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4. Schwierige Geschäfte

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Einen besseren Platz hatten sie für ihren Messestand nicht bekommen. In eine der beiden letzten Gassen zur Rückseite der Halle hin schienen Besucher sich bestenfalls zu verirren, wenn sie auf dem Weg zur Toilette oder zur Tür hinaus auf einen Vorplatz waren, um zu rauchen. Zumindest kam auf diese Weise überhaupt Kundschaft vorbei. Ein Aussteller für Bilderrahmenkonzepte im benachbarten Stichgang, dem diese beiden Vorzüge fehlten, ging hingegen nahezu leer aus. Es tröstete Karin, zu sehen, dass es offenbar Hersteller gab, bei denen die Geschäfte noch schlechter liefen als bei ihnen. Ihr Messeauftritt war indes jedoch kein völliger Fehlschlag und es hatte sogar Momente der Hoffnung und greifbaren Erwartung gegeben. Gleich am ersten Tag konnten sie einen neuseeländischen Versandhändler, einen brasilianischen Büroausstatter sowie eine türkische Hotelkette für die Uhrenmodelle interessieren und mit Letzterer noch am selben Tag einen ansehnlichen Abschluss verzeichnen. Mit den Neuseeländern und Brasilianern waren immerhin noch konkrete Verkaufsgespräche terminiert und Karin rechnete fest damit, abzuschließen, wenn auch um den Preis eines kräftigen Nachlasses. Ralf hatte ihr ins Gewissen geredet und sie zu Zugeständnissen gedrängt, denn das Auftragsvolumen brauchte für die Serienfertigung in jedem Fall die vorauskalkulierte Mindestgröße. Überdies hatte er ihr gestern Nacht im Bett vorgeworfen, mit einer vollkommen unangebrachten Zauderei und zur Schau gestelltem Missmut die Interessenten bereits verschreckt zu haben. Umso dringlicher hoffte Karin auf weitere Kunden, um sich von Ralf nicht fortwährend die Schuld für einen noch immer möglichen Misserfolg der Verkaufsreise zuschieben lassen zu müssen. Doch ab dem folgenden Tag wirkte es wie verhext, das Geschäft hatte sich nicht fortentwickelt und ernsthafte Gespräche mit Einkäufern waren ausgeblieben. So ging auch dieser dritte bislang ergebnislos in die zweite Hälfte. Das Neonlicht über dem Stand flackerte unentwegt und trieb Karin zusätzlich in Nervosität. Seit Stunden regnete es zudem wolkenbruchartig und das Prasseln der Tropfen und Hagelkörner auf das Metalldach der Halle betäubte die Ohren. Wann immer die Rauchertür aufgerissen wurde, prallte feuchtkalte Zugluft auf Karins nass geschwitzten Hals. Sie musste davon und von den Keimen krank werden, die Toilettenbesucher nach ihrer Notdurft an die Uhren herantrugen. Karin maß die Zeit und schätzte ab, bei welchem diese nicht für das Händewaschen ausgereicht haben konnte. Mit ekligen Fingern betasteten sie dann nicht selten ihre Uhren im Vorbeigehen, als wollten sie daran den Schmutz von ihren Händen abstreifen. Wahrhaftes Interesse blieb dabei erwartungsgemäß aus und Karin verspürte zunehmend den Drang, das ganze Sortiment von der Schauwand zu reißen und in einem Bottich mit Desinfektionslösung auf immer und ewig zu versenken.

Sie hatte sich ein anderes Leben gewünscht und sehnte sich weit, weit fort von diesem Ort. Im Süden Kaliforniens würde es nie regnen und mit Wolfgang an ihrer Seite umwehte sie nur sanfte, warme, laue Luft. Es störte sie nicht, wenn sie es als Frau eines Professors nur zu einer Besucherführerin in einem Meerwasseraquarium gebracht hätte. Doch wenn das Glück ihr nur etwas nachdrücklicher eine eigenständige Tatkraft beigegeben hätte, dann stünde sie zumindest einer ehrenamtlichen Naturschutzorganisation vor, plante Kampagnen und kämpfte stellvertretend für die ganze Menschheit um die Wahrung der Schöpfung. Mit Eifer und Herzblut wäre sie natürlich damit beschäftigt, von den Reichen und Schönen Hollywoods Spenden einzutreiben. Selbstverständlich würde sie nur in den allerbesten Kreisen verkehren und alljährlich wären ihr die Einladungen zu Feiern rund um den Oskar sicher. So jedoch saß sie hinter einem Klapptisch, an einem hässlichen Platz, Uhren verkaufend, vor sich hin stierend, grübelnd bis zur Selbstzerfleischung und die Stunden zählend. Im Moment fühlte sie sich so niedergeschlagen, dass sie nicht trauriger auch auf den Tod hätte warten können. Dies schien ihr der Tiefpunkt einer nie gewollten Entwicklung, an deren Anfang sie nur die Entscheidung zwischen Arbeitslosigkeit oder Fortführung des Familienunternehmens nach dem Tod ihres Vaters gehabt hatte. Karin wusste längst, dass sie wieder unnötig mit sich und ihrem Schicksal haderte, denn im Grunde hatte sie keine Wahl zu treffen und Gottes Wille hatte sie gewiss nicht um ihre Meinung gebeten.

