Читать книгу Das mangelnde Licht - Nino Haratischwili - Страница 14

Leica

Оглавление

Wie treu sie sich geblieben ist, denke ich und atme ihren Duft ein, ich halte sie im Arm, lasse sie nicht los, spüre, wie Iras nervöser Blick in meinem Nacken brennt. Ira weiß nicht, wohin mit sich, mit ihrem Körper, sie ist ihr ausgeliefert, auch heute noch. Nenes Körper dagegen ist nach drei Kindern, nach, nun ja, nach wie vielen Männern eigentlich, es müssen einige gewesen sein, nach gewonnenen und verlorenen Schlachten, die jeden Söldner vor Neid hätten erblassen lassen, noch immer prall, rund, glatt, die Haut zart. Sie duftet noch immer so pudrig, ihre Haare trägt sie noch genauso kunstvoll zusammengebunden, ihre Hände sind genauso lebhaft, wild gestikulierend. Ich liebe sie für diese Beständigkeit, auch wenn ich weiß, welch unermesslichen Preis sie dafür gezahlt hat, so viele Male hätte sie die Abzweigung in eine andere Richtung nehmen können, zu einem anderen Ich, mit dem es sich leichter hätte leben lassen, aber anders als Ira, anders als ich, hatte sie sich dagegen entschieden.

Ist sie allein nach Brüssel gekommen, wo sind ihre Söhne, wie geht es ihr? Ich will alles wissen, auf der Stelle, ich frage mich, wie es sein kann, dass ich es so lange ohne diese Antworten ausgehalten habe. Doch löse ich mich von ihrem so vertrauten Körper und überlasse Ira das Areal, gebe den beiden die Möglichkeit, sich zu begrüßen.

Nenes Gesicht hat sich verändert, nur eine Nuance, ihre Familie hat sie zu einer Expertin fürs Maskentragen gemacht. Sie konnte schon immer lächeln, auch wenn ihre Welt den Abgrund hinunterrollte. Sie bleibt auch jetzt höflich, zugewandt, und doch merkt man, wenn man genauer hinsieht, wie sich die zu einer schmalen Linie gezupften Augenbrauen zusammenziehen und sie die Nase leicht rümpft, wie sie schluckt und ihr Lächeln langsam gefriert. Aber ihre Augen bleiben klar, kein Vorwurf ist zu sehen. Sie will signalisieren, dass sie in Frieden nach Brüssel gekommen ist und bereit ist für diese Begegnung, mit dem Wunsch, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

– Hallo Ira, sagt sie nur und stellt sich etwas auf die Zehenspitzen, beugt sich nach vorn, drückt Ira einen Kuss auf die Wange. Ira ist stocksteif, wie damals, trotz der endlosen Stunden im Fitnessstudio ist sie eine Gefangene ihrer Überforderung, ihrer Angst und ihrer Sehnsucht zugleich. Nach dem Kuss weicht Nene sofort zurück, ihr Friedensangebot soll keinen falschen Eindruck erwecken, denn nichts ist vergessen. Sie hat ihr nicht verziehen, sie spielt nur die gnädig Vergebende, weil es anders nicht möglich wäre, hierherzukommen, um mit uns dieses Fest zu feiern und unserer toten Freundin die Ehre zu erweisen.

– Ich bin sehr froh, dass du gekommen bist, murmelt Ira.

Ich würde ihr so gern helfen, vor wenigen Minuten noch war sie das selbstsichere Raubtier, die Staranwältin, jetzt kann sie kaum die Contenance wahren, muss es hinnehmen, zurückgewiesen zu werden.

– Wie hätte ich denn nicht kommen können, sagt Nene und sieht mich bedeutungsvoll und mit entwaffnendem Lächeln an. Unter ihren Augen entdecke ich neue Lachfalten, die unter der dicken Make-up-Schicht durchscheinen, das Alter verleiht ihr eine andere Form von Anziehungskraft, eine Art schlummernde Erotik. Das Angriffslustige, leicht Vulgäre scheint aus ihren Bewegungen und ihrer Mimik verschwunden, sie ist bei sich angekommen, nein, sie hat sich nie von sich entfernt, ich begreife es auf einmal: Sie hat keine Angst mehr, sie hat sie überwunden, hat sie hinter sich gelassen, und das macht sie so attraktiv. Wieder schmerzt es unerträglich, wieder erscheint es mir unerhört, von diesen Entwicklungen, von all ihren Befreiungsschlägen nichts mitbekommen zu haben.

Ein junger Kellner in schwarzer Weste und weißem Hemd und mit einem Lächeln, das dem Titelhelden einer romantischen Komödie gehören könnte, stürmt auf uns zu, Weingläser auf dem Tablett, rot und weiß, will etwas zu den angebotenen georgischen Weinen sagen, aber ich falle ihm ins Wort und nehme mir ein Weißweinglas, suche dort meine Erlösung. Auch Ira greift zu, sichtlich erleichtert. Nene fragt in ihrem holprigen Englisch, ob es auch etwas Härteres gebe, er wisse schon. Der junge Mann ist überfordert, läuft rot an und blickt verwirrt auf mich.

– Ist schon okay, versuche ich ihm die Angst zu nehmen.

– Sie machen doch keine riesen Retrospektive mit Dinas Bildern ganz ohne Wodka oder Tschatscha, wollen Sie mich verarschen?

Nene schüttelt den Kopf und grinst zweideutig. Der Kellner scheint verunsichert, obwohl er doch für nichts verantwortlich ist. Erst dann fällt mir Nenes Wirkung auf Männer wieder ein, diese bestimmten Blicke, etwas zwischen Faszination und Verblüffung, soll man sie für eine Verrückte halten mit ihrem schrillen Auftritt oder aber ihrer puppenhaften Erscheinung verfallen? Auch dieser junge Mann fragt sich das wohl, weiß noch nicht, wozu er tendiert, aber er hat ja noch Zeit, er wird sich im Laufe des Abends entscheiden können.

Nene zwinkert ihm auffordernd zu. Ira muss schmunzeln, ich bemühe mich, nicht loszuprusten, es macht mir Freude, wie schnell wir wieder zu einem Gespann werden, zu den Freundinnen, die wir einmal waren, die über jeden Schritt der anderen Bescheid wissen. Mit seiner Antwort hat keine von uns gerechnet:

– Ich kann nach unten gehen und nachschauen, vielleicht ist die Bar bereits aufgebaut, dann kann ich etwas organisieren. Wodka auf Eis, ist das richtig, ja?

Gut, seine Entscheidung ist gefallen. Er könnte ihr Sohn sein, geht mir durch den Kopf, Ira schüttelt nur den Kopf und fährt sich mit der Hand durchs Haar, eine vertraute Geste.

– Wärst du so nett, wirklich? Also Wodka-Martini wäre das Allerbeste, aber notfalls nehme ich auch Wodka auf Eis, ja. Wirklich reizend von dir, wirklich.

Ira und ich bemühen uns, ernst zu bleiben.

– Ja, kein Ding. Ich schau, was ich machen kann.

You made her day, ruft Ira ihm in ihrem makellosen American English hinterher, und auch dieser Ton ist mir so bekannt, ein Echo aus einer anderen Zeit, dieses Schnippische, das leicht Sarkastische in ihrer Stimme. Ich muss laut auflachen, und auch Ira lacht hinter vorgehaltener Hand.

– Was denn?, fragt Nene demonstrativ naiv und zuckt mit den Achseln.

– Wie schön, dass sich manches nie ändert, sage ich mit einem Augenzwinkern.

– Dafür habt ihr beide euch ganz schön verändert, kontert Nene auf der Stelle, und schon ist die Leichtigkeit des Augenblicks dahin und unsere Nähe wieder fader Abglanz einer Erinnerung. Ich wünschte mir, ich hätte ihr diese Vorlage nicht geliefert, in meinem Kompliment ist eine Bombe detoniert.

– So habe ich es nicht gemeint.

Meine Stimme soll beschwichtigend klingen. – Es ist doch etwas Schönes, wenn man so … Ach, vergiss es.

Ich bin auf einmal wütend auf sie, auf ihren unausgesprochenen Vorwurf. Schließlich hänge ich in all den Verflechtungen ebenso mit drin. Aber mir gegenüber hatte sie distanzierte Höflichkeit als Ausweg gesucht, mir nie offen die Schuld gegeben.

Seit ich unsere Stadt verlassen habe und in ein neues Leben geflohen bin, gab es kaum einen Tag in meinem Leben, an dem ich mir ihretwegen keine Vorhaltungen gemacht habe. Zwischen Ira und ihr kam es zu einer lebensverändernden Kollision, einer, die niemals verjährt, der Konflikt zwischen ihnen liegt noch offen, aber zwischen Nene und mir steht das Unausgesprochene wie ein Monolith, der uns den Weg zueinander versperrt.

– Lasst uns den Abend genießen, in Ordnung?

Plötzlich ist es Ira, die auf Harmonie bedacht ist.

Nenes Gesicht hellt sich wieder auf, ja, der Abend soll positiv verlaufen, alles andere keine Rolle spielen, wir sollen Wein oder Wodka-Martini trinken und das Vermächtnis unserer Freundin feiern.

– Wie geht es den Kindern? Wie geht es dir?

Ich will es wirklich wissen, ich will so viel wissen. Nenes Augenbrauen heben sich leicht, als wollte sie spontan etwas sagen, was man auf eine solche Frage routinemäßig erwidert, aber dann gibt sie mir eine geduldige und ausführliche Antwort:

– Es geht uns gut. Wirklich. Die Zwillinge machen zwar Scherereien, sind noch immer zwei Raufbolde, aber Luka ist ein wunderbarer Junge, die Mädchen sind alle verrückt nach ihm, er ist genauso schön wie sein Vater.

Ich sehe seinen Vater vor mir, seine grünen Augen, diese unschuldige Ausstrahlung eines Träumers, etwas zieht sich in mir zusammen, die Toten sind wieder da und füllen den Raum. Diese Ausstellung ist eine einzige Totenwache, eine einzige Trauerfeier. Ich schüttle mich, ich würde so gern auf der Stelle unsichtbar werden.

