Читать книгу Das mangelnde Licht - Nino Haratischwili - Страница 12

Nene

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Sie ist nicht da. Meine Zweifel haben sich also bestätigt. Ich spüre Iras steigende Nervosität, die sie mit viel zu lautem Lachen und übermäßiger Nonchalance zu kaschieren versucht.

Die Türen sind geöffnet, die Mitarbeiter des Museums lassen die Menschenmenge mit einem höflichen Lächeln in den Saal strömen. Es riecht nach Puder, teuren Düften, nach schicken Lokalen, nach Flughafenboutique, nach mittäglichem Prosecco und nach exotischen Rasierwassern. Die Kellner in weißen Hemden und schwarzen Westen balancieren ihre Tabletts geschickt zwischen ihnen hindurch. In teure Stoffe gehüllte Damen küssen kunstaffine Herren auf die Wangen, Botschaftsangehörige schütteln eifrig Hände, EU-Kulturreferenten geben sich die Ehre und suchen in der Menge nach möglichen Kooperationspartnern für weitere Projekte, Sponsoren lassen sich feiern. Die Show muss weitergehen.

Nene ist nicht gekommen. Ira will diese Tatsache noch nicht wahrhaben, auch ich gebe die Hoffnung nicht auf, viel zu früh, viel zu spät, ich weiß es nicht, aber ich möchte nicht alle paar Sekunden zur Tür starren. Die Säle sind gefüllt, übervoll, das illustre Publikum strotzt vor Exklusivität und giert nach dem Spektakel. Die Kuratoren begeben sich in die rechte Ecke, wo ein kleines Podest aufgebaut ist. Mikrophone werden bereitgestellt. Eine Kakophonie babylonischer Unterhaltungen füllt die Räume.

Die Kuratoren beginnen. Ermüdende Reden und Danksagungen werden folgen, doch wir sind alle gut dressierte Pferde, wir kennen die Abläufe, niemand hat vor, sie zu stören. Wir sind geduldig, die großzügig gereichte, von irgendeinem georgischen Winzer gesponserte Weinauswahl lässt uns über diese Unannehmlichkeit hinwegsehen, den Gästen werden Gläser in die Hände gedrückt, ihnen wird nachgeschenkt. Ira weicht mir nicht von der Seite, auch wenn sie immer wieder Leute grüßt, manche von ihnen mit angedeuteten Küsschen auf die Wange, sie hat schon so viele Posten innegehabt, ihr berufliches Spektrum deckt so viele Bereiche und Orte ab, sie ist zu einer Art Galionsfigur geworden, genauso gefürchtet wie verehrt. Ich spüre ihre imaginär über mich ausgebreiteten Arme und fühle mich sicher. Ich habe bereits vom köstlichen Weißwein getrunken und lockere etwas die Zügel. Ich bin wild entschlossen, diesen Abend zu genießen – komme, was wolle. Anano schwirrt umher wie ein nicht mehr so junges Glühwürmchen, ihre mädchenhafte Art beeindruckt mich immer wieder aufs Neue, ihre Durchlässigkeit, ihre nicht gespielte Freundlichkeit, ihr aufrichtiger Stolz auf dieses Ereignis. Die Leiterin des Palasts der schönen Künste und somit Schirmherrin der Ausstellung eröffnet diese imposante Retrospektive und erzählt von ihrem dynamischen, international hochkarätigen Kultur- und Kunstzentrum, eine Hauptschlagader im Herzen der belgischen Kulturlandschaft, wie sie es nennt, vergisst auch nicht zu erwähnen, dass wir uns in einem Art-déco-Meisterwerk, in einem der größten architektonischen Schätze Brüssels befinden. Und obwohl der Palast auf seinen mehr als viertausend Quadratmetern schon Abertausende Konzerte, Ausstellungen, Theater- und Tanzaufführungen, Literaturveranstaltungen und Filmvorführungen erlebt hat, betont sie die Besonderheit dieser Schau. Sie spricht von einem persönlichen Anliegen und von ihrer Liebe zum Kaukasus und zu Georgien im Besonderen, nicht ohne ausdrücklich hervorzuheben, wie genau ihr Dinas Bilder als Brücke zur georgischen Kultur gedient hätten. Am Ende fügt sie mit übertriebenem Grinsen hinzu, man habe Dina Pirwelis Kunst zuliebe eine große Ausnahme gemacht und den Getränkeausschank in den Hallen erlaubt, denn georgischer Wein dürfe bei einer solchen Retrospektive nicht fehlen, sie bitte uns jedoch, achtsam zu sein und uns mit den Gläsern nicht zu nah an die Bilder zu begeben.

Ich höre ihr schon lange nicht mehr zu, stelle mir stattdessen Dina vor. Was würde sie denken, wenn sie heute hier wäre und sich all das dithyrambische Gerede über ihre Kunst und ihr Können anhören müsste, wie würde sie diese Lobeshymnen aufnehmen, würde sie unterscheiden können, wer sie wirklich feiert und wer sich bloß in ihrem Licht sonnt? Würde sie mich irgendwann kichernd wegzerren, sich ein Glas greifen und mit mir darauf trinken, dass all das nicht das ist, worauf es im Leben ankommt, denn das, was wirklich zählt, hätten wir ja schon längst gefunden?

