf uns hindeutet. Auf dem überfüllten Rastplatz waren Hunderte auf der Suche nach Kraftstoff. Jeder davon hätte einen Tank aufbrechen oder auch legal etwas Diesel einem Lastwagenfahrer abkaufen können. Wir waren gewiss nicht auffälliger als andere.« Ralfs Annahme klang überzeugend, dass Karin sich davon in Sicherheit wiegen ließ, denn schließlich hatte er das für sie Bestmögliche erreicht. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken und den Vorfall so schnell wie möglich verdrängen. In seiner Begeisterung über sich selbst ließ Ralf nicht nach und beugte sich zu Karin hinüber, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, dass Lotta nicht verstehen sollte:
»Niemand filmt ungestraft meine Frau nackt! Ich bin der Einzige, der Dir beim Pinkeln zusehen darf, nicht wahr?« Weiter kam Ralf nicht.
»Wobei willst Du zusehen?«, fragte Lotta neugierig und streckte unversehens ihren Kopf nach vorne zwischen die Vordersitze. Offenbar besaß sie Ohren wie ein Luchs und nur schwerlich konnte ihr ein Geheimnis, das in ihrer Nähe im Flüsterton weitergegeben wurde, entgehen.
»Nirgends wobei!«, fuhr Ralf laut an Lotta gerichtet fort und lenkte ab, »Sieh mich an, Lotta, ich bin nicht gerade der Stärkste! Doch darauf kommt es nicht an. Die Guten und die Starken sind meistens die geborenen Verlierer, denn die Starken vergeuden sich mit Aufopferung und sterben zu oft den Märtyrertod und die Guten gewinnen von vornherein keinen Blumentopf. Nur die Gemeinen und die Hinterhältigen bringen es im Leben wirklich weit.«
»Höre nicht auf Ralf!«, fuhr Karin der Lästerlichkeit ihres Mannes dazwischen und schnitt ihm, besorgt um ihre Tochter, das Wort ab, »sei ein braves Mädchen und werde zu einer starken Frau. An diesem Ziel musst Du festhalten und nur dann wirst Du erreichen, was in Deiner Kraft liegt! Alles Weitere im Leben, ob Du Glück oder Pech hast, ob Du etwas Außerordentliches zustande bringst oder nicht, ist Sache der Vorbestimmung. Deshalb hat jeder das Schicksal so anzunehmen, wie es ist. Niemals darfst Du vom rechten Weg abkommen und versuchen, mit faulen Tricks Dir Vorteile zu verschaffen, denn dann wirst Du am Ende Deines Lebens gescheitert sein.«
»So wie voraussichtlich Ralf?«, fragte Lotta mit verletzender Ironie und nutzte diese ungewollte Vorlage Karins aus, um ihre sonst unterschwellige Abneigung gegen den neuen Partner ihrer Mutter erneut offen auszudrücken. Natürlich kannte sie im Groben und Ganzen Ralfs Lebensgeschichte. Von den guten und braven Errungenschaften in seinen jungen Jahren hatte Karin ihr nichts Sonderliches erzählt. Mit 18 hatte Ralf die Landesjugendmeisterschaft im Vierhundert-Meter-Hürdenlauf gewonnen und zumindest diese sportliche Begabung konnte er bis zuletzt nicht völlig und nicht ausgerechnet an diesem Tag verloren haben. Deshalb hätte Hasenfuß-Ralf sich noch immer mit müheloser Leichtigkeit der Verfolgung durch den wütenden Fernfahrer entziehen können und keinesfalls war er dazu gezwungen gewesen, den Lastzug in Brand zu stecken. Wenn Ralf sein vermeintliches Husarenstück nun dazu nutzte, um die menschliche Niedertracht als Erfolgsmoment zu rühmen, klänge diese Prahlerei für Lotta vielleicht mehr als eine belanglose Binsenweisheit. Zumindest ging Karin davon aus, dass Lotta ihren Mann ohnehin kaum beim Wort nehmen würde und natürlich hätte sie verstanden, wobei Ralf ihr zusehen wollte. Aus Verlegenheit