Читать книгу Kuckucks Uhr - Ninni Martin - Страница 8
3. Neue und alte Freunde
ОглавлениеEin Lichtschimmer fiel Darius ins Auge und er blickte in den Rückspiegel. Mit Blaulicht, jedoch ohne Sirene, schoss ein Streifenwagen von hinten heran. Darius verlangsamte die Fahrt und fluchte, so kurz vor seinem Zuhause und in einem denkbar ungünstigen Moment in eine Verkehrskontrolle zu geraten. Dabei war er keineswegs zu schnell oder zu unsicher gefahren und von seiner Fahrweise her konnte nur wenig darauf hindeuten, dass er getrunken hatte. Darius hauchte in seine hohle Hand und roch. Aus dem Mund stank er geradezu nach Alkohol. Jedem Polizisten, der ihn bitten würde, die Scheibe herunterzulassen und die Papiere vorzuzeigen, fiele sofort dieser untrügliche Hinweis auf und unversehens würde er seinen Führerschein auf lange Zeit verloren haben. Darius hielt den Atem an und suchte hastig in der Sakkotasche nach einem von Kurts Stumpen. Schon einmal hatte eine Zigarre ihn aus einer ähnlichen Lage gerettet, weil der dichte Qualm, der aus seinem Wagen gequollen war, die Verkehrskontrolleure einige Schritte Abstand hatte nehmen lassen. Was damals gelungen war, sollte auch diesmal helfen. Als der Einsatzwagen schließlich mit einem starken Luftstoß an dem Porsche vorbeizog, brachte Darius die Zigarre gerade noch rechtzeitig zum Klimmen. Gierig inhalierte er den Rauch und musste heftig husten, weil er sonst vermied, auf Lunge zu rauchen. Dennoch sah er der Kontrolle nun mit Zuversicht entgegen und zu seiner Überraschung stellte der Streifenwagen sich als Zivilfahrzeug der Polizei heraus, das mit unverminderter Eile weiterfuhr und ihn unbehelligt zurückließ. Darius atmete auf, soweit von Luft holen überhaupt noch die Rede sein konnte. Es kam nicht oft vor, dass die Kriminalpolizei in die Waldsiedlung gerufen wurde. Darius dachte an Einbrecher, die gerade wohl gestellt würden, oder eher an einen Familienstreit, der damit geendet habe, dass jemand auf den Partner eingestochen hätte. Solche Vorfälle, sonst aus den sozialen Brennpunkten der Vorstadt bekannt, hatte es hier bereits gegeben und Darius erinnerte sich an eine Frau aus der Nachbarschaft, die vor einigen Jahren nach einem Messerangriff ihrer Schwiegertochter ums Leben gekommen war. Kaum einen Moment später fühlte er sich in seiner Überlegung sogar bestätigt, als er auch noch von einem Leichenwagen eines stadtbekannten Bestattungsinstituts überholt wurde. Darius fuhr langsam weiter. Nicht sonderlich auffallen, um nicht dennoch kontrolliert zu werden, blieb dringend geboten, zumal er bereits hinter der nächsten Ecke oder Kurve auf eine Absperrung stoßen konnte. Tatsächlich, je näher Darius seinem Ziel kam, umso heller wurde das Laubdach über der Straße von funkelnden Lichtern in Blau und Orange beschienen. Ziemlich in seiner Nähe würde etwas Schreckliches geschehen sein. Schließlich stellte er am Ende seiner Fahrt erstaunt fest, dass ausgerechnet vor seinem Haus ein massiver Polizeiauflauf stattfand und auf dem Grundstück ein haushoher Lichtmast die Umgebung weitläufig in taghellen Schein tauchte. Unschlüssig hielt Darius an und beobachtete aus einigem Abstand das Schauspiel vor seinem Anwesen. Die Bestatter zwängten sich gerade mit einem Kunststoffsarg durch das Gartentor. Presse- und Kameraleute standen auf Leitern am Zaun und zielten mit Objektiven flusswärts alle in die gleiche Richtung. Polizisten in Uniform und Zivil liefen aufgeregt zwischen ihren Fahrzeugen hin und her, betraten und verließen sein Grundstück und schwärmten aus, die Straße hinunter und hinauf. Darius wollte so urplötzlich in all das nicht hineingezogen werden. Zwar war er der Haus- und Grundbesitzer, doch was immer dort vorgefallen war, durfte ihm nicht zugeschrieben werden. Wäre es dann nicht klug, einfach zu wenden und sich für die Nacht ein Hotelzimmer in der Stadt zu nehmen? Am nächsten Morgen würde er dann in der Zeitung lesen oder in den Nachrichten hören, was passiert war, und könnte sich ausgeruht, vorbereitet und unbelastet vom Alkohol den Fragen der Ermittler stellen. Tarik würde ihm diesen Rat sicherlich geben und Darius dachte daran, seinen Freund und Rechtsbeistand sofort und ungeachtet der Nachtruhe anzurufen, um sich zu vergewissern. So weit kam er nicht. Eine dunkle Gestalt, die wie aus dem Nichts auftauchte, stand unversehens neben seinem Wagen und klopfte bestimmt gegen die Seitenscheibe. Vor Schreck ließ Darius das Telefon fallen, zumal die Person nicht zögerte, um von sich aus die Fahrertür aufzureißen.
»Guten Abend, Herr Wolfer«, begrüßte ihn ein sympathisch klingender Mann in Uniform, »wir haben einige Fragen an Sie. Möchten Sie bitte Ihren Wagen abstellen und mir folgen.« Widerspruchslos und unsicher entsprach Darius der Anweisung des Polizisten, zu dem sogleich zur Unterstützung zwei weitere seiner Kollegen stießen. Offenbar war auf ihn bereits gewartet und das Nummernschild des Porsches mit seinem Namen abgeglichen worden. Obwohl die Begleitung durch die Beamten auf dem folgenden kurzen Fußmarsch entspannt erfolgte, fühlte Darius sich festgenommen und abgeführt. In vollkommener Ahnungslosigkeit, was ihn erwarten würde, überkam ihn ein ungutes Gefühl. Schließlich wurde er auf sein Grundstück geleitet und an das Gästehaus herangeführt. Er sah die Bestatter wieder, wie diese einen nahezu bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Körper in die Kunststoffwanne des Sargs hoben. Unter der Ansammlung von Menschen, die eben einer Tätigkeit nachgingen, kennzeichnete insbesondere die Anwesenheit etlicher Personen einer kriminaltechnischen Untersuchungseinheit in ihren weißen Schutzanzügen den Bereich zumindest als Unfallort, wenn nicht gar als Tatort. Etwas abseits im Halbdunkeln, bemerkte Darius drei scheinbar Unbeteiligte, ein Paar und eine Halbwüchsige, die ziemlich gegängelt, verstört und fehlplatziert zusammenstanden. Zweifellos musste es sich dabei um jene Familie aus Süddeutschland handeln, deren Eintreffen er für den Spätnachmittag erwartet hatte. Peinlich berührt und ziemlich verlegen grüßte er den Gästen zu, wissend, dass er als Gastgeber in diesem Moment keinen vertrauensvollen Eindruck von sich gab. Darius verharrte und gerne hätte er sich den Ankömmlingen vorgestellt, doch mit leichtem Zug am Arm wurde er fortbewegt und zu einem Beamten mittleren Alters dirigiert, welcher offenbar als Oberster vor Ort diese Ermittlungsangelegenheit verantwortete. Der Kriminalpolizist wirkte übellaunig und distanziert und ihm war anzusehen, dass er dieses Wochenende anders und vor allem dienstfrei verplant hatte. Um den Unmut nicht auf sich zu ziehen, blieb Darius regungslos und wartete still den Fortgang des Geschehens ab. Der Chefermittler fand noch keine Zeit für ihn, schien ihn gar nicht wahrgenommen zu haben, sondern beredete sich mit Mitarbeitern und Kollegen, füllte Formulare aus und fertigte Skizzen. Darius nutzte derweil die Gelegenheit, anhand der Informationen, die er beiläufig auffing, sich auszudenken, was wohl vorgefallen war. Bei dem Toten konnte es sich nur um Kurt handeln. Offensichtlich am frühen Nachmittag, bevor die Gäste eintrafen, war sein Helfer bei der Reparatur am Sicherungskasten in Brand geraten. Ein Lösungsmittel, das die rostigen Schrauben an der Abdeckplatte hatte lockern sollen, war an seine Kleidung getropft und ein Funkenüberschlag am Stromkabel hatte ihn hernach lichterloh in Flammen aufgehen lassen. Armer Kurt, dachte Darius betroffen, doch Unglücke, wie dieses, geschehen eben. Was jedoch nicht in das Bild passte, das ihm zunehmend klarer wurde, war das für einen Unfall unglaublich massive Polizeiaufgebot. Und überhaupt, was war mit Berta geschehen und warum hatte sie ihn nicht angerufen? Darius verfolgte deshalb mit wachsender Neugierde die Arbeit des Ermittlers, neben dem er noch immer unbeteiligt und vor allem unscheinbar stand. Endlich schien dieser ihn zu bemerken:
»Und, wer sind Sie?«, fragte der Kriminalist mit einem flüchtigen Blick auf Darius, um sich sofort wieder einem Formular auf seinem Klemmbrett zuzuwenden, an das er sich wie ein Besessener zu klammern suchte. Darius wollte antworten, doch die Auskunft zur Person wurde ihm abgenommen:
»Das ist Herr Wolfer!«, rief jener freundliche Uniformierte, der Darius im Wagen angesprochen hatte, zuvorkommend aus einiger Entfernung und im Tonfall gelassener Arglosigkeit seinem Vorgesetzten zu. »Das ist Herr Wolfer, der Besitzer des Anwesens!« Für diesen rangniederen Polizisten erwies es sich augenblicklich als Fehler, gerade zur Unzeit wohl zu sehr auf unverkrampfte Kollegialität vertraut zu haben. »Wer hat den Mann hierher gelassen!«, schrie der Chefermittler unvermittelt und völlig aufgebracht heraus und stürmte in rasender Wut auf den Untergebenen zu. Sah die behördliche Dienstvorschrift für diese offensichtliche Fehlleistung etwa eine schallende Ohrfeige als Maßregelung vor? »Schaffen sie augenblicklich diesen 'Pan Tau' fort, Sie Vollidiot! Ich habe Sie ausdrücklich angewiesen, den Zeugen vor dem Anwesen auf der Straße warten zu lassen. Ich wiederhole: auf der Straße! Sie machen die ganze Aufklärung zunichte. Dieser Mann wird von den Tatumständen nur noch so viel preisgeben, wie uns bereits bekannt ist!«
Daraufhin galt für Darius die Konsequenz von treten und getreten werden, denn der soeben noch höfliche Uniformträger nahm ihn hart in den Polizeigriff und stieß ihn heftig vor sich her und zurück auf die Straße. Wie ein Verbrecher an den Zaun gestellt, musste Darius für die Ermittlungspanne büßen. Unterdessen wurde auch die angereiste Familie vom Grundstück gewiesen und vor einem Mannschaftswagen der Polizei in eine weitere Befragung verwickelt. Aus dem Augenwinkel sah Darius die Verzweiflung und vollkommene Erschöpfung der Frau an, die auch für Tochter und Ehemann das Wort führte. Unverkennbar nahm gerade eine weitere Fehlleistung im behördlichen Umgang mit Zeugen ihren Lauf, denn mehr als das, was sie bereits zu Protokoll gegeben hatte, konnte sie nicht aussagen. Darius bekam nicht lange Gelegenheit, an diesem unentwegten Nachbohren bei den Süddeutschen mitzuleiden. Der Chefermittler trat durch das Gartentor, schritt auf ihn zu, stellte sich ihm als Hauptkommissar vor und nannte in größter berlinerischer Schnoddrigkeit einen kaum verständlichen Namen. Dann folgte eine Art Befragung, eher ein Verhör. Darius' anfänglicher Versuch, sich vorsichtig nach dem Vorfall auf seinem Anwesen zu erkundigen, denn immerhin ging es ihn als Bewohner sehr wohl etwas an, scheiterte an einer wüsten Zurechtweisung. Er hätte keine Fragen zu stellen, sondern zu antworten. Widerspruchslos ließ Darius sich fortan bedrängen, entgegnete bereitwillig, wenn auch sichtbar eingeschüchtert und zeigte sich vor allem kooperativ. Zu deutlich klang ihm noch das Wort 'Tatumstände' im Ohr, das der Kommissar hatte fallen lassen, dem damit selbst ein Ermittlungsfehler unterlaufen war. Darius zwang sich zur Wachsamkeit, ohne dem Chefermittler etwas von seinem Argwohn anmerken zu lassen. Keinesfalls durfte er jener ehevertraglichen Leumund-Klausel wegen vom Zeugen zum Verdächtigen werden. So gab er die alleinige Anwesenheit seiner Mitarbeiter Berta und Kurt Stuck zum Zeitpunkt an, als er am späten Vormittag sein Haus verlassen habe. Weil er bis in der Nacht nicht wieder zurückgekehrt sei, wisse er nicht, was tagsüber oder am Abend vorgefallen sei. Der Kommissar zeigte Darius auf dem Bildschirm eines Diensttelefons Aufnahmen von der verkohlten Leiche am Fundort und bat ihn um die Identifizierung. Ohne die grausamen Einzelheiten der Abbildungen genau betrachten zu wollen, riet Darius eher, als dass er es sicher bestätigen konnte, dass sich bei dem Toten um Kurt Stuck handeln würde. Das Einzige, das wirklich für die Annahme sprach, waren die offensichtlichen Körpermaße. Dennoch bestätigte Darius das Opfer sicher als Kurt Stuck. Wer sonst, denn bereits ein leiser Zweifel konnte ihn verdächtig erscheinen lassen. Im Folgenden musste er Fragen zum Beschäftigungsumfang der beiden Mitarbeiter beantworten. Darius betonte das langjährige, gute und vertrauensvolle Verhältnis, das er zu den beiden Haus- und Gartenhilfen pflegte und log in dem einen verfänglichen Punkt. Nein, er wisse nichts von Schäden im Gästehaus und natürlich habe er seinen Gartenhelfer niemals dazu aufgefordert, Reparaturarbeiten an der Hauselektrik auszuführen. Bis hierhin fühlte Darius, im Verhör die Kontrolle zu behalten. Dann jedoch wurde es für ihn unangenehm. Ob er im Besitz einer Schusswaffe sei, fragte ihn der Kommissar planvoll. Damit wurde deutlich, dass der Ermittlungsaufwand tatsächlich darauf abzielte, keinen Unfall, sondern ein Verbrechen aufzuklären. Darius wurde unsicher und zögerte. Ein Vermögen gäbe er dafür, nun Tarik bei sich zu haben, der genau darauf achten würde, dass er nicht Falsches sagte. Zwischen Lüge und Wahrheit entschied Darius sich schließlich für die Halbwahrheit. Er für seinen Teil habe mit Waffen nichts zu schaffen, doch tatsächlich gebe es in seinem Haus ein Jagdgewehr, das allerdings seiner geschiedenen Frau gehöre, welche dann und wann mit den Töchtern hier die Wochenenden verbringe. Der Chefermittler wurde hellhörig und Darius sah es ihm an, dass dieser von vornherein einen Unfall ausschloss. Von sich aus, und wohl aus nackter Angst ziemlich übereilt, bot Darius dem Kommissar an, ihm den Waffenschrank zu zeigen. Auf keinen Fall durfte sein Haus vollständig von oben bis unten durchsucht werden. Das Zigarrendepot unter dem Dach würde ihn dann erst recht in Erklärungsnot bringen und in größte Schwierigkeiten treiben. In Begleitung eines Kriminaltechnikers der Spurensicherung folgte der Kommissar Darius in das Haus hinein und wie erhofft nicht weiter als bis in das Zimmer, in welchem das Gewehr aufbewahrt wurde. Als Darius am Waffenschrank beinahe die Zahlenfolge eindrehen wollte, stellte er fest, wie dumm er sich gerade anstellen würde, denn nur Erika, und nicht er selbst, hätte die Kombination zu kennen. Zu seiner großen Erleichterung erwies der Schrank sich ohnehin als unverschlossen. Der Chefermittler konnte keinesfalls den sicheren Schluss ziehen, dass er mit dem Gewehr umgegangen war, denn auch die Geschiedene konnte vergessen haben, das Möbel zu verschließen. Ohne weitere Worte händigte Darius dem Techniker Waffe und Munition aus und ebenfalls kommentarlos beendete der Kommissar daraufhin den Besuch im Haus, wie auch den ganzen Aufmarsch davor. Der Lichtmast war bereits eingeholt worden und nach wenigen Minuten war auch das letzte Einsatzfahrzeug davongefahren. Ein paar Presseleute standen noch etwas unschlüssig auf der Straße herum. Einer davon trat an die Familie heran, die gerade in ihren mit einem Anhänger bespannten Kombi einstieg, und erlitt von der Frau dafür eine heftige Abfuhr. Auch Darius, der vom Zaun aus etwas ratlos die Feriengäste aufbrechen sah, scheuchte Reporter davon. Fragen würde er ihnen gewiss nicht beantworten. Als das Wendemanöver des Gespanns nahezu vollzogen schien, gab Darius sich einen Ruck und traf eine Entscheidung vollkommen aus dem Bauch heraus. Er sprang auf die Straße und stellte sich dem Fahrzeug in den Weg. Entnervt senkte der Mann am Steuer das Seitenfenster hinunter:
»Was ist denn noch!«, ärgerte sich dieser.