Ira zupft an meinem Ärmel. Ich öffne die Augen, starre wieder zum Podest. Jetzt versuchen die Kuratoren, »die Magie« der Werke unserer toten Freundin zu erkunden, Worte für das zu finden, was keiner Worte bedarf. Sie erklären die Zusammenstellung, das breite Spektrum, das die Retrospektive abdeckt, die Vorgehensweise bei ihrer Auswahl, die chronologische Hängung, die sich an Dinas Leben und ihrem Werdegang orientiert. Das Persönliche in ihrem Werk, immer wieder fällt das Wort »radikal«, immer wieder spricht der Brite von der »Schonungslosigkeit, sich selbst und dem Betrachter gegenüber«, er erläutert auch ihre Eigenart, die Fotos mit – auf den ersten Blick – unverständlichen Titeln zu versehen, und welch tiefer Sinn hinter diesen Titeln in Wahrheit stecke. Sie bedanken sich abwechselnd bei dem weltweit gefeierten Kulturzentrum, bei der Gastgeberstadt, sie bedanken sich bei diversen Sponsoren, der Botschaft, die georgischen Strippenzieher sollen sich bloß nicht benachteiligt fühlen, das kleine Land darf hier nicht unterrepräsentiert sein, schließlich haben all diese Ausstellungsstücke in der einen oder anderen Form etwas mit diesem Land zu tun. Dann stellt der Museumsdirektor aus Rotterdam ein paar kunsthistorische Thesen auf, zwei Foucault-Zitate dürfen nicht fehlen, dann folgt irgendein Zitat von Helmut Newton. Thea, die georgische Kunstwissenschaftlerin in dem schwarzen Overall und den salatgrünen Pumps, darf eine kurze Einführung in die georgische Geschichte der letzten hundert Jahre zum Besten geben, wobei die Perestroika- und die Postperestroika-Zeit den Schwerpunkt ihres Vortrags bilden, denn diese Zeit sei der Rahmen des Œuvres und den Zuhörern solle es schließlich nicht an wichtigen Informationen und aufschlussreichen Eckdaten mangeln.

Wir, die Kinder dieser Zeit, lassen diese etwas trocken dargebotenen Abhandlungen über uns ergehen, als hätten die Begriffe wie »Unabhängigkeitskämpfe«, »Bürgerkrieg«, »niedergeschlagene Demonstrationen«, »Wirtschaftskrise« nichts mit uns zu tun, als würden wir diese Begriffe nur vom Hörensagen kennen, als hätten sie unser Leben nicht einmal gestreift. Der Botschafter, ein untersetzter Mann mit einer dichten Haarpracht, spricht auswendig gelernte Danksagungen, räuspert sich mehrfach und lädt anschließend zu einer Feier im Garten ein.

Dann darf auch Anano ein paar Worte sagen, aus irgendeinem Grund applaudieren ihr einige treue Gefolgsleute, kaum dass sie die Bühne betritt, und sie lächelt verlegen. Sie läuft rot an und braucht vor Aufregung eine Weile, um in ihrem charmanten, georgisch gefärbten Englisch von ihrer Schwester zu erzählen. Ira und ich hängen sofort an ihren Lippen. Ihre Rührung ist so herzzerreißend aufrichtig, und auch wenn sie längst eine Frau ist, die auf ihre zweite Lebenshälfte zugeht, für uns bleibt sie das Mädchen, das ständig um unsere Aufmerksamkeit buhlt, die ewig Kleine, die ewig Junge, die eine ungemeine Leichtigkeit umgibt. Dass ausgerechnet Nene sie hier im Stich lässt, wo sie Anano doch von uns allen am meisten bewundert und gemocht hat, erscheint mir in diesem Augenblick unverzeihlich.

Sie spricht von dem gnadenlosen Talent, mit dem ihre Schwester gesegnet war und das sich zugleich als Fluch herausstellen sollte, diese Obsession hinzusehen, so lange, so genau, bis man sich selbst auflöst und mit dem Objekt vor der Kamera verschmilzt. Sie spricht von ihrem ewigen Seiltanz in diesem Leben, das ihr alles abverlangt habe, gespannt zwischen dem Müssen und dem Wollen, und wie teuer ihre Schwester für die eigene Kompromisslosigkeit bezahlt habe. Anano versucht, den Besuchern nicht zu viel zuzumuten, es sind wohldosierte Informationen, eine Anekdote hier, eine Anekdote da. Das Schwere, das Unsagbare wird sie ganz den Bildern ihrer Schwester überlassen. Ganz unerwartet wendet sie sich plötzlich persönlich an uns, stellt uns als »Dinas Inspiration und ihren Halt« vor, alle Köpfe drehen sich zu uns um, suchen uns in der Menge. Ira lässt es sich gefallen, lächelt, lässt das Getuschel über sich ergehen. Ich dagegen könnte Anano umbringen, spätestens jetzt hat sie uns offiziell zu Exponaten erklärt, und ich kann davon ausgehen, dass wir nicht weniger begutachtet werden als die Bilder an den Wänden. Sie bedankt sich bei uns, sie bedankt sich für unser Kommen und betont, dass wir die Anreise nicht gescheut hätten, Ira aus Amerika und ich aus Deutschland, und spricht von Nene, als wäre sie unter uns – sie komme direkt aus Tbilissi –, und fügt hinzu: »Euer Hiersein bedeutet mir sehr viel, das wisst ihr hoffentlich.« Sie animiert die Anwesenden, im Anschluss im Garten »ausgiebig zu feiern, so wie es Dina gefallen hätte«, wünscht allen »viel Freude« und verlässt das Podest.

Es wird geklatscht, und unter dem aufbrandenden Applaus, in diesem Moment, erblicke ich sie. Ira hat sie noch nicht entdeckt, und ich bin froh, diesen Moment nicht mit ihr teilen zu müssen, so amüsiert bin ich, amüsiert und erleichtert, und ich will die Erste sein, die Ira diese späte Überraschung überbringt. Natürlich, ich hätte es mir denken können: Nene kommt zu spät, sie kommt immer zu spät, warum sollte es diesmal anders sein?