– Ich zeige dir nachher ein paar Fotos von ihnen, wenn du willst, fügt Nene hinzu. – Und noch etwas … im Juli werde ich wieder heiraten.

Sie lacht kokett und ihr Blick geht zu Ira, sie kann es nicht lassen, sie will ihre Reaktion sehen, will wissen, ob da noch etwas übrig geblieben ist von dem, worauf ihr Leben lang Verlass war: Iras bedingungslose und wunde Liebe. Ira schaut zur Seite, sie reagiert nicht, ein Profi, der seine Pokermiene aufsetzt.

– Wow, das sind aber Neuigkeiten! Nein, du hast dich wirklich kein bisschen verändert, entfährt es mir, und ich muss wieder laut auflachen.

– Tja, für die Liebe ist man nie zu alt!, kichert Nene und bleibt mit dem Blick irgendwo in der Ferne hängen. Ich versuche zu erkennen, was ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, finde aber nichts.

– Oh Gott, schaut her, kommt, das ist doch unser Sprungbild. Das sind wir!, ruft sie euphorisch und eilt fort. Wie zwei Fünfzehnjährige rennen wir ihr hinterher, schlagen Haken um diverse Grüppchen, die mit Gläsern in der Hand vor den Bildern stehen. Jetzt erkenne ich das Foto, das Nene angelockt hat, eines aus der Zeit, als Dina das Fotografieren gerade für sich entdeckt hat und zu allen möglichen verrückten Experimenten bereit war. Aufgenommen mit der Kamera meiner toten Mutter.

Seite an Seite bleiben wir vor dem Bild stehen. Wir atmen im selben Rhythmus, unsere Brustkörbe heben und senken sich im gleichen Takt, so stehen wir drei vor dem Vermächtnis der Vierten und fragen uns, was diese Mädchen auf dem Bild mit uns gemein haben, den erwachsenen Frauen, die jetzt Schulter an Schulter davorstehen.

Wir sprangen alle zeitgleich hoch, die Münder zu einem Lachen aufgerissen, nur Ira schaute ernst, wie meist, wenn sie fotografiert wurde, und hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt, als wollte sie der Kamera entgehen. Dina und ich in der Mitte, Nene rechts und Ira links außen. Ein Freudensprung, den Dina uns vollführen ließ, aufgenommen mit dem Selbstauslöser der Kamera, die meiner Mutter gehört hatte. Ich sehe weniger einen Sprung als vielmehr einen trotzigen Triumph, ein Freudenfest auf einem Vulkan.

Es war Dinas Idee, zum Gelände der brachliegenden Tuchfabrik zu fahren, um dort Fotos zu machen. Ich war zuerst strikt dagegen, weil wir riskierten, gegen die Ausgangssperre zu verstoßen und uns Ärger einzuhandeln. Ira teilte meine Meinung, aber aus irgendeinem irrationalen Grund stieß der Vorschlag bei Nene auf schiere Begeisterung, vermutlich, weil ihr Onkel und ihre Brüder weggefahren waren und sie sich an ihrer knapp bemessenen Freiheit berauschen wollte. Ira und ich gaben uns schließlich geschlagen, zu groß und zu ansteckend waren die Freude und die Abenteuerlust der beiden anderen.

Nur wenige Wochen davor hatte Dina eine Smena von ihrer Mutter geschenkt bekommen und konnte von nichts anderem mehr reden als von guten Orten zum Fotografieren, dem passenden Licht und den besten Motiven. Normalerweise war sie ebenso schnell von etwas Neuem begeistert, wie sie das Interesse daran wieder verlor. Aber diese Passion sollte anhalten: Sie war so entflammt, so wissbegierig, dass sie sich von Rostom Iaschwili Fotobücher lieh und sich alle Details erklären ließ; sie verbrachte unzählige Stunden in seiner Dunkelkammer und nahm ihre neue Kamera nicht mehr von der Brust ab, wo sie wie ein kostbares Amulett an einem Lederriemen baumelte.

Ihr beliebtestes Motiv waren wir drei. Sie schien uns und unsere Gesichter durch das Objektiv neu zu entdecken, drückte so häufig auf den Auslöser, bis es uns kaum noch auffiel. Dabei war Nene die Einzige von uns, die es sichtlich genoss, ständig abgelichtet zu werden. Sie inszenierte sich und posierte mit aufgeschlagenen Rehaugen und Schmollmund, doch Dina verbot ihr solche Attitüden. Sie fand nichts dämlicher als diese Form der Lüge. Das Foto, das an jenem Tag auf dem Gelände der verwaisten Tuchfabrik entstand, bildete allerdings eine Ausnahme, denn aus irgendeinem Grund entschied sich Dina diesmal doch für eine Inszenierung. Es zeigt uns mitten im Sprung, in der Luft, mit angezogenen Beinen, mit lachenden Mündern. Es feiert uns an der Schwelle zu der über uns hereinbrechenden Jugend und feiert das Nichtwissen von dem, was die Zukunft mit sich bringen wird.

Damals starrten wir in einen grimmigen, wolkenverhangenen Septemberhimmel. Veränderung lag in der Luft, aber wir hatten Wichtigeres zu erledigen, als uns um die Politik zu scheren. Alles, was zählte, war das Jetzt. Wir taten alles, um der Dauerbeschallung durch die bläulich vom Bildschirm flackernden Propaganda und der seit dem 9. April über die Stadt verhängten Ausgangssperre zu entgehen. Wir flohen, wenn sich die Erwachsenen wieder einmal in erregte politische Diskussionen verstrickten, die jeden Tag, auch im Hof, unter den Nachbarn ausgetragen wurden. Wir wollten uns weder über die »abchasische Frage« noch über die »nationale Frage« unterhalten, wir wollten weder »Minderheitenprobleme« erörtern noch die Toten zählen, die vor wenigen Monaten bei der Demonstration vom 9. April ihr Leben ließen und an die uns täglich rote Tulpen auf dem Rustaweli-Boulevard erinnerten. Wir schafften es sogar, die patrouillierenden Soldaten und russischen Panzer zu ignorieren, die die Hauptstraßen blockierten. Der eigenen Familie allerdings war schwer zu entgehen: Denn nach dem 9. April, dem Giftgas, den Spaten, die die Köpfe, Schläfen und Nacken der Demonstranten trafen, nach blutüberströmten Straßen, abgedeckten Leichen und gehäuteten Hoffnungen war in Babuda zwei eine furchtlose Entschiedenheit erwacht, die einen wirklich ängstigen konnte. Ihr versöhnliches und harmonisches Wesen war zu etwas Kompromisslosem und Zornigem mutiert. Der jahrelang angestaute unterdrückte Hass auf das System, das ihr alles genommen hatte, brach sich Bahn und verwandelte die ansonsten so weiche, liebevolle Oliko in eine blinde

Agitatorin.

– Der gehört gesteinigt und gehängt. Elend lang sollte man den die Straßen hinunterjagen und lynchen, ja lynchen, für alles, was er uns angetan hat!, rief sie fauchend aus, als sie Gorbatschows Neujahrsansprache im Fernsehen hörte. – Und in Europa glauben sie, der sei klug und will für alle Völker Frieden! Wie blind kann man bloß sein. Es langt, dass die ihre Mauer geöffnet bekommen, und schon wollen sie nichts mehr sehen und hören, wütete sie weiter, während mein Vater den Sekt entkorkte und mit einem feierlichen Gesicht darauf wartete, mit uns auf das neue Jahr 1990 anzustoßen. – Der ist nur halbwegs schlau und ausnahmsweise mal kein Säufer, Bauerntrampel oder Psychopath wie seine Vorgänger. Aber ruinieren wird er uns genauso!

Oliko konnte sich gar nicht einkriegen. Wir standen verdutzt um den Tisch herum, irgendwann ging Rati zum Fernseher und schaltete ihn aus, damit wir endlich anstoßen und uns alles Gute wünschen konnten, aber natürlich kam es nicht dazu, da nun Babuda eins der Kragen platzte:

– Bist du völlig wahnsinnig geworden? Schau dich doch um, hör doch zu, wie deine Universitätsfreunde reden, diese Nationalisten, gewissenlose Faschisten sind das, sage ich dir, Nationalismus an jeder Ecke, und wenn man uns lässt, werden wir uns alle gegenseitig umbringen!, schlussfolgerte sie und zeigte mit dem Finger auf den nun dunklen Bildschirm. – Hör doch, wie die über Abchasen reden, deine Freunde, ich war neulich in der Bibliothek und habe Kote getroffen, den aus der Anglistik, und war schockiert, als er mir sagte, man solle mit denen das machen, was Stalin schon so erfolgreich praktiziert hätte. Wenn es denen bei uns nicht passe, hat er gesagt, dann bitte sehr, dann sollten alle Schiffe besteigen, und weg mit ihnen, es gebe viele unbewohnte Flecken auf dieser Erde, in Sibirien könnten sie dann mit ihren Russen auf die Völkerfreundschaft trinken, ahmte Eter diesen uns unbekannten Anglistik-Kote nach.

– Können wir jetzt endlich anstoßen?!, rief mein Bruder genervt.

– Nein!, brüllte Babuda zwei. – Wen wundert es, dass Kote so redet? Wen? Fast siebzig lange Jahre waren wir Sklaven, und die Menschen begehren jetzt endlich auf, was daran ist so schwer zu verstehen? Aber so, wie du da redest, merke ich, wie fantastisch die Propaganda funktioniert: Sie haben deine Familie ausgerottet, und trotzdem nimmst du sie noch in Schutz und willst weiterhin ihr Sklave bleiben.

– Du und deine Freunde, ihr seid blind und taub und versinkt in eurem degenerierten nationalistischen Patriotismus. Ja, wir sind die Besten, die Tollsten, und unsere Kultur ist das Größte, wir sind das glückliche, gottgesegnete Land, um das uns alle beneiden, glaubst du wirklich an diesen ganzen Schwachsinn?