wird oft dummes Zeug geredet. Karin selbst fand in Ralfs Ansichten hingegen einen weiteren Beweis für das wahre Wesen ihres Mannes. Wieder stand sie vor der Frage, ob sie ihn tatsächlich hatte heiraten müssen, denn zunehmend begriff sie ihn als ein, wenn auch nützlicher, so doch von Grund auf schlechter Mensch. Doch im Vergleich zu Ralf maß sie auch Wolfgang unter dessen honorigem Deckmantel eines gerühmten Wissenschaftlers kein besseres Innenleben zu. Offensichtlich, so musste sie denken, hatte das Schicksal sie dazu bestimmt, immer nur an die falschen Männer zu geraten. Es fiel Karin schwer, sich damit abzufinden. Wenn sie nur hoffen dürfte, jemals die Kraft zu verspüren, endlich eine bessere Wahl zu treffen, würde sie augenblicklich Ralf aus dem Wagen werfen. Im selben Zug der Aufarbeitung aller Fehlentscheidungen würde sie zumindest mithilfe eines Anwalts von Wolfgang den längst überfälligen Unterhalt für ihre gemeinsame Tochter nachfordern.
Etwa gegen Mitternacht erreichten sie ihr Ziel, nachdem Ralf sich in der Dunkelheit des brandenburgischen Hinterlands einige Male zwischen entvölkerten Dörfern, verlassenen Gehöften sowie aufgegebenen Militärkasernen und Sperrgebieten hoffnungslos verfahren hatte. Lotta war ihm keine Hilfe gewesen. Ihr ganzes Interesse hatte lange nur dem sichergestellten Mobiltelefon gegolten und Karin hatte zu spät bemerkt, dass sie mit weitaus anderem befasst war, als nur die sie betreffenden Filmaufnahmen zu löschen. Tief versunken in die bizarre Bilderwelt des Datenspeichers war es für Lotta nebensächlich geworden, dass derweil das Navigationsgerät beharrlich versuchte, den Weg nach einem gleichnamigen Ort offenbar in Paraguay zu weisen. Erst nach einem unter schmerzhaften Verrenkungen wilden Handgemenge hatte Karin ihr das Telefon entreißen können, worauf Lotta zunächst in einen protestschweigenden Schmollzustand übergegangen und dann in den Schlaf gefallen war. Nur wenige, weiträumig vereinzelte Straßenlaternen zeigten an, dass sie sich gerade in einer Siedlung befanden. Die Häuser lagen zumeist versteckt hinter dichten, mannshohen Hecken oder Zäunen und das zusammenhängende Blätterdach großer Bäume ließ auf kaum ein Grundstück das spärliche Mondlicht hindurchscheinen. Hin und wieder gaben jedoch Stimmen und Musikgeräusche einen Hinweis darauf, dass hier und dort noch Menschen beisammensaßen, um den wochenendlichen Grillabend allmählich ausklingen zu lassen.
»Ich denke, hier sind wir richtig«, mutmaßte Ralf selbstzufrieden. Er hatte, soweit ersichtlich, die Hausnummern abgezählt und brachte den Wagen schließlich vor einem nur schemenhaft erkennbaren Anwesen zum Stehen.
Etwas unsicher stieg Karin aus und erkundete von der Straße aus und den Zaun entlang das Grundstück. Auf den Bildern, welche der Buchungsbestätigung beigefügt waren, gab es ein hübsches Gästehaus zu sehen, das sie jedoch aus der Entfernung kaum ausmachen konnte. Jene Konturen dort hinten am Wasser entsprachen auf den ersten Blick eher einem einfachen Geräteschuppen oder einem Bootshaus und Karin kam der Verdacht, für ihr Feriendomizil auf ein zu schöngefärbtes Angebot hereingefallen zu sein. Am Gartentor, das halboffen stand, zögerte sie, zu läuten, denn mitten in der Nacht wirkte das Haupthaus verlassen. Durch kein Fenster drang ein Lichtschimmer, die Bewohner waren also noch außer Haus oder bereits schlafen gegangen.