»Bitte bleiben Sie!«, bat Darius einladend und schritt an das Fahrzeug heran. »Sie sind meine Gäste, bitte fahren Sie nicht fort! Es tut mir schrecklich leid, dass Sie in diesen furchtbaren Unfall mit hineingezogen wurden. Ich wünschte, ich könnte alles wieder gutmachen. Zumindest stünde Ihnen für den Aufenthalt hier auch mein eigenes großes Haus offen.« Darius klang von ganzem Herzen überzeugend.
»Für umsonst?«, rief vorlaut aus dem hinteren Teil des Kombis eine Mädchenstimme heraus.
»Gewiss!«, hörte Darius sich unbedacht bekräftigen und war von sich überrascht und verärgert.
Die Nacht verlief unruhig und kurz. Erst als es viel zu bald anfing, hell zu werden, fand Darius etwas zur Ruhe, sich hin und her wälzend fiel er dennoch nicht in den Schlaf. Seinen neuen Mitbewohnern schien es nicht besser zu ergehen. Auch die Allgaiers zeigten sich von Unruhe getrieben. Im Stockwerk darüber, dort wo eine ganze Reihe von Gästezimmern auch einer Fußballmannschaft samt Trainerstab und Spielerfrauen genügend Platz und Behaglichkeit böte, hörte er immer wieder Schritte gehen, Türen schlagen und die Toilettenspülung. Zudem drangen aus dem Garten und durch das halb geöffnete Fenster ab und an Stimmen. Am knarrenden Eingangstor gaben Sensationsreporter und Fernsehleute sich wohl die Klinke in die Hand, um für die Boulevardmagazine und gelben Blätter zuverlässig reißerisches Bildmaterial heranzuschaffen. Im Dämmerzustand bereute es Darius, das Jagdgewehr zu voreilig abgegeben zu haben, denn er hätte die Pressemeute damit nicht anders von seinem Grund und Boden vertrieben wie in der Nacht zuvor die Wildschweine. Als am frühen Morgen die Sonnenstrahlen durch das Laubdach der Bäume brachen, durch die Spalten am Rollladen funkelten und ihm ins Gesicht fielen, hielt er es im Bett nicht länger aus. Völlig übermüdet stand er auf und wankte nur mit Hemd und kurzer Hose bekleidet die Treppe hinunter in die Küche, um Kaffee zu kochen. Darius verspürte etwas Hunger, so hoffte er, dass Berta, was immer mit ihr geschehen war, vorher noch Zeit gefunden hätte, einkaufen zu gehen und den Kühlschrank aufzufüllen. Das Einzige, das er sah, war der bis zur Hälfte aufgegessene Apfelkuchen, an dem unverkennbar auch ein Hausgast sich bereits bedient hatte. So zeigten Krümel auf dem Küchentisch sowie eine benutzte Tasse im Spülbecken an, dass er nicht als Erster zum Frühstück gegangen war. Darius dachte darüber nicht nach, verlor überhaupt keine Gedanken, brauchte noch Zeit, sich zu sammeln, und stellte der Einfachheit halber einen Topf Wasser auf den Herd. Er würde das Kaffeepulver in der Tasse einfach überbrühen, so wie ihm die Zubereitung am bequemsten war, und die Finger von dem hochmodernen, noch etwas vor sich hin dampfenden Vollautomaten lassen. Ein falscher Knopfdruck, eine leichtfertig unachtsame Fehlbedienung und umgehend hätte er abermals den Kundendienst zu rufen. Darius begann, langsam wieder nachzudenken. Warum brachte er es nicht fertig, dieses unsägliche Gerät und Hinterlassenschaft einer gescheiterten Ehe einfach in die nächstgelegene Wertstofftonne zu werfen? Italienische oder japanische Technokraten, die diesen Automatentyp entworfen und zu verantworten hatten, hielt er für ziemlich durchtrieben. Deren Zielsetzung konnte nicht darin bestanden zu haben, für vollendeten Genuss zu sorgen, sondern das Unternehmen an den beständigen Wartungs- und Reparaturleistungen prosperieren zu lassen. Abgesehen davon leistete diese Ausgeburt der Ingenieurskunst wenig, eben nur Kaffee, auch daran gemessen, dass selbst das hochpreisigste Zubereitungswunder niemals einen Bürgerkrieg würde befrieden helfen oder den Weltfrieden erhielte. Hingegen brachte Darius mit seinen eher unscheinbaren Automaten, Entwicklungen und Konstruktionen den Menschen Tod und Verderben. Immer wieder warfen ihm moralinsaure Bedenkenträger, die ihm nahe kamen und an seiner Arbeit Anstoß nahmen, vor, dass er sich am Leid anderer bereichern würde. Sie konnten recht haben, und er ließ ihre Meinung gelten. Mit der Nutzung seines Patents verdienten die Nettelblaads und Eisenhaupts noch immer ein Vermögen und ließen ihn daran teilhaben. Dennoch blieb Darius mit sich im Reinen und der Kaffeevollautomat lieferte ihm an diesem Morgen nur eine weitere Bestätigung dafür, kein schlechterer Mensch zu sein. Anders als die Konstrukteure dieser Maschine brauchte er, um im Wohlstand zu leben, zumindest nicht Kaffeetrinker betrügen.
»Schön haben Sie es hier«, sprach eine angenehme Frauenstimme Darius rücklings an und ohne sich umzuwenden, erinnerte er sich an Karin Allgaier, die er zusammen mit ihrem Anhang in der Nacht in sein Heim gelassen hatte.
»Machen Sie es sich bequem und fühlen Sie sich wie zu Hause!«, hatte er ihnen nur zugerufen, nachdem er ihnen den Weg die Stufen hinauf in das zweite Stockwerk gewiesen hatte. Dabei war es geblieben und ein höheres Maß an Fassung und Geduld für Wortwechsel und Begrüßungsfloskeln hatten weder er als Gastgeber noch die Allgaiers aufgebracht. Wie als Fortsetzung davon behielt Darius seine Konzentration allein für das Kaffeebrühen und schien den Neuankömmling nicht zu beachten. Für ein Gespräch fühlte er sich noch immer nicht in Stimmung, eher mimte er den in stiller Kontemplation versunkenen Zeremonienmeister des Kaffees, um in Wahrheit über einen Zwiespalt hinwegzukommen. Tief im Inneren bereute Darius seine Gastfreundschaft, und er verzweifelte daran, wie lange er es mit diesen Fremden unter einem Dach wohl aushielte: Keinen Tag und noch nicht einmal einen Vormittag. Dabei klang Karin Allgaier freundlich, warmherzig, entspannt, neugierig, wenn auch distanziert sogleich.
»Brühen Sie mir noch eine Tasse mit?«, fragte sie ihn offenherzig und stellte unumwunden fest: »Ich will mich nicht beklagen, aber Ihre Kaffeemaschine ist das Letzte. Ich habe die Jauche in den Ausfluss kippen müssen.«
Mit einer einladenden Bewegung wies Darius den Feriengast an den Tisch und kümmerte sich weiter um das Kaffeekochen. Nebenbei musterte er die Frau nun genau. Sie schien ihm für seinen Geschmack zu groß gewachsen, dafür ziemlich hager, sehnig und flachbrüstig. Als Bohnenstecken hätte Kurt sie lakonisch und aus dem ersten Eindruck heraus beschrieben, für den Fall, dass er bei der Ankunft der neuen Gäste noch am Leben gewesen wäre und sie empfangen haben konnte. Urplötzlich rückten die Ereignisse des Vortags und der Nacht wieder in seine Gedanken und unweigerlich wurde ihm Kurts Tod bewusst. Noch immer wusste er nicht, was wirklich vorgefallen war.
»Können Sie mir sagen, was gestern passiert ist?«, erkundigte er sich deshalb unsicher und setzte sich mit den beiden Tassen zu Karin Allgaier. »Auch wenn Sie es nicht glauben mögen, bin ich noch immer weitgehend ahnungslos. Überhaupt vermisse ich meine Haushaltshilfe, Berta Stuck, die Ehefrau des Gartenhelfers, der hier zu Tode gekommen ist.« Darius nippte am Kaffee und blickte gespannt auf.
»Leider kann ich Ihnen kaum weiterhelfen«, erklärte Karin Allgaier entschuldigend und legte eine merkliche Pause ein, als müsste sie erst noch nachdenken, um die Erlebnisse des Vortags auch für sich auf eine Reihe zu bringen:
»Als wir gegen Mitternacht hier ankamen, haben wir das Paar am Gästehaus vorgefunden. Zuerst dachten wir, auch die Frau wäre tot. Doch dann, als sie sich etwas regte, haben wir sofort den Notarzt gerufen.«
»Berta, ich meine Frau Stuck, war also noch am Leben?«, unterbrach Darius aufhorchend, »was hat der Arzt festgestellt? Geht es ihr gut?« Er überhäufte Karin Allgaier geradezu mit Fragen und gab ihr kaum Gelegenheit, zu antworten.