Eter ließ ihren Blick dramatisch umherschweifen.

Rati, dessen aufsteigenden Groll man an den bebenden Nasenflügeln ablesen konnte, senkte kurz den Blick, um Olikos pathetischem Augenaufschlag auszuweichen.

Eter setzte nach: – Das Ganze wird so oder so in die Brüche gehen, schau dich nur um, das Land ist am Ende, die Russen haben momentan genügend eigene Probleme, sie werden die Unionsrepubliken nicht halten können. Du hast doch gesehen, wie sie am 9. April reagiert haben. Ich will einfach kein neues sinnloses Blutvergießen.

Eter ließ sich erschöpft auf den Stuhl fallen und griff die auf dem Journaltisch liegende, von beiden Babudas geschätzte »Literaturnaja Gaseta« und fächerte sich damit Luft zu.

Babuda zwei setzte sich steif und mit steinerner Miene auf ihren Stuhl und warf verächtliche Blicke in Eters Richtung: – Du hast bestimmt 1981 vor dem Sportpalast gestanden und ihm zugewinkt, was? Richtig euphorisch bist du gewesen, wie ich dich kenne, und hast ihm Blumen mitgebracht, und vielleicht bist du sogar zum Konzert gegangen und hast ihm zu Ehren diese ganze Maskerade mitgemacht …

Rati und ich sahen uns irritiert an, wir hatten keine Ahnung, um wen es ging und worauf Olikos Gegenangriff zielte.

Ich schaute die zierliche Mutter meiner toten Mutter an, ihre hellen, aufgeweckten Augen, Lippenstiftreste um den schmalen Mund, die feine Nase einer Statue, die gekonnt nach hinten gekämmten und von einer Silberspange zusammengehaltenen hellbraun gefärbten Haare. Und auf der anderen Seite die stämmige, hochgewachsene Eter, die vor Wut bebende volle Brust in einem formlosen dunkelbraunen Wollkleid (davon schien sie endlos viele zu besitzen, der Schnitt war stets der gleiche, nur die Farbe variierte von dunkelgrün bis dunkelgrau). Eter mit der strengen Miene einer Internatsdirektorin, mit dichten Augenbrauen, die mein Vater geerbt hat, mit ihren hohen Wangenknochen und der typisch georgischen Adlernase, mit ihren wachen dunkelbraunen Augen, denen nichts zu entgehen schien, und mein Herz zog sich

zusammen.

– Von wem redet sie? Wen hast du mit Blumen empfangen?, wollte Rati sofort von Babuda eins wissen, die sich kopfschüttelnd und sichtlich aufgebracht mit der Literaturzeitschrift noch intensiver Luft zufächerte.

– Sie meint wohl Breschnew, der 1981 auf Staatsbesuch hier in Georgien war, erläuterte Eter, – und die sogenannte Elite hat ihm natürlich einen triumphalen Empfang bereitet, und deine Großmutter ist sich nicht zu schade, mich mit diesen Leuten in einen Topf zu werfen, die ihm ohne jede Ehre und ohne Scham in den Hintern gekrochen sind, in der Hoffnung auf mehr Privilegien!

– Hört auf, hört sofort auf, sonst schnappe ich mir Rati und Keto und verlasse ein für alle Mal diese Wohnung!, wütete mein Vater und strafte seine Mutter und seine Schwiegermutter mit zornigen Blicken, das Sektglas umklammernd. Rati zwinkerte mir zu, und wir setzten sofort düstere Mienen auf, um Vaters Drohung mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Das Kriegsbeil war somit kurzzeitig begraben. Und so schlossen wir Frieden und stießen alle auf das neue Jahr an.

Rati. Welcher der vielen Ratis wird mich von diesen Wänden anstarren, vor welchem werde ich am längsten stehen bleiben? Schon ist sie wieder da, die ganze Widersprüchlichkeit, seine federleichte, honigsüße Zärtlichkeit, die mit galligem Zorn und glühender Wut abwechseln konnte. Er gab mir Orientierung, war mein Steuermann in der undurchschaubaren Welt der Erwachsenen. Und er schenkte mir seine direkte Erinnerung an unsere Mutter. Es ist merkwürdig, denke ich, dass es ausgerechnet Rati war, der mir in der Kindheit die größte Sicherheit und Stabilität vermitteln konnte. Wie sehr ich seinen hitzigen Kopf, sein aufbrausendes Temperament, seine Begeisterungsfähigkeit und seinen Gerechtigkeitssinn brauchte. Alles bei ihm hing mit unserer toten Mutter zusammen; sie war sein Tempel, seine Heilige, sein Maßstab. Er verehrte das Bild, das er von ihr hatte, und maß ihrer Andersartigkeit einen so hohen Stellenwert bei, dass sie im Laufe der Jahre zur Legitimation und zum Schlüssel für sein ganzes Handeln wurde. Die Kehrseite war, dass er Vater für alles die Schuld gab: für jeden zerstörten Traum, für jede Enttäuschung und vor allem dafür, mutterlos aufgewachsen zu sein. In seiner Vorstellung war unsere Mutter frei von jedem Makel, im Laufe der Jahre errichtete er eine Art Schrein für ihr Andenken, auf dem nur das Gute Platz fand, und natürlich hatte Vater niemals eine Chance gegen eine Tote. Irgendwann stand für ihn fest, dass Vater unsere Mutter in die Flucht getrieben haben musste. So unbegründet das auch war, für Rati war es einfacher, einen Schuldigen zu haben, auf den er, wenn etwas aus dem Ruder lief, mit dem Finger zeigen

konnte.

Ich denke an die erste große Eskalation zwischen Vater und Rati: Wir sitzen in einem beigen Auto, das sich Vater, der nie einen Wagen besessen hat, von einem Kollegen geliehen hatte, um mit uns nach Ratscha zu fahren. In den Bergen, im kristallklaren Seewasser und versunken in dem feuchten Grün der Hügel wollten wir der Stadthitze entfliehen.

Vater hasste Urlaube. Seine gequälte Miene, wenn er zum Nichtstun verurteilt war – er tut mir jetzt noch leid. Die Sommerferien bedeuteten für ihn eine bedrückende Abfolge von Langweile, deswegen schob er uns, solange wir noch klein und die Babudas noch nicht zu alt waren, zu den beiden Frauen ab, damit sie mit uns ans Meer fuhren. Meist ging es nach Pitsunda in Abchasien, in das vornehme und heiß begehrte Kurhaus, ein Aufenthalt, der durch die Mitgliedschaft unseres Vaters in der Akademie der Wissenschaften ermöglicht wurde. Er selbst blieb in Tbilissi oder besuchte Freunde in Moskau, jedenfalls solange die Welt noch intakt war und er sich ein Flugticket leisten konnte.

In diesem Sommer allerdings machte er für uns eine Ausnahme. Rati war gerade zwölf oder dreizehn geworden, er verließ das harmlose Kindesalter und betrat unbekanntes Terrain, und wahrscheinlich fürchtete Vater sich vor den Herausforderungen, die das mit sich bringen würde, und er beschloss, sich Zeit für uns zu nehmen. Ich saß auf dem Rücksitz, die Fensterscheibe hinuntergekurbelt, die Hand in den kühlen Fahrtwind gestreckt, und freute mich auf die bevorstehenden Abenteuer in den Bergen. Rati aber saß grimmig auf dem Vordersitz, in sich versunken, unzufrieden. Irgendwann verlor Vater die Beherrschung, drehte das Radio aus und wandte sich beleidigt an seinen Sohn:

– Müssen wir uns jetzt die ganze Woche mit dieser Miene herumplagen?

Er hatte sich so viel Mühe gegeben, alles geplant, alles organisiert, und dass ihm sein undankbarer Sohn nun einen Strich durch die Rechnung machte, erschien ihm wie eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

– Du hättest mich ja nicht mitnehmen müssen, gab Rati schroff zurück.

Ich sagte nichts, Vater erwartete sicher Rückendeckung von mir, ich ließ mich oft in ihre Konflikte verwickeln, aus Angst, entweder Vater oder meinen Bruder zu enttäuschen. Ich war eine Art Friedenstaube, die auffliegen musste, wenn nichts mehr half. Aber Rati war nicht zu beschwichtigen:

– Ich hasse die Berge!

Aus diesem Satz schimmerte so viel Verbitterung und Zorn hervor, dass ich unweigerlich die Muskeln anspannte, meine Knie anzog und sie mit den Armen umschloss, als wollte ich mich in einen Kokon zurückziehen.

– Wieso denn das? Du kennst die Berge doch kaum.

Meinem Vater war Ratis Vehemenz entgangen, Guram war kein Mann der Zwischentöne.

– Gäbe es diese scheiß Berge nicht, wäre Deda heute bei uns.

Spätestens jetzt hätte Vater das Heikle der Situation spüren und das Thema beenden sollen, aber stattdessen antwortete er gereizt:

– Wirklich ein sinnloser Grund, um diesen Ausflug zu boykottieren.

– Das nennst du einen sinnlosen Grund? Den Tod meiner Mutter nennst du einen sinnlosen Grund?

Rati brüllte bereits.

– Rati, ich warne dich, in diesem Ton mit mir zu sprechen, alles hat seine Grenzen, ja? Wir fahren jetzt dorthin und werden uns erholen, ob es dir gefällt oder nicht. Wir lassen uns von dir unseren Ausflug nicht verderben, nicht wahr, Keto?

Und er warf mir einen versöhnlichen Blick im Spiegel zu.

– Was können die Berge dafür, dass eure Mutter sie anscheinend mehr geliebt hat als ihre eigene Familie.

Ich schloss die Augen in der Erwartung des nächsten Donnerknalls, der nicht lange auf sich warten ließ.

– Nimm das sofort zurück!, schrie Rati. – Sie ist in die Berge, weil sie dich nicht länger ertragen hat!

– So ist das also! Wenn du meinst. Wegen mir ist sie also im tiefsten Winter nach Swanetien? Und hat einen Fünfjährigen und eine Einjährige zu Hause gelassen?

