Читать книгу Das mangelnde Licht - Nino Haratischwili - Страница 10
Dina
ОглавлениеNicht mehr lange, dann werden die beiden großen Türen mit den vergoldeten Türklinken aufgerissen, und die Menschen werden hineinstürmen und die Zeiten Schicht für Schicht abreißen wie Kalenderblätter, werden sie freilegen, der Vergangenheit die Geheimnisse zu entlocken versuchen, sich durch Gesichter und Orte graben, emsige Archäologen auf der Suche nach dem Besonderen. Sie werden sich durch unsere Leben wühlen, sie werden versuchen, uns auf die Schliche zu kommen. Sie werden an den Schreckensbildern vorbeischlendern und dabei an ihren Gläsern nippen und kleine Häppchen in ihre wohlgeformten Münder stecken, bemüht, den Bildern auszuweichen, vergeblich nach etwas Gnädigerem suchend. Die wenigsten, die Hartgesottenen, werden sich dem Grauen stellen, werden die Bilder in sich aufnehmen, weil sie glauben, es der Kunst schuldig zu sein, aber sie werden nicht begreifen, dass diese Kunst nichts mit Schönheit und Ästhetik zu tun hat, dass sie keine bewusst gewählte Form ist, um eine gesellschaftsrelevante Aussage zu treffen, sondern einzig und allein ein Überlebensakt, nicht mehr, nicht weniger.
Ich spüre, wie Nervosität von mir Besitz ergreift, vielleicht geht es Ira genauso, die sich sichtbar Mühe gibt, nicht aus dem festlichen Rahmen zu fallen, die lächelt und sich an den Gesprächen interessiert zeigt, an den richtigen Stellen nickt und bei den gesetzten Pointen lacht.
Ich spüre, wie mir heiß wird, meine Handflächen sind triefend nass, Schweiß benetzt meine Stirn, ich suche nach dem EXIT-Schild, ich muss die Ausgänge stets im Blick behalten, ich muss fluchtbereit sein. Ich entschuldige mich, entferne mich von der kleinen Gruppe mit den Kuratoren, Anano und Ira und eile zur ausgeschilderten Toilette, ich brauche Wasser, ich muss Luft holen, ich muss mich besser wappnen und weiß doch, dass ich mich unmöglich wappnen kann für all das, was mir bevorsteht.
Ich gehe mit hastigen Schritten über den Parkettboden, unterwegs bleibt mein Blick an einem Foto hängen, ich bleibe auf der Stelle stehen, ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Körper, das Bild ist wie ein Magnet, ich kann nicht anders, meine Augen bleiben an ihm haften. Auch dieses Foto ist mir unbekannt. Aus welchem Jahr stammt es? Ja, es muss eines aus ihrer Anfangsphase sein, wie das Bild unseres Hofes.
Ein Selbstporträt, so schlicht und radikal in seiner Einfachheit. Sie mit dem berühmten Fernauslöser in der Hand. Ich bin wie vom Blitz getroffen, mir wird übel, sie ist so unerlaubt jung, so schön, so gnadenlos lebenshungrig, sie hat noch so viel Raum, nein, einen ganzen Palast voller Versprechen in sich, Versprechen, die darauf warten, eingelöst zu werden. Ihr Blick ist in die Kamera gerichtet, sie ist so sehr sie selbst auf diesem Bild, dass ich es kaum aushalte, und doch sehe ich ihr in die Augen. Sehe ihren Hunger nach der Welt, ihre Offenheit, mit der sie die Betrachter herausfordert. Wie alt mag sie sein: siebzehn, achtzehn? Was hat sie an diesem Tag getan, erlebt, gesagt? Haben wir uns an diesem Tag gesehen, haben wir ihn gar, wie so viele Tage davor und danach, gemeinsam verbracht? Haben wir gelacht, haben wir uns gegenseitig einen Grund zur Aufregung geliefert? Haben wir uns Geheimnisse zugeflüstert?
Ich weiß es nicht mehr, und dieses Nichtwissen brennt mir auf der Zunge, verätzt sie, ich will diese Gewissheit zurück, ich will sie der Willkür der Erinnerung entreißen, aber wie sinnlos, wie lächerlich ist mein Wunsch.
Ich schaue ihr in die Augen, ich lasse mich provozieren von diesem dunklen Blick, der alles sehen will, jeden finsteren Winkel ergründet, jeden Abgrund erkundet, jede Fratze studiert, jeder Gefahr nachgeht. Durch die Zeiten hindurch sieht sie mich an, sie scheint so lebendig, so viel lebendiger als ich und alle, die sich in diesem Raum aufhalten, die diesen Raum gleich füllen werden, als hätte sie den eigenen Tod überlistet, als hätte sie einen Weg gefunden zurückzukommen, mich anzusehen und mir zu sagen, dass es sich trotzdem gelohnt hat … trotz allem.
Es ist ihr schelmisches Lächeln, ihre kokette Art, den Kopf leicht schräg zu halten, mit ihren nicht zu bändigenden Haaren, die ihr ins Gesicht fallen, die ihr nie gehorchen. Sie weiß so viel mehr als wir. Ich starre zurück, und da begreife ich meinen Trugschluss, ja, ich habe eine falsche Schlussfolgerung gezogen, ich habe mich geirrt, es sind nicht diese süßen Versprechen, dieses Meer an Möglichkeiten, die ich in ihrem Gesicht wiederfinde, wenn ich ihre frühen Selbstaufnahmen betrachte, die mir die Kehle zuschnüren und die in mir einen Ekel verursachen, weil das Leben sie so betrogen und enttäuscht hat – nein, es wäre die falsche Annahme zu glauben, dass sie auf diesen früheren Selbstporträts deswegen so unverschämt jung, so klar und so lebendig erscheint, weil sie über die hässlichen Wendungen des Lebens noch nicht Bescheid weiß, weil sie hofft, dass es ihr gnädig gestimmt sein und ihre Wünsche in Erfüllung gehen lassen wird. Das Gegenteil ist der Fall. Die Magie dieser Fotos, die Kraft dieser frühen Porträts und insbesondere von diesem hier, ist nicht der Hoffnung geschuldet, sondern ihrem bewussten Flirt mit dem mörderischen Risiko, der Möglichkeit des Scheiterns, der Nichterfüllung. Deswegen ist dieses Foto so schwer zu ertragen, denn es feiert sich, den Augenblick und alles Bevorstehende, wendet sich allen Eventualitäten zu – weil dieses Gesicht bereits ahnt, wie sehr die eigenen Wünsche eine Falle sein können und das Leben sich als ein Schlachtfeld erweist, an dessen Ende kein berauschendes Fest wartet, sondern ein bodenloser Abgrund, und man es trotzdem wagt, sich ihm mit Haut und Haar auszuliefern.
Ich taumele zurück, verbarrikadiere mich in der Damentoilette und breche in Tränen aus. Die Unerträglichkeit dieser Erkenntnis ist durch nichts zu mildern.
Ich weiß noch sehr genau, wie ich sie das erste Mal im Hof sah. Dieser Tag und jedes Detail dieses Tages ist mir für immer gegenwärtig. Sie selbst erinnerte sich nicht an diesen Nachmittag, für sie war er nichts Besonderes, denn für sie gab es schon da nur die eigene Zeitrechnung, eine Subjektivität, die Fluch und Segen zugleich war. Sie entschied, dass unsere Freundschaft ihren Anfang an jenem späten Abend nahm, an dem sie mir mit ihrer Taschenlampe ins Gesicht leuchtete. Aber für mich begann sie früher, eben an dem Tag, als ein großer KAMAZ-Laster in die Hofeinfahrt fuhr und dort parkte, als ihre Mutter ausstieg, sich den Schweiß von der Stirn wischte und ihre Kinder mit den vollbepackten Kartons und Koffern hin- und herschickte. (Das Treiben dieses so auffallend andersartigen Trios muss mich an diesem Tag derart fasziniert haben, dass ich noch am selben Abend eine Zeichnung dieser Szene anfertigte, die ich viele Jahre in meiner Schreibtischschublade aufbewahrte.)