»Nein, wohl kaum«, erklärte sie schließlich und erinnerte sich, »der Notarzt meinte noch, es sähe nicht gut aus für die Frau, als Minuten später die Polizei eintraf und sich von den Rettungskräften informieren ließ. Von einem Stromschlag und vorübergehendem Herzstillstand war die Rede gewesen.« Karin Allgaier nahm einen vorsichtigen Schluck Kaffee. Natürlich brauchte sie das Koffein, um gegen die schrecklichen Bilder in ihrer Erinnerung anzukämpfen:
»Jedenfalls wurde sie sehr schnell fortgebracht. Der grauenhafte Geruch dieser verbrannten Leiche war kaum auszuhalten und deshalb wollten auch wir so bald wie möglich von hier weg. Doch die Polizisten haben uns angewiesen, für Fragen weiterhin zur Verfügung zu stehen. Sie haben auf meine Tochter keine Rücksicht genommen und ihr dieses furchtbare Schauspiel nicht erspart.« Karin Allgaier klang verbittert und wütend und Darius konnte ihr für einen kurzen Augenblick mitfühlen. Dann jedoch und noch während er versuchte, ihr aufmerksam zuzuhören, überlegte er bereits angestrengt, welchen Schritt er als Nächstes unternehmen sollte. Natürlich musste er Tarik anrufen, um sich von ihm Rat einzuholen. Um diese frühe Uhrzeit wie auch über den ganzen Vormittag würde er seinen Rechtsbeistand nicht erreichen und hatte deshalb den Anruf zumindest bis gegen Mittag aufzuschieben. Wertvolle Zeit drohte ungenutzt zu verrinnen. Was konnte alles in Bewegung geraten, wenn Erika von dem Unfall auf ihrem Grundstück erführe? Seit jeher galt bei den Nettelblaads und Eisenhaupts als oberstes Gebot Diskretion. Weder Privates noch Geschäftliches durfte jemals an die Öffentlichkeit geraten. In Pressemeldungen und Medienberichten über die Familie, wenn auch selten und zumeist unbedeutend, wurde grundsätzlich Gefahr gesehen, Anwaltskanzleien, Beratungsagenturen und Detekteien dagegen in Stellung gebracht, jederzeit bereit zum Gegenschlag. Negativschlagzeilen, denn beinahe jede Meldung ließe sich auch als solche auslegen, waren wie Tod und Teufel gefürchtet. Oft allein aus reiner Vorsorge wurde eine gut eingespielte Maschinerie des Schreckens und der Einflussnahme in Gang gebracht. Dabei hielten die alten Eisenhaupts, die Eltern von Erikas Vater, sich nicht für die kleinen Leute zu fein und gingen gegen diese über eine Reihe alles verschleiernder Mittelsmänner mit dem Eifer von Kammerjägern zu Werke. So wurden besonders rigoros einfache, freie Journalisten verleumdet, denunziert und unter Druck gesetzt, indem sie aus weit hergeholten oder schamlos erfundenen Behauptungen wie Steuerhinterziehung, Kindesmissbrauch oder etwa Drogenvergehen vor Gericht gezogen wurden. In der Folge zumeist existenziell vernichtet, fanden solche Schreiberlinge sich bald auf der Straße wieder, nachdem ihre Mietwohnungen aus urplötzlichen Gründen gekündigt worden waren. In der Obdachlosigkeit erst recht blieb dann der einst unbescholtene Ruf dieser Menschen unwiderruflich in den Boden getreten. Redaktionsleiter und Verleger wurden hingegen wie mit Samthandschuhen angefasst, geschmiert und in ein Netz finanzieller Versuchungen und Abhängigkeiten getrieben. Vor allem Erikas Mutter sowie deren Eltern, die Nettelblaads, ließen es sich ein Vermögen kosten, auch dem angesehensten und ehrwürdigsten Protagonisten der Medienbranche das Rückgrat der Pressefreiheit zu brechen. Weil so die Unternehmerdynastie in allen ihren Verästlungen die völlige Unauffälligkeit mit letzter Konsequenz und großer Effizienz durchorganisierte, waren ihre Vertreter bislang kaum, bestenfalls anlässlich von Belanglosigkeiten, als Prominenz in Erscheinung getreten. Kein öffentliches Aufhorchen, kein Skandal hatte jemals die Geschäfte und den Firmenerfolg gestört und beeinträchtigt. So musste es in Ewigkeit auch bleiben. Auch Darius hatte sich diesem Gesetz einer geradezu mafiösen Verschwiegenheit unterwerfen müssen, als Erika ihm das Ja-Wort gegeben hatte. In unzähligen Paragrafen enthielt der Ehevertrag, der ihm nun ein gutes Leben sicherte, diffizile Regelungen, die unbedingt zu befolgen waren, um die Heimlichkeit von Unternehmen und Familiendynastie nicht verschuldet preiszugeben. Mit der Unüberschaubarkeit des Regelwerks überfordert, würde Darius, solange er tatsächlich als Made im Speck der Nettelblaads und Eisenhaupts umsorgt sein wollte, auf Tarik angewiesen bleiben.
»Du darfst alles!«, hatte Tarik ihn immer wieder versichert und ihn sogleich im zweiten Halbsatz daran erinnert, dennoch so weit als irgend möglich den Vertrag einhalten zu müssen. Keinesfalls, und hier hatte Tarik den vollen Ernst der Folgen bekräftigt, dürfe Darius sich etwas zuschulden kommen lassen. Mit einem Eintrag in das Vorstrafenregister, und infolgedessen mit dem Verlust eines einwandfreien Leumunds, würde er alles verlieren. Anders als bei einem einfachen Vertragsbruch gäbe es dann keine Trennung auf Gegenseitigkeit, sondern ein einseitiger Übergang sämtlicher seiner Rechte und Ansprüche auf die Töchter. So würde Erika bis zu deren Volljährigkeit treuhänderisch insbesondere über die weitere Verwertung seines Patents verfügen. Das Einzige, das Darius in diesem Fall noch zu erwarten hätte, wäre eine überschaubare und befristete Abfindung, die ihm den Aufbau einer neuen Existenz andernorts ermöglichen sollte.
»Hören Sie mir überhaupt zu?«, rief Karin Allgaier plötzlich und ungehalten auf und holte Darius aus seiner Grübelei zurück. Er hatte kaum noch darauf geachtet, wie sie in ihrem Redefluss bereits abgeschweift war und sie ihm von der beschwerlichen Anreise am Vortag erzählte.
»Natürlich, ich bin ganz Ohr«, versicherte Darius einigermaßen aufgeweckt, »etwas müde noch, aber dennoch folge ich Ihnen mit großem Interesse.« Er log und nur mit Mühe gelang es ihm, aus den Sprachfetzen, die er gerade noch aufgefangen hatte, rückwirkend einen Eindruck von den eher gewöhnlichen Reiseerlebnissen der Allgaiers zu gewinnen. Demnach war es gnadenlos heiß gewesen und stundenlang waren sie auf der Autobahn im Stau gestanden. Im Vorbeifahren habe Karin Allgaier an einer Rastanlage einen Sattelzug in Flammen und Rauch aufgehen sehen. Ob er gestern darüber etwas im Radio gehört oder durch einen Fernsehbeitrag erfahren habe?
»Und?«, bohrte Karin Allgaier nach. Offenbar erwartete sie noch immer eine Antwort und für ihn blieb ihre Wissbegierde nach einem Allerweltsereignis, das sie nicht wirklich betroffen haben konnte, vollkommen schleierhaft. Nur fühlte er sich bei Weitem zu abgelenkt, um sich darüber zu wundern.
»Nein, ich höre kein Radio und schaue nur selten Fernsehen«, antwortete Darius wieder deutlich geistesabwesend, jedoch wahrheitsgemäß, denn am Vortag wäre er nicht dazugekommen. Beinahe den ganzen Nachmittag hatte er am Jachthafen des Hotels verbracht, um die brünette Assistentin des Geschäftsführers abzupassen, die wegen einer Prominentenhochzeit nicht früher Zeit für ihn hatte finden können. Ab dem Abend bis spät in die Nacht waren sie dann durch unzählige Bars und Clubs der Stadt gezogen. Gelohnt hatte sich für ihn die Mühe dennoch nicht, zumindest war er nun um eine Erfahrung reicher. Abgesehen davon fände er nächstens für die Brünette, Muriel, so erinnerte er sich, kaum die Muße, um aus diesem kurzen Rendezvous eine feste Beziehung heranwachsen zu lassen. Mit den Fremden im Haus wäre keinesfalls daran zu denken und auch Erika und ihre Berater würden ihm in den kommenden Tagen keine Ruhe lassen. Berta Stuck sollte ebenso bald durch Befragungen der Ermittler bedrängt und in Beschlag genommen werden und Darius bekäme kaum noch die Gelegenheit, sich mit ihr vorab zu vereinbaren. Also hätte er sie umgehend zu besuchen und mit ihr zu sprechen, und er fürchtete, dass bereits jede Stunde zählte. So entschuldigte Darius sich bei seinem Gast, als er hastig aufstand, um nach oben zugehen, sich umzuziehen und so schnell wie möglich in die Stadt zu fahren:
»Machen Sie es sich hier gemütlich und genießen Sie zwanglos Ihre Ferien!«, empfahl er Karin Allgaier, doch diese winkte ab.