Sein Gesicht lief rot an, Speichel flog von seinen Lippen, er umklammerte das Lenkrad und beschleunigte das Tempo.

– Ich muss Pipi, können wir bitte anhalten!, wimmerte ich vom Rücksitz, fand aber kein Gehör.

– Ja, sie hat dich gehasst, sie hatte keine Lust mehr auf dich! Kein Wunder, echt!, brüllte Rati.

– Und das hat dir wer gesagt? Hat sie in einem Traum zu dir gesprochen, oder projizierst du deine fehlgeleiteten Gefühle auf mich?

Plötzlich war die Wut aus seiner Stimme gewichen, was blieb, waren eine niederschmetternde Traurigkeit und eine kratertiefe Enttäuschung darüber, dass er, Guram Kipiani, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, einstiger Meisterschüler des Nobelpreisträgers Prochorow, der in Quantenoptik bahnbrechende Entdeckungen hätte machen können, der Liebe wegen in seine Heimatstadt zurückgekehrt war und dass das Opfer, das er erbracht hatte, und die Mühe, die er sich gegeben hatte, nicht hatten verhindern können, dass die Frau, für die er all diese Entbehrungen in Kauf genommen hatte, ihn eines Tages mit zwei kleinen Kindern sitzenließ, um im trüben Februar den 5200 Meter hohen Schchara zu besteigen, den dritthöchsten Berg der »drei Großen«, die launische und schwierig zu bewältigende Grande Dame des Großen Kaukasus. Wie konnte es so weit kommen, an welchem Punkt seines Lebens war ihm etwas derart entgleist, dass er sich in diesen Wagen eingepfercht wiederfand, gefangen in seiner Verantwortung als Vater?

Ich glaubte, diese Frage im Spiegel über sein Gesicht huschen zu sehen, und er tat mir leid, ja, er tat mir immer auf eine eigentümliche Art und Weise leid, und wieder einmal wunderte ich mich, wie mein erwachsen-wirken-wollender, ewig mürrischer Bruder, der für jeden anderen Menschen, für jedes bedürftige Wesen ein beeindruckendes Mitgefühl aufbringen konnte und der einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besaß, diese Hilflosigkeit unseres Vaters nicht erkennen konnte.

Ohne eine Reaktion abzuwarten, fuhr Vater fort:

– An mir hat es weiß Gott nicht gelegen. Nein, Madame wollte Abenteuer, wollte Spaß, also musste Spaß her, mitten im Winter, bei einer absolut ungeeigneten Wetterlage! Warum? Waren wir für sie eine solch schreckliche Zumutung, dass sie mitten im Februar diese verfluchte Klettertour unternehmen musste? Jeder Laie weiß, dass man bei so einer Wetterlage nicht in den Kaukasus steigt! Und ich steckte in Vorbereitungen für die wichtigste Konferenz meines Lebens, aber nein, das alles zählt ja nicht …

Vater war nun nicht mehr zu halten, Rati hatte den Bogen überspannt und musste mit der Höchststrafe rechnen. Und ich gleich mit.

– Den ganzen Herbst hing sie schon mit diesen Alkoholikern und Taugenichtsen von Bergsteigern herum. Angeblich wollten die den georgischen Alpinismus wiederbeleben, dass ich nicht lache! Sie hat nur einen Vorwand gesucht, um aus dem Haus zu verschwinden, es war ihr ja alles zu eng und zu langweilig. Als zweifache Mutter! Natürlich, da kann es schon mal langweilig werden, zu Hause zu sitzen und sich um die Kinder zu kümmern!

– Hör auf, sei still!, flehte Rati ihn an. Aber er würde nicht aufhören, ich wusste es.

– Welch eine Selbstbezogenheit, ich bin jetzt noch fassungslos … Abenteuer! Abenteuer mit diesen vollbärtigen Nichtsnutzen, bloß um vor ihnen mit dem Hintern zu wackeln!

– Halt den Mund!

Es war kein Brüllen mehr, sondern ein Jaulen. Im selben Augenblick ging die Beifahrertür auf und der lange, drahtige Körper meines Bruders rollte über die Landstraße. Zum Glück war Vater gerade in eine sehr enge Kurve gefahren und hatte das Tempo verlangsamt. Der Wagen kam mit einem gewaltigen Ruck zum Stehen, und ich konnte nicht mehr anders: Meine Blase entleerte sich auf dem Rücksitz des geliehenen Autos.

Jener Nachmittag, an dem wir in die Berge fuhren, um dort nie anzukommen, war der Beginn von Ratis lebenslangem Protest. Immer, wenn ich an ihn denke, streift mich als Erstes diese Aura eines Gefühls, das er im Übermaß ausgestrahlt hat: das Gefühl, betrogen worden zu sein. Betrogen vom Leben, vom eigenen Vater, später dann vom korrupten und moralisch verdorbenen Staat, in den er das Unglück hatte hineingeboren worden zu sein. Hatte er als Kind gegen Vater rebelliert, so galt sein Aufbegehren ab jenem Nachmittag dem Staat und seinem System. Er beobachtete und hinterfragte alles und stritt sich unentwegt mit Familienmitgliedern und Lehrern, mit Bekannten und Nachbarn. Er machte sich einen Spaß daraus, Tabus zu brechen und Dinge beim Namen zu nennen, über die niemals offen gesprochen wurde. Er genoss es sichtlich, Menschen in heikle Situationen zu bringen und sie als Heuchler und Lügner zu entlarven, mit denen er nichts zu tun haben wollte: Menschen, die für ihre Kinder gute Noten und Studienplätze kauften, Menschen, die ihre Waren unter der Hand für das Doppelte und Dreifache verscherbelten, Menschen, die anderen Gefallen taten, um sich Privilegien zu sichern, Menschen, die ihre Prinzipien und Überzeugungen für einen Urlaub an der abchasischen Küste oder auf der Krim verrieten, Menschen, die Drei-Rubel-Scheine im Handschuhfach aufbewahrten, um sie den Ordnungshütern bei Verkehrskontrollen kommentarlos in die Hand zu drücken, Menschen, die die Partei hochleben ließen, damit sie irgendwo singen, tanzen und veröffentlichen durften, Menschen, die anderen unbrauchbares Baumaterial verkauften, um das brauchbare für ihre eigene Datschen zu verwenden, oder Menschen, die für ihre straffälligen Kinder Freisprüche erkauften. Für Rati waren sie alle schuldig, Teil dieses korrupten Systems, Schrauben in einem hochkomplexen Uhrwerk, sie stützten diesen Staat und sie begingen stündlich Verrat an sich selbst, an ihren Mitmenschen und stahlen allen jede Aussicht auf Freiheit. Und wenn diese Schlachten anfangs in unserem Wohnzimmer ausgetragen wurden, erstreckten sie sich mit den Jahren auf den Hof, auf die Schule und dann auf die Straßen des Viertels. Aufgefordert, sich im Unterricht mehr Mühe zu geben, antwortete er wie aus der Pistole geschossen, er sehe keinen Sinn darin, es sei doch eh alles eine Geldfrage, und wenn er genug beisammenhätte, könne er problemlos Medizin studieren. Hieß es, er solle den Erwachsenen gegenüber mehr Respekt zeigen, gab er schnippisch zurück, dass Erwachsene sich diesen Respekt erst verdienen müssten, ein korrupter Beamter, der der Obrigkeit die Füße küsse, verdiene nun mal keinen Respekt, ebenso wenig wie eine gewiefte Schwarzmarkthändlerin, die für den richtigen Preis die eigene Seele verkaufen würde.

Solange man sich noch der Illusion hingeben konnte, dass er jung und formbar sei, wurde nichts unversucht gelassen, um ihn von »schlechten Einflüssen« fernzuhalten. Wenn ich an all die absurden Versuche der Babudas denke, ihn »zur Räson zu bringen«, muss ich mich beherrschen, nicht laut aufzulachen. Da fällt mir die Pferdetherapie für schwererziehbare Jugendliche im Hippodrom ein, zu der Rati geschickt wurde. Oder der Privatunterricht bei einem angeblich genialen Philosophen, mit dem er über seine »Ideen« sprechen sollte, was zur Folge hatte, dass Rati Machiavelli für sich entdeckte und in seinen Ansichten noch radikaler wurde. Aus lauter Verzweiflung opferten die Babudas sogar ihren gesunden Menschenverstand und riefen eine Frau mit »übersinnlichen Fähigkeiten«. Rati machte sich einen Spaß daraus, inszenierte einen epileptischen Anfall, behauptete, ein Dämon habe von ihm Besitz ergriffen, und trieb die arme Frau in die Flucht.

Mit vierzehn flog er das erste Mal von der Schule, er hatte den Direktor als »verlogenen Parteiabschaum« beschimpft. Oliko machte den schlechten Einfluss seiner rüpelhaften und draufgängerischen Freunde dafür verantwortlich, die ihren »Engel« auf die Straße lockten, was bekanntlich noch niemandem gutgetan habe. Wie oft ich hinuntergeschickt wurde, Ecke Lermontow, zur Kirow- oder Gogebaschwili-Straße, um ihn von einer der Birscha nach Hause zu holen. Ich erinnere mich noch heute an die neugierigen Blicke dieser kraftstrotzenden und zugleich so ahnungslosen Halbstarken auf mir, wie sie mir ihre Sonnenblumenkerne vor die Füße spucken und mir zurufen: »Priwet, Kipiani, was gibt’s Neues?«

Diese Horden von Jungs, die Großes vorhatten, Wildes, Verruchtes, die mutig sein wollten und an Ehre und Moral glaubten, die viel wollten und am liebsten gar nichts taten – aus Angst, sie könnten ihre Ziele womöglich nicht erreichen und ihr Lebensweg würde in die gleiche enge, biedere Lügenwelt münden wie bei denen, die sie so verachteten. Diese »dsweli bitschebi«, diese Mischung aus Bohemiens und Nichtsnutzen, diese angeblichen Robin Hoods waren im Grunde nichts anderes als ganz normale Taugenichtse, die mit der Kriminalität liebäugelten. Ja, unser Land hat schon immer mit den Robin Hoods dieser Welt sympathisiert, mit Antihelden und Systemsprengern und ist erfüllt von dieser rebellischen Sehnsucht des kleinen Volkes nach Freiheit und den damit einhergehenden Mythen von der eigenen Unbeugsamkeit. Diese ewige Geschichte vom einfachen Mann, der allein gegen einen übermächtigen Apparat in den Krieg zieht. Unsere nach doppelten Standards lebende Gesellschaft voller Aussteiger und Verweigerer, die sich nicht in den Dienst eines Lügenstaates stellen wollten, um »ehrbar« zu sein, und die darüber vergaßen, dass der Weg über Verweigerung und Abgrenzung bis hin zum Boykott unweigerlich in die Kriminalität mündet. Während die meisten glühende Kommunisten spielten und ihre staatlich verordnete Normalität genießen konnten, wollten diese Widersacher auf die Barrikaden gehen. Und das taten sie. Das taten sie so konsequent und so lange, bis jede Normalität in Schutt und Asche gelegt war.