Ich stand oben am Fenster der Loggia und beobachtete von dort das rege Geschehen. Es war heiß, die Sommerferien hatten gerade begonnen, und viele waren bereits aus der Stadt geflohen, daher war der Hof wie ausgestorben. Nur Tarik saß am Wasserhahn in der Ecke und aß Sonnenblumenkerne, unsicher, ob er den Neuzugezogenen seine Hilfe anbieten sollte oder nicht. Die Höhe und die Entfernung hinderten mich daran, die Gesichter der neuen Bewohner genauer zu betrachten, aber ich erinnere mich, dass die dunkelblaue Schlaghose der jungen Frau, die ihre Kinder so zielsicher über den Hof dirigierte, die lässige Art zu gestikulieren, die Sonnenbrille auf dem Kopf und die Espadrilles an den Füßen, für mich eine vollkommen neue, modische Entdeckung, die etwas Westliches ausstrahlte, einen bleibenden Eindruck hinterließen und mich auf Anhieb faszinierten. Ich konnte meinen Blick nicht von den dreien abwenden, von diesen offenbar neuen Mitgliedern unseres Mikrokosmos, die ausgerechnet in die Kellerwohnung einzogen, noch unter den armenischen Schuster Artjom und die kurdische Familie. Schon das Erdgeschoss galt als denjenigen vorbehalten, die keine andere Wahl hatten, aber eine Kellerwohnung, in die kaum Sonne drang, von der aus man nur auf die Beine der Passanten schaute, als wollte der Architekt damit den sozialen Status der Bewohner zusätzlich hervorheben, eine Kellerwohnung noch dazu, die über Jahre leer gestanden hatte und mit einem überdimensionalen rostigen Schloss abgesperrt gewesen war, galt als eine Behausung der Parias. Mir war vollkommen schleierhaft, was diese geschmackvoll gekleidete, irgendwie mondän wirkende Frau mit ihren Kindern dort verloren hatte. Die ältere der beiden Schwestern musste in meinem Alter sein, ich war kürzlich acht geworden, die jüngere dürfte gerade in die Grundschule gekommen sein. Beide schienen die beeindruckende Lässigkeit ihrer stilsicheren Mutter geerbt zu haben, sie hatten den wilden Haarwuchs, die dichten dunklen Locken gemein, einzelne Haarsträhnen wippten kinnlang um ihre Köpfe, so dass ich mich an einen Löwen aus einer Tierdokumentation erinnert fühlte, der in Zeitlupe zum tödlichen Sprung ansetzt. Alle drei wirkten lebhaft und auf eine beunruhigende Art ungestüm, als könnten sie keine Sekunde still sitzen. Sie strahlten eine für mich damals sehr fremdartige Form der Freiheit aus, als würden sie sich überhaupt nicht darum scheren, welchen Eindruck sie hinterließen – etwas, was ich in meiner sozialistischen Kindheit so noch nie erlebt hatte.
Aber der Eindruck war auch intimerer Natur: Von klein auf hatte ich mir eine ganz eigene, aus Versatzstücken an Informationen, Fotos und Fantasien zusammengesetzte Vorstellung von meiner Mutter geschaffen, und in meiner Vorstellung war sie vor allem eins: anders. Anders als alle, die ich kannte. Besser, freier, wilder, lebenshungriger, mutiger, klüger, furchtloser – und wahrscheinlich brachte ich diese junge und schöne Mutter dort auf dem Hof auf Anhieb mit dem Bild zusammen, das ich, seit ich denken kann, von meiner toten Mutter im Herzen trug.
Meine ganze Kindheit durchzog die Suche nach Indizien, die dieses schier unerreichbare Idealbild einer Mutter zur Wahrheit erklären könnten, und bis heute gibt es Momente, in denen ich mich bei dem Gedanken ertappe: »Ja, das hätte sie bestimmt gemocht.« – »Ja, so hätte sie unter diesen Umständen gehandelt.« Ich klammerte mich an diese oder jene Eigenschaft, die mir erstrebenswert oder besonders erschien, und schrieb sie meiner Mutter zu. Ich weiß nicht, ob diese Vorstellung nur meinem innigen Wunsch entsprach, meine freiheitsliebende Mutter möge anders gewesen sein, oder ob sie wirklich so sehr aus der Reihe getanzt ist, wie es manche Geschichten über sie erahnen lassen. Aber ich konnte nicht anders, als jedes Anzeichen einer Abweichung als etwas Erstrebenswertes zu deuten. Einerseits unterstützten alle Geschichten, die mein Bruder und ich über sie kannten, alle Erinnerungen, die wir besaßen, das Bild einer aufbegehrenden, lebensfrohen, neugierigen, nach Abenteuern gierenden Frau. Aber andererseits hätte sie genauso gut eine überforderte, enttäuschte und ihrem Alltag auf Gedeih und Verderb ausgelieferte Frau gewesen sein können, die einfach ihrer Verbitterung hatte entfliehen wollen. Aus diesem Grund meine ich, dass mein Weg, der mich so alternativlos in Dinas Arme führte, ohne ihre Mutter nicht denkbar gewesen wäre. Wäre da nicht Lika gewesen, die mein unerreichbares Mutterideal durch ein greifbares, reales Mutterbild ersetzt hatte, wäre ich vermutlich vorsichtiger geblieben, hätte mich vor Dinas schwindelerregenden Wünschen in Acht genommen. Im Nachhinein würde ich sagen, dass es am ehesten Likas Offenheit war, die ich von meinem Beobachtungsposten aus witterte und die mich so magisch anzog. Dann erst kamen ihr Wagemut und das verblüffend Nonkonforme, vielleicht auch etwas Hippiehafte, für das ich damals keine Bezeichnung hatte.
Gut gelaunt luden die drei ihre Sachen aus, und ich wunderte mich nicht einmal über das Fehlen männlicher Helfer, die normalerweise bei keinem georgischen Umzug fehlten. Sie aber schienen nichts und niemanden zu vermissen, und auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie sie die schweren Möbel in diese lichtlose Wohnung schaffen wollten, war ich mir sicher, dass sie eine Lösung parat haben würden. Sie wirkten nicht wie Menschen, die Hilfe erwarteten. Sie hatten einen festen Ablauf, ihre Bewegungen waren fließend und jeder Griff selbstsicher. Sogar die Kleinste packte mit ihren zarten Ärmchen Körbe voller Geschirr und trug sie geschickt wie ein Jongleur auf einem Seil die vier Stufen in die Kellerwohnung hinunter. Irgendwann machten sie eine Pause und ließen sich auf dem Boden nieder. Die Frau verteilte Kirschen an die Mädchen und goss ihnen eine rote Flüssigkeit aus einer Thermoskanne ein. In diesem Augenblick empfand ich den heftigen Wunsch, mitten unter ihnen zu sitzen, ebendiese Kirschen zu essen und ebendiese rote Flüssigkeit zu trinken. Ich wollte auch diese Leichtigkeit, diese Unbeschwertheit, für die ich keinen Namen wusste, ich wollte auch solche Sandalen tragen wie die Ältere und solch ein Lederarmband ums Handgelenk wie die Jüngere. Etwas zog sich in mir zusammen, ich hielt es kaum
aus.
Ich wandte meinen Blick ab und entfernte mich vom Fenster. Ich öffnete die Kühlschranktür und suchte nach etwas Essbarem. Babuda eins kam in die Küche.
– Hast du Hunger, Bukaschka?
Ich fuhr sie an, sie solle mich mit diesem albernen Kosenamen nicht mehr anreden, und verlangte nach Kirschen.
– Wir haben keine Kirschen, Bu…, Keto, aber ganz köstliche Erdbeeren, die hat dein Vater gestern vom Basar mitgebracht.
– Ich will keine Erdbeeren, ich will Kirschen, murrte ich und verzog mich in mein Zimmer. Ich hatte plötzlich schlechte Laune, fühlte mich unförmig, meine Bewegungen waren zaghaft und mein Körper angespannt, meine Kleidung war bieder und von den Babudas gestärkt und gebügelt worden, ich roch nach Mittelmaß, ich war unscheinbar, ich besaß nichts, was mich in den Blick dieser Familie rücken könnte.