Die Wende zum Besseren wollte auch mit Ralf nicht eintreten und das große Los hatte sie mit ihrem Ehemann erwiesenermaßen nicht gezogen. Seine Zigarettenpausen wurden zusehends häufiger und länger. Zeitweise ließ er sich nur noch für Minuten auf dem Stand sehen, ehe ihn die Sucht wieder hinaustrieb. So fehlte er bei der Arbeit und sein Verkaufstalent verstrich ungenutzt, wenn Besucher zögerlich vor ihrer Ausstellung den Schritt verlangsamten und begannen, neugierige Blicke auf die Uhren zu werfen. Dass Ralf es durchaus verstand, sich als fähiger Verkäufer zu zeigen, musste Karin neidlos anerkennen. Er besaß dafür die Gabe, die ihr fehlte, auf Menschen mit Hintergedanken zuzugehen und sie zu gewinnen. In der erforderlichen Fremdsprache bestach er die Kunden in wenigen Momenten mit Eloquenz und fand mit diplomatischer Leichtigkeit stets das richtige Wort und den passenden Ton, um ein Produkt im besten Licht erscheinen zu lassen. Besonders in schwierigen Verkaufsgesprächen stellte ihr Mann sich als geborener Kaufmann dar, risikobereit, verschlagen und profitorientiert und sie spürte, dass sie ihn in ihrer Firma völlig unterforderte. Wenn Ralf sich nur inniger mit ihrer Manufaktur verbunden fühlte und deren Geschäftsführung von ganzem Herz betriebe, hätte sie längst nicht so sehr um den Erfolg des Unternehmens zu bangen. So jedoch stand sie ihm als beständige Bremserin im Weg und hinderte ihn an der Entfaltung seiner Fähigkeiten. Ihr fehlte jedes Gefühl für Aufwand und Ertrag, sie verstand es nicht, eine Bilanz zu lesen und überhaupt fühlte sie sich in der Wirtschaftswelt verloren. Tradition und Qualität bedeuteten ihr Werte, an die sie kaum noch glaubte und an die sie sich dennoch verzweifelt klammerte. Wenn sie weiterhin sich gegen jede Neuerung und Weiterentwicklung stemmen würde, bliebe es nur eine Frage der Zeit, bis Ralf resignieren und sich endlich von ihr trennen würde. Nun stand er wieder draußen im Regen und rauchte zusammen mit zwei Chinesen, die sie gerade eben zunächst mit dem Knauf eines Schirms, dann mit dem Eisenhammer angegriffen und von ihrem Stand vertrieben hatte. Diese waren in aller Seelenruhe mit einer Kamera herumgegangen und hatten von den schönsten Uhren Detailaufnahmen geschossen. Als sie auch noch ein Maßband angelegt hatten, war es für Karin klar geworden, worum es ihnen ging. Bereits auf der nächsten Messe träfe sie die Chinesen auf deren eigenen Stand wieder, auf welchem die vollendeten Kopien ihrer Uhren in einfacheren Materialien und zu weitaus billigeren Preisen angeboten werden würden. Aus Kostengründen waren bislang nur die Standardmodelle ihrer Manufaktur warenrechtlich geschützt und so würde sie sich gegen diese Produktpiraten kaum juristisch zur Wehr setzen können. Warum Ralf die in die Flucht geschlagenen Chinesen noch einmal zurückgerufen hatte, blieb Karin schleierhaft. Doch hatte sie sich im Zaum gehalten und ihm kein Redeverbot erteilt, denn dann, so fürchtete sie, wäre das Maß auch für ihn vollgelaufen und er hätte sie auf der Stelle verlassen.

Karin erhob sich von ihrem Platz und lief auf dem Gang vor ihrem Stand ein paar Schritte auf und ab. Sie wartete auf Lotta, die sie zum Mittagessen in das Messebistro geschickt hatte. Auch bei Karin meldete sich der Hunger und Lotta musste sie endlich ablösen, denn keinesfalls wollte sie Ralf mit den Chinesen unbeaufsichtigt lassen. Zwar galt die Vereinbarung, dass er nichts ohne ihre Zustimmung unterschreiben oder eine Abmachung treffen würde, doch sie bezweifelte, dass er sich diesmal daran hielte. Als Karin noch einmal nach Lotta suchend aufblickte, sah sie zu ihrer Überraschung Darius Wolfer kommen. Ihr Gastgeber in der Seeblickvilla an der Havel schritt freundlich auf sie zu, reichte ihr die Hand und umarmte sie mit leichtem Schwung. War er wirklich so gut gelaunt und offen? Seit jenem Sonntagmorgen beim Frühstück in der Küche hatte sie ihn nicht wieder gesehen. Ausgehend von dieser kurzen Begegnung hielt sie Darius Wolfer für einen eher verschrobenen Exzentriker, welcher ziemlich mit sich selbst beschäftigt schien, für viel Geld die eigenen Macken auszuleben. Wahres Interesse und Anteilnahme an Menschen wie ihnen maß sie ihm deshalb nicht zu.

»Was treibt Sie hierher?«, fragte Karin mit einem Lachen in der Stimme. Mit einem Mal fühlte sie sich befreit von dem grauen Missmut, der sie eben noch gequält hatte. »Die Messe ist nur für das Fachpublikum bestimmt. Wer hat denn Sie hineingelassen.«

»In diesen Hallen habe ich für die verschiedenen Unternehmen meiner geschiedenen Frau oft genug selbst ausgestellt«, erklärte Darius und scherzte:

»Das Personal an der Pforte wird mich kaum noch fragen, ob ich zum Zielpublikum der jeweiligen Ausstellungen passe oder nicht und über Zugangsberechtigung verfüge. Wahrscheinlich zähle ich hier bereits fest zum Messebetrieb.«

»Sie kommen also nur hierher, um sich die Zeit zu vertreiben. Ich bin erstaunt, zu welcher Verzweiflungstat Müßiggang einen Menschen treiben kann«, entgegnete Karin halb ironisch, halb ernsthaft, weil sie sich die Begegnung mit Darius Wolfer kaum anders erklären konnte.