Ab einem gewissen Alter verlagerte sich Ratis Leben auf die Straße. Jeder in der Familie hatte seine Aufgabe: Die Babudas waren für das Abtelefonieren seiner Freunde und ihrer Familien zuständig, ich für die aktive Suche im Viertel und Vater übernahm die Standpauke, wenn er dann wieder vor der Haustür stand. Eine der dramatischsten Szenen ereignete sich, als er, gerade volljährig geworden, bei einem gewöhnlichen Familienessen seelenruhig verkündete, dass er sich weigere, den Schulabschluss zu machen. Das Bildungssystem sei eine einzige Farce, wie das meiste in diesem Land, und er habe nicht vor, in dieser Schmierenkomödie mitzuspielen. Der Abend endete damit, dass man Tamas Schordania anrufen musste, weil Olikos Blutdruck in die Höhe geschossen und ihr schlecht geworden war, während Eter mit erhobenen Armen – wie in einem antiken Schauspiel – zu den abwesenden Göttern sprach und über die Ungerechtigkeit des Schicksals klagte. Bitten und Drohungen halfen nichts, Rati blieb stur und weigerte sich, auch nur einen Tag in die Schule zurückzukehren.

Dina, die Nachhilfe bei Oliko nahm, war auch an diesen Tagen zum Unterricht gekommen und wartete geduldig auf ihre Lehrerin, als mein Bruder auftauchte, gut gelaunt und strahlend. Er war redselig und gab sich sichtlich Mühe, einen guten Eindruck zu hinterlassen, was selten vorkam. Rati und Dina kannten sich seit Jahren, allerdings nur flüchtig. Der Altersunterschied war damals noch zu deutlich und ich ohnehin nicht sonderlich darauf erpicht, ihn oder seine draufgängerische Clique mit meinen Freundinnen in Kontakt zu bringen. Aber an diesem Tag passierte etwas. Ich brauche nur die Augen zu schließen und sehe die vierzehnjährige Dina vor mir, ein Mädchen, das gerade entschieden hat, mit der ihr eigenen Entschlossenheit und Hingabe ihr bedingungsloses Interesse auf jemanden zu richten. Ganz urplötzlich geriet Rati in ihr Blickfeld, mit einem gewaltigen Ruck, als hätte er sich in ihren Augen von einem Moment auf den anderen von einem gewöhnlichen jungen Mann in ein Forschungsobjekt verwandelt, dem es sich von nun an mit voller Aufmerksamkeit zu widmen galt. Ja, es war ein Entschluss. Es passierte ihr nicht, wie es den meisten passiert, wie es mir passierte, wenn man mit vierzehn, fünfzehn, vielleicht sechzehn plötzlich diese allumfassende Zuneigung für jemanden entdeckt, die Verliebtheit jenes halsbrecherischen Lebensabschnitts. Rati gehörte nicht wie Zotne Koridse zu der Sorte Jungen, die sich stark über das weibliche Interesse und der daraus resultierenden Macht definieren. Auch war er nicht sonderlich einfühlsam oder romantisch. So war er Dina ausgeliefert, er, der dem anderen Geschlecht bislang wenig Beachtung geschenkt und sich in seiner Robin-Hood-Männerwelt herumgetrieben hatte, hatte ihr nichts entgegenzusetzen.

– Du willst also die Schule schmeißen?, fragte sie meinen Bruder, der gerade einen Teller Bratkartoffeln auf den Tisch gestellt bekam. Rati hob langsam und widerwillig den Kopf, es war kein gutes Thema, um mit ihm ein Gespräch anzufangen, und ich fürchtete, er würde gleich etwas Unangebrachtes sagen.

– Ja. Genau das habe ich vor. Hast du irgendein Problem damit?, antwortete er provozierend und vertiefte sich in sein Essen, denn er war sich sicher, das kleine Mädchen mit seiner schroffen Art eingeschüchtert und das Thema beendet zu haben. Aber Dina scherte sich nicht um seine Gereiztheit.

– Nee, ich habe kein Problem. Ich glaube dir bloß nicht, sagte sie altklug und nahm sich ein Stück Brot aus dem Brotkorb. – Deine Schwester sagt, dass du die Schule für das Letzte hältst, aber …

– Aber was?

– Aber ich glaube, du hast einfach Schiss davor.

– Schiss, ich?, Rati lachte demonstrativ laut. – Wovor sollte ich Schiss haben? Vor der Schule?

– Ja. Genau.

– Und wieso das?, Rati tat amüsiert, aber er war ganz offensichtlich verdutzt.

– Na ja, weil du es vermasseln, die Prüfungen vergeigen könntest …, Dina suchte nach den richtigen Worten – … dass du vor deinen Kumpels blöd dastehen könntest.

– Und du meinst, meine Freunde scheren sich auch nur eine Sekunde darum, welche Noten ich habe?

– Na, schon. Denn du bist doch so eine Art Anführer, oder nicht? Und der sollte schon etwas in der Birne haben.

– Anführer?, jetzt lachte er wirklich.

– Ja, Anführer, was denn? Du gibst doch immer den Ton an. Rati hat dies, Rati hat das gesagt. Und ich meine, als Anführer sollte man auf jeden Fall was draufhaben.

Ich war sprachlos. Auch Oliko schien nicht recht zu wissen, ob sie sich in dieses Gespräch einmischen sollte, und hantierte irgendwo im Hintergrund mit Töpfen und Pfannen.

– Hey, kleines Mädchen, kann es sein, dass du deine Nase gerade in etwas hineinsteckst, das dich gar nichts angeht?

Rati war gereizt. Er wollte dieses Thema beenden, es wurde ohnehin unentwegt diskutiert, und dieses Mädchen war die Letzte, von der er nun auch noch eine Standpauke bekommen wollte.

Dina stopfte sich ein Stück Brot in den Mund, zuckte mit den Schultern und meinte vollkommen nonchalant, während sie laut kaute:

– Na, ich sag nur meine Meinung, du kannst ja weghören.

– Darauf kannst du wetten!

– Danach hört es sich aber nicht an. Guck mal, wie du dich aufregst. Und aufregen tut man sich nur dann, wenn jemand einem die Wahrheit sagt!

– Ist ja gut, beruhigt euch wieder und probiert die Frikadellen, sie sind gleich fertig.

Olikos Stimme verriet Unsicherheit. Auch ich wusste nicht, was ich von Dinas Provokation halten sollte. Wieso war es ihr auf einmal so wichtig, dass Rati weiterhin in die Schule ging?

– Ich verstehe echt nicht, was du für ein Problem hast, Mädchen.

Rati sah mich dabei vorwurfsvoll an.

– Ich will nur, dass du es zugibst. Und ich heiße übrigens Dina, kapiert?

– Was soll ich denn zugeben? Was ist mit der los, Keto?

Er warf mir einen zornigen Blick zu.

– Dass du Schiss hast, wiederholte Dina.

– Ich habe null Schiss. Wieso sollte ich Schiss haben, und wer hat dich nach deiner Meinung gefragt, Mädchen?

– Noch mal: Ich heiße Dina und ich brauche keine Erlaubnis, um meine Meinung zu sagen. Du hast einfach Schiss.

– Das ist albern. Sagt ihr, sie soll mich in Ruhe lassen!

Rati war überfordert. Dina war kein Kumpel, vor dem er den Überlegenen markieren konnte, Dina war auch nicht unser Vater, den er unverhohlen bekämpfen konnte, Dina war keine der Babudas, Dina war nicht seine Schwester, keine von denen, die er alle ignorieren konnte.

– Dann beweise es!

– Und wem, bitte? Dir etwa?

Rati sah sie herablassend an.

– Ja, meinetwegen.

– Und wieso sollte ich das tun?

Und dann kam von Dina dieser Satz, der mir im Hals stecken blieb, als hätte ich ihn ausgesprochen und mich an ihm verschluckt.

– Damit ich mit dir Rock ’n’ Roll tanze. Ich bin die beste Rock-’n’-Roll-Tänzerin der Welt. Du stehst doch auf Rock ’n’ Roll?

Im Hintergrund hörte ich Oliko kichern, ich hustete. Rati lachte laut auf.

– Sie ist verrückt, oder? Hey, Keto, deine Freundin ist verrückt!

Ich hatte ihr tatsächlich erzählt, dass Rati sehr gerne und ziemlich gut tanzte. Er hatte mich immer genötigt, zu »Jailhouse Rock« von Elvis Presley die Hüften zu schwingen. Er wirbelte mich herum und ging in der Musik vollkommen auf, wurde frei und gelöst, wie man es selten bei ihm erlebte.

– Vielleicht will ich gar nicht mit dir tanzen, schon mal über die Option nachgedacht?, konterte Rati selbstgefällig und vertiefte sich wieder in sein Essen, aber aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie sehr diese entwaffnende Art Eindruck auf ihn gemacht hatte.