Ich bin auf einmal so gerührt, dass ich größte Mühe habe, nicht loszustürmen und sie hochzuheben, diesen Paradiesvogel, diese unübersehbare Erscheinung, diese weiche, zierliche Gestalt mit dem stark geschminkten Puppengesicht, dieses so trügerische Äußere – denn nicht einmal annähernd lässt sich erahnen, welch eine Urgewalt in dieser extravaganten kleinen Person steckt. Sie trägt ein ausgefallenes knallgelbes Wickelkleid, bestickt mit schwarzen Schwalben, sie präsentiert großzügig ihr imposantes Dekolleté, steckt in halsbrecherischen High Heels, betritt anmutig und zugleich gehetzt den Raum, als gehörte der ganze Palast allein ihr. Sie hält Ausschau, sie sucht ganz offensichtlich nach einem bekannten Gesicht, vielleicht sucht sie uns, ich will es glauben, sie taucht in diesen ohrenbetäubenden Applaus ein, als gälte er ihr, sie hatte schon immer ein gutes Händchen für Timing.

Ich versetze Ira einen leichten Stoß in die Seite und deute mit dem Kopf in Nenes Richtung. Ich sehe die Faust, die sich schlagartig um ihr Herz ballt, immer fester, immer heftiger. Sie presst ihre Lippen aufeinander, will nicht weinen, sie kann nicht weinen, Tränen sind etwas für kurzzeitige Erleichterung, aber die Erleichterung, die sie braucht, ist die eines ganzen Jahrhunderts, eines ganzen Lebens. Sie braucht eine Begnadigung, eine Befreiung, auf die sie seit über zwanzig Jahren wartet, und die Macht über diese Befreiung besitzt nur ein Mensch auf diesem Planeten, und dieser Mensch hat gerade den Raum betreten, in einem stechend gelben Kleid, und etliche Köpfe drehen sich zu ihm um. Jetzt bin ich die, die Ira stützt, ich bilde mir ein, ihr Herz klopfen zu hören, und schon ist sie ganz verschwunden, diese selbstsichere Senior-Partnerin aus Chicago mit ihrem stählernen Bizeps und ihren Designeranzügen. Stattdessen steht wieder die kleine Ira vor mir, das sich ewig sehnende Mädchen mit seinem pochenden und doch unsichtbaren Verlangen. Sie sieht uns. Und sie winkt, bevor sie ihr zartes und kokettes Lächeln lächelt und für den Bruchteil einer Sekunde ist alles wieder gut, alles wieder heil.

Nene und ich lernten uns unter einem Tisch kennen. Ich erinnere mich nicht mehr, auf wessen Hochzeit es war, ich weiß nur, dass sie groß und festlich war und fast die gesamte Nachbarschaft anwesend. Mein Bruder und ich wurden frisiert, herausgeputzt und von den Babudas mitgeschleift. Die Feier fand in einem Festsaal irgendwo am Stadtrand statt, die Tische schienen endlos und bogen sich unter den übereinandergestapelten Gerichten, die Menschen saßen so eng beisammen, dass keine Nadel dazwischengepasst hätte. Es wurde viel getrunken, die Trinksprüche waren laut und schienen niemals ein Ende zu finden. Die Braut trug ein bodenlanges weißes Kleid mit einer überdimensionalen Schleife, das mich damals dermaßen beeindruckte, dass ich auf der Stelle beschloss, möglichst bald zu heiraten, um auch solch ein Kleid tragen zu dürfen.

Wie oft bei solchen Festen hielten wir Kinder es nicht lange auf den Stühlen aus und begannen, die Umgebung zu erkunden. Die Kleinsten und Wendigsten von uns erforschten die geheimnisvolle Welt unter den festlich gedeckten Tischen und krochen in das Labyrinth aus Schuhen und Strümpfen. Auf einem dieser Streifzüge stieß ich mit dem Kopf gegen Nene Koridse. Wir sahen uns verwirrt an, im nächsten Augenblick mussten wir aber schon laut auflachen. Sofort war ich von ihrer fröhlichen und aufgeweckten Erscheinung eingenommen. Sie wirkte wie ein flauschiges Kätzchen mit ihrem blonden Haarschopf, den großen hellblauen Augen und den rosa Bäckchen. Sie trug ein grünes Kleid mit Rüschchen und eine gleichfarbige Schleife im Haar. Ihre winzige, rundliche Statur war beeindruckend biegsam, sie kroch in einem atemberaubenden Tempo durch die unzähligen Beinpaare. Später gingen wir zusammen vor die Tür und fütterten die Straßenhunde in dem verdorrten Garten. Es war schwer, Nene nicht auf Anhieb zu mögen. Sie zog eine Art wohlwollende Aufmerksamkeit auf sich und entlockte jedem, der sie ansah, ein rührseliges Lächeln. Zu ihrer Erscheinung wie ein Engel aus einem Renaissancegemälde kam ihre hauchige Stimme, als würde sie die Worte ausatmen und nicht sprechen, als wäre ihr jede Anstrengung fremd. Auch ihr Gang hatte etwas Luftiges, als würde sie die Füße nie ganz auf die Erde setzen.

Meine Freude war groß, als sie bei der Einschulung ein paar Bänke vor mir Platz nahm. Es dauerte etwas, bis mir bewusst wurde, dass es mit diesem Mädchen etwas Besonderes auf sich hatte und ihre Familie einen gewissen Ausnahmestatus genoss. Unsere Lehrerin senkte jedes Mal ihre Stimme, wenn sie den Namen »Nestan Koridse« aussprach. Und auch in den Reaktionen der anderen Erwachsenen erkannte ich eine Mischung aus Ehrfurcht, Angst und Respekt, wenn die Rede auf ihre Familie kam.