»Zumindest bis Donnerstag wird von Urlaub keine Rede sein. Wir, das heißt mein Mann Ralf und ich, sind hier, um zu arbeiten. Auf Lotta, meine Tochter, werde ich nebenbei den Daumen halten und sie wird bei uns auf dem Stand Besinnung und Konzentration sammeln müssen, um sich auf eine Aufnahmeprüfung vorzubereiten.« Karin Allgaier setzte ein verlegen heiteres Gesicht auf und wie Darius spürte, fand sie es offenbar bedauerlich, dass er bereits am Gehen war. An diesem frühen Morgen gäbe es für sie noch vieles zu erzählen und tatsächlich wurde er etwas neugierig. Er erinnerte sich an den Anhänger, den er hinter den Kombi angehängt gesehen hatte. Nun erst fiel ihm auf, das diese Art zu reisen, um ein paar Tage in einem vollausgestatteten Ferienhaus zu verbringen, kaum dem Üblichen entsprach. In der Regel kamen die Gäste hier nur mit einem oder zwei Koffern an.
»Was Sie nicht sagen!«, versuchte Darius zu scherzen, »in Ihrem Anhänger scheinen Sie eine ganze Menge Arbeit mit hierher gebracht zu haben. Das könnte ein Fehler sein. Warum genießen Sie nicht einfach die schönste Zeit des Jahres an diesem so herrlichen Ort mit Nichtstun und Müßiggang? Sehen Sie mich an, ich lebe immer so und mir geht es blendend.«
Was als lustige Bemerkung verstanden sein sollte, kam indes bei Karin Allgaier überhaupt nicht komisch an. Etwas geduckt, nur mit offenem Mund und missmutig blickte sie zu Darius auf. Was sollte sie ihm auch antworten? Unversehens kam Darius sich als ziemlich taktlos vor. Dass er nicht zu arbeiten brauchte, bedeutete allein sein Glück. Von Anfang an hatte keiner dieser Allgaiers ihm einen glücklichen Eindruck vermittelt. Wie die meisten Menschen mussten auch sie Tag für Tag dem Geld hinterherlaufen, sich mühen und darum bangen, nur damit am Monatsende einigermaßen die Kasse stimmte. Anders als er, führten sie ein härteres Leben, eben ein normales. Karin Allgaier sah bestimmt nicht aus wie eine Frau, die viel zu lachen hatte. In ihrem Gesicht spielten Züge der ewig Verhärmten mit, die sie mit noch so viel Entspannung und guter Miene niemals völlig herausbrächte. Im Mittelalter wären Leute wie die Allgaiers als Gezeichnete verstanden worden, denen immer eine Art von Gottesschuld anhaftete, die sie als immerwährendes Bündel mit in das Fegefeuer zu tragen hätten. Ihr Mann, Ralf, hatte im ersten Moment und aus dem Wagen heraus auf Darius linkisch gewirkt, wie ein Mensch eben, der sich fortwährend zu Höherem berufen fühlt, ohne jemals die Voraussetzungen dafür zu erfüllen. Alles, was dieser in die Hände nähme, hätte in dessen eigenen Augen als zu gering zu erscheinen, und der große Wurf würde ihm keinesfalls gelingen. Darius sah es Karin Allgaier an: Die Arbeit, von der sie sprach, die Ehe, welche sie mit Ralf führte, selbst die Erziehung ihrer Tochter, alles das bedeutete für sie kaum Erfüllung, eher nur Bürde.
»Was arbeiten Sie denn?«, fragte Darius mit wiedergutmachendem Interesse und auch aus uneingespielter Neugierde heraus. Die Frau, die mit ihrer Familie nun für ein paar Tage bei ihm gastierte, brauchte kein Mitleid, sondern Respekt, so fühlte er. Also setzte er sich dann trotz der Eile, die ihn drängte, erneut zu ihr an den Tisch.
»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, bat er beinahe um Entschuldigung, »manchmal vermisse ich an mir selbst etwas die Bodenhaftung.«
»Kuckucksuhren!«, antwortete Karin Allgaier auf die Frage, »Kuckucksuhren und Standuhren!« Zumindest am Tonfall meinte Darius zu deuten, dass sie ihm seine überhebliche Flapsigkeit von eben zuvor nicht sonderlich übel genommen hatte. »Wir betreiben eine kleine, aber feine Uhrenmanufaktur, die wir bis Donnerstag mit unserer neuen Kollektion auf der 'AMBIENTERIA' vertreten werden.«
»Diese moderne Lebensstilmesse in Tempelhof«, warf Darius ein, beiläufig und nicht weiter darauf zu achten, hatte er in der Zeitung davon gelesen. »Ihre Uhren müssen demnach etwas Besonderes darstellen, das nicht an jeder Ecke zu haben ist«, bemerkte er noch und wusste sogleich, dass Karin Allgaier ihn für einen Schmeichler halten musste.
»Unsere Uhren sind einzigartig, die besten auf dem Weltmarkt«, bekräftigte sie selbstbewusst. »Weil Kuckucksuhren zeitlose Selbstläufer sind, rechnen wir auch auf dieser Messe mit guten Geschäften. Bis Ende der Woche werden wir alle Hände voll zu tun haben und unser Orderbuch füllen.« Diese Bemerkung Karin Allgaiers klang für Darius alles andere als zuversichtlich, auch ihre Körperhaltung sprach eine andere Sprache und erinnerte eher an einen Boxer, der einen weiteren Tiefschlag erwartete. Als wollte sie die leichte Unsicherheit, der sie wohl den Anschein gab, wieder ausbügeln, holte sie tief Luft, richtete sich auf und versprach:
»Lieber Herr Wolfer, meine Familie und ich schätzen Ihre Gastfreundschaft über alle Maßen, doch werden wir so wenig wie möglich davon in Anspruch nehmen. Selbstredend werden wir unseren Urlaub von früh bis spät auf der Messe verbringen und abends tot müde in die Betten fallen. Deshalb werden wir Ihnen hier kaum über den Weg laufen und Sie nicht beim Müßiggang stören.« Bei dieser Bemerkung lächelte Karin Allgaier zunächst herausfordernd. Schlagfertig münzte sie die leichte Ironie darin dann durchaus zu einer treffenden Spitze um. Darius ließ ihr diesen Punkt gelten, auch wenn er sich ausrechnete, nur bis Donnerstag vor den Allgaiers weitgehend in Ruhe gelassen zu werden. Tatsächlich hatten sie ihren Aufenthalt für die volle Woche bis einschließlich Sonntag gebucht. Gerne hätte er sich für das kommende Wochenende allein in seinem Haus gesehen, doch dass die Allgaiers deshalb auf sein Drängen hin vorzeitig abzureisen hätten, wollte er nicht. Im Gegenteil, er hatte ihnen seine Gastfreundschaft als volle Ersatzleistung angeboten. Nun musste er dazu stehen und überdies sich von seiner besten Seite zeigen. Wenn auch er mit Ralf und Lotta vermutlich nur wenig würde anfangen können, Karin Allgaier zumindest fand er nicht unsympathisch. Für den Augenblick fehlte ihm jedoch die Zeit, sie näher kennenzulernen. »Wie Sie gesehen haben, ist der Kühlschrank leer«, bemerkte Darius, als er sich erhob, und bot Karin Allgaier an:
»Zumal ich oftmals außer Haus sein werde, lasse Ihnen Schlüssel, eine Kreditkarte und die Adresse eines Partyservice liegen. Bitte zögern Sie nicht, nach Lust und Laune zu bestellen, was immer Ihnen am liebsten ist. Legen Sie, wenn Sie gehen, die Schlüssel unter die Matte. Der Service kennt sich bereits in meinem Heim aus und ist vertrauenswürdig. Sie müssen sich um nichts weiter kümmern, und wenn Sie am Abend nach Hause kommen, wird der Tisch für Sie gedeckt sein.«
»Sie vertrauen mir?«, entgegnete Karin Allgaier von dem großzügigen Angebot überrascht, doch Darius reagierte nicht und ging.