– Das wirst du schon wollen, wenn du mich erst tanzen siehst.

Schon wieder kicherte Oliko im Hintergrund.

– Du tanzt Rock ’n’ Roll?

– Ja, das tue ich.

– Wirklich so gut, wie du behauptest?

– Ich bin die Beste. Willst du sehen?

– Na los, bitte.

– Aber das mache ich nicht umsonst.

– Was willst du dafür haben?

– Du wirst mich zu deinem Abschlussball mitnehmen und dort mit mir tanzen.

– Was will sie von mir, kann mir das einer erklären?

Rati verdrehte die Augen.

– Willst du mich nun tanzen sehen oder nicht?, insistierte Dina.

– Also gut, gut. Keto, los, hol’ den Elvis und schmeiß den Plattenspieler an!

Rati schüttelte den Kopf, aber sowohl Oliko als auch ich spürten die Leichtigkeit, die ihn auf einmal ergriffen hatte, die Lust an der Herausforderung, etwas in ihm war in Bewegung geraten.

Ich rannte in Vaters Zimmer und suchte die Schallplatte raus, schaltete den Plattenspieler ein, riss die Tür auf, damit wir die Musik in voller Lautstärke hören konnten, und wartete auf die Show, die Dina uns versprochen hatte. Ich wusste nichts von Dinas Rock-’n’-Roll-Begeisterung, aber Babuda zwei und ich befanden uns in Aufruhr, denn wir ahnten, dass Dina kurz davor war, einen kolossalen Sieg zu erringen, der für unsere gesamte Familie von größter Bedeutung sein könnte, und wir fieberten dem spannenden Zweikampf entgegen. Dina rückte den Stuhl nach hinten, sprang auf und streckte meinem Bruder die Hand entgegen:

– Ich soll also mit dir tanzen, ja?

Er sah sie ungläubig an.

– Ja klar, denn allein Rock ’n’ Roll zu tanzen wäre ja auch völlig bescheuert!, rief sie ihm lachend ins Gesicht. Und Rati ergab sich, mein unzähmbarer, widerspenstiger Bruder beugte sich ihrem Willen. Jetzt sprang auch er auf und zog sie an der Hand hinter sich her ins Wohnzimmer. Oliko und ich folgten ihnen, und wir wurden Zeugen eines Schauspiels, das so viel mehr war als ein bloßer Tanz: Es war der Moment, in dem ich mich in das Zusammensein dieser zwei Menschen verliebte, auch wenn ich nicht sagen konnte, wie ich dieses Gefühl einordnen sollte und was ich von Dinas so schlagartig entfachtem Interesse für Rati zu halten hatte. Ich sehe sie ineinanderfließen, sehe sie schwerelos werden. Sehe ihn, wie er sie hin und her wirbelt, sehe sie zwischen seine Beine gleiten, wie er sie wieder hochzieht – wie perfekt sie miteinander harmonieren, wie gut ihre Körper aufeinander abgestimmt sind, als hätten sie monatelang für ein Tanzturnier geübt. Ich wundere mich, woher sie all das kann, sehe Ratis Verwandlung vor mir. Wie mein störrischer Bruder, dieser draufgängerische Rowdy, zu einem durchlässigen, weichen, versöhnlichen Wesen wird, das glücklich ist, dass ihm etwas so gut gelingt.

Als das leise Kratzen der Nadel am Ende der Platte sie aus ihrer Ekstase weckte und ins schummrige Licht des Wohnzimmers zurückbeförderte, blieben zwei Schlafwandler zurück, die sich zu wundern schienen, wie sie an diesen Ort gelangt waren. Rati war seine Selbstvergessenheit merklich unangenehm, er verzog sich sofort in sein Zimmer, und Oliko räusperte sich, als wäre gerade etwas Unanständiges passiert, und forderte Dina auf, ihr Unterrichtsmaterial zu holen. Ich stand da und wusste nicht, wohin mit mir. Ich spürte den salzigen Geschmack der Tränen in meinem Mund und begriff nicht, was mich zum Weinen gebracht hatte. Vielleicht betrauerte ich bereits einen Verlust, den ich noch nicht in Worte fassen konnte, wobei nicht einmal klar war, ob dieser Verlust Rati oder Dina betraf oder gar die beiden. Ich taumelte zurück in die Loggia, froh darüber, dass Oliko sich mit Dina zurückgezogen hatte und ich Luft holen konnte, bevor ich meine Freundin mit Fragen überhäufen würde, vor deren Antworten ich mich fürchtete.

Ohne es jemals zu kommentieren, schleppte Rati sich fortan wieder in die Schule, und wir bedrängten sowohl Vater als auch Babuda eins, das unkommentiert zu lassen. Zu seinem Abschlussfest im Sommerhaus eines Freundes in Zqneti nahm er Dina mit und tanzte mit ihr zwei Stunden lang ohne Unterbrechung Rock ’n’ Roll. Als sie von der Feier zurückkehrten, ließ er sich angetrunken und mit glühenden Wangen in einen Sessel fallen und zog mich zu sich hinunter, um mich an seine Brust zu drücken und meine Haare durcheinanderzuwuscheln. Er hielt mich umarmt, und ich roch seine Veränderung: Sie roch lieblich, nach Rotwein, nach Müßiggang. Er roch wie jemand, der verliebt ist. Verliebt mit der Verliebtheit eines Achtzehnjährigen, unnachahmlich, mit der Wucht einer Lawine und zugleich mit der Leichtigkeit eines Schmetterlingsflügelschlags. Und aus irgendeinem Grund stiegen mir erneut Tränen in die Augen. Diesmal gab ich mir keine Mühe mehr, sie zu verbergen, und fiel ihm schluchzend um den Hals. Er tätschelte meine Wangen, küsste meine Stirn und kniff mich in die Nase. Ich aber weinte wegen der merkwürdigen Ahnung, die mich plötzlich überkam. Wegen des schweren Gefühls, für das ich keine Worte besaß. Ich weinte wegen des großen Feuers, das sie gemeinsam entzünden würden und das mich genauso anzog, wie es mich in die Flucht trieb.

Nach dem Abschlussfest ging Rati Dina eine ganze Weile aus dem Weg. In jenem Sommer gab er wieder den harten Straßencowboy, verbrachte die Zeit mit seinen Freunden im Viertel und fuhr das erste Mal allein mit Saba und seinem ewigen Komplizen Sancho (wie kamen sie bloß auf diesen Namen? Hatte er wirklich eine Ähnlichkeit mit Sancho Panza, und wer von ihnen hatte »Don Quijote« überhaupt jemals aufgeschlagen?) ans Meer, nach Batumi, eine Reise, die mein Vater ihm aus Freude über den Abschluss bereitwillig bezahlte.

Rati kam Ende August wieder, braun gebrannt, athletisch, und fragte mich, noch während er mir kleine Mitbringsel aus Batumi aushändigte, über meine »verrückte Freundin« aus. Sie sei die ganze Zeit am Fotografieren, erzählte ich ihm, habe von ihrer Mutter eine Kamera geschenkt bekommen und sei seitdem vollkommen abgetaucht. »Aha«, sagte Rati nur und verlor sich in einer vorgetäuschten Beschäftigung. Ein paar Tage später weckte mich Vaters wütende Stimme, ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass seine Wut Rati galt. Ich kam in die Loggia und sah meinen Vater aufgeregt auf und ab laufen, während Rati seelenruhig seinen geliebten schwarzen Tee trank.

– Dieser Idiot hat …

Vater schien vor Zorn kaum Luft zu kriegen.

– Was hast du schon wieder getan? Was?

Ich sah meinen Bruder genervt an.

– Er hat die Kamera deiner Mutter … deiner Mutter verschenkt. Eine echte Leica, ein unglaublich wertvoller Apparat, er hat ein Vermögen gekostet …

Er konnte vor Empörung kaum reden. Ich wusste, dass wir eine kostbare Kamera besaßen, die ihm Prochorow selbst aus Europa mitgebracht hatte – so wollte es zumindest die Legende –, aber diese Aufregung konnte ich beim besten Willen nicht mit der Kamera in Verbindung bringen, die er selbst niemals benutzte und die über die Jahre im Regal verstaubte.

– Wie ein Dieb ist er in mein Zimmer geschlichen und hat sie entwendet! Er hat sie verschenkt, um bei einem Mädchen Eindruck zu schinden.

Jetzt erst begriff ich den Zusammenhang. Rati hatte Dina die Leica unserer Mutter geschenkt. Und das wiederum ließ mich aufhorchen: Er hatte Dina etwas von seiner Mutter, seinem großen Idol, überlassen, was nur bedeuten konnte, dass es ihm mit ihr ernster war, als ich angenommen hatte.

– Er hat sie Dina geschenkt, Papa, meiner Dina. Das ist nicht irgendein Mädchen, versuchte ich zu schlichten, allerdings erfolglos.

– Das ist absolut egal. Er hat sie entwendet, ohne mich zu fragen.

– Du hast sie nie benutzt. Es ist doch sinnlos, so eine Spitzenkamera verrosten zu lassen! Sie wird damit tolle Fotos machen, insistierte Rati.

– Edelmetall mit einer Magnesiumlegierung rostet nicht, du Idiot, fluchte Vater, und Speichel flog aus seinem Mund bis auf meine Nasenspitze.

– Ich werde es ihr erklären, und sie gibt sie wieder zurück, Papa, beruhige dich, sie wird es verstehen, murmelte ich.

– Auf keinen Fall wirst du das, hörst du, Keto? Ich bringe dich um, wenn du das tust!, schrie Rati.

– Diese Kamera hätte niemals dieses Haus verlassen dürfen!

Mit diesem Satz stürmte Vater aus dem Zimmer. Rati und ich blieben allein zurück, verdutzt standen wir voreinander.

– Warum hast du das getan? Ich meine, du wusstest doch, dass er ausrasten würde.

Ich setzte mich an den Tisch und atmete tief durch.

– Sie lag einfach nur rum und fing Staub.