»Sicher haben Sie nicht ganz unrecht und Ihr Mitgefühl ehrt mich. Doch um offen zu sein, Ihre Kuckucksuhren interessieren mich durchaus auch als Experte.«

»Sie sind vom Fach?«, rief Karin ungläubig auf, doch weiter kam sie nicht, ihn in dieser Hinsicht auf die Probe zu stellen, denn Ralf und die Chinesen kehrten triefend nass vom Rauchen zurück. Nur unter einem Faltschirm eng zusammengedrängt hatten sie bei diesem Unwetter die Zigaretten am Klimmen gehalten. Was mochten sie wohl besprochen haben? Karin wurde unruhig, als Ralf die beiden Männer ihr mit Namen vorstellte, also die Herren Wu und Li. Offensichtlich waren Ralf und die Chinesen sich bereits näher gekommen, Verhandlungen zwischen ihnen begonnen worden und Karin konnte nur hoffen, dass eine endgültige Einigung noch ausstünde. Vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, und als Geschäftsführer besaß Ralf die Möglichkeit dazu, würde sie ihm niemals verzeihen.

»Die Herren Wu und Li sind Vertreter einer Firma, die uns eine fantastische Perspektive aufzeichnen könnte«, strahlte Ralf vor Begeisterung. »Sie sind dazu in der Lage, und wohl inzwischen auch ernsthaft daran interessiert, unsere komplette Kuckucksuhren-Kollektion in Lizenz zu fertigen, alles in annehmbarer Qualität bei niedrigen Kosten. In den Massen, mit denen sie unsere Uhren auf den Markt brächten, würden wir uns an den Vertragsgebühren gesundstoßen und leicht ein Vermögen verdienen. Wir bräuchten nicht länger selbst produzieren und könnten unsere Manufaktur schließen. Uns winkt ein angenehmes Leben in Wohlstand. Fortan könntest Du es Dir leisten, Dich wieder voll und ganz der Zoologie zu widmen, um Dich wieder als promovierte Biologin zu beweisen.«

Ralf wusste, mit welchem Argument er Karin am ehesten überzeugen konnte, und ihr blieb tatsächlich für einen Moment die Luft weg. Sie fühlte sich überrumpelt, überfahren, abgestoßen und zunehmend fasziniert sogleich. Eben noch hatte sie ihr Schicksal verdammt, die Manufaktur ihres Vaters als Klotz am Bein und Senkblei in den Abgrund empfunden. Wie verlockend klang es hingegen, die undankbare Aufgabe, ausgerechnet anachronistische Holzuhren produzieren zu müssen, endlich abzustoßen und wieder dort anzuknüpfen, wo sie einst ihr Lebensglück gefunden zu haben glaubte. Noch immer hielt sie sich für die Wissenschaft geboren, ungeachtet der vielen Jahre, die bereits verronnen waren, ohne dass sie sich darin hatte betätigen können. Obwohl sie spürte, dass Ralf sie in ihrem wunden Punkt getroffen hatte und sie blendete wie jeden dahergelaufenen Kunden auch, ließ sie sich von ihm und den Chinesen an den Klapptisch lotsen. Alle begannen zeitgleich, auf sie einzureden, wobei Ralf sich in Werbelyrik versuchte und ihm die Herren Wu und Li in ungenügendem Englisch und noch schlechterem Deutsch unentwegt beipflichteten. Auf Darius Wolfer konnte Karin kaum ein Auge werfen, doch auch der flüchtigste Blick verriet ihr unzweifelhaft, dass er tatsächlich Sachverstand besaß. Die Art, wie er die eine oder andere Kuckucksuhr in die Hand nahm, wog und wendete, um die Machart zu begreifen, wie er auch das Innenleben konzentriert studierte und schätzte, vermittelte ihr unversehens Anerkennung. Wie niemals zuvor empfand sie urplötzlich über ihre Produkte solch einen Stolz, ausgerechnet in einem Moment, in dem ihr die Aufgabe der Manufaktur versüßt und schöngeredet werden sollte. Karin kannte sich bald nicht mehr in ihren eigenen Wünschen, Hoffnungen, Enttäuschungen, Befürchtungen und Wertvorstellungen, Grundsätzen und Prinzipien aus. Alles in ihr und um sie herum schien sich zu drehen und der ganze Wirbel wirkte auf sie wie ein verrückter Jahrmarkt, voller Marktschreier und Gaukler. Sie hätte längst etwas essen sollen, um gegen den zunehmenden Schwindel besser zu bestehen. Als Lotta zu allem Glück wie ein Retter in der Not vom Bistro zurückkehrte, zögerte Karin nicht, den Stand geradezu fluchtartig zu verlassen. Sie ermahnte noch Ralf, keine Entscheidung zu treffen, versprach jedoch, später mit ihm in Ruhe über das Angebot zu sprechen. Im Davongehen schärfte sie ihrer Tochter nichtsdestoweniger ein, genau aufzupassen, was in ihrer Abwesenheit auf dem Stand vorginge. Wie mit Adleraugen und Ohren eines Luchses durfte Lotta nicht von Ralfs Seite weichen, so groß beseelte Karin ein Misstrauen, das sie mit in die Mittagspause nahm.