Es stimmt: Ich war ein schüchternes, zurückhaltendes Kind, immer im Schatten meines komplizierten und überhitzten Bruders, der sich stets in den Mittelpunkt drängte und alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte – was mir erlaubte, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Und das wiederum tat ich sorgfältig und ausgiebig. Die Welt empfand ich als zu schnell und zu sprunghaft, ich wollte den Dingen in aller Ruhe auf den Grund gehen. Am besten halfen mir dabei meine Stifte und meine Malhefte, ohne die ich kaum aus dem Haus ging. Ich zeichnete im Unterricht, wenn mir langweilig wurde, entfloh der Wirklichkeit. Ich zeichnete beim Essen auf die gefalteten Papierservietten, ich bemalte die Wände unseres Hofs mit Kreide. Ich zeichnete Gegenstände und Menschen, manchmal möglichst wirklichkeitsgetreu, manchmal als undefinierbare, abstrakte Konstrukte, die ich mir selbst nicht erklären konnte; ich porträtierte Rati und seine Freunde in allen erdenklichen Situationen, meinen Vater, wenn er in sich versunken Jazz hörte, ich zeichnete die Katzen von Nadja Alexandrowna und Tarik mit einem Straßenhund, die Hände von Babuda eins und die Haarklammern von Babuda zwei, während sie mir ein Gedicht von Verlaine in ihrer Übersetzung vorlas, ich zeichnete die endlosen Zypressen von Sololaki und die schiefen Holzbalkone der Häuser. Ich verehrte meinen Vater, ahnte aber schon von klein auf, dass er sich täglich fragte, ob es nicht besser für ihn gewesen wäre, auf die Gründung einer Familie zu verzichten. Mit Ausnahme der Stunden, die er mit seinen Büchern und seinen Formeln verbrachte, war er im Familienalltag überfordert. Er kam nicht darüber hinweg, dass meine Mutter ihn einfach so im Stich gelassen hatte, empfand ihren Tod als eine unerhörte Verhöhnung, als hätte sie ihm einen Strich durch die Rechnung machen wollen. Wegen ihr hatte er seine aussichtsreiche Stelle in Moskau aufgegeben, hatte den hellsten Sternen am Physikerhimmel und lauter künftigen Nobelpreisträgern den Rücken zugedreht, war in die Enge seiner Heimat zurückgekehrt und hatte sich damit abgefunden, statt die wahren Höhen der Quantenelektronik zu erklimmen, sich im verstaubten Zimmer der Akademie der Wissenschaften mit der jahrelangen Mitarbeit an Lexika und Handbüchern zu begnügen. Er hatte den Fehler begangen, sich in eine stets suchende und sich nie zufriedengebende Frau zu verlieben, für die der häusliche Alltag ein Grauen war. Er hatte es nicht gewagt, seine schwangere Frau allein zurückzulassen, hatte sie aber spüren lassen, dass eine Frau, die ihn Moskau und der Forschung überlassen hätte, mehr Freude an ihm, einem erfüllten Wissenschaftler, gehabt hätte. Er hätte mit seinem Doktorvater und Idol Prochorow, der 1964 den Nobelpreis für seine Arbeit auf dem Gebiet der Quantenelektronik erhalten hat, forschen und die Welt ein Stück besser machen können. Stattdessen war er zu einem Leben als Pantoffelheld verurteilt, der sein Potenzial als Wissenschaftler nicht einmal zur Hälfte ausschöpfen durfte und der seiner Rolle als Familienvater mehr schlecht als recht nachkam. Seine Abenteuer fanden in den Laboratorien und Forschungszentren statt, seine Ausflüge führten in die Welt der Bücher und Konferenzen, er interessierte sich nicht für das, was außerhalb seiner Theorien stattfand, das Leben erschien ihm wie eine trübsinnige Abfolge von Pflichten und Enttäuschungen, nur in seinen Formeln fand er das pure Glück, dort lag etwas verborgen, was entdeckt werden konnte, während das richtige Leben deprimierend vorhersehbar war.
Gern hätte ich meine Mutter gefragt, ob die Ehe und wir, ihre Kinder, sich für sie auch als eine Art Käfig herausgestellt hatten, und von ihr ein klares Nein als Antwort erhalten, aber ich fürchte, dass sie mir dieses Nein nicht in der erwünschten Deutlichkeit hätte geben können.
Es bleibt mir ein Rätsel, was Menschen, die so vollkommen unterschiedlich sind wie meine Eltern, dazu bringt, sich füreinander zu entscheiden. Ist es die Verliebtheit, die sie zu diesem irrationalen Abenteuer animiert, oder suchen Menschen im anderen im Grunde stets das, was sie selbst nicht sind und was sie selbst nicht besitzen?
Ich weiß nicht, ob meine Mutter diese offenen Fragen so umgetrieben haben wie meinen Vater, der einfach nicht fähig war, zuzugeben, dass es nicht für alles eine Erklärung gab, dass nicht für alles auf der Welt eine Lösung existierte. Denn hätten sie es sich eingestanden, hätten sie versucht, dieses betonharte Gerüst aus Vorstellungen und Erwartungen zum Einsturz zu bringen, dann wären sie vielleicht wieder frei gewesen, die zu sein, die sie waren. Dann hätte ich nicht meine gesamte Kindheit auf ein Zeichen von ihm warten müssen, ein Zeichen seiner Anerkennung, seiner Entscheidung für mich, für uns. Dann hätte mein Bruder vielleicht … Doch diese Gedanken sind eine Sackgasse, sie führen zu nichts.
Bis zu dem Zeitpunkt, als ich Dina und ihre Familie kennenlernte, wollte ich nur eins: den Erwachsenen keine Probleme bereiten. Dafür war mein Bruder zuständig, und das zerrte genug an ihren Nerven, führte so oft dazu, dass der Haussegen schief hing und ich alles tat, um einen gewissen Ausgleich herzustellen. Dazu gehörte, gut in der Schule zu sein, nichts anzustellen, was Ärger nach sich ziehen würde, und meinen Vater mit meinen kleinen Problemen nicht unnötig zu belasten. Daraus allerdings folgte, dass mein Vater in mir seinen kleinen Zinnsoldaten sah, der immer funktionierte, immer behilflich und generell dafür da war, ihm möglichst viel Freude zu bereiten. Ich hasste die Art, wie er mit mir umging – das automatische Tätscheln meiner Wange angesichts meiner guten Noten in Russisch, die aufbrausende Gereiztheit, wenn er mit mir Hausaufgaben machte und ich nicht, wie erwartet, alles sofort begriff, und das Staunen, wenn ich – selten genug – krank war und unfähig, mir abends mit ihm »Die Welt der Tiere« anzusehen. Für ihn war ich eine perfekt funktionierende molekulare Verbindung, während mein Bruder eine Art instabilen Atomkern darstellte, der alles zerstörte. Dass Rati genau gegen diese Erwartungen rebellierte, er sich um jeden Preis von unserem Vater abgrenzen wollte, kam Vater niemals in den
Sinn.
Bis ich Dina kennenlernte, wollte ich einfach nur durchs Leben kommen. Ich wollte mich an nichts verbrennen, ich wollte nicht zu viel hoffen und wollen, keine Höhen erklimmen, denn die Angst saß mir im Nacken. Und wenn ich träumte – und das tat ich oft und fiebrig –, dann immer im Wissen, dass es bloß Träume waren und nicht unbedingt dafür da, in Erfüllung zu gehen.
Der Tag, an dem Dina auch meine Existenz wahrnahm, kam recht bald. Ich war mit meinem Vater auf einer Geburtstagsfeier eines Kollegen gewesen, er hatte mich vor allem wegen des Vorwands mitgenommen, früher aufbrechen zu müssen, nun war es trotzdem spät geworden, es war dunkel und der Hof in einen erhitzten Sommerschlaf versunken.
Mein Vater ging zum Treppenhaus, aber ich wollte unbedingt die Wendeltreppe nehmen, bog in den Hof ein, und da sah ich sie. Sie saß auf den Stufen zu ihrer Kellerwohnung, hielt eine Taschenlampe in der einen Hand und leuchtete damit auf etwas, das sie in der anderen Hand hielt. Ich konnte nicht erkennen, was es war, und so verharrte ich einen Augenblick lang still, wie verzaubert. Sie war zu jung, um so spät allein im Hof zu sein, aber damals wusste ich noch nichts von den Freiheiten, die in ihrer Familie galten. Als sie mich weiterhin ignorierte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und steuerte auf sie zu, die Hände in den Taschen meines festlichen Kleides, das Oliko genäht hatte und das ich nur zu besonderen Anlässen trug. Plötzlich zückte sie ihre Taschenlampe und leuchtete mir ins Gesicht. So stand ich da, geblendet und ertappt, und war ihr eine Antwort schuldig.
– Ich wollte nur …, stammelte ich.
– Du wohnst doch da oben, oder?, fragte sie und senkte die Taschenlampe.
– Ja. Ich bin Keto. Aus dem Zweiten.
– Hallo, Keto aus dem Zweiten. Ich bin Dina aus gar keinem.