Eines Tages, vielleicht in der dritten oder vierten Klasse, entdeckte ich vor unserer Hofeinfahrt einen großen schwarzen Wagen, vor dem zwei ebenfalls schwarz gekleidete Männer mit Sonnenbrillen auf und ab gingen. Im Hof herrschte reges Getuschel, alle lehnten sich aus den Fenstern, und Zizo hatte sich sogar die Mühe gemacht, zu uns in den Laubengang zu kommen, von wo aus sie eine bessere Aussicht hatte. Irgendwann ging die Tür der Tatischwilis auf, und Dawit begleitete einen hochgewachsenen, bulligen Mann mit einem beeindruckenden Kreuz und einem monströs breiten Nacken hinaus zum Wagen, buckelte dabei mehrfach, als wollte er den Status des Mannes noch deutlicher zur Geltung bringen. Der bullige Mann trug eine schwarze Lederjacke, auf seinen Schultern lag ein weißes Handtuch, ein merkwürdiges Accessoire, dessen Funktion ich mir nicht erklären konnte. Er klopfte dem sich ständig verbeugenden Tatischwili kräftig auf die Schulter und verschwand dann hinter den getönten Scheiben seines Wagens. Den ganzen Abend und auch am folgenden Tag hörte man im Hof nur noch einen Namen: »Tapora«. Und ich folgerte, dass jemand, der so einen Namen trug, kein sonderlich sympathischer Zeitgenosse sein konnte. Beim Abendbrot ließ auch mein Bruder diesen Namen fallen und kam ins Schwärmen. Er wirkte wie euphorisiert, als hätte er Gott leibhaftig erblickt. Er hätte wahrscheinlich noch ewig weitergeredet, wenn mein Vater nicht irgendwann mit der flachen Hand auf die Tischplatte geschlagen und sich empört an Rati gewandt

hätte:

– Ist dir eigentlich klar, von wem du da redest? Und wie du von ihm redest? Haben wir dich so erzogen, dass du einen Halsabschneider und einen Dieb zu deinem Idol erklärst? Einen bis ins Mark kriminellen Mann?

– Was hat er angestellt, Papa?, wollte ich sofort wissen, aber erhielt stattdessen ein leise mahnendes »Pst« von einer der Babudas.

– Er hilft doch vielen Menschen!, rechtfertigte sich mein Bruder, und ich wusste nicht mehr, wem ich hier Glauben schenken sollte. – Zumindest ist er fair und kümmert sich um seine Gemeinde …

– Gemeinde, was für eine Gemeinde?, empörte sich Vater.

– Hast du den Verstand verloren? Dito Koridse ist also fair, habt ihr das gehört, habt ihr gehört, was mein Sohn so von sich gibt?

– Koridse?, fragte ich. Plötzlich ging mir ein Licht auf.

– Ist dieser Mann Nenes Vater?

– Nein, ihr Onkel, aber so gut wie ihr Vater, erläuterte mein Bruder.

– Dieser Mann ist ein Dieb … ein …, mein Vater konnte sich gar nicht beruhigen, und wie meist in solchen Situationen, wenn er dermaßen außer sich geriet, was nicht so häufig der Fall war, verstummten die ansonsten so redewütigen Babudas und überließen ihm das Feld zum Wüten.

– Er ist vielleicht ein Dieb, aber ein Dieb im Gesetz, das ist etwas anderes!, antwortete Rati trotzig und kippte hastig seinen Tee hinunter.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Begriff vor jenem Abend jemals gehört hatte, aber seitdem blieb er unauslöschlich in meinem Gedächtnis. Erst im Laufe meiner Freundschaft mit Nene sollte ich Einblick in die eigenartige dunkle Welt bekommen, in ihre Gesetze und Verhaltenscodes, und die Opfer zählen, die sie forderte. Ja, damals war es eine fremde, abstoßende Welt, bis sie irgendwann unsere eigene, scheinbar geordnete und friedliche Welt gänzlich unter sich begrub und ihre Gesetze für uns alle geltend machte. Ich mag damals nicht viel von dieser Welt verstanden haben, doch ich ahnte, dass es sich bei Dito Koridse, der von allen nur Tapora genannt wurde, um einen der mächtigsten und gefürchtetsten Schattenmänner der Stadt handelte. Später dann, als Jugendliche von dieser Welt bereits in Geiselhaft genommen, recherchierte ich und staunte nicht schlecht, dass der Begriff »Dieb im Gesetz« eigentlich aus der Lagerwelt der Gulags stammt, dass dieser Typus des sowjetischen Kriminellen durch die stalinistischen Repressionen entstanden und durch sie geprägt worden war. In der grausamen Gefangenenhierarchie des sowjetischen Lagersystems bildeten verurteilte Diebe mitunter die autoritärste Häftlingsgruppe und schienen prädestiniert, eine Art Verwalter- oder Aufseherfunktion auszuüben. Sie regelten den Lageralltag und stellten ihre eigenen Gesetze auf. Sie schufen eine Art Staat im Staat, eine Parallelrealität, die sich nach Stalins Tod auch außerhalb der Lager erstreckte und in der ausschließlich das »Diebesgesetz« herrschte, was mit der absoluten Ablehnung jeglicher Staatsstrukturen und jeglicher Zusammenarbeit mit Behörden einherging. Ihren Mitgliedern war es verboten, einer regulären Arbeit nachzugehen. Das illegal erwirtschaftete Geld – meist durch Raubüberfälle und Erpressungen – wurde in ein Obschtschak, eine Gemeinschaftskasse, eingebracht. Den kriminellen Autoritäten musste blind gehorcht werden, den »Ältesten« war es untersagt, eine Familie zu gründen, um möglichst unverwundbar zu bleiben. Die ungeschriebenen Diebesgesetze legten fest, dass Drogen und Prostitution als unwürdige Geschäfte galten, genauso wie einige Tattoos nur für bestimmte Ränge vorgesehen waren. Heute frage ich mich, wann eigentlich die goldene Ära dieser Schattenmänner begann, und komme zu dem Schluss, dass es in den 1970er Jahren, unter dem Breschnew’schen Sastoi, gewesen sein muss. Der Dämmerzustand der KP und die blühende Korruption boten damals einen idealen Nährboden für diese kriminelle Bewegung, deren Macht drei Dekaden andauern und die uns auf ihrem Höhepunkt in ihrer mutierten, pervertierten Form in einen urfinsteren, vorzivilisatorischen Abgrund hinabstoßen

sollte.