Bestreut mit giftgelbem Puder lag die aschgraue Berliner Traditionswurst in roter Tunke wie Lämmerlauch in Nachgeburt. Karin musste heftig würgen, doch unerbittlich trieb der Hunger ihr einen weiteren Bissen hinein. Sie verspürte neben Ekel die pure Lust, den Teller mit diesem völlig überteuerten Gericht zurück in den Imbissstand zu schleudern, direkt an den Kopf des Betreibers. Dieser grinste hämisch, wohlwissend, dass er, solange die Messe lief, nicht für Frischware gesorgt hatte und auch den Rest des Gammels bis zum letzten Tag verkauft haben würde. Mit Süddeutschen, insbesondere mit Leuten, die er als Schwaben verdächtigte, kannte er offensichtlich am wenigsten Erbarmen. Karin hielt der Provokation stand und sich im Griff. So suchten ihre Finger in der Handtasche nach dem Mobiltelefon. Ein kurzer Anruf bei der Vermittlung mit dem Auftrag, zum zuständigen Wirtschaftskontrolldienst weitergeleitet zu werden, wäre nüchtern gesehen die beste Antwort, einem solchen Brunnenvergifter endlich das Handwerk zu legen.

»Guten Appetit«, wünschte Darius Wolfer, der plötzlich neben ihr stand und sie fragte, ob sie sich von seiner Gesellschaft gestört fühlte, wenn er nebenbei etwas äße. Karin schüttelte nur mit dem Kopf, denn ihr Mund war vollgestopft und die Backen prall von dem gallig bunten Brei, den sie immer wieder aus dem Magen durch den Schlund hinauf würgen musste. Hätte sie sprechen können, hätte sie Darius Wolfer davor gewarnt, sich dasselbe zu bestellen. So jedoch sah sie ein Unglück kommen, als ihr neuer Bekannter das gleiche Tellergericht vor ihr auf dem Bistrotisch platzierte und mit wirklich großem Appetit darüber herfiel, als wäre es sein Leibgericht.

»Köstlich!«, schwärmte Darius Wolfer hingerissen und schmatzend, »allein diese Wurst ist jeden Messeauftritt oder Besuch hier in diesen Hallen wert!« Mit einem flüchtigen Blick sah er zu ihr hinüber und erwartete wohl eine Bestätigung seines kulinarischen Urteils. Sprachlos nur würgte Karin angewidert weiter, zusätzlich entsetzt über die Geschmacksverirrung des Tischnachbarn. Unbeeindruckt von ihrem Ekel verschlang dieser hingegen gierig rasend die ganze Wurst mit Heißhunger. Als Karin endlich wieder Luft schöpfen konnte und ein nahe zu volles Bierglas in einem Zug austrank, um nachzuspülen, schob sie sogleich ihren Teller Darius Wolfer zu.

»Ich habe nur zwei Bissen davon genommen. Wenn es Ihnen so gut schmeckt, können Sie gerne meine auch aufessen. Künftig werde ich wieder geschmälzten Maultaschen mit Käsespätzle den Vorzug geben.«

»Werden Sie hier nicht finden, nicht in ganz Berlin und Umgebung!«, klärte Darius Wolfer sie auf, ohne vom Genuss der zweiten Wurst abzulassen. »Wenn Sie Spätzle bestellen, bekommen Sie immer nur Nudeln serviert und statt einer Maultasche ein Ravioli. Nichtsdestoweniger würde ich gerne einmal probieren, worauf Schwaben so verrückt sind«, bekundete Darius Wolfer mit vollem Mund und kaum zu verstehen.

Zunächst meinte Karin, ihr Tischgenosse würde nur scherzen, doch dann griff sie den Gedanken mit aller Ernsthaftigkeit auf und nahm die Herausforderung an. Ungeachtet der Übelkeit, gegen die sie noch immer ankämpfte, schlug sie vor:

»Ihnen kann ich helfen! Sorgen Sie heute Abend für Eier, Mehl, Hackfleisch, Speck, Hartkäse, Zwiebeln, Kräuter, Spinat und Weißbrot und ich werde Ihnen die ersten originalen und ewig besten Maultaschen mit Spätzle zaubern, die Ihnen im Leben vorgekommen sind.«

»Wenn Frau Doktor kocht, komme ich gerne zum Essen«, antwortete Darius Wolfer und nahm ihre Einladung mit leichtem Spott an. Karin verstand im Moment jedoch nicht den Zusammenhang dieser Ironie und warf ihm deshalb einen fragenden Blick zu.

»Ich muss mich entschuldigen«, erklärte Darius Wolfer daraufhin, »doch vorhin konnte ich nicht umhin, Ihre Unterhaltung mit Ihrem Gatten und den Chinesen mitzuhören. Ich bin beeindruckt, wie sehr Sie sich als promovierte Biologin in das Geschäft ihres Mannes eingefügt haben.« Etwas verwirrt wusste Karin zunächst nicht, was sie Darius Wolfer darauf antworten sollte, dann jedoch begriff sie den Denkfehler, dem er wohl als Ohrenzeuge aufgesessen war.