»Wir brauchen nicht klingeln«, meinte Ralf, der mit Formalien sich nicht lange aufzuhalten gedachte, »die Schlüssel liegen bestimmt unter der Matte.« Bereits mit Taschen und Koffern bepackt stieß er das Gartentor weit auf und begann das Gepäck in Etappen zum Gästehaus zu schleppen. Karin preschte ihm voraus, als hielte sie Koffertragen für reine Männerarbeit. Über einen schmalen Gartenweg erreichte sie das Häuschen, das aus der Nähe betrachtet schon eher ihrer Erwartung entsprach. Es erwies sich als nicht so groß, wie sie gehofft hatte, die Lage unmittelbar am Wasser mit einer überragenden und unverstellten Aussicht auf und über den Fluss würde sie mehr als nur entschädigen. Vorfreudige Urlaubsstimmung ergriff Karin und sie suchte, nun das Innere der Unterkunft in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich war die Eingangstür unverschlossen, jedoch ließ sich kein Licht einschalten. Zumal in der Dunkelheit auch kein anderes elektrisches Gerät einen Schein der Orientierung gab, musste Kain nicht raten, um zu wissen, dass der Strom ausgefallen war.
»Lotta soll die Taschenlampe mitbringen!«, rief Karin halblaut Ralf zu, den sie mehr von der Last ächzen und stöhnen hören konnte, als dass sie ihn sah. Etwas schien ihr seltsam. Ein stetiger Luftzug umsäuselte sie, Wasser tropfte vor sich hin und ein leichter Brandgeruch zog ihr in die Nase. Vorsichtig tastend bewegte Karin sich in den Raum hinein, der ihr zunehmend unheimlich vorkam. Bald bemerkte sie, dass im Badezimmer ein Fensterflügel fehlte, und der sonderbare Geruch eher von draußen hereinzog. Als Lotta mit der Taschenschlampe hinzukam, wurde im Lichtkegel deutlich, dass anstelle eines Waschbeckens nur ein Putzeimer aufgestellt war, in den aus einem Rohr aus der Wand stetig Wasser tropfte.
»In diesem Loch können wir unmöglich bleiben!«, begehrte Lotta enttäuscht auf, »außerdem stinkt es hier nach angesengten Haaren und verbranntem Fleisch!«
»Das hat nichts zu bedeuten«, entgegnete Karin mit gespielter Gelassenheit, denn sie ließ sich von ihrer Tochter nur ungern für ihre Wahlentscheidungen kritisieren. »Wahrscheinlich haben die Nachbarn ein Spanferkel gegrillt«, versuchte sie dann noch schönzureden und wusste selbst, dass sie nicht überzeugend klang. Tatsächlich, es stank furchtbar. Ralf, der nach dem Sicherungskasten suchen wollte und Lotta die Taschenlampe abnahm, um außen die Stromzuführung für das Haus zu finden, schrie plötzlich voller Ekel und Entsetzen auf:
»Meine Güte, hier liegen zwei Menschen! Ich glaube sie sind tot!«
Karin und Lotta eilten Ralf zur Hilfe und ein grauenhafter Anblick erwartete sie. Ein männlicher Körper lag in einer bereits eingetrockneten Blutlache. Die Überreste von verbranntem Hemd und Hose hingen in Fetzen von flächenhaft verkohlter Haut. Anstelle von Gesicht und Haaren starrte ihnen ein vollkommen geschwärzter Schädel entgegen, aus dem tote Augen wie funkelnde Glasperlen das Licht der Taschenlampe zurückwarfen. Neben der Leiche lag in heftiger Verkrampfung, jedoch ohne größere Brandverletzungen, eine ältere Frau.
»Sie lebt noch!«, rief Lotta entgeistert auf, ohne auch nur mit einem Schritt der Schwerverletzten näherzutreten, »da seht doch, sie hat sich gerade eben bewegt!«