– Aber er hat sie Deda geschenkt.

– Deda hätte sich gefreut. Sie hat bestimmt nicht gewollt, dass sie als Souvenir in einem Schrank endet.

– Ja, aber sie gehört halt ihm.

– Nein, sie gehört nicht ihm. Sie hat Deda gehört. Es ist eh egal, jetzt gehört sie Dina.

Mein Vater tobte auch die kommenden Tage, forderte uns unentwegt auf, die Kamera zurückzuholen, bis Eter irgendwann beim Abendbrot rausrutschte:

– Bring doch den Jungen nicht in diese missliche Lage. Er flieht ohnehin schon die ganze Zeit vor uns, liefere ihm jetzt nicht auch noch einen weiteren Anlass, seine Familie zu meiden. Er ist gerade in einem schwierigen Alter, wir müssen uns alle in Nachsicht üben. Eigentlich müsstest du ihn sogar im Gegenteil belohnen und loben, Guram. Er wollte das Mädchen beeindrucken, und wenn es dir um den Film geht, der noch in der Kamera steckt, dann kann man sie ja bitten, ihn uns zurückzugeben, sie ist schließlich ein gescheites Mädchen. Deine Schwiegermutter (so nannte sie Oliko immer, wenn sie mit ihrem Sohn sprach) kann das doch in die Wege leiten, sie gibt ihr schließlich Nachhilfeunterricht, und schon haben wir das Problem gelöst.

– Was für ein Film?, fragten Oliko und ich fast gleichzeitig.

– Findest du es angebracht, jetzt dieses Thema anzuschneiden, Deda?, zischte Vater und griff zur Butter.

– Was für ein Film?

Oliko würde nun keine Ruhe mehr geben.

– Sag es ihr, Guram. Jetzt ist es eh egal. Wir müssen das Problem lösen.

– Und genau das ist der Grund, warum ich dir nichts mehr erzählen werde!, brummte mein Vater und spielte auf sein enges Verhältnis zu Oliko an, die seine Geheimnisse hütete und sich nicht selten im Streit zwischen Esma und ihm auf seine Seite geschlagen hatte, während seine eigene Mutter ihn nun in dieser heiklen Situation noch mehr unter Druck setzte.

– Was für ein Film? Guram, wovon redet sie?

Oliko hörte nicht auf.

– Wir sollten das Thema vertagen. Keto …

– Nein, ich werde jetzt nicht auf mein Zimmer gehen. Vielleicht betrifft mich diese Geschichte auch ein kleines bisschen? Dina ist schließlich meine beste Freundin.

Meine armseligen Argumente klangen wenig überzeugend, das war mir durchaus bewusst, aber ich wusste nicht, was ich sonst anführen konnte, um nicht wie ein kleines Kind weggeschickt zu werden.

– Die Kamera war mit in den Bergen.

Eter beendete die unerträgliche Anspannung.

– Sie hatte sie dabei, als … als das passiert ist. Aber er will den Film, der darin ist, partout nicht entwickeln. Was auch sein gutes Recht ist, schob sie beschwichtigend hinterher.

– Ist es wegen …? Ist es … Willst du den Film wegen ihm nicht entwickeln?

Olikos Stimme riss ab, und sie hielt sich den Mund zu.

– Wer ist dieser ihm? Hallo?

Ich hielt die unsägliche Spannung nicht länger aus, und zugleich fürchtete ich mich vor der Antwort.

– Deine Mutter hatte einen lieben Freund, auf den dein Vater etwas eifersüchtig war.

Eters säuselnder Tonfall gefiel mir nicht. Sie sprach mit mir, als wäre ich fünf.

– Einen lieben Freund? Einen lieben Freund also, ja, Deda? Bravo! Wunderbar!

Vater machte auf dem Absatz kehrt und verließ die schluchzende Oliko, die pikierte Eter und mich, die in der eigenen Angst gefangene Tochter, die versuchte, erwachsener zu wirken, als sie in Wirklichkeit war.

– Sie hätte dich niemals verlassen, sie hatten nichts miteinander, Guram, wie oft soll ich es dir noch sagen, sie waren befreundet, kannten sich seit der Kindheit, sie haben sich halt gut verstanden, meine Güte, hätten sie etwas miteinander anfangen wollen, hätten sie es vor deiner Zeit getan, sie haben einfach die gleiche Leidenschaft geteilt, Guram, ich bitte dich, sei nicht albern und komm zurück!

Babuda zwei wischte sich mit den Ärmeln die Tränen weg, während Babuda eins sie mit verächtlichem Blick streifte und den Kopf schüttelte.

Nachts klopfte ich an die Tür meines Vaters und setzte mich auf den Rand seines ewig quietschenden, prähistorischen Holzbettes, das er um keinen Preis austauschen wollte. Er lag mit dem Rücken zu mir und war in ein Buch vertieft.

– Ich besorge dir den Film, sagte ich ihm.

– Ist gut. Das Ganze sollte dich überhaupt nicht betreffen, du bist ein gutes Mädchen, murmelte er, ohne mich anzusehen, und ich hasste ihn in dem Moment für diesen beiläufigen Satz, der hohl wie eine Floskel klang. Ich wollte längst kein gutes Mädchen mehr sein, ich wollte ich sein, ich sein dürfen. Was würde der Film zeigen, was mein Vater so viele Jahre nicht sehen wollte? Eine tollkühne und zugleich glückliche Gruppe von Bergsteigern im Großen Kaukasus, bevor sie von einer Lawine erfasst wurde, oder eine Frau, die auf der Suche nach sich selbst in die Arme eines anderen Mannes geraten war?

– Ich besorge dir den Film, aber ich lasse Dina die Kamera. Wegen Rati. Es ist wichtig für ihn, sagte ich. – Ich besorge ihn, aber nur unter einer Bedingung, schob ich schnell hinterher, meinen ganzen Mut zusammennehmend.

– Bedingung? Du stellst mir eine Bedingung?

– Du wirfst ihn weg.

– Das kann ich nicht. Das letzte Andenken an deine Mutter …

– Und du traust dich nicht, dir die Fotos anzusehen. All die Jahre hast du dich nicht getraut. Vielleicht ist es dir doch nicht so wichtig.

– Ich werde es tun, wenn die Zeit dafür reif ist.

– Sie wird nie reif sein. Du musst dich entscheiden, in welcher Erinnerung du sie behalten willst, was auf diesen Fotos ist, spielt keine Rolle. Hätte es eine Rolle gespielt, wäre dieser Film längst entwickelt.

Er schwieg. Dann setzte er sich endlich auf und sah mich an:

– Vielleicht hast du recht. Ich weiß selbst nicht, warum ich es all die Jahre nicht gemacht habe.

– Du wirst deine Gründe gehabt haben, aber die sind jetzt nicht mehr wichtig, Papa. Und versprich, dass Rati nichts davon erfahren wird.

Er schien von meiner Entschiedenheit beeindruckt, als wünschte er sich die gleiche Entscheidungsfreude, die ihm die Aussöhnung mit seiner Vergangenheit um so vieles erleichtert hätte, aber sein Los war, mit seiner Wut und seinen Zweifeln zu leben.

Und nun stehe ich vor dieser Fotografie und betrachte unseren Sprung, eingefangen mit der Kamera meiner Mutter, die am Ende ihre Geheimnisse für immer für sich behalten und mit deren Hilfe die neue Besitzerin der Flüchtigkeit des Lebens noch so viele magische Momente entrissen hat. Ich sehe, wie wir alle – bis auf Ira – lachen und nicht ahnen, in welcher Zukunft wir landen würden, sobald unsere Füße wieder auf der Erde aufsetzen würden. Ich betrachte diesen Sprung und denke an die Menschenmengen, die in jener Zeit die Hauptstraßen füllten, mit Transparenten und vielen Träumen ausgestattet. Und ich höre Gorbatschow in den Nachrichten zu uns sprechen, seine »Umbaupläne« ankündigen. Kurz vor diesem Sprung muss es gewesen sein, dass Nene uns in ihre Verliebtheit einweihte. Sie sei unsterblich in Saba Iaschwili verliebt, teilte sie uns mit der Weisheit einer Hundertjährigen mit. Und ich erinnere mich, wie Ira daraufhin aufstand und den Spielplatz verließ, auf dem Nene uns ihr Geständnis machte. »Du spinnst ja!«, hatte Nene ihr empört nachgerufen.

Ich vertiefe mich in Iras ernsten Gesichtsausdruck auf dem Foto und mir fällt wieder ein, wie sie uns eines Tages erklärte, nicht länger zum Schachunterricht zu gehen, nie wieder Schach zu spielen. »Wieso denn das?«, wollte Nene wissen. »Ich dachte, du wolltest die zweite Nona Gaprindaschwili werden?« Und Ira antwortete: »Ich will in Zukunft nur noch etwas machen, wobei ich wirklich gewinnen kann. Nicht nur irgendwelche albernen Urkunden und blöden Pokale.« Kurz darauf teilte sie uns mit, Jura studieren zu wollen. Wir drei anderen hielten die Türen zur Zukunft noch zu, wir glaubten, die Gegenwart aussperren zu können und nichts von dem Tulpenmeer auf den blutigen Straßen nach dem 9. April und von den russischen Soldaten sehen zu müssen, von der anschwellenden Angst vor der neu gegründeten Mchedrioni-Bande und ihren Waffen. Wir klammerten uns an die letzten Sommertage unserer Kindheit. Und so standen wir auf dem Fabrikgelände und posierten für Dinas Leica, wie um etwas vor langer Zeit in den schneebedeckten kaukasischen Bergen Abgebrochenes fortzusetzen.

– Mein Onkel bringt mich um, wenn er das erfährt!, begann Nene zu wimmern, als wir wieder auf der Straße standen und die beängstigende Stille und Leere wahrnahmen. Die Sperrstunde hatte begonnen.

– Ich habe euch gewarnt, kommentierte Ira mit einer gewissen Überheblichkeit.

– Wir kommen schon heim, seid keine Angsthasen.