War es Nene oder mein Bruder, wer hatte mir von diesem Kislowodsker Treffen erzählt? 1979 soll im fernen Kurort Kislowodsk ein geheimes Treffen von allen namhaften Dieben und den Tschechowiks stattgefunden haben, bei dem die Diebe den korrupten Tschechowiks verordneten, zehn Prozent ihres Einkommens an sie abzuführen, als Gegenleistung erhielten sie garantierten Schutz. Bestimmt war es Nene, für sie war es schließlich normal, über derlei zu sprechen. Sie sprach von »Schodka« genauso selbstverständlich wie vom »Hurenkrieg« oder »Messerkuss«.

Je mehr der Staat an Respekt und Ansehen verlor, je deutlicher die Bürger Lügner, Ausbeuter und Manipulatoren für den Vater Staat am Werk sahen, je offensichtlicher die Ideologie zur Farce mutierte, und vor allem je mehr die Bürger die beständigste Bindung an den Staat verloren, nämlich die Angst, desto unaufhaltsamer rückte das »Diebesgesetz« in die gesellschaftliche Mitte. Sogar meine Großmütter hielten Menschen, die mit der Miliz zusammenarbeiteten, für »Ratten«.

Ich höre meinen Bruder durch die Zeiten toben. Höre ihn erbittert Argumente gegen meinen Vater aufbringen, höre die beiden sich streiten, nein, sie werden ihre Weltsichten niemals miteinander in Einklang bringen, ihre Werte werden sie niemals teilen können, und sie werden niemals aufhören, sich darüber zu empören.

– Im Gegensatz zu deinen Scheißpolitikern halten sie ihr Wort. Sie sind echte Männer, die keine leeren Versprechungen machen. Sie nehmen denjenigen etwas weg, die uns eh alle bestehlen, und teilen es fair auf. Sie lassen ihre Gemeinschaft nicht im Stich, wie es deine beschissene Obrigkeit tut! Für sie hat der Begriff der Ehre immer noch eine Bedeutung!, höre ich Rati meinen Vater anfahren. – Denn dein beschissener Staat, und das weißt du selbst, Papa, ist der größte Dieb von allen!

Nene wollte ihre ganze Kindheit lang ein Mädchen mit Rüschchen, Lackschuhen und flatternden Kleidern sein, mit funkelndem Schmuck und Nagellack, geliebt werden und gehätschelt. Sie lebte in einer dermaßen hermetischen Männerwelt, dass sie dem unbedingt etwas entgegensetzen wollte, etwas, das diesen Männern nicht zugänglich war. Von Nenes zu früh verstorbenem Vater habe ich mir nie ein richtiges Bild machen können. War er nun ein überzeugter Krimineller gewesen, oder stand er nur im Schatten seines übermächtigen Bruders? Offiziell hatte er in einer Tabakfabrik gearbeitet, inoffiziell führte er gewisse Aufträge seines omnipräsenten Bruders aus, der damals noch eine seiner unzähligen Haftstrafen absaß, aber vom Gefängnis aus schaltete und waltete. Und so oblag es Nenes Vater, geheime Botschaften zu überbringen, Geld bei Schuldnern einzutreiben, das Machtwort seines Bruders in diversen Konflikten und Streitigkeiten auszusprechen. Wir wussten, dass er Opfer eines dummen Konflikts zwischen zwei Handlangern von Tapora geworden war. Der junge Mann, der das grenzenlose Vertrauen zu seinem älteren Bruder mit seinem Leben bezahlte, hinterließ zwei Söhne im Alter von sechs und drei und eine schwangere Frau.

Tapora kam erst zwei Jahre nach diesem Ereignis frei, aber man erzählte sich, dass er den Mörder noch vom Knast aus brutal erledigen ließ: nackt und mit neun Stichen im Leib wurde er in einem Wald gefunden. Tapora kam frei und blieb. Ich weiß nicht, ob er es tat, weil er sich der Witwe und den Kindern seines Bruders gegenüber schuldig fühlte oder weil er durch den Tod seines Bruders in den Besitz einer Ersatzfamilie kam, wo ihm eine eigene schon wegen seiner Stellung verwehrt war. Er wurde zum inoffiziellen Familienvater der Koridses. Um diese Familie rankten sich schon immer Legenden, von denen eine besagte, dass Tapora bereits in Jugendjahren in Manana verliebt gewesen sei und dem Tod seines Bruders somit auch große Vorteile hatte abtrotzen können. Bis heute habe ich keine Antwort darauf, ob Manana sich ihrem Schicksal einfach ergeben hat oder ob sie dieses Leben tatsächlich für das richtige hielt und sich bereitwillig in die Obhut ihres umtriebigen Schwagers begab. Immer wenn ich an Manana denke, sehe ich diese große, schwerfällige, vollständig in Schwarz gekleidete Frau, die selten lachte, eher trübsinnig, meist bedrückt war und unter starken Migräneanfällen litt, die sie manchmal für mehrere Tage zur stummen Isolation in völliger Dunkelheit verdammten. Sie war bis aufs Mark konservativ und lehnte jede Abweichung von der Norm vehement ab. Ihre Gesichtszüge verrieten immer eine gewisse Müdigkeit, aber hinter dieser Maske verbarg sich etwas anderes, eine erschreckende Resignation. Ich hätte sie gerne als junges Mädchen gesehen, bevor das Leben sie mit den Koridse-Brüdern zusammengeführt hatte. Doch dank dieser unberechenbaren Titanen führte sie ein finanziell sorgenfreies Leben in einer großzügigen Wohnung und wusste, ihre Kinder würden niemals Not leiden und alles bekommen, was sie brauchten – mit einer Ausnahme: die Freiheit, das Leben zu leben, das sie leben wollten.