Die Bar am Flughafen leerte sich zusehends und Darius blickte ungeduldig auf einen Bildschirm über der Galerie von Spirituosen, auf dem sich die Zeittafeln der An- und Abflüge immer wieder von Neuem aufbauten. Der Linienflug aus London zeigte noch immer Verspätung an, deren Dauer im Gegensatz zur Verzögerung einiger anderer Flüge jedoch nicht mit einer genauen Zeitangabe beziffert wurde. Im günstigsten Fall und infolge eines Gewitters, so hoffte er, kreiste die Maschine bereits über Berlin, ungünstigerweise wäre sie noch nicht einmal von Gatwick gestartet. Bis zum Wirksamwerden des Nachtflugverbots blieb gerade noch eine gute Stunde und spätestens dann wüsste Darius, dass er vergeblich gewartet haben würde. Am Mittag hatte er Tarik endlich am Telefon erreicht. In Lissabon wäre er noch und hätte für den Moment keine Zeit für ein längeres Telefonat. Er müsse am Abend in seiner Londoner Kanzlei einige Angelegenheiten regeln und Anweisungen für seine Mitarbeiter hinterlassen, ehe er nach Berlin zurückkehren werde. Warum Darius ihn nicht am Flughafen abholen würde und ihn nach Hause brächte? Fürs Erste wohl auf der Heimfahrt könne er sich seiner annehmen und mit ihm die Angelegenheit besprechen, denn bereits am nächsten Tag hätte er sich auf eine Geschäftsreise nach Minsk und Kiew zu begeben. Tarik war eben ein überaus beschäftigter Mensch und Darius kannte ihn nicht anders. So war einst die Vorbereitung des Wiener Maturaballs seines Jahrgangs allein Tariks Rastlosigkeit geschuldet und er als Alleinorganisator kaum zu bremsen gewesen. Nichtsdestoweniger hatte Tarik für diese Leistung dann den gleichen Betrag eingefordert, der ursprünglich für eine professionelle Veranstaltungsagentur eingeplant gewesen war. Weil ihm hingegen kraft Mehrheitsbeschluss des Ballkomitees eine deutlich geringere Aufwandsentschädigung angeboten worden war, hatte Tarik dagegen geklagt, gewonnen und den Unmut seines Gymnasiums und letztendlich eine schlechtere Abschlussnote in Kauf genommen. Seither blieb Tarik Ourangsadr erst recht dem Prinzip treu, nicht gerade für Freundschaftsdienste geschätzt sein zu müssen, denn er kannte immer seinen Wert, stellte unablässig die höchsten Ansprüche, um haarklein zu bekommen, was er wollte. Darius erinnerte sich an Tarik Ourangsadr seit jenen frühen Jahren, in denen sie im selben Haus des Übergangswohnheims in Wiener Neustadt aufgewachsen waren. Bereits damals hatte er ihn nicht als richtigen, guten und aufrichtigen Freund gemocht, auch dann nicht, als sie zusammen auf dem Hof Fußball gespielt hatten, und sie alle gleichermaßen bettelarm gewesen waren. Tariks Überlegenheitsanspruch schien angeboren, hatte naturgegeben als Kampfansage gegen alle denkbaren Widrigkeiten zu gelten und störte Darius noch immer, sicher auch aus einer Portion Neid heraus. Während den Ourangsadrs als Kaufleute sehr früh der Schritt hinaus in die eigenständige Bürgerlichkeit gelungen war, hatte er mit seinem Vater noch gute zwei Jahre länger im Wohnheim verbleiben müssen. Von der Gelegenheitstätigkeit als Restaurator hatte sein alter Herr kaum Geld für die Gründung eines eigenen Betriebs zurücklegen können. Letzten Endes waren reichlich Überredungskunst der Heimleitung und ehrenamtlicher Eingliederungshelfer nötig gewesen, endlich einen Bankkredit dafür vermittelt zu bekommen. Als Darius' Vater endlich in die Lage gekommen war, sich die Miete für eine eigene Dreiraumetagenwohnung in einem abgehängten Arbeiterquartier Wiens zu leisten, waren die Ourangsadrs längst wirtschaftlich gefestigt und in eine respektable Villa in bester Wohnlage der Hauptstadt umgezogen. Lange hatte Darius seinen Spielkameraden von einst aus den Augen verloren. Kurz vor der Matura war er wieder auf Tarik gestoßen, weil sie beide ziemlich ungewollt als Vertreter ihrer jeweiligen Schulen in das Ballkomitee der Stadt abgesandt worden waren. Danach hatte Darius erst Jahre später in Berlin wieder von Tarik gehört. Das Unternehmen, in dem er seine Erstanstellung als Ingenieur gefunden hatte, war für das Exportgeschäft zu einer neuen Kanzlei von international erfahreneren Vertragsanwälten gewechselt. Das Wiedersehen mit Tarik Ourangsadr bei der ersten Vorbereitungssitzung mit der verbesserten Anwaltschaft war jedoch alles andere als überschwänglich gewesen. Abends an der Bar hatte Darius noch einmal einen Schritt der Annäherung gewagt und war an Tarik herangetreten, um ihn zu fragen, ob er sich überhaupt noch an ihn erinnern könne.
»Hast Du damals für oder gegen mich gestimmt?«, hatte Tarik ihm unumwunden die Gegenfrage gestellt. Darius war also nicht vergessen und unverkennbar war ein eiternder Stachel der Kränkung nach all den Jahren noch immer tief in Tariks Ehrgefühl stecken geblieben.
»Für Dich und nur für Dich!«, Darius erinnerte sich noch genau an diese Worte, die in Wahrheit eine Lüge bedeuteten, und an den festen Blick seines alten Freundes, den er daraufhin hatte aushalten müssen. Dann aber, mit einem Mal, war das Eis gebrochen und Tarik hatte den Arm um ihn geschlungen, so wie damals beim Fußball nach einem Tor. In jener Nacht hatten sie sich unglaublich betrunken, durchgezecht bis in die Frühe und waren gemeinsam zur Fortsetzung der Besprechungsrunde wieder an die Arbeit gegangen.
Während Darius noch der einen und anderen Erinnerung nachhing, begann derweil das Bedienungspersonal, die Tische abzuräumen und der Mann hinter der Bar einige Flaschen in den Kühlschrank zu stellen. Schließlich schaltete dieser auch den Bildschirm mit den Fluganzeigen ab und warf Darius einen auffordernden Blick zu, worauf er sich umsah. Inzwischen war er als letzter Trinker übrig geblieben und in Anbetracht zweier Weltenbummler, die an einem Tisch in einer Ecke eingeschlafen schienen, der wohl noch einzig ansprechbare Gast. Darius ließ sich nicht drängen und bestellte ein weiteres Bier, nicht ohne die Order mit einer kaum abzuweisenden Banknote zu untermauern. Wenn er es wünschte, würde seinetwegen, und zum Wohl der beiden erschöpften Rucksackreisenden, der Barmann auch bis in den Morgen auf dem Posten bleiben.
Ohne sich an diesem Tag überanstrengt zu haben, fühlte Darius sich müde und der Schlafmangel der vorherigen Nacht zeigte Wirkung. Die meiste Zeit hatte er in seinem bevorzugten Golfclub verbracht, nicht, weil er Geselligkeit suchte oder um zu spielen, sondern um an einem künstlich aufgeschütteten Strand unter einem Sonnensegel Mittagsschlaf zu halten. Ausgiebige Gelegenheit, Ruhe zu finden, war ihm kaum vergönnt worden, zumal ein flüchtiger Bekannter ihm auf die Schnelle einen Maserati hatte verkaufen wollen. Aus Langeweile, oder doch aus Neugierde, einen solchen Wagen gerne einmal Probe fahren zu dürfen, hatte Darius zunächst Interesse vorgetäuscht und war mit einer kurzen Ausfahrt mit Tempo 300 bis nach Leipzig belohnt worden. Zurück im Club hatte er an der Bar lange um den Preis gefeilscht und war unbeabsichtigt nahe daran gewesen, von einem unschlagbaren Angebot verführt zu werden. Doch hatte er letzten Endes der Verlockung widerstanden und entschieden, weiterhin keinen anderen Sportwagen zu fahren als den, welchen er bereits besaß. Der Maserati überzeugte mit größerer Länge und Breite, war kaum höher als sein Porsche und von der Optik her zum Protzen wie geschaffen. Weil jedoch für Darius die Tonlage eines Motors unbedingt wie ein wagnerscher Bariton und nicht wie ein italienischer Schmachttenor klingen durfte, konnte ihn letzten Endes auch ein beträchtlicher Nachlass nicht weiter locken und umstimmen. Womöglich hätte der flüchtige Bekannte für den Maserati wohl noch weniger gefordert, nur um mit dem Barerlös am nächsten Tag die Flucht außer Landes zu wagen, anstatt den Weg zum Insolvenzgericht finden zu müssen.