Allerdings bekam es Dina auch mit der Angst zu tun, das spürte ich an ihrer Anspannung, an ihren eckigen, mechanischen Bewegungen.

– Wir nehmen die Schleichwege, ich kenne mich in der Gegend aus, wir meiden die Hauptstraßen und sind in spätestens zwanzig, fünfundzwanzig Minuten zu Hause, in Ordnung?, rief sie mit aufgesetzt fröhlichem Ton eines Pionierführers.

– Sie bringen mich wirklich um, jammerte Nene. In bestimmten Momenten verließ sie ihre Tapferkeit und sie verwandelte sich in das ängstliche kleine Mädchen, das ohne die Aufsicht ihrer männlichen Familienmitglieder verloren war.

– Nicht gleich panisch werden.

Ira bewahrte wie immer die Ruhe. Logisches Denken war ihr Kompass, und auch jetzt suchte sie die sicherste Route für den Heimweg.

– Wir haben keine Wahl, und die Eltern anzurufen, wäre noch gefährlicher. Sie kontrollieren nur die Hauptstraßen, da hat Dina schon recht, wir nehmen kleine Gassen und Durchgänge.

Dina wartete die restlichen Meinungen nicht ab und setzte sich in Bewegung, und so blieb uns nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Auch mir war dieser Stadtteil nicht ganz fremd, mit Dinas und meiner Ortskenntnis würden wir schon sicher nach Hause kommen.

– Was wollen die überhaupt? Ich meine, was soll diese verdammte Sperrstunde?, stöhnte Nene, während wir die schmale, unbeleuchtete Seitenstraße in Richtung des Woronzow-Platzes hinunterliefen.

– Willst du jetzt wirklich so dämlich tun?, zischte Ira. Seit Nene immer wieder erwähnte, Saba Iaschwili »zum Niederknien« zu finden, war Ira äußerst gereizt und durch nichts und niemanden aufzuheitern.

– Was fauchst du mich so an? Konzentrier dich lieber auf den Weg!

– Du weißt also nicht, was die Russen bei uns wollen,

ja?

– Dina, Keto, sagt doch was, sie ist richtig biestig zu

mir!

Nene versuchte, Ira zu überholen und sie hinter sich zu lassen.

– Sie wollen nicht, dass wir unabhängig werden, so einfach ist das!, rief ihr Ira hinterher. – Der 9. April hat ihren Einmarsch nur noch legitimiert. Sie haben Leute umgebracht und stellen es so dar, als wäre es unvermeidlich gewesen.

Das war das erste Mal, dass ich in Iras Stimme eine solche Rage hörte. Ich wusste nicht, was oder wem sie galt, Saba Iaschwili oder den russischen Truppen, die unsere Stadt als Geisel hielten. Ich erinnere mich, wie ich kurz stehen blieb und mich zu ihr umdrehte, erstaunt über den Nachdruck in ihren Worten. Sie sah mich fragend an.

– Ich wusste nicht, dass du so … nun ja, so involviert bist.

Mir war kein besserer Begriff eingefallen. Unsere Worte erzeugten ein merkwürdiges Echo in der kleinen Straße, und das verstärkte die unheimliche Stimmung, als befänden wir uns in einer Geisterstadt.

– Involviert? Involviert?

Iras Missmut schien sich von Minute zu Minute zu steigern.

– Im Gegensatz zu euch interessiert es mich, in welchem Land ich lebe und ob ich frei bin oder in Sklaverei, rief sie pathetisch.

Bevor ich etwas antworten konnte, drehte sich Nene um, lief zurück und baute sich vor Ira auf, atmete ihr direkt ins Gesicht: – Bist du vollkommen von Sinnen? Du beleidigst uns ununterbrochen und glaubst, du seist die Klügste und hättest alles im Griff. Aber das ist totaler Unfug!

Es war eine Sache zwischen den beiden, und ich wollte mich am liebsten raushalten, aber es war keine Zeit zum Raushalten, genauso wenig, wie es eine Zeit zum Streiten war, aber irgendetwas hatte sich verkantet und war nicht mehr geradezubiegen. Dina, die noch immer voranlief, hörte die beiden nicht oder wollte sie nicht hören, ihre Schritte waren unsere Orientierung in der Dunkelheit. Was war mit den Laternen los? Fürchteten auch sie sich vor den Russen?

– Hey, wir müssen weiter, wir können hier nicht stehen bleiben, versuchte ich dazwischenzugehen, aber sie verhielten sich wie zwei Hunde, die sich auf den Angriff vorbereiten und die Zähne fletschen.

– Ich bewahre wenigstens den Überblick, während du nichts und niemanden außer deinen Capricen und Launen wahrnimmst. Die ganze Welt muss sich um dich und deinen weltfremden Saba drehen!

Ira war außer sich, eine unerträgliche Verzweiflung, die sie die Beherrschung verlieren ließ.

– Du bist doch bloß neidisch! Keto, sag, dass ich recht habe!, wandte sich Nene an mich. Sie brauchte immer Komplizen, sie brauchte immer Fürsprecher, als hätten nur die anderen die Macht, ihre Wahrheit zur Wahrheit werden zu lassen.

– Neidisch, ich? Neidisch worauf? Dass du irgendeinen hirnamputierten Typen aus der Ferne anschmachtest, der dich nicht einmal ansieht?

– Er kennt mich, dumme Kuh!, empörte sich Nene.

– Wenn du damit nicht klarkommst, dann tut es mir leid, dann solltest du dich besser aus meinem Leben raushalten!

– Hey, ihr zwei, wir müssen wirklich weiter … Und bitte seid nicht so laut!, zischte ich sie an, aber sie schienen taub für meine Bitten.

– Dein Leben? Mir geht es doch gerade darum, dass du ein Leben haben sollst und dir nicht so einen Typen angelst, der dir dann sagt, was du tun und denken sollst!

– So siehst du mich also, ja? Na toll, danke! Was willst du von mir? Du bist eh die Beste! Wieso bist du eigentlich noch mit mir befreundet?

– Ich …

Ira brach ab. Ich stand daneben und wusste nicht, was ich machen sollte. Aus der Ferne hörte ich Dina nach uns rufen.

– Siehst du, du weißt es nicht mal. So eine Freundin brauche ich nicht.

Nene kehrte ihren berühmten Stolz als letzten Trumpf heraus, zeigte sich zutiefst gekränkt und spielte die Unnahbare. Ira machte auf dem Absatz kehrt und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon. Mich erfasste Panik. Ich konnte ihr nicht hinterherlaufen, denn das würde bedeuten, dass wir uns aufteilten, und das war zu gefährlich. Ich beschloss, erst Dina zu finden, um dann zu dritt auf die Suche zu gehen. Wortlos lief mir Nene hinterher, und wir bogen in eine Hofeinfahrt, die vollkommen ausgestorben wirkte. Dina lehnte an einer Betonwand.

– Was habt ihr so lange gemacht? Wo ist …

– Sie haben sich gestritten, und Ira ist abgehauen, erklärte ich ihr stockend, außer Atem.

– Selber schuld, sag es ihr, Keto, sie war unmöglich zu mir, die ganze Zeit schon!, begann Nene sich zu rechtfertigen.

– Das ist jetzt völlig egal, Nene, sie kann hier nicht allein rumlaufen, wir müssen sie finden, sagte ich, bevor Dina mit einem Plan kam.

– Ja, das müssen wir wohl, stimmte sie mir ohne Widerrede zu, und wir gingen zurück. Diesmal rannten wir nicht, wir hatten uns bereits an die Angst gewöhnt, an die Dunkelheit und die bedrückende Stille. Langsam liefen wir die Strecke entlang, die wir vor wenigen Minuten noch so hastig bezwungen hatten. Nur drei Straßen weiter fanden wir sie. Sie stand unter einem Holzbalkon mit flatternder Wäsche, von zwei Soldaten in sumpfgrünen Uniformen flankiert, die sie offenbar immer weiter in die Enge trieben.

Ich erstarrte, vor lauter Anspannung vergaß ich zu atmen. Nene legte sich die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien. Auf Dinas Gesicht zeichnete sich in wenigen Sekunden eine ganze Gefühlspalette ab: erst Panik, dann Überforderung, dann Ekel, dann der Wunsch, sofort kehrtzumachen, dann wieder Mut, schließlich die Entscheidung zu handeln.

Ohne uns anzusehen, machte sie plötzlich ein paar Schritte nach vorn und rückte ins Blickfeld der Soldaten, die zwar keine Maschinengewehre, aber Pistolen in Halftern an der Hose trugen. Ira bemerkte uns sofort, und Iras Blick folgend drehten auch die beiden Männer die Köpfe in unsere Richtung. Wir standen auf der anderen Straßenseite, erstarrt und vor Furcht gelähmt. Der eine Soldat, kaum älter als wir, rief uns etwas zu, aber in diesem Moment ging Dina noch ein Stück weiter auf sie zu und zog ihr kariertes Hemd hoch. Sie entblößte ihren schwarzen BH und ihre vollen Brüste. Und bevor ich etwas sagen konnte, sah ich Nene das Gleiche tun. Sie tat es schnell, ohne Zögern, sie öffnete die Knöpfe ihres geblümten Kleids und stand mitten auf der leeren Straße, erleuchtet vom Licht einer spärlichen Straßenlaterne, wie ein Mannequin, das seinen betörenden Körper präsentiert. Ohne nachzudenken, schob ich ebenfalls mein Shirt hoch, kniff dabei die Augen fest zu, als wollte ich mich unsichtbar machen.

Ira öffnete den Mund, als die Soldaten, von unserem Anblick angelockt und sichtlich überfordert, langsam auf uns zuschritten. Und während die Soldaten angesichts ihrer unerwarteten, kostbaren Beute zu pfeifen und grölen begannen, riss Ira sich los und stürmte die Straße hinunter. Eine Sekunde später rasten wir drei ihr mit todesmutiger Entschlossenheit hinterher.

Das mangelnde Licht

Подняться наверх