Sie lachte auf, und ich wunderte mich, denn dieses Lachen konnte unmöglich von einem Mädchen stammen, es hörte sich rau und dreckig an, wie ein Seemann lachte sie und bereitete mir Unbehagen.
– Komm, ich zeig dir was, Keto aus dem Zweiten.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, winkte sie mich zu sich, und ich nahm das Angebot dankbar an. Ich setzte mich auf die harten Stufen neben sie, und sie zeigte mir ein auf Karton geklebtes Bild. Ich konnte es erst nicht zuordnen, aber bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es eine sehr alte Schwarzweißfotografie war. Auf dem Foto waren drei junge Frauen zu sehen, alle in weißen Kleidern und mit langen Haaren, auch sie saßen auf Stufen wie wir zwei, nur waren die Stufen aus Marmor und das Haus im Hintergrund glich einem Palast: drei Engel in einer perfekten Welt.
Eine Weile starrten wir schweigend auf das Bild. Die Taschenlampe erleuchtete die Gesichter der Mädchen und verstärkte ihren überirdischen Eindruck.
– Die in der Mitte ist meine Urgroßmutter, kannst du dir das vorstellen?, sagte sie mit geheimnisvoller Stimme, und ich fühlte mich gleich um zwei Kopf größer, als wäre ich in ein Staatsgeheimnis eingeweiht worden.
– Sie war einmal eine Prinzessin, bis die Bolschewiken kamen, erzählte sie weiter in konspirativem Ton, und ich beugte mich automatisch etwas weiter zu ihr.
– Und sie war mit einem König verlobt, einem Scheich aus Persien. Er hatte sich in ein Bild von ihr verliebt, einfach nur ihr Bild gesehen und sich unsterblich in sie verliebt, kannst du dir das vorstellen?, fragte sie, als wollte sie prüfen, ob ich genug Vorstellungsvermögen besaß, um ihrer Fantasie folgen zu können.
– Aber dann verliebte sich auch ein russischer Graf in sie, und sie fingen einen Krieg wegen ihr an.
– Welchen denn?
Aus mir sprach mein Vater, dessen Stimme ich immer im Kopf hatte, sobald mir eine Information zweifelhaft vorkam. Ich brauchte Beweise.
– Wie, welchen?
– Na, welchen Krieg meinst du?, fragte ich.
Sie sah mich verblüfft an und überlegte einen Augenblick lang, ob sie mich schrecklich eingebildet oder schrecklich klug finden sollte; diese Reaktion kannte ich von Mitschülern. Ich bereute meine idiotische Frage bereits und wollte mich entschuldigen, um ihre Sympathie nicht sofort zu verspielen, aber sie kam mir zuvor und entwaffnete mich mit ihrer Ehrlichkeit.
– Ich habe dich reingelegt. Und die hier ist gar nicht meine Urgroßmutter, wir haben beim Umzug eine Schachtel voller Fotos gefunden, und sie sind alle so schön!, rief sie begeistert aus und blickte nach oben. Eine schwache Brise war aufgekommen und trieb dunkle Wolken über den vom Mond hell erleuchteten Himmel.
Ich ärgerte mich über meine Gutgläubigkeit und ihren blöden Streich, aber mein Ärger hielt nicht lange an, denn sie lachte wieder ihr hartes, kehliges Lachen und sprang plötzlich auf. Ich tat es ihr nach, war überfordert und verwirrt, gleichzeitig kam mir der Gedanke, dass man mich bereits suchen könnte, aber meine Neugier war stärker, ich konnte mich nicht von ihr trennen, noch nicht. Von ihr ging so viel Kraft aus, so viel sprudelnde Energie. Ich folgte ihr, und wir betraten den Garten, der mit einem niedrigen Zaun vom Rest des Hofes abgegrenzt war, ein kleiner viereckiger Platz mit Flieder- und Rosenbüschen, einem Pfirsich-, einem Maulbeer- und einem Granatapfelbaum und mit einem schmalen Holztisch, an dem die Männer gewöhnlich Backgammon spielten und an ihrem Wein nippten. Am Rand erhob sich eine stolze Zypresse, auch gab es eine verwahrloste alte Schaukel und eine krächzende Wippe. Obwohl ich den Garten wie meine eigene Westentasche kannte, kam es mir in jenem Augenblick so vor, als würde ich ihn zum ersten Mal betreten, wie ein verwunschenes Land auf einem unentdeckten Kontinent. Im selben Moment begannen die Bäume zu rascheln, die Brise wurde zu einem peitschenden Wind, am Himmel braute sich etwas zusammen, ein gewaltiges Sommergewitter kündigte sich an. Aber es machte mir nichts aus, ich spürte den Sog von etwas Großem, und es fühlte sich fremd und zugleich vertraut an. Sie hielt bei der Schaukel an und rief mich zu sich. Zuerst dachte ich, sie wollte von mir angeschubst werden, aber sie verlangte, dass ich mich auf das schmale Holzbrett setzte, und quetschte sich hinter mich. Sie nahm Schwung mit den Beinen, ging immer wieder leicht in die Hocke, und wir begannen hin- und herzuschaukeln, höher und höher, dem Wind entgegen. Ihr Gewicht drückte gegen meinen Rücken, ich spürte ihre Wärme, ihre Kraft, und ein neuartiges Gefühl breitete sich in mir aus: Ich fühlte mich unbesiegbar, in jenem Moment kam es mir so vor, als wären wir die Königinnen der Welt. Und vielleicht waren wir das sogar, vielleicht ermächtigte uns unser Wagemut dazu, unsere Freude darüber, dass wir uns gefunden hatten.
Wenn ich jemandem erklären soll, was mich mit Dina verband, was mich schließlich in sie hat eintauchen lassen wie in einen tiefen, unergründlichen See, dann beginne ich zu stammeln und verliere mich in Banalitäten. Ich habe es nie in Gänze erfassen können, auch wenn ich an manchen Punkten glaubte, der Wahrheit nahegekommen zu sein. Der Wahrheit über diese Freundschaft, die alles überdauert hat, sogar den Tod.
Und jetzt stehe ich hier in Brüssel und muss an dieses eine Foto von Lika denken, aus irgendeinem Grund habe ich es vor Augen, sicherlich ist es unter all den Exponaten hier mit ausgestellt. Lika, diese wunderbare Frau, ohne die ich nicht der Mensch wäre, der ich bin. Diese Frau, deren Abwesenheit hier und heute skandalös ist. Ihr gelocktes dunkles Haar, ihr breites Lachen. Auf dem Bild, das mir durch den Kopf geistert, sieht man sie barfuß auf einer sonnenüberfluteten Türschwelle stehen, sie scheint diese Sonne in sich zu tragen. Und genau so, wie ihre Tochter sie in der Aufnahme eingefangen hat, habe ich Lika immer gesehen – so voller Leben, so voller Wärme, so voller Gnade. Dieses ewige Hippiemädchen, diese Frau in den Latzhosen und Männerhemden, die auch in den bittersten Stunden ihres Lebens ein Lächeln für andere übrig hatte. Mich überkommt eine schreckliche Sehnsucht nach ihr, wie lange ist es her, dass ich mit ihr telefoniert habe? Wie ist die Lücke zu rechtfertigen, die ihre Abwesenheit in mein Leben gräbt? Ich bin wütend und sehe gleichzeitig ihre strahlenden Augen vor mir, wie sie auf dem Foto eingefangen sind. Wie alt ist sie auf diesem Bild? Ende dreißig? Anfang vierzig? Ich weiß es nicht mehr, für mich bleibt sie für immer jung, auch wenn sie schon längst ergraut ist und wegen der Gelenkschmerzen ihr Atelier, ihren Rückzugsort und ihre kleine Oase, hat aufgeben müssen und nun bei ihrer jüngsten Tochter und deren Ehemann, einem Bankier, irgendwo außerhalb der Stadt in einem großen Backsteinhaus wohnt und nie müde wird, sich mit mir über die Mühen und Tricks des Gärtnerns auszutauschen – eine weitere gemeinsame Leidenschaft neben unserem Beruf, den wir über die Jahre gemein hatten. Dieses Bild ist zum Niederknien, zum Verlieben, ich muss es unbedingt finden, muss mich erneut an ihm berauschen.