Ihre für sowjetische Verhältnisse palastähnliche Fünfzimmerwohnung in der Dzierżyński-Straße verfügte ironischerweise über einen Ausblick auf das ZK-Gebäude und einen abgeriegelten, wuchernden Garten, Manana konnte tschechoslowakische Kristallvasen und französisches Porzellan ebenso sammeln wie Goldschmuck aus dem Petersburg der Zarenzeit, Pelzmäntel aus dem Moskauer Kaufhaus GUM und Schuhe aus Italien. Sie erhielt tägliche Lieferungen von frischen Nahrungsmitteln vom Land, damit sie niemals ihren Fuß auf den Basar oder in einen mickrigen Gastronom setzen musste. Und wenn sie mit ihrer Familie Urlaub machte, dann keineswegs an der georgischen Schwarzmeerküste, sondern an den goldenen Stränden Bulgariens oder an der Ostsee in Estland. Aber der Preis für all diese materiellen Güter und Privilegien war die Aufgabe jeder Form von Selbstbestimmung.

Guga, der ältere der beiden Brüder, war zu einem ängstlichen, schreckhaften Jungen herangewachsen. Trotz seiner Größe und der breiten Schultern war er ein eher langsamer Zeitgenosse, der gern aß und Fußball guckte. Er musste männlich sein, dominant, kämpferisch, er musste dauernd die ominöse Familienehre verteidigen und das Wort seines Onkels achten und befolgen. Als er sich mit fünfzehn Jahren weigerte, seine Unschuld bei einer Prostituierten zu verlieren, weil er seit geraumer Zeit unsterblich in Anna Tatischwili verliebt war, drohte ihm sein Onkel mit einer Tracht Prügel, falls er sein »schwules Verhalten« nicht umgehend seinlasse, und erntete obendrauf auch die Verhöhnung seines Bruders, der bereits mit zwölf von seinem Onkel »zum Manne« gemacht worden war.

Während Guga sich also in Zurückhaltung übte und Nene die liebevolle Tochter gab, die immer handzahm war und großer Wärme und enormen Zuspruchs bedurfte, die unentwegt versuchte, ihren zornigen Onkel zu besänftigen, war der drei Jahre jüngere Zotne aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er war sehr schlank, etwas kleiner geraten als sein älterer Bruder, sein Gesicht wirkte schon in jungen Jahren erwachsen, und anders als seine beiden Geschwister hatte er nichts Verträumtes an sich. Nie habe ich in ihm den attraktiven Mann sehen können, wegen dem alle möglichen Mädchen des Viertels reihenweise in Ohnmacht fielen. Seine durch eine Narbe zweigeteilte Augenbraue, seine meerblauen Augen (nur die Augenfarbe hatten alle Koridse-Geschwister gemeinsam), sein kahlrasierter Kopf und seine nervöse, fahrige Art ließen mich schon als Kind auf Distanz gehen. Mit sieben fluchte er bereits wie sein Onkel und mit zwölf erpresste er andere Jungs aus der Parallelklasse und kassierte Geld von ihnen ein. Er galt als kaltblütig und furchtlos – die besten Voraussetzungen, um in die Fußstapfen seines Onkels zu treten. Seiner Mutter war die Freundschaft mit bestimmten Frauen untersagt, Frauen, deren Männer in den staatlichen Institutionen arbeiteten. Nur in den Phasen, in denen Tapora abwesend war, konnte Manana ihren eigenen Bedürfnissen nachgehen. Dies währte jedoch nur so lange, bis Zotne anfing, Tapora regelmäßig Bericht zu erstatten, und Mananas Gefängnis noch enger und trister wurde.

Während Manana jeglichen Konflikt mit ihrem jüngeren Sohn vermied und Guga sich vor seinem Bruder fürchtete, zog Nene nicht selten gegen Zotne in den Krieg. Sie stritten sich bis aufs Blut, wie zwei Tiere, die vor Rage nichts und niemanden mehr um sich herum wahrnahmen. Ich habe über die Kraft der kleinen, auf den ersten Blick so harmlos wirkenden Nene nicht selten gestaunt. Heute weiß ich es besser. Niemals hätte man eine solche Wucht, eine solche Raserei hinter diesem Unschuldsgesicht vermutet, so viel geballte Energie und so viel Wut in diesem zierlichen Körper erahnt, so viel Entschiedenheit. Aber Nenes Tobsuchtsanfälle wechselten sich mit Resignation ab, die uns nicht minder ängstigte. Nicht selten hörten wir von Nene Sätze wie »Das hat doch keinen Sinn« – »Ich kann sowieso nichts machen« – »Das wird sich niemals ändern«. Die Art, wie sie diese Sätze aussprach, machte uns alle betroffen, am meisten aber sorgte sich Ira; Ira, die ab dem Tag, an dem sie sich Nenes Zuneigung sicher war, nicht anders konnte, als sie anzuhimmeln.