Typischerweise bestand der Club zumeist aus Menschen wie diesen Lebemann, Glücksritter eben, die ihre Lebenszeit damit vergeudeten, ständig dem großen Geld hinterherzulaufen, ohne jemals Glück dabei zu empfinden. Darius fragte sich erneut, ob und wie lange er wirklich noch zu diesem Golfervolk passte. Er schauderte bei dem Gedanken, möglicherweise längst in einem Klischee rückstandslos aufgegangen zu sein, das Zaungucker als außen vor bleibende Neider sonst gerne pflegten. Golfsport interessierte ihn nicht, und das ewige und nervtötende Gerede über Geldanlagen und Profit empfand er überdies als Belästigung, die er der Frauen wegen jedoch in Kauf nahm. Frustrierte Zahnarztgattinnen und vernachlässigte Lebensabschnittspartnerinnen von Anlageberatern um die vierzig und älter hofierten und umgarnten ihn, in der Hoffnung auf eine leidenschaftliche Affäre, und allzu gerne fühlte Darius sich dabei wie Hahn in Korb. Er brüskierte keine, die bereits gegen die Wechseljahre ankämpfte, stellte sich stets als passableste Partie dar und ließ dennoch nichts anbrennen. So hielt er zu den Damen aus angeblich besseren Kreisen vornehmen Abstand, deren Gefolge aus Töchtern und Nichten dafür fest im Blick. Nirgendwo leichter als in einem Golfclub, lehrte ihn die Erfahrung, konnte er Kontakt zu gepflegten, anspruchsvollen, gebildeten jungen Frauen finden, deren Naturbrüste in Üppigkeit, Form und Lage voll seiner Wunschvorstellung entsprachen. Vor den operierten Silikonbeuteln ihrer Mütter und Tanten grauste es ihn. Vor allem deshalb und aus reiner Vorsicht verschreckte Darius die Vorstellung, jemals eine Liebschaft mit einer Übervierzigjährigen anzufangen. Bislang galt dieser Grundsatz unumstößlich. Doch wenn er nun auf der Stelle dazu gezwungen wäre, davon abzuweichen, wollte er sich, für den Moment völlig überraschend, nicht eher erschießen lassen. Karin Allgaier wäre ihm einen Versuch wert und Darius begann erstaunt, über sich selbst zu wundern. Offensichtlich hatte er bereits zu viel getrunken und dieser Blitzgedanke entsprach buchstäblich einer Schnapsidee. Er fand nicht dazu, länger über die etwas herbe Uhrenfabrikantin in seinem Haus, das Bier und den Alkohol zu sinnieren, als Tarik ihm auf die Schulter tippte und sich zu ihm an die Bar setzte.
»Ein Geschäftspartner hat mich mitgenommen, kam mit einem Firmenflugzeug, fliege mit ihm gleich morgen früh weiter nach Weißrussland«, erklärte Tarik in einem Zug und bestellte noch im gleichen Satz einen Espresso. Einen Schlummertrunk brauchte er nicht und dem Anschein nach würde er die Nacht durcharbeiten. Während der Barmann seinen Unmut gegen die späte Bestellung widerwillig unterdrückte und missmutig an dem Automaten zu hantieren begann, regten sich auch in Darius Widerspruch und Kritik:
»Du hättest mich anrufen können! Glaubst Du, mir macht es Spaß, hier stundenlang herumzusitzen? Ich habe Besseres zu tun.«
»Ach! Du hast etwas zu tun?«, entgegnete Tarik mit gelassenem Spott, »das ist mir neu.« Die Unterhaltung pausierte so schnell, wie sie begonnen hatte und für eine ganze Weile saßen beide in Gedanken versunken nebeneinander. Darius trank an seinem Bier, Tarik schlürfte Kaffee und lenkte schließlich ein:
»Nun gut, Du hast recht, ich hätte Bescheid geben sollen. Es tut mir leid!« Dabei stieß er Darius freundschaftlich mit dem Ellenbogen an und lächelte entschuldigend. »Was ist los, wo drückt der Schuh? Wenn es wirklich ein Problem gibt, dann sollten wir es so schnell als möglich lösen. Du weißt, für Dich finde ich immer Zeit.«
Genau diese Antwort hatte Darius erhofft, auch wenn er vorhersah, dass die Aufmerksamkeit, die ihm sein Freund und Berater nun zu schenken gedachte, kaum über den Espresso hinaus reichen würde. Ohne Umschweife kam Darius zur Sache. Er erzählte von den Geschehnissen am Vortag, der Schweinejagd mit Anjela und von dem verunglückten Hausmeisterpaar, dem nächtlichen Polizeiaufmarsch auf seinem Grundstück sowie von den neuen Gästen in seinem Heim. Seinem Bericht folgte Tarik mit sich zunehmend verfinsternder Miene. Als Darius ihn unschuldig fragte, wie nun am besten er sich verhalten solle, entfuhr es Tarik mit wütendem Unverständnis:
»Hör mit dem Trinken auf!«, herrschte er, »weil Dir aus Langeweile nichts Besseres in den Sinn kommt, als Dich den ganzen Tag lang volllaufen zu lassen und Dich in unzähligen Liebschaften zu verstricken, wirst Du nachlässig. Anscheinend verlierst Du nun völlig die Kontrolle.« Tarik schlug mit der Faust gewaltig auf die Bar, Glas und Porzellan klirrten. »Du hast Dich selbst in eine missliche Lage gebracht. Du schießt nachts in der Gegend herum, stiftest Deinen Mitarbeiter zu etwas an, das ihm das Leben kostet, und fährst völlig betrunken im Straßenverkehr. Im Laufe eines Tages bringst Du es so weit, gleich wegen dreier Vergehen straffällig und letzten Endes verurteilt zu werden. Du wirst alles verlieren!«, prophezeite Tarik düster. Darius wollte antworten, doch ihm fehlten die Worte, anstatt Hilfe und Rat zu erfahren, wurde er von Tarik weiter hart angefahren:
»Als ich vor Deiner Hochzeit für Dich die Verträge ausgehandelt habe, hielt ich es für undenkbar, dass Du aus einem tadellos gemachten Nest hoffnungslos abgleiten würdest. Dümmer als Du kann sich niemand anstellen!«, giftete Tarik hässlich und schließlich brachte er noch einen Punkt, der Darius verwunderte: »Du Promenaden-Casanova hättest es noch nicht einmal bemerkt, dieser Blonden in die Falle zu laufen.«
»Von wem redest Du?«, unterbrach er verunsichert.
»Sie wollen Deine Steuereinheit auf den Index setzen«, erklärte Tarik noch immer aufgebracht. »Diese Verwaltungsjuristin arbeitet an der Ausarbeitung einer Neufassung für das Kriegswaffenkontrollgesetz und wohl ebenso für den Nachrichtendienst. Weil Nettelblaad und Eisenhaupt keine Auskunft über die tatsächlichen Vertriebswege ihre Produkte geben, sollte sie Dich aushorchen. In einem Café oder in einem Restaurant hätte sie Dich beim Essen zum Reden verleitet und gleich am nächsten Tisch wären ihre Mitarbeiter gesessen, die jedes Wort von Dir aufgezeichnet hätten.«
Darius durchfuhr die Nachricht kalt. Obwohl er des vielen Bieres wegen kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, ahnte er das Ausmaß der Folgen für den Fall, dass sein Patent für das Unternehmen nutzlos werden sollte. Das Faustpfand, das er gegenüber Erika, den Nettelblaads und Eisenhaupts in der Hand hielt und ihm das süße Leben sicherte, verlöre so über Nacht an Gewicht.
»Ist der Index bereits gefasst und bin ich tatsächlich davon betroffen?«, fragte Darius mit Unbehagen, die blanke Wahrheit am liebsten nicht wahrhaben zu müssen.
»Wir werden sehen«, schätzte Tarik kühl, »ich nehme an, dass die Einzelheiten der Neufassung so oder anders bereits entschieden sind. Du solltest davon ausgehen, dass Erika bald kein Interesse mehr an Dir finden wird. Sie, ihre Eltern und Großeltern werden anfangen, das Haar in der Suppe zu suchen, nur um Dich so schnell wie möglich loszuwerden. Jetzt erst recht gilt es, dass Du Dir nichts zuschulden kommen lässt. Unter allen Umständen musst Du Dich auch künftig an die Auflösungsklauseln des Ehevertrags halten und auf keinen Fall darfst Du wegen einer Straftat verurteilt werden und so Deinen Leumund beschädigen.« Tarik verwies erneut auf den Punkt, worauf Darius längst zu achten hatte. So begriff er, wie fahrlässig und dumm er am Vortag seine Existenz in Gefahr gebracht hatte. Ihm waren Fehler über Fehler unterlaufen, für die er bitter zu büßen hätte, wenn nun Tarik ihm nicht helfen würde.