Lika, die Tochter einer einfachen Arbeiterfamilie aus Batumi, war vor allem eins: eine Frau des Meeres. Sie liebte die Leichtigkeit der sonnigen Nachmittage und die bunten Steine unter ihren Füßen, sie liebte sogar die ewige Feuchtigkeit ihrer Geburtsstadt, als wäre sie selbst aus Meeresschaum gemacht. Sie war eine Träumerin durch und durch, die, als ich sie kennenlernte, von den unzähligen Enttäuschungen und Ablehnungen des Lebens zwar ihrer Illusionen beraubt worden war, sich aber dennoch etwas von einem Mädchen bewahrt hatte, das sich immer wieder für Neues begeistern konnte, so als hätte sich ihr das Leben nur von seiner Sonnenseite präsentiert.
Ihre Eltern hielten nichts von den jugendlichen Träumereien ihrer Tochter. Als ehrbare Frau hatte man nach dem Schulabschluss zu heiraten und eine Familie zu gründen. Glück und Erfüllung vom Leben zu erwarten, schien ihnen nahezu ungehörig. Lika war sehr musikalisch verlangt, und als ihre Mutter sie zum obligatorischen Klavierunterricht schickte, ahnte sie nicht, dass sie ihrer Tochter damit eine Richtung wies, die ihren eigenen Vorstellungen vom richtigen Leben abgrundtief widersprach. Lika liebte das Klavierspiel, und da es zu Hause kein Klavier gab, blieb sie stundenlang in den kargen Räumen der alten Musikschule und übte und sang vor sich hin. Ihr Vater, der sogar das Schwimmen im Schwarzen Meer für eine sinnlose Zeitvergeudung hielt, schimpfte unentwegt mit seiner Frau, sie solle das Kind endlich zur Raison bringen und diese »Frivolitäten« ein für alle Mal unterbinden. Doch Lika hatte Glück: Sie traf auf eine Lehrerin, die ihr Talent förderte, ihre mehrere Oktaven mühelos auf- und absteigende Stimme lobte und ihr nahelegte, als Sängerin für ein Quartett vorzusingen, deren Mitglieder sie »reisendes Volk« nannte. Lika wusste zwar nicht, was genau die Lehrerin damit meinte, aber das Wort »Reisen« zog sie in seinen Bann und so erschien es ihr vollkommen gleichgültig, wohin sie ein Engagement führen würde – und für wie lang. In einem leeren Saal des Komsomolclubs gab sie ihr Bestes und ersang sich einen Platz in der bis dahin vierköpfigen Männerband, die aus drei Ukrainern und einem Georgier bestand und die auf diversen sowjetischen Passagierschiffen auftrat. Lika, gerade mit der Schule fertig geworden und – wie ich mir vorstelle – das blühende Leben, wurde vom Fleck weg engagiert und packte noch in derselben Nacht ihre Sachen. Selbstverständlich weihte sie niemanden aus ihrer Familie in ihr Vorhaben ein und ging das erste Mal an Deck eines Schiffes, das einer westdeutschen Reederei gehörte und auf dem sich westliche und zahlungskräftige Passagiere befanden, die einmal hinter den Eisernen Vorhang blicken wollten, indem sie das Schwarze Meer befuhren. Im Handumdrehen verzauberte sie mit ihren russischen Romanzen und georgischen Chansons die nach Exotik gierenden Passagiere bei ihren abendlichen Auftritten. Natürlich war auch ein Mitarbeiter des KGB mit an Bord, der das Treiben der sowjetischen Mitarbeiter und auch der Musiker mit Adleraugen überwachte. Zwar konnte er abwenden, dass sich die euphorische, aus der Enge ihrer traditionellen Familie entkommene Lika in einen Passagier aus Bonn oder Stuttgart verliebte und mit ihm eine abenteuerliche Flucht plante, aber dass sie sich in ein Bandmitglied, einen Geiger aus Odessa, verguckte, das konnte nicht einmal er verhindern.
Der Geiger, dessen Namen ich nie erfahren habe, war ein charmanter, dem Alkohol nicht abgeneigter Romantiker der alten Schule. Mit einem weißen Tuch um den Hals, Nadelstreifenhosen und einem imposanten Vorrat an russischen Liebesgedichten ausgestattet, die er zu jeder Tages- und Nachtzeit aufsagen konnte, verfügte er über eine unerschöpfliche Palette an Komplimenten, die jedes noch so vereiste Frauenherz zum Schmelzen bringen konnten. Umso einfacher muss es gewesen sein, Likas vollkommen unbeflecktes Herz höher schlagen zu lassen und sie schließlich zu erobern, die so junge Lika, die die Liebe nur aus Filmen und Büchern kannte und die sie sich folglich genau so vorstellte: im Sonnenuntergang auf einem Schiffsdeck stehend, angeheitert von ein paar Gläsern Krimsekt und einem herzbrechenden Poem lauschend, das ein vor ihr kniender Mann mit leuchtenden Augen deklamiert. Natürlich wurde sie schwach, natürlich gab sie nach, natürlich verlor sie jeden Plan, sollte sie je einen gehabt haben, und jedes musikalische Ziel aus den Augen und folgte ihm in seine Kajüte.
Und so hätte es noch jahrelang weitergehen können – tagsüber badete sie in den Komplimenten und der Bewunderung der Passagiere und nachts verfiel sie den schönen Liebesgedichten ihres galanten Geigers, der selbstverständlich schwor, bis an ihr Lebensende nicht von ihrer Seite zu weichen.
Als das Schiff für einen Tag im Hafen von Odessa anlegte und sie ihm, berauscht und glücklich, die Heimatstadt ihres Liebsten zu sehen, an Land folgen wollte, fiel ihr schnell sein merkwürdiges Verhalten auf. Er erfand Ausreden, erklärte, er könne ihr die Stadt leider erst beim nächsten Mal zeigen, und ließ sie mit den anderen Bandmitgliedern allein durch die Stadt irren.
Erst als das Schiff den Hafen am nächsten Morgen wieder verließ, wurde sie sich der ganzen Misere bewusst, denn der Geiger kam in Begleitung einer vollbusigen Frau in geblümtem Kittelkleid und zwei kleinen Jungs in Shorts zum Anleger, die wie dressierte Zirkustiere dastanden und so lange winkten, bis sie zu winzigen Punkten am Horizont verschwammen.
Ich will mir gar nicht vorstellen, welche Überwindung es Lika gekostet haben muss, in den darauffolgenden Tagen an der Seite des Übeltäters heitere Liebeslieder zu trällern. Aber Lika war schon immer – zumindest glaube ich, dass sie schon damals dieses wunderbare Talent besaß – in höchstem Maße professionell. Egal unter welchen Umständen und egal, was sie tat, sie tat es gewissenhaft und aus vollem Herzen.
Sie blieb auf dem Schiff und sang allabendlich sentimentale Lieder von der ewigen Liebe, aber die Inbrunst und der uneingeschränkte Glaube an diese Klänge fehlten, und alle Versuche ihres Geigers, sie milde zu stimmen und mit unzähligen Entschuldigungen und Beteuerungen wieder in seine Kajüte zu locken, blieben erfolglos. Lika war unbeirrbar konsequent. Und so nahm sie den unausweichlichen Eklat innerhalb ihrer Familie in Kauf und ging zurück nach Batumi, in der Hoffnung, sich bald an einer Musikschule bewerben zu können. Gesang sollte ihr weiteres Leben bestimmen; Gesang, aber keine musizierenden Männer mehr.
Die sich durch heftige Übelkeit ankündigende Schwangerschaft machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Der Geiger war fort, lebte in Odessa mit zwei Kindern in kurzen Hosen und einer unermüdlich winkenden Frau. Es war sinnlos, ihn überhaupt von der Schwangerschaft in Kenntnis zu setzen, aber ebenso illusorisch war, dass ihre Eltern das Kind gutheißen und ihr dabei helfen würden, einen Bastard großzuziehen. Sie würde es allein schaffen müssen.
Oft muss ich an Likas beeindruckende Geradlinigkeit denken. In den vielen Stunden an ihrer Seite in ihrem Arbeitszimmer, dem mir später so lieb gewordenen Ort, habe ich zu verstehen versucht, woher sie diese Kraft nahm, aber nie eine klare Antwort gefunden. Vor Lika kannte ich niemanden, der tagein, tagaus barfuß umherlief, eine Zigarette zwischen den Lippen, einen Bleistift in den Haaren, der laute Rockmusik hörte und dabei Aprikosen und Wassermelone aß. Sie vertiefte sich mit solcher Hingabe in das, was sie gerade tat, egal ob es das Kochen war, das Restaurieren oder ein Kartenspiel, das sie nicht selten mit ihren Töchtern spielte. Ihr Körper strahlte eine Ruhe und Zufriedenheit aus, die ich allerhöchstens von den Filmstars aus den »Ausländischer-Film«-Magazinen kannte. Weil es sie so wenig kümmerte, welchen Eindruck sie hinterließ, wirkte ihr chaotisches Erscheinungsbild umso begehrenswerter und sinnlicher. Sie war ganz sie selbst, etwas, das ihre ältere Tochter auf die gleiche instinktive Weise ausstrahlen sollte.