Anfangs amüsierte sich Nene über Iras übermäßige Fürsorge, mit den Jahren wurde sie zu einer Notwendigkeit und einer Bürde zugleich. Ira, so paradox es auch erscheinen mag, die Rationalste und Bedachteste von uns allen, konnte nicht anders, als zu glauben, dass man Nene vor sich selbst und ihrer Familie schützen müsse, und sie übersah dabei, wie sehr Nene allen Widersprüchen und Problemen zum Trotz zu sehr Teil ihrer Familie war, als dass sie sich hätte von ihr abnabeln können. Nene aber war dieser Zwiespalt. Und so ist es bis heute geblieben, davon bin ich überzeugt. In diesem Widerspruch findet ihr Leben statt. Schon immer überschritt sie den einen Tag Grenzen, um am nächsten Tag wieder freiwillig in den goldenen Käfig ihres für sie vorgesehenen Lebens zurückzukehren. Das begriff ich, das begriff Dina, nur Ira war bis zuletzt unfähig, das zu akzeptieren, und wehrte sich, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Ob sie sich dieser Erkenntnis auch jetzt, wo sie Nene gegenübersteht und umgeben ist von all den Schwarzweißbildern, immer noch verweigert? Ich hoffe, sie hat gelernt, mit diesem Widerspruch zu leben.

Schon in der Grundschule freundeten Nene und ich uns an. Zunächst war es eine flüchtige, eher beiläufige Freundschaft, die auf keinerlei Verbindlichkeiten beruhte. Wir suchten die Nähe der anderen, da wir uns grundlos, wie damals auf der Hochzeit unter dem Tisch, auf Anhieb sympathisch waren, aber wir erwarteten nichts voneinander. Wir luden uns gegenseitig zum Geburtstag ein, bei Klassenfahrten saßen wir im Bus oft Seite an Seite und kicherten, in den Pausen alberten wir herum, verabredeten uns aber nicht außerhalb der Schule. Die meisten Eltern warnten ihre Kinder davor, den Koridse-Kindern zu nahe zu kommen, sie alle fürchteten die Unberechenbarkeit dieser Nähe. Ich weiß nicht mehr, wie lange Dina, Ira und ich bereits unzertrennlich waren, als Nene auf uns zukam und etwas sehr Merkwürdiges fragte:

– Könnt ihr mir bei einer Sache helfen?

Sie hatte sich direkt an Dina gewandt, als hätte sie gewusst, dass sie diejenige war, die man von uns dreien als Erste überzeugen müsste.

– Klar, schieß los!, antwortete Dina und blies ihr eine rosa Kaugummiblase ihrer Lieblingsmarke »Donaldo« ins Gesicht. (Der Geruch steigt mir sofort in die Nase, dieser künstliche, süße Geruch …)

– Wir müssen meinen Bruder ablenken, damit meine Mutter eine Freundin treffen kann, sagte Nene dann.

Ira zog die Augenbrauen hoch, wie immer, wenn sie etwas hörte, was ihre berühmte Skepsis wachrief. Dina sah Nene einen Augenblick ungläubig an, dann warf sie den Kopf in den Nacken, lachte auf ihre tiefe, kratzige Art und rief begeistert aus:

– Klar, machen wir, was ist der Plan?

Der Plan bestand darin, Zotne aus der Wohnung zu locken, damit Nenes Mutter sich ungestört mit einer ihrer bei Tapora in Ungnade gefallenen Freundinnen treffen konnte. Nene schlug vor, wir sollten zu zweit zu ihr nach Hause gehen und Zotne bitten, rasch mitzukommen, da Nene hingefallen sei und man sie stützen müsse. Derweil könnte Manana ungesehen das Haus verlassen und sich mit ihrer Freundin treffen, ohne von ihrem Sohn ausspioniert zu werden.

– Wieso muss sich deine Mutter denn vor deinem Bruder verstecken?

Ira stellte die Frage, die uns allen auf der Zunge brannte. Es wollte keiner von uns einleuchten, warum eine erwachsene Frau irgendwelche Verbote von ihrem pubertären Sohn auferlegt bekam. Ira trottete uns zwar hinterher, aber man merkte ihr an, dass sie die Idee überhaupt nicht billigte.

Ich erinnere mich noch an die verblüfften Gesichter meiner beiden Freundinnen, als uns Zotne die Tür öffnete. Der große holzgetäfelte Flur, der endlose Korridor, der sich unseren Blicken öffnete, die fünf Meter hohe Decke, all das versetzte Ira und Dina in Staunen. Ich kannte die Wohnung bereits von Nenes Geburtstagsfeiern, aber auch ich war jedes Mal beeindruckt, wenn ich sie betrat. Niemand von uns hatte solche Wohnverhältnisse.

Jahre später, als die Dämme brachen, als die Lichter erloschen, als Menschen und Hunde wie an Tollwut erkrankt zornig und nach Beute suchend durch die Straßen zogen und gelernt hatten, die Schüsse zu überhören, da sagte Dina zu Ira und mir, wie makaber es doch sei, dass ausgerechnet diese schier endlosen Zimmer und Flure, diese kolossalen Räume, vollgestellt mit so viel Luxus, das größte Gefängnis darstellten. Und weder Ira noch ich konnte etwas erwidern, und wir versanken stattdessen in ein von Grübeln über allerlei Nöten und Entbehrungen geplagtes Schweigen, das einsam machte, weil die Nöte und Entbehrungen, sosehr sie sich auch ähnelten, jede Einzelne von uns so unterschiedlich beanspruchten.

Damals aber stand der drahtige Zotne selbstbewusst vor uns, mit rasiertem Kopf und der markanten Narbe, mit einem Stück Brot in der Hand und vollem Mund und sah uns verdutzt an.

– Was gibt’s?, fragte er und warf einen verächtlichen Blick auf Dina, die sofort vorpreschte:

– Deine Schwester ist hingefallen, du musst sie von der Schule abholen, sie humpelt, erklärte Dina und versuchte, ihren Worten Nachdruck zu verleihen, indem sie finster guckte.