»Nur um ein Missverständnis auszuräumen, ich bin Alleingesellschafterin und damit Eigentümerin der Manufaktur und mein Ehemann Ralf nur deren Geschäftsführer. Bei unserer Heirat hat Ralf meinen Familiennamen angenommen.« Karin stellte die Familienverhältnisse bezüglich ihres Unternehmens klar und ging nicht weiter auf die tatsächlichen Hintergründe ein. Sie hätte sich nicht daran gestört, fortan den Namen Joos zu führen, wenn Ralf sich nicht so heftig dagegen gewandt hätte. Als freiberuflicher Anlageberater hatte er einst das Geld seiner Klienten an der Börse verspekuliert, war dafür verurteilt worden und hatte ohne Bewährung und Hafterleichterung die vollen zwei Jahre einsitzen müssen. Nach der Entlassung bot ihm der Namenswechsel die beste Hilfe für eine Wiedereingliederung in die Bürgerlichkeit, so als wäre zuvor nie etwas geschehen. Noch immer gab es überall in Europa Menschen, die mit ihm noch eine Rechnung offen hatten. Mit Karins Hilfe konnte er jedoch damit rechnen, dass er als Herr Allgaier auf lange Sicht unbehelligt und vor Regress sicher bliebe. Es hätte nur einen weiteren Becher Bier oder ein Glas Wein gebraucht, damit Karin vor ihrem Tischgenossen über solche Begebenheiten hemmungslos ins Reden gekommen wäre. Zu lange fehlte ihr jemand, vor dem sie ihr Herz würde ausschütten dürfen und dieser Mann schien ihr dafür wie gerufen. Vom Gefühl her vertraute sie ihm, dennoch gebot ihr der Verstand, Distanz zu wahren. Weiteres mochte sie zu dieser Angelegenheit nicht äußern, sah abwesend von ihm ab und hoffte, die Unterhaltung über Familiäres damit einzustellen.

»Ja, so etwas kommt heutzutage des Öfteren vor«, beendete Darius Wolfer ihr seltsames Verharren und steuerte nun seine Lebenserfahrung in Namensangelegenheiten bei, »in meinem Bekanntenkreis kenne ich einige solcher Fälle. Auch meine geschiedene Frau wollte bei unserer Heirat ihren Familiennamen nicht ablegen und ich hingegen war noch nicht modern genug eingestellt, ihren anzunehmen. So hat sie bis heute stets nur Eisenhaupt geheißen und ich Wolfer. Doppelnamen konnten wir uns beide nicht vorstellen.«

»Sie sind schon lange geschieden?«, erkundigte Karin sich und neugierig geworden suchte sie, Weiteres aus dem Privatleben ihres neuen Bekannten zu erfahren. Darius Wolfer ließ sich darauf ein und zeigte sich ihr gegenüber als ein offenherziger Mensch, der nicht jede private Einzelheit als Geheimnis verbergen würde. Freimütig und ohne Verbitterung erzählte er von seiner gescheiterten Ehe mit Erika und von seinen beiden Zwillingstöchtern, zu denen er als Vater nur noch einen sehr eingeschränkten und streng geregelten Zugang habe.

»Susanne und Ute sind übrigens im gleichen Alter wie ihre Tochter«, stellte Darius Wolfer beiläufig fest. Offensichtlich war ihm soeben ein flüchtiger Gedanke gekommen, den er dann jedoch nicht weiterzuverfolgen schien. Doch was überhaupt beträfe Darius Wolfer ihre Lotta? Leicht irritiert ging Karin nicht auf seine Bemerkung ein, hingegen interessierte sie sich für etwas anderes, das ihr vorhin auf dem Stand besonders aufgefallen war.

»Sie besitzen sehr geschickte Hände. Ich habe bemerkt, mit welch großem Sachverstand Sie unsere Uhren begutachtet haben. Zunächst wollte ich Ihnen nicht glauben, dass Sie sich mit technischen Dingen auskennen.«

»Nun, das hat auch seinen Grund«, erklärte Darius Wolfer nicht ohne Stolz, »als Sohn eines Restaurators, gelernter Feinmechaniker und studierter Maschinenbauer bin ich in der Welt der Technik groß geworden. Handwerkliches Geschick und wissenschaftliche Erkenntnis sind bei mir auf fruchtbaren Boden gefallen und haben sich für mich ausgezahlt. Heute kann ich es mir leisten, von den Früchten meiner Arbeit zu leben.«

Diese Feststellung klang für Karin so weit überzeugend, als dass sie davon ausging, dass Darius Wolfer ihr kaum die volle Wahrheit über seinen zur Schau gestellten Wohlstand preisgeben würde. Ungeachtet seiner offenen Art spürte sie, wie er sehr wohl abzuwägen verstand, was er anderen mitteilen durfte oder besser zu verschweigen hatte, um sich ins rechte Licht zu setzen. Nur seine Vorzüge ließ er vor ihr glänzen, den wahren Mann dahinter würde sie so leicht und schnell nicht kennenlernen. So unterhielten sie sich eher über Belangloses, etwa über die jeweiligen Stationen, die sie während der Ausbildungsjahre durchlaufen und sie auf Wanderschaft gebracht hatten. Karin erfuhr, dass Darius Wolfer nach seiner Lehrzeit in Wien eine Meisterschule hätte besuchen sollen, um später das Restaurationsgeschäft seines Vaters als würdiger und ebenbürtiger Nachfolger zu übernehmen. Vor der drohenden Einberufung zum Wehrdienst nahm er jedoch Reißaus. Außerhalb Österreichs führte ihn sein Weg dann unmittelbar nach Berlin, wo er als Mechaniker in den Lehrwerkstätten der Technischen Universität die Möglichkeit eines parallelen Maschinenbaustudiums genutzt hatte. Hingegen war Karins Biologiestudium gemessen an den Örtlichkeiten abwechslungsreicher verlaufen und hatte sie einige Semester in Stuttgart, Bonn und Freiburg verbringen lassen. Schließlich war sie nach Kiel mit dem Ziel gewechselt, sich in Meeresbiologie zu vertiefen, um in diesem Fachgebiet promoviert zu werden. An Geld hatte es ihr in jenen Jahren nicht gemangelt, da ihr Vater ein geerbtes und ausgedehntes Wiesengrundstück in Angrenzung an eine abgelegene Schwarzwaldgemeinde unerwartet als Bauland hatte verkaufen können.