Lika entschied sich also für das Kind und packte erneut ihre Sachen. Eine Freundin von ihr hatte in Tbilissi einen Studienplatz bekommen und ein Zimmer in einem Wohnheim ergattert, dort würde sie fürs Erste unterkommen. Sie hatte auf dem Schiff etwas Geld zusammengespart, für den Anfang würde es reichen. Ihre Lehrerin hatte sie zwar an die Big Band des Technischen Instituts weiterempfohlen, eine über die Landesgrenzen hinaus bekannte Formation, die viel auf Tournee war, aber es erschien ihr wenig sinnvoll, dort vorstellig zu werden. In wenigen Monaten würde sie zu Hause bleiben und sich mit anderen Dingen beschäftigen müssen als mit Noten.
Wieder kam ihr der Zufall zu Hilfe. Sie begleitete ihre Freundin zu einer Feier eines Kommilitonen. Es war ein großes Haus, und der Garten stand voller Skulpturen, der Vater des Mitstudenten war ein in Ungnade gefallener Bildhauer, der sich mittlerweile auf Möbelrestaurierung spezialisiert hatte. Sie irrte im Haus umher und traf schließlich in einem zu einer Werkstatt umfunktionierten Zimmer auf einen wortkargen, etwas grimmig wirkenden weißbärtigen Mann und kam mit ihm ins Gespräch. Ihr Interesse ließ ihn aufblühen, und er begann, von seiner Arbeit zu erzählen. Bevor sie sich mitten in der Nacht auf den Weg zurück ins Wohnheim machte, fragte der Weißbärtige, ob sie ihm aushelfen wolle – er habe alle Hände voll zu tun und könne Unterstützung gebrauchen. Lika löste ihr Versprechen, in zwei Tagen ausgeruht und voller Tatendrang wiederzukommen, ein und erwies sich nicht nur als äußerst wissbegierig und fleißig, sondern auch als begabt. Sie legte eine beeindruckende Präzision an den Tag. Der Bildhauer verhalf ihr zu einem Meldeschein – er war einmal ein angesehener Mann mit einflussreichen Freunden gewesen, bis er eines Tages einen schiefen Lenin fabriziert hatte –, und Lika konnte bald ein eigenes Zimmer mit einem Gemeinschaftsbad in einem Hof im Bahnhofsviertel beziehen.
Mit dem Bauch wuchs auch ihr Können. Bis Dina auf die Welt kam, polsterte sie Stühle, behob Schäden an Holzoberflächen, reparierte Griffe, Scharniere und Schwenkrollen, kittete Risse und beizte Tische und Kommoden ab und gab dabei ihr russisches und georgisches Liederrepertoire zum Besten. Den Gedanken, dieses Handwerk einmal zum Beruf zu machen, wies sie vehement von sich, sie klammerte sich weiterhin an ihren Traum von einer Gesangskarriere. Sie musste den Absprung wagen, um eine bessere Ausgangslage für das Leben mit dem Kind zu schaffen. Und wie so oft setzte sie ihren Beschluss sofort in die Tat um. Der Bildhauer zeigte sich zwar bedrückt, aber dennoch verständnisvoll, und bot ihr an, jederzeit zurückkommen, sollte es mit der Musik doch nichts werden. Er schenkte ihr ein aus altem Holz gebautes wunderschönes Kinderbett.
Als meine es das Schicksal gut mit ihr, war kurz darauf eine Sekretärinnenstelle beim Staatlichen Radiosender ausgeschrieben, und obwohl sie keinerlei Erfahrung hatte, traute sie sich auch diese Arbeit zu – in der Hoffnung, so die nötigen Kontakte zu knüpfen, um am Ende wieder auf die Bühne zurückzukehren, dorthin, wo sie glaubte, zu Hause zu sein.
Die Freundin aus dem Wohnheim war die Einzige, die vor dem Krankenhaus wartete und die Korken knallen ließ, als Dina auf die Welt kam. Lika gab ihrer Tochter diesen ungewöhnlichen Vornamen, nach ihrem großen Idol Dinah Washington, deren Doppelalbum sie auf dem Kreuzfahrtschiff von einem heimlichen Bewunderer aus Stuttgart oder Kaiserslautern als Dankeschön bei dessen Abreise überreicht bekommen hatte.
Als Dina drei Monate alt wurde, gab sie sie in die Obhut einer Tagesmutter und kehrte zurück in den Sender, wo sie als Vorzimmerdame die verschiedensten Musiker herein- und herausließ. Sie hatte nicht mehr die Selbstsicherheit jener Tage, als sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Schiff bestiegen hatte, aber aufgeben kam ihr auch nicht in den Sinn. Sie sang gelegentlich bei Geburtstagen und zu Trinkgelagen in Privatwohnungen, wobei sie nicht selten von ihrer kleinen Tochter begleitet wurde, die irgendwann zwischen den Polstern der zahlreichen Sofas und Betten einschlief. Lika war süchtig nach Anerkennung und liebte es, verliebt zu sein, auch wenn sie sich nicht mehr kopflos in romantische Abenteuer stürzte. Und so wunderbar es war, sich mit ihr zu vergnügen, sich für kurze Zeit mit ihr in ein unkonventionelles Leben zu träumen, nach Hause brachte man eine Lika nicht, ein Mädchen ohne soliden familiären Hintergrund, mit einem unehelichen Kind und den leichten Sommerkleidern, die sie nicht selten ohne Büstenhalter trug.
Das Blatt versprach sich zu wenden, als bei einer solchen Feier ein älterer Herr auf sie aufmerksam wurde. Er sei im Konservatorium tätig, unterrichte Gesang und er erkenne eine »gute Stimme«, wenn er sie höre. Außerdem habe er Kontakte, sein engster Freund, Maxim, arbeite für die bekannteste sowjetische Plattenfirma »Melodie« in Moskau.
Wie später ihre Tochter konnte Lika eine unglaublich naive Wucht entfalten. Der Gesangsdozent lud sie ins vornehme Restaurant »Tbilissi« im Funicular-Park ein, und angetrunken und leichtmütig angesichts der sich ankündigenden großen Wende in ihrem Leben erzählte Lika ihm von ihrer Hoffnung, eines Tages nicht mehr im Vorzimmer des Senders sitzen zu müssen. Schon jetzt verehrte Lika diesen sagenumwobenen Maxim, schon jetzt war sie Feuer und Flamme und fieberte dem Tag entgegen, an dem er nach Georgien kommen und sich unweigerlich in ihre Stimme verlieben würde. Aber Maxim verschob seine Reise, der eifrige Dozent führte Lika weiterhin aus und fütterte sie mit neuen Illusionen. Lika misstraute ihren eigenen Hoffnungen, hatte aber Angst, den Dozenten zurückzuweisen, denn am Ende seiner Avancen winkte schließlich die Aussicht, dass der berühmte Maxim sie endlich an die Hand nehmen und sie dorthin führen würde, wo sie hingehörte, nämlich auf die
Bühne.
Da der Dozent nie später als zehn Uhr heimging und ihre Treffen nie in Privaträumen stattfanden, ging Lika davon aus, dass er verheiratet war, was sie einerseits beruhigte und sie zugleich in Alarmbereitschaft versetzte. Als er eines Tages nach einem der vielen Restaurantbesuche nicht wie gewohnt Richtung Heldenplatz abbog, sondern geradeaus nach Wake fuhr und vor einem Backsteinhaus hielt, fühlte sich Lika plötzlich elendig dumm. Sie betraten eine geräumige Wohnung mit einem Flügel.
– Mein Bruder wohnt hier, er ist mit der Familie in Sochumi, nun können wir endlich ungestört sein, sagte er und entkorkte eine Weinflasche. Sie saßen am Tisch, er erzählte etwas von seinen Studenten. Lika nippte abwesend an ihrem Wein. Natürlich würde kein Maxim kommen, natürlich hatte ihr Dozent niemals etwas anderes im Sinn gehabt als diesen Tisch, diesen Wein und dann das Bett, das sicherlich irgendwo in der Nähe auf sie wartete.