– Was hat sie denn angestellt, die blöde Kuh?

– Hingefallen ist sie, hast du was mit den Ohren?

Das war Iras Stimme aus dem Hintergrund, und ich wunderte mich über ihre Entschiedenheit. Ira, die ihr Leben lang nur Zuschauerin gewesen war, schritt auf einmal zur Tat, und diesmal war ich mir sicher, dass es nichts mit Dina zu tun hatte. Irgendwas hatte Nene in ihr ausgelöst, irgendeine zärtliche Fürsorge, irgendein unterdrückter Instinkt war in ihr erwacht, und ich war mir nicht sicher, wie dieses Zeichen zu deuten war.

– Du solltest wissen, wie man mit einem Erwachsenen redet!, fuhr Zotne sie an, und wir wunderten uns, mit welcher absurden Selbstverständlichkeit er sich für erwachsen hielt. Und ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, brüllte er durch den ganzen Flur: – Guga, komm sofort her, du musst Nene von der Schule abholen!

Er verschwand, die Tür offen stehen lassend. Diese Möglichkeit hatten wir nicht bedacht. Ich spürte Panik in mir aufsteigen, Ira zuckte zusammen, und Dina sah uns beide erschrocken an.

– Was machen wir jetzt? Oh Mann, das hätte Nene doch wissen müssen, dass dieser Idiot seinen Bruder vorschickt, flüsterte ich. Wir durften die neu gewonnene Freundin nicht enttäuschen, nicht gleich bei der ersten großen Aufgabe, mit der sie uns betraut hatte.

Plötzlich tauchte der stämmige Guga in der Tür auf. Er sah so anders aus als sein kleiner Bruder, trotz der unbestechlichen blauen Koridse-Augen, deren Strahlkraft man kaum aushielt. Doch dort war kein Fünkchen Groll, nur vollkommene Offenheit, als könnte er die Welt nicht anschauen, sondern als fiele sie in ihn hinein. Er sah sich verwirrt um und lief rot an, als er uns sah.

– Geh mit ihnen und hol Nene schnell nach Hause, wies Zotne seinen Bruder an und schluckte den Rest von seinem Brot hinunter.

– Ist was passiert?, fragte Guga verschreckt.

– Nein, nichts Schlimmes, nur sie kann nicht richtig auftreten, murmelte ich verlegen und fühlte mich wie die größte Versagerin der Welt.

– Klar, klar, ich komme mit, antwortete Guga und begann, sich die Schuhe anzuziehen.

– Nein, du sollst sie abholen, sagte auf einmal Ira und trat einen Schritt nach vorn in die Wohnung. Wir sahen sie überrascht an. Es war eine andere Ira als die, die wir kannten. Sie stand da wie eine kleine Amazone und wollte um jeden Preis kämpfen.

– Wieso denn das?, wollte Zotne wissen.

– Sie ist nicht einfach so gestürzt. Sie wurde geschubst, kam von Ira wie aus der Pistole geschossen.

– Geschubst? Welcher Bastard hat denn meine Schwester geschubst?

Zotnes Ton änderte sich. An die Stelle von gleichgültiger Arroganz war aggressive Besorgnis getreten.

– Ja, irgend so ein Junge halt, und sie will, dass du ihm eine Lektion erteilst.

In Dinas Augen blitzte Anerkennung auf. Ira war gelungen, was uns beiden nicht geglückt war: Sie hatte in Sekundenschnelle erfasst, welche Sprache Zotne verstand. Sie hatte dieses phänomenale Gespür für die Schwachstellen der Menschen. Wie ein Seismograph nahm sie die Schwingungen wahr, die von den Ängsten und Träumen der Menschen ausgingen, ihre Bedürfnisse und Nöte. Dieses Talent hat sie wahrscheinlich zu der Frau gemacht, die nun neben mir steht, gewohnt zu bekommen, was sie will. Aber bei einem Menschen funktionierte es nicht, bei einem Menschen schlug ihr Sensor nicht an, und dieser Mensch war die verträumte, unstete und ewig nach Zuneigung gierende Nene.

– Du kannst hierbleiben, Guga, ich mach schon, der Bastard wird es gleich bereuen …

In Windeseile hatte sich Zotne angezogen und lief vor uns die Treppen hinunter, den verwirrten Guga auf der Türschwelle zurücklassend.

Wir waren zufrieden, fast glücklich. Wir hatten einer erwachsenen Frau die Flucht ermöglicht. Wir waren die Helden und hatten den Bösewicht ausgetrickst. Wir flogen die Dzierżyński-Straße hinunter, uns an den Händen haltend, während der Bösewicht in die Irre geführt wurde, wir wurden mit jedem Schritt leichter, wir würden gleich abheben, über die sonnigen Dächer und die stämmigen sattgrünen Zypressen fliegen, über Zäune und Balkone hinweg, über kopfsteingepflasterte Straßen und parkende Autos, über die Backgammon spielenden alten Männer und streitenden Nachbarinnen, über bellende Hunde und sich sonnende Katzen, über unsere immer winziger werdende Stadt. Wir waren unbesiegbar, die Zeit brach Stück für Stück, bröckelte wie Putz von der Wand, sie spielte keine Rolle mehr, wir hatten von nun an eine eigene Zeitrechnung und folgten ihr unbeirrt wie einem Kompass. Und wir ahnten in der Vollkommenheit dieses Moments nicht, dass unsere Welt bereits im Begriff war zu zerfallen. Wir ahnten nicht, dass unser größter Schutz, unser Schneckenhäuschen Kindheit, bald von uns abfallen würde und wir den neuen Zeiten vollkommen nackt ausgeliefert wären, uns in einer neuen Welt wiederfinden würden.

Wir flogen weiter und wollten von alldem nichts wissen.

Das mangelnde Licht

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