»Beinahe wäre ich nach Berlin gezogen«, erwähnte Karin etwas gedankenverloren. »Die Eltern von Wolfgang, Lottas Vater, wohnen in einer schicken Villa in Dahlem, und als Professorenehepaar hatten sie ihrem Sohn das Berliner Nest für eine akademische Laufbahn von klein auf vorbereitet. Er hatte nur die besten Schulen und die Eliteuniversitäten besuchen dürfen und musste wie sie Dozent werden, um deren Rolle als Vorreiter im gesamtdeutschen Hochbildungsbürgertum weiterzuspielen. Wahrscheinlich hat er deshalb nicht gezögert, stattdessen die Professur in Berkeley anzunehmen, um sich von seinen Eltern nicht völlig vereinnahmen zu lassen.« Karin blickte auf und erkannte, dass sie Darius Wolfer mit den Episoden aus ihrem Lebenslauf ganz und gar nicht langweilte und er ihr aufmerksam zuhörte. Sie wusste sich verstanden und beinahe als Vertrauensbeweis lachte sie bitter auf:

»Dieser Scheißkerl, Wolfgang war und ist ein Scheißkerl!« So wie in diesem Augenblick fühlte sie sich oft, wenn sie an Lottas Vater und ihre einzig große Liebe dachte.

»Für unsere Promotionsarbeiten sind wir gemeinsam anderthalb Jahre auf Expeditionsreise gewesen, um ethologische Studien über erlerntes Sozialverhalten in Seelöwenkolonien entlang der nord- und südamerikanischen Pazifikküste durchzuführen. In Kodiak, Alaska, haben wir begonnen und sind bis hinunter nach Feuerland gezogen. Bis Costa Rica hat es zwischen uns keine Probleme gegeben und jeder ist mit seinem Aufgabenbereich gut vorangeschritten. Dann jedoch ist Wolfgang auf den Geschmack gekommen und hat sich zunehmend auf Selbstversuche mit Meskalin verlegt und ab Kolumbien zusätzlich Kokain in ungeheuren Mengen konsumiert. Wochenlang hat er aus seinem Zelt nicht wieder herausgefunden und ist bis zum Ende der Reise unablässig zwischen psychedelischer Entrücktheit und paranoidem Wahn hin und her geschwankt. Als vollkommenes Nervenbündel schien Wolfgang zu nichts weiter fähig gewesen zu sein und so habe ich seine Datenerhebungen mit übernommen und das gesamte wissenschaftliche Projekt für den Rest bis nach Chile hinunter allein durchgeführt.« Karin sah Darius Wolfer über ihren Studien- und Lebensweg beeindruckt staunen. Wohingegen ihm in den achtziger Jahren die Berliner Mauer den Horizont begrenzt hatte, war sie bereits als Weltreisende unterwegs gewesen. Nur bot sie ihm mit ihren Erlebnissen keine Romantik, sondern tiefe Verbitterung:

»Ich Schaf bin so blind gewesen, dass ich es nicht bemerkt habe, wie schamlos Wolfgang mich ausgenutzt hat. Er hat nicht wie ich die Geduld aufgebracht, stundenlang und oft bei Nässe und Kälte auf nassen Brandungsfelsen auszuharren, um die Beobachtungen an Seelöwen zu dokumentieren. Stattdessen hat er in jeder größeren Stadt alle neu angefallenen Datenblätter nach Hause zu seinen Eltern gefaxt. Nicht einmal zwei Wochen nach Rückkehr von unserer Expedition hat er wie aus dem Nichts gezaubert eine bereits fertig geschriebene Doktorarbeit eingereicht und dafür eine hervorragende Note erhalten. Für die folgende Habilitationsschrift hat er dann kein halbes Jahr benötigt, während ich noch ein weiteres daran arbeiten musste, meine Promotion abzuschließen. Dafür habe ich eine nur mäßige Note erzielt. Verweisend auf die bereits veröffentlichten Arbeiten Wolfgangs führe ein wesentlicher Teil meiner Auswertungen nicht zu neuer wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Zuerkennung eines befriedigenden Abschlusses sei deshalb gerechtfertigt und sei nicht zuletzt auch als Ausdruck eines freundlichen Entgegenkommens des Promotionsausschusses der Universität zu verstehen.« Karin verbarg vor Darius Wolfer nicht, wie sehr sie dieses vernichtende Urteil noch immer schmerzte.