»Also was schlägst Du vor?« Darius stierte ratlos in sein Glas und trank der Rest in einem Zug aus, als Tarik ihm die Antwort zunächst schuldig blieb. Allzu gern hätte er sich ein weiteres Bier oder gleich einen doppelten Whiskey bestellt. »Du willst mein Freund sein, dann helfe mir, die Angelegenheit zu bereinigen!«
»Wenn Du Freunde haben willst, dann such Dir welche im Netz, in einem sozialen Medien oder andernorts!«, entgegnete Tarik kalt, weil sein Interesse an Darius nicht auf Selbstlosigkeit gründete, dachte er offensichtlich über eine Lösung bereits nach:
»Deine Berta, die Haushaltshilfe, hast Du mit ihr inzwischen sprechen können?«, erkundigte Tarik sich und Darius verneinte kopfschüttelnd. Er sei zwar am Morgen zum Krankenhaus gefahren, doch sei er nicht zu ihr auf die Station vorgelassen worden. Sie wäre noch nicht ansprechbar. Sobald ihr Zustand sich gebessert haben würde, werde Zutritt fürs Erste nur Angehörigen oder Ermittlern gewährt werden. Deshalb sei er mit Bitte um Verständnis zurückgewiesen worden. Darius zog ein hilfloses Gesicht, mehr als dieser Versuch war ihm nicht möglich gewesen, doch Tarik ließ in diesem Punkt nicht locker:
»Berta Stuck ist für uns entscheidend!«, beharrte dieser, »nur mit ihrer Hilfe können wir die Sache klein halten.« Aus seiner Brieftasche zog Tarik eine Visitenkarte hervor und begann auf der Rückseite eine Notiz zu schreiben: 'El habla es plata, el silencio es oro. Destruir el messaje'. »Du wirst genau befolgen, was ich Dir rate!«, bestimmte er schließlich und schob die Karte Darius zu. »Zunächst bestellst Du über das Netz und unter einem spanischen Fantasienamen einen Blumengruß und lässt ihn zusammen mit dieser Nachricht Deiner Haushaltshilfe auf das Krankenzimmer senden. Dann orderst Du für Berta über einen Blumenladen am Krankenhaus einen weiteren Strauß, mit dem Du ihr unter Deinem eigenen Namen die besten Wünsche auf eine baldige Genesung zukommen lässt. Berta Stuck wird schlau genug sein, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, noch ehe Ermittler sie befragen werden. Zunächst wird sie sich an nichts erinnern.«
»Wenn ich ihr Schweigegeld anbiete, werde ich ein Leben lang zahlen müssen«, widersprach Darius und wehrte ab. Doch Tarik spielte den Einwand herunter. »Einen Tod wirst Du leiden ...«, entgegnete er ungehalten und ergänzte in einem kaum hörbaren Halbsatz etwas, das seltsam klang. Darius wunderte sich, ob er ihn richtig verstanden hatte oder ob eine eher belanglose Bemerkung durch sein eigenes Wunschdenken soeben umgedeutet worden war: » … oder eben sie!«, meinte Darius vernommen zu haben.
»Sobald Deine Berta aus dem Krankenhaus entlassen ist und Du mit ihr gesprochen haben wirst, wird sie ihre Aussage den Ermittlern zu Protokoll geben und dabei alle Geschehnisse ihrem Ehemann Kurt zuschieben. Er hätte in Deiner Abwesenheit mit dem Gewehr geschossen, versehentlich das Gästehaus beschädigt und bei dem Versuch der Reparatur seien sie gemeinsam verunglückt. Sie wird Dich aus allem heraushalten und dafür ihren Lohn fordern.« Tarik wirkte zuversichtlich und Darius ärgerte sich darüber, denn letztlich hätte er für das Schweigegeld aufzukommen und nicht sein Freund. Doch dann wiegelte Tarik ab:
»Beruhige Dich und lasse die Sorge fallen! Wir alle haben Grund, um das Wohl Deiner Haushaltshilfe besorgt zu sein. Sobald sie wieder zu Hause ist, ihr Protokoll in die Ermittlungsakte eingegangen ist und sie sich zu erholen beginnt, werde ich ihr einen Arzt schicken, der sich weiter um sie kümmern wird. Für Dich ist nur noch wichtig, dass Du Dich weiterhin genau an meinen Rat halten wirst.« Tarik nahm Darius die Visitenkarte wieder aus der Hand und wendete sie. Sie enthielt die Anschrift eines Anwalts.
»Du wirst ab morgen von den Ermittlern ins Verhör genommen werden. Dafür stelle ich Dir diesen Strafverteidiger zur Seite. Friedbert von Bergfels ist der Fähigste, den Du Dir nur wünschen kannst. Für die Staatsanwaltschaft ist der alte Friedbert ein einziger Alptraum. Deshalb wirst Du Dich nur so weit äußern, wie er es Dir vorgibt und Du wirst Dir nichts anlasten lassen müssen.« Mit dieser Empfehlung sprang Tariks Zuversicht auf Darius über, denn letzten Endes hatte sich die hervorragende Vernetzung seines Freundes stets und immer zuverlässig für ihn ausgezahlt. Tarik spann seinen Plan weiter, ging in die Einzelheiten und fuhr fort:
»Ich werde derweil mit Erika sprechen und ihr versichern, dass es uns gelingen wird, die Angelegenheit weitgehend aus den Medien herauszuhalten. Letzten Endes wird sie Dir nicht viel vorwerfen können, zumal das Schild Deines Anwesens längst nicht mehr ihren, sondern nur noch Deinen Namen trägt. Die meisten der freien Journalisten, die sich bei Dir eingefunden haben, werden die Verbindung von Wolfer zu Nettelblaad und Eisenhaupt ohnehin nicht erkennen. So ist in den Redaktionen der großen Medienanstalten ein verunglücktes Hausmeisterpaar im Hause eines Normalbürgers bestenfalls nur eine Randnotiz wert.« Tarik wirkte überzeugend und sich seiner Annahme sicher. Darius begann zu hoffen, dass mit dessen Hilfe und überschaubarem Aufwand er letztlich unbeschadet bliebe. Der Fortführung eines leichten, unbeschwerten Lebens stünde bald nichts mehr entgegen. Er zweifelte nicht daran, mit Berta übereinzukommen, denn sie brauchte Geld, um ihre Versorgung nach dem Wegfall von Kurt sicherzustellen. Er würde ihr verdeutlichen, dass ihre mögliche Klage gegen ihn mit dem Risiko der Erfolglosigkeit behaftet wäre und sie am Ende und aller Voraussicht nach leer ausginge. Hingegen brächte ihr das Stillhalten die Sicherheit eines zufriedenstellenden Ausgleichs. Darius atmete erleichtert auf, doch nichtsdestoweniger übte Tarik weiter Kritik:
»Ich sage es Dir noch einmal und im vollen Ernst, Du musst mit dem Trinken aufhören! Wenn Du noch dazu Drogen nimmst, wird es höchste Zeit für eine Therapie«, folgerte Tarik nüchtern. Darius schreckte bei dieser Warnung verwundert zurück. Was dachte sein Freund von ihm?
»Ich trinke zu viel, das stimmt und es fällt mir schwer, auch nur einen Tag ohne Alkohol auszukommen. Aber Drogen nehme ich ganz bestimmt nicht!«, versicherte Darius nachdrücklich. »Die brünette Assistentin des Hoteldirektors, nur zum Beispiel, ist abhängig, nicht ich. Als ich mit ihr gestern Abend ausging, hat sie unentwegt Pillen geschluckt und Kokain gleich löffelweise durch die Nase gezogen. Ich wollte sie mit nach Hause nehmen, doch auf der Fahrt zur Waldsiedlung ist sie so hysterisch geworden, dass ich es mit ihr nicht länger ausgehalten habe. Auf halbem Weg und mitten in der Landschaft musste ich sie an einer Bushaltestelle aus dem Wagen werfen. Tarik, glaube mir, ich nehme keine Drogen, weil ich es inzwischen widerlich finde, völlig den Verstand und die Fassung zu verlieren. Ich trinke nur etwas zu viel, jedoch niemals bis zum Filmriss!«
»Deswegen solltest Du mit dem Taxi nach Hause fahren und ab morgen Dich so verhalten, wie ich es Dir geraten habe. Auf keinen Fall wirst Du Dich wieder betrunken ans Steuer setzen. Deinen Chauffeurdienst brauche ich heute nicht. Zumal ich in der Frühe mit dem Geschäftspartner weiterfliegen werde, ist es ohnehin besser, wenn ich mir für den Rest der Nacht hier im Flughafenhotel ein Zimmer nehme.«