Als hätte man sie von Fesseln befreit sprang sie auf, ihr Stuhl kippte mit einem lauten Knall um, und sie wandte sich an ihren manipulativen Verehrer:
– Ich danke dir für alles, aber ich werde jetzt gehen.
Er sah sie entsetzt an, sein Gesicht verfinsterte sich, und er sagte den Satz, den Lika bis an ihr Lebensende nicht vergessen würde:
– Weißt du, was mich die vielen Restaurantbesuche und der viele Wein mit dir gekostet haben?
Und noch bevor sie etwas antworten konnte, hatte er sie bereits bei den Schultern gepackt, ihr das Kleid vom Leib gerissen und sie auf die Couch geworfen.
Nachdem ich die ganze Geschichte erfahren hatte, habe ich mich nicht getraut, Lika zu fragen, warum sie ein Kind, das ihr gewaltvoll und mit falschen Versprechen eingepflanzt worden war, behalten wollte. Ich weiß es nicht, und es spielt längst keine Rolle mehr, aber immer, wenn ich darüber nachdenke, bin ich unschlüssig, ob ich diese Entscheidung für eine unglaublich mutige Geste halten oder in ihr eine Art Mahnung sehen soll.
Sie behielt Anano und liebte die beiden Mädchen mit der gleichen Hingabe, dem gleichen Chaos und der gleichen Zerstreutheit, die ihrer Liebe innewohnten, und schenkte beiden die Freiheit, sie selbst zu sein.
Der Dozent entpuppte sich nicht nur als ein Vergewaltiger, sondern auch als feiger Verräter. Aus Angst, Lika würde sein Vergehen publik machen und sowohl seinen Ruf als auch seine Ehe ruinieren, redete er auf den Chef des Radiosenders ein. Der bestellte Lika einige Wochen nach dem Vorfall in sein Büro und verkündete ihr, es habe Kürzungen gegeben und sie müsse, falls sie weiterhin beim Radiosender arbeiten wolle, ins Archiv im Keller des Senders wechseln. Lika spuckte ihm ins Gesicht:
– Egal, was er dir erzählt hat, du deckst ein Monster und dadurch wirst du selbst zu einem.
Sie verließ das Gebäude des Radiosenders mit erhobenem Haupt, ohne dass es ihr jemals vergönnt gewesen wäre, durch die Glastür zu treten, vor der sie jahrelang gesessen hatte.
Nach der Geburt von Anano, mit zwei kleinen Kindern vollkommen auf sich allein gestellt und auf die Gnade einiger Freunde angewiesen, am tiefsten Punkt ihrer Verzweiflung, fiel ihr der weißbärtige Bildhauer ein, die Ruhe seiner Werkstatt, dieser Geruch nach altem Holz und Leim, und so rief sie ihn an und war unendlich dankbar, keinerlei Schadenfreude in seiner Stimme zu hören. Sie erzählte ihm alles, und in gewisser Weise spürte sie sogar so etwas wie Erleichterung, dass er ein Zeuge war, Zeuge ihres dummen Mitverschuldens dieses erneuten katastrophalen Scheiterns.
– Hör mich an, wir machen Folgendes: Ich bin kein guter Lehrer. Denn wäre ich einer, hätte ich dich ausreichend begeistern können und du wärst nicht weitergezogen. Aber ich kenne jemanden, der das kann, den Besten, niemand in Georgien ist so gut wie er. Leute aus der ganzen Sowjetunion kommen zu ihm. Ich rufe ihn an. Er wird dir alles beibringen, was man über Möbelrestaurierung wissen kann.
Und nur drei Tage später fing sie tatsächlich in der Werkstatt von Guram Ewgenidse an.
Komischerweise hatten sowohl Dina als auch Lika die meisten Namen aus ihren Erzählungen getilgt. Der Geiger war immer der Geiger und der Dozent blieb der Dozent, aber von ihm nannten sie immer Vor- und Nachnamen: Guram Ewgenidse wurde für Lika zu dem, der Prochorow einst für meinen Vater gewesen war. Heute glaube ich, dieser Mann war der Vater, den sie gerne gehabt hätte, und der erste Mann, der ihr ein Zuhause geboten hat, mit blinder Loyalität und einer Liebe, die keine Bedingungen stellte. Guram Ewgenidse hatte in Russland und Polen Restaurierung studiert und davon geträumt, alte Klöster in den kaukasischen Bergen zu restaurieren. Aber da die Erhaltung von Kirchen nicht die oberste Priorität des sowjetischen Staates darstellte, sah er sich gezwungen, etwas weitaus Profaneres zu tun, und er spezialisierte sich auf Möbelrestaurierung. Und mit der Zeit wurde er zur Koryphäe seines Fachs: Von Gründerzeittischen bis hin zu Schminktischen der Belle Époque – alles landete irgendwann bei Guram, und es gab fast nichts, was er nicht wiederbeleben, dem er nicht die verlorene Schönheit zurückgeben konnte.
Likas Erleichterung muss enorm gewesen sein, als er anfing, für all ihre »Absonderlichkeiten«, für die die Gesellschaft nichts als Verachtung übrighatte, Erklärungen und sogar Bezeichnungen zu finden. Er gab ihr Bücher zu lesen, die er zur Selbsterkenntnis für unerlässlich hielt – von Jung bis Burroughs, von Laotse bis Gurdjieff –, und machte vor jeder Arbeitsstunde Atemübungen. Er war höchstwahrscheinlich nur ein weltfremder Kauz, aber in der sowjetischen Realität kam er einem Verrückten gleich, ein Vegetarier zu einer Zeit, als man diesen Begriff noch nicht einmal kannte, den buddhistischen Lehren verpflichtet, ein Verfechter der Psychoanalyse und ein Archivar der Vergangenheit. Seine Frau Lilja, eine nicht minder verrückte Yogini und die perfekte Gefährtin dieses Außenseiters, die er auf einem heimlich abgehaltenen spirituellen Kongress in Baku kennengelernt hatte, schloss Lika genauso bereitwillig in ihr Herz. Gurams und Liljas Ehe war kinderlos geblieben, und diese Tatsache muss ihre Zuneigung zu Lika verstärkt haben. Ganz unerwartet – beide waren Ende sechzig, als Lika in ihr Leben trat – tauchte so spät noch eine Tochter auf, die sie sich vielleicht schon immer gewünscht hatten, und zeigte sich so wissbegierig wie ein Kind. Likas antrainiertes Misstrauen schwand mit der Zeit, sie zog mit ihren Töchtern bei den Ewgenidses ein und lernte, eine Nussbaumkommode richtig zu behandeln, die Nöte eines normannischen Hochzeitsschranks im Louis-quinze-Stil zu erkennen oder einem gustavianischen Küchenregal den einstigen Glanz zurückzugeben. Allerdings rührte sie nie wieder eine Gitarre oder ein Klavier an und auch ihre Singstimme blieb für immer in ihrem Körper verschlossen wie ein Flaschengeist. Sie betrachtete ihren Beruf nun nicht mehr als einen bloßen Nebenverdienst, in der Hoffnung, eines Tages die eigentliche Berufung leben zu können, sondern lernte, Respekt vor den Dingen zu haben, die ihr in die Hände fielen – eine Lehre, die einen nicht unwesentlichen Einfluss auf mein Leben haben sollte.
Als man nach fünf Jahren ihrer Zusammenarbeit bei Guram Ewgenidse einen Gehirntumor diagnostizierte und ihm allerhöchstens noch vier Monate Lebenszeit gab, wich sie nicht von seiner Seite. Er starb, wenige Tage nachdem er Lika zur Erbin seines Geschäfts gemacht hatte. Lika übernahm die Werkstatt, und die Mundpropaganda tat ein Übriges: Die Aufträge blieben nicht aus, Möbel wurden ihr zur Aufarbeitung sogar aus Tallin oder Budapest geschickt. Endlich konnte sie auch finanziell kurzzeitig aufatmen und engagierte einen Privatlehrer für ihre Töchter. Nur ihrer Entscheidung, sich von der Musik fernzuhalten, blieb sie treu, und so erhielten weder Dina noch Anano entgegen jedem sowjetischen Erziehungsideal Musikunterricht. Nach Liljas Tod, nur wenige Jahre später, verkaufte sie das alte, halb verfallene Domizil und zog in die Kellerwohnung in der Rebengasse. Sie hatte sich in den vielen Jahren bei den Ewgenidses so gut an Feuchtigkeit und Dunkelheit gewöhnt, dass sie ein ähnliches Schlupfloch als neue Bleibe auserkor. In einem der Zimmer richtete sie ihre Werkstatt ein, stattete sie mit den Werkzeugen ihres Meisters aus und hängte ein Porträt von ihm und seiner Frau an die Wand, ein Foto, das ich über viele Jahre an ihrer Seite sitzend, manchmal in ein reges Gespräch, manchmal in ein nachdenkliches, aber niemals unbequemes Schweigen vertieft, studierte, bis sich das Gefühl einstellte, ich hätte dieses alte Paar selbst gekannt.