»Sie haben recht, Ihr Wolfgang ist ein Schwein!«, bestätigte dieser erschüttert und zog den richtigen Schluss, »sicher ist es Ihnen danach schwergefallen, eine Anstellung in Ihrem Fachgebiet zu finden.«

»Einige Gelegenheitsprojekte und befristete Vertretungen, doch mit über vierzig kam nichts Weiteres nach«, gab Karin enttäuscht zu. »So gesehen hatte ich kaum eine andere Wahl, als die Uhrenmanufaktur meines Vaters fortzuführen und Fabrikantin zu werden.« Dann jedoch lächelte Karin gelöst und verbannte die Verbitterung aus dem Tonfall ihrer Stimme. »Wie das Leben so spielt! Zumindest habe ich daraus gelernt.«

»Ihr Wolfgang hat Sie mit Lotta sitzen lassen«, mutmaßte Darius Wolfer, während er an einem etwas abseitsstehenden Getränkeautomaten nach der Wahltaste für Kaffee mit Milch suchte. »Sicher möchten Sie auch einen. Darf ich annehmen, dass Sie ungesüßten Kaffee bevorzugen?« Nickend nahm Karin das Angebot an und kam sogleich auf die Frage nach Lotta zurück:

»So ist es nicht gewesen«, berichtigte sie, »zumindest hat er mir eine Chance gegeben. Eine Einzige, und diese habe ich nicht genutzt.«

»Nicht immer lässt das Glück sich greifen«, seufzte Darius Wolfer mit etwas übertriebenem Mitgefühl. Er reichte Karin einen der beiden Pappbecher mit viel zu dünnem Kaffee, der als Wiedergutmachung für erlittene Schicksalsschläge niemals taugte. Während sie freud- und genusslos daran nippten, erkundigte Darius Wolfer sich weiter nach Lotta. Das Lernen ausgerechnet auf einem Messestand könne ihr kein Erfolgserlebnis vermitteln oder erst recht nicht ihre Leistungen anhaltend verbessern. Es gäbe hier zu viel Lärm, zu schlechte Luft und zu große Unruhe. Wahrscheinlich wäre sie kaum zu halten, um stattdessen auf eigene Faust die Großstadt zu erkunden. Natürlich musste Karin ihm recht geben, zumindest zum Teil:

»Ich habe es abgehakt, sie anzutreiben. Nicht ein einziges Mal hat sie in den Übungseinheiten die notwendige Mindestpunktzahl erreicht und gestern ist sie von Versuch zu Versuch in ihren Leistungen beständig schlechter geworden. Ich habe ihr geraten, in der Stadt spazieren zu gehen, durch die Geschäft zu streifen, Museen oder den Zoo zu besuchen, um sich abzulenken. Nur zwei Stunden hat sie es dort allein ausgehalten und ist gelangweilt zurückgekehrt. Allzu offensichtlich ist Lotta kein Stadtmensch und ich frage mich, ob das Vorhaben, sie nach Amerika und in die Nähe von Weltmetropolen wie Los Angeles oder San Francisco zu schicken, an ihrem urbanen Desinteresse scheitern wird. Sie würde die Sehnsucht nach Silberhaar kaum aushalten und bereits nach wenigen Tagen den Rückflug buchen.«

Darius Wolfer sah Karin fragend an und sie wusste genau, in welchem Punkt sie eine Erklärung nachliefern musste:

»Silberhaar ist unser Wallach. Als ich mit Lotta wieder zurück nach Schopflauch gezogen bin, um die Manufaktur fortzuführen, habe ich ihr die neue Heimat mithilfe eines Pferdes, das sie sich von jeher sehnlichst gewünscht hatte, schmackhaft gemacht. Silberhaar ist Lottas Ein und Alles, sie ist pferdeverrückt und wird es immer bleiben. Doch ich schwöre, sobald meine Tochter im Flugzeug sitzt, um für ein Jahr zu ihrem Vater zu reisen, bringe ich diesen alten Gaul zu einem Pferdemetzger nach Stuttgart. Das Vieh frisst mir die Haare vom Kopf und wegen Hüftgelenksnekrose muss ich ständig den Tierarzt kommen lassen, der für viel Geld die Schmerzen nur vorübergehend lindern kann.«

»Ihrer Tochter fehlt hier in Berlin sicher nur der Anschluss an Gleichaltrige«, unterbrach Darius Wolfer Karins Redefluss. Wahrscheinlich beabsichtigte er, das Thema zu wechseln, weil er sie für gefühlskalt hielt, nicht nur dem liebsten Freund ihrer Lotta das Todesurteil zu sprechen, sondern das Pferd anschließend auch noch verwursten und eindosen zu lassen. Doch wie die meisten Ingenieure auch hatte Karin als Biologin im nicht Geringeren lernen müssen, Probleme nüchtern zu lösen. Wenn nicht gerade im Moment, so würde Darius Wolfer ihren Umgang mit Silberhaar letzten Endes verstehen. Ohne Kritik zu üben, blieb er jedoch beim Pferdethema und unterbreitete ihr einen großzügigen Vorschlag, mit dem er vor allem Lotta sehr entgegenkommen wollte:

»Meine Zwillinge sind ebenfalls Pferdenärrinnen. Ich denke, Lotta würde gut zu ihnen passen und die beiden hätten bestimmt nichts dagegen, wenn sie morgen Nachmittag einfach zu dritt zur wöchentlichen Reitstunde fahren würden. Auf einem Gutshof im Umland haben Susanne und Ute ihre eigenen Pferde in Pension gegeben und sie wären sicher stolz, dort Lotta ihre Reitkünste vorzuführen.« Darius Wolfer ließ keinen Zweifel zu, dass er damit Karin einen großen Gefallen erweisen würde, die ungeachtet der Messe ihrer Tochter wenigstens ein Urlaubserlebnis noch unbedingt zu bieten hatte. Mit ihrem Widerspruch brauchte er nicht rechnen, fingerte hastig in seiner Jackentasche nach dem Telefon und begann in dessen Adressenspeicher nach einer bestimmten Nummer zu suchen. Karin beobachtete ihn aufmerksam und hörte verwundert mit, als er, nachdem die Verbindung zustande gekommen war, bat, mit einer Frau Rechtsanwältin sprechen zu dürfen. Diese meldete sich nach einer kleinen Weile und Darius Wolfer begann übervorsichtig und mit gewählten Worten, sein Anliegen darzulegen, das im Grunde nur darin bestand, Lotta als Begleiterin eines Vater-Töchter-Nachmittags anzumelden. Karin sah, wie er zusehends verkrampfte und ihm der Schweiß auf der Stirn perlte, während er dem Wortschwall einer beinahe kreischenden Lautsprecherstimme angestrengt lauschte. Ihm war anzusehen, wie sehr er diese Art von Telefonaten hasste und sie ihm eine geißelnde Bürde bedeuteten, der er sich immer und immer wieder zu stellen hatte. Schließlich durfte er die bereits umfassend ausgewucherte Belehrung mit einer einsilbigen Bemerkung des Verständnisses quittieren und das Gespräch nach einem kurzen Dank beenden.

»Sie sind ja ein schöner Vater, wenn der Kontakt mit Ihren Zwillingen nur über diese Hexe möglich ist«, kommentierte Karin Darius Wolfers erleichterte Ankündigung, dass dem Reitausflug ihrer Tochter nun nichts weiter im Wege stand.

»Ich habe kein Sorgerecht«, entschuldigte er sich ungerührt, »was ich im Umgang mit meinen Kindern gerade noch darf oder zu unterlassen habe oder wozu ich verpflichtet bin, ist vertraglich genauestens geregelt. Bis zur Volljährigkeit der Zwillinge darf ich auf keinen Fall unmittelbaren Kontakt mit ihnen aufnehmen. Susanne und Ute steht es zwar frei, mich jederzeit anrufen, wenn sie Fragen haben, doch ich habe nach jedem Gespräch dessen Zeitpunkt, Dauer und Gegenstand umgehend der Rechtsanwältin zu melden. Zudem habe ich in Gegenwart dieser Aufsichtsperson zweimal im Monat als Vater mit den beiden vier Freizeitstunden zu verbringen, ohne mit ihnen jedoch über Familiäres, Persönliches oder die Firma sprechen zu dürfen. Alles, was ich sage, frage oder wie ich mich verhalte, wird protokolliert und genau wie nach den Anrufen der Töchter wird am Ende eines solchen Vaternachmittags überprüft, ob ich mich an die vertraglichen Vorgaben gehalten habe.«

»Wie konnten Sie sich nur auf diese entsetzliche Vereinbarung eingelassen haben?«, unterbrach Karin verständnislos, »Sie glauben doch nicht wirklich, dass Ihre Zwillinge Sie als Vater oder überhaupt als Mann noch ernst zu nehmen lernen.«

»So steht es im Vertrag, so ist es Erikas Wille und ich kann damit leben. Noch etwa zwei Jahre werde ich für meine Töchter mehr schlecht als recht die Vaterrolle spielen und dann das ganze Theater beenden. Ich werde mich in dieser Hinsicht an den Vertrag gehalten haben, weiterhin ein angenehmes Leben führen und kaum noch einen Gedanken an Susanne und Ute verschwenden.« Mit einem Mal sprach Darius Wolfer von seinen Zwillingen so kühl und gleichgültig als handelte es sich dabei um Nachbars Kinder. Karin ertappte sich, wie sehr sie ihn darum beneidete, ihn geradezu als Beispiel sah. Fortan wollte sie in sich keine Skrupel mehr aufkommen lassen und sich als Rabenmutter fühlen, Lotta für mehr als nur ein Jahr, in letzter Konsequenz für immer, an Wolfgang abzugeben. Karin sah auf die Uhr und wurde unruhig. Würde sie weiterhin Zeit beim Essen mit ihrem Gastgeber verspielen und Ralf auf dem Messestand unbeaufsichtigt lassen, liefe sie in Gefahr, am Ende des Tages keine Waren, sondern ihre ganze Firma verkauft zu haben.

»Ich muss leider zurück an die Arbeit«, bedauerte sie, als sie sich von Darius Wolfer verabschiedete und ihm für die Einladung auf den Kaffee dankte. Sofern dessen übersäuerter Geschmack nicht als Ursache herrührte, drückte der bevorstehende Disput mit Ralf ihr bereits im Magen. Nicht dass sie sich bereits entschieden hatte, wie sie mit dem Angebot der Chinesen verfahren würde, doch keinesfalls durfte sie sich von ihm sofort zu einem Lizenzvertrag drängen lassen. Sie brauchte Bedenkzeit und vor allem einen guten Rat. Bereits im Davongehen reichte sie Darius Wolfer flüchtig die Hand.

»Überlegen Sie es sich gut«, gab er mit festem Händedruck ungebeten seine Meinung ihr mit auf den Weg, von der nur ein Gedankenleser wüsste, dass diese zählte. »Ich habe mir Ihre Chronometer genau angesehen, und ich bin sehr beeindruckt von der Fertigungsweise. Es gibt weltweit wohl nicht viele Betriebe, welche in dieser außerordentlichen Präzision und Finesse vielfachfunktionale Mechaniken in Uhrwerken verbauen können. Es wäre schade, wenn Sie am Ende etwas aufgeben, auf das Sie mit Fug und Recht stolz sein dürfen.«

Kuckucks Uhr

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