Dina kam in meine Klasse, und auch wenn wir etliche Schulbänke voneinander getrennt saßen, spürte ich vom ersten Tag an die bereits so vertraute und doch so erschreckende Euphorie, die ich bei unserer ersten Begegnung empfunden hatte: als wäre sie kein gleichaltriges Mädchen mit denselben Problemen und Sorgen wie ich, sondern ein Versprechen von etwas Bedeutsamem. Sie grüßte mich im Flur, unterhielt sich aber während der großen Pause mit den anderen Mädchen der Klasse. Zu meinem großen Erstaunen hatte sie weder ein Problem mit den Streberinnen noch mit den Schönheitsköniginnen, weder mit Elitenachkommenschaft noch mit den Parias, die die letzten Reihen bevölkerten und sich in Unsichtbarkeit übten.
Wenige Tage nach Schulanfang saß ich im Naturkundeunterricht, das alte, zerfledderte Buch »Das Tor zur Natur« lag aufgeschlagen vor mir, und ich hasste sie bereits. Sie schien sich für alle anderen zu interessieren, für mich war sie verloren, bevor ich sie überhaupt gewonnen hatte – sie gehörte allen, die Exklusivität unseres Schaukelns besaß keinerlei Wert mehr. Ich brütete vor mich hin und nahm mir fest vor, sie im Vorbeigehen wenigstens anzurempeln oder, das wäre noch besser, vor ihren Augen zu stürzen. Aber dazu kam es nicht, nach der letzten Unterrichtsstunde fing sie mich noch im Klassenraum ab und fragte, ob ich sie begleiten wolle.
– Wohin?, fragte ich verwundert, mein Groll war noch nicht verflogen.
– Zum Friedhof.
– Zum Friedhof?
Ich verabscheute Friedhöfe. Der Totenmontag nach Ostern war der verhassteste Tag in meinem Leben. An dem Tag gingen wir immer zum Grab meiner Mutter, tranken dort Wein, legten rote Eier auf die Erde und zündeten Kerzen an. Ich stand meist herum, während Oliko geräuschlos weinte, Eter mit einem versteinerten Gesichtsausdruck in die Ferne sah, mein Vater in der Erde herumstocherte und sich betrank und mein Bruder fremde Grabsteine aufsuchte, um danach fortlaufend die Namen der Verstorbenen herunterzuleiern, als wäre das eine äußerst amüsante Beschäftigung. Ich wusste nicht, was ich empfinden sollte, ich hielt diesen Zustand schwer aus. Natürlich wusste ich, dass von mir Trauer und Bedrückung erwartet wurden, ich wusste, dass ich in die tragische Rolle eines mutterlosen Kindes schlüpfen sollte, und alles in mir begehrte dagegen auf. Meine Mutter war so früh aus meinem Leben verschwunden, dass mir nichts blieb als fremde Erinnerungen und Beschreibungen. Und so beneidete ich jeden, der mir voraus war. Sie alle besaßen etwas unheimlich Wertvolles – eine lebendige Erinnerung –, während ich mich mit Resten begnügen musste. Vor allem aber ärgerte ich mich über Rati, der es auch noch sichtlich genoss, das tragische Kind zu sein, das Kind, das von allen bemitleidet wurde, sobald man hörte, dass ihm die Mutter fehlte.
Und nun wurde ich von diesem eigenwilligen Mädchen, auf das ich ohnehin schon wütend war, aufgefordert, sie zum Friedhof zu begleiten.
– Was willst du da? Ich meine, wessen Grab willst du besuchen?, fragte ich.
– Das Grab meines Vaters, sagte sie sehr nüchtern, ohne jeden Anflug von Trauer, und für den Bruchteil einer Sekunde bewunderte ich sie für ihre erwachsene Art. Sie nahm mich an der Hand und zerrte mich hinaus.
– Komm einfach mit.
Damit war mein Urteil gesprochen, damit besiegelte sie etwas Großes, und schon wieder fühlte ich mich exklusiv, besonders.
Wir nahmen den Trolleybus und fuhren zum Hippodrom. Ich kam selten in die Neustadt, für mich war das wie eine halbe Weltreise, allein hätte ich mich damals nie so weit von zu Hause fortgewagt. Von dort liefen wir keuchend die leere und von Zypressen gesäumte Straße zum Friedhof Saburtalo hoch. Es war heiß und staubig. In meiner Erinnerung folgte ich ihr schweigend, während sie mich zielsicher durch die Stätten der Verstorbenen führte, durch dieses Labyrinth aus Namen, Geburts- und Sterbedaten, vorbei an vertrockneten oder frischen Blumen, namenlosen Erdhügeln und einfachen Holzkreuzen.
Irgendwann blieben wir vor einem niedrigen, verschnörkelten Zaun stehen, dahinter ein gepflegter Grabstein, auf dem frische Nelken lagen. Es war ein schlichter schwarzer Granitstein, nur der Name Dawit Pirweli und die Daten waren eingraviert. Er war nicht allzu alt geworden, was ihm natürlich sofort eine Aura des Tragischen verlieh. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, beobachtete sie aus den Augenwinkeln und bewunderte sie für ihre Gefasstheit. Sie ging kurz weg, kam mit einer Gießkanne zurück, goss einen Fliederbusch an der Seite, verteilte die Nelken und verlor sich in nachdenklicher Tüchtigkeit. Ich stand neben ihr in der prallen Junisonne und hatte keine Ahnung, warum sie mich zu solch einem intimen Ort mitgenommen hatte, aber die Tatsache, dass sie mich schon wieder in eine Art Geheimnis einweihte, schmeichelte mir ungemein.
– Wie ist er gestorben?, fragte ich, als mir das Schweigen irgendwann unangenehm wurde.
– Er war zu gut für diese Welt, erwiderte sie in dem gleichen sachlichen Ton. – Sein Herz ist explodiert. Bäm!
So!
Und sie versuchte, mit ihrer Hand eine Explosion zu imitieren. Ich war beeindruckt von dieser Erklärung und nickte andächtig. Natürlich war er der beste Vater auf Erden gewesen, denn zu solch einer wunderbaren Familie voller besonderer Frauen passte auch nur ein äußerst besonderer und ungemein sensibler Mann, der an der Gemeinheit der Welt zerbrechen musste.
Auf dem Rückweg zur Haltestelle, den wir zu Fuß zurücklegten, sagte ich, meiner Stimme Nachdruck verleihend:
– Du hast ihn bestimmt sehr geliebt.
– Ja, sehr, antwortete sie. Und zum ersten Mal mischte sich in ihre beherrschte Stimme Trauer. Dann, wie ausgewechselt, sagte sie in ansteckend fröhlichem Ton:
– Jetzt gehen wir ein Eis essen. Ich kenne ein Eiscafé nicht weit von hier, wo sie ganz besonders viele Schokoraspeln auf das Eis tun.
Ab diesem Tag waren wir unzertrennlich.
Erst zwei Jahre und etliche Friedhofbesuche später habe ich erfahren, dass Dina mit dem Mann, der unter dem Grabstein lag, nur den Nachnamen teilte und ihr leiblicher Vater, der Schiffsgeiger, höchstwahrscheinlich bei bester Gesundheit in Odessa lebte und von Dinas Existenz nicht die geringste Ahnung hatte. Als ich von dem Schwindel erfuhr, wütete ich für ein paar Stunden, schmollte und nannte sie eine Lügnerin, aber irgendwann war auch das vorbei, und ich erlag prompt wieder ihrem Charme, nachdem sie mir erklärt hatte:
– Die Toten freuen sich doch immer, wenn einer kommt. Den hat nie jemand besucht. Stell dir vor, du bist tot und keiner besucht dich.
Dagegen konnte ich nichts einwenden und ich gab mich geschlagen.