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Der Hof

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Der Hof war das Universum unserer Kindertage und lag im hügeligsten und buntesten Viertel aller Tbilisser Stadtteile. »Das Sololaki-Viertel verdankt man den wasserreichen Quellen der umliegenden Berge, durch die sich dieser einst verwinkelte Ort im Laufe der Jahrhunderte zu jenem so begehrten und in buntem Mischmasch aufblühenden Viertel entwickelt hat.« Ich betrachte das Foto und höre die Stimme meines Vaters zu mir sprechen, der mir so oft und viel über unser Viertel erzählte, als ich noch an seiner Hand durch die engen Gassen unseres Stadtteils lief. »Unter der arabischen Herrschaft benötigte man viel Wasser, um die Festungsgärten zu gießen, und so ließ man einen Kanal anlegen, der es von den Sololaki-Hügeln ins Tal hinunterleitete. Als später die Türken die Herrschaft übernahmen, machten auch sie Gebrauch von jenem Wasser. Auf Türkisch heißt Wasser su, und so wanderte dieses türkische Wort in die georgische Bezeichnung des Stadtteils ein, und aus dem U wurde ein O. Im neunzehnten Jahrhundert ließen sich viele reiche Georgier in dieser Gegend nieder und legten hier ihre Gärten an, und auch dabei kam dem Wasser eine entscheidende Rolle zu. So wuchs das Sololaki-Viertel zu einem angesehenen Stadtteil, und viele graziöse Villen mit Buntglasfenstern und pittoresken Holzbalkonen schmückten alsbald die kopfsteingepflasterten Straßen.«

Als ich auf die Welt kam und in die schattige und stets feuchte Wohnung in der Rebengasse 12 gebracht wurde, die zwischen der langen Engelsstraße und dem Toneti-Platz lag, wohnten die ranghohen KP-Funktionäre bereits in anderen Vierteln, und die einst prachtvollen Sololaki-Villen waren vom Staat umfunktioniert worden. Die Bewohner lebten nun in den sogenannten Tbilisser Höfen. Wieder höre ich die monotone, beruhigende Stimme meines Vaters in meinem Kopf: »Da wegen der allgemeinen Wohnungsknappheit viele Familien in diesen Höfen hausten und sich das Leben immer mehr nach draußen verlagerte, ging es hier sehr laut zu. Und weil es die Zeit der italienischen neorealistischen Filme war, brachte man diesen Lärm schnell mit Italien in Verbindung. So wurden aus den Tbilisser Höfen die Italienischen Höfe.«

Ich sehe diese Höfe vor mir, ich wandere durch die kopfsteingepflasterten Straßen und biege in die Rebengasse ein, wo mein Leben seinen Anfang nahm. Dieses Viertel ersetzte mir damals die ganze Welt. Hier laufe ich in meiner Vorstellung umher, entlang dem Botanischen Garten, der Kreuzvater-Kirche und der Engelsstraße, in der unsere Schule lag, zu den oberen Hängen des Mtazminda mit der Zahnradbahn, zum Fernsehturm und zum Vergnügungspark, zu den Hügeln nach Okrokana, durch die vielen verwunschenen Gassen und Holztreppen inmitten von Reben, die die Balkone überwucherten, und die kleinen verwinkelten Straßen, über den imposanten Leninplatz zum Rathaus, zwischen lästigen Tratschtanten und den ewig ihre KAMAZ-Autos waschenden Männern, zwischen flatternder Wäsche und kleinen Brunnen – an diesen Orten fanden all meine Tragödien und Komödien statt, dort tastete ich mich ins Leben hinein, dort erlebte ich auch den Zusammenbruch einer Welt, ungläubig, mit weit aufgerissenen Augen und mit Todesangst in den Lungen.

Ich sehe unseren viereckigen Hof vor mir. Die zwei gegenüberliegenden Häuser, dazwischen ein winziger umzäunter Garten, dazu rechter Hand das kleine zweistöckige Steinhäuschen auf Stelzen, das später dazugebaut wurde und, weniger bunt und schön, wie auf Hühnerbeinen etwas verloren herumstand, als wäre es einem russischen Märchen entsprungen.

Anders als bei den tschechoslowakischen oder österreichischen Pawlatschenhäusern hatte man bei uns nicht nur über die Straße und das Treppenhaus mit seinen schiefen Holztreppen Zugang zu den Wohnungen, sondern auch vom Hof aus über die krummen Holzstiegen und Wendeltreppen. Die einzelnen Wohnparteien waren durch einen hölzernen Laubengang miteinander verbunden. Während unser Haus dreistöckig und mit den schnörkeligsten Laubengängen versehen war, war das gegenüberliegende Backsteinhaus erst um die Jahrhundertwende gebaut worden und der solideste Bau des Hofes, mit Efeu bewachsen, zweistöckig, davor Metallbalkone mit blumigen Verzierungen.

Das eigentliche Leben der drei Hausgemeinschaften fand entweder in den Laubengängen oder im Hof statt. Dort wurde Backgammon oder Domino gespielt, dort wurden Rezepte ausgetauscht, dort lagerten die Einmachgläser der Hausfrauen und das abgelegte Spielzeug der Kinder, dort wurden Kräuter gegen Mehl getauscht, Krankheiten besprochen und Ehekrisen ausgetragen, dort wurden Liebschaften entlarvt. Fast alle der hölzernen Wohnungstüren hatten Glasfenster, so dass allen Hofbewohnern klar war, dass jegliche Abschirmung von vornherein eine Illusion darstellte. Es gab immer einen an Schlafstörungen leidenden Nachbarn, der jedes Kommen und Gehen, unabhängig von der Uhrzeit, registrierte, dem jeder Streit zu Ohren kam und der jede leidenschaftliche Versöhnung zu kommentieren wusste. Der Hof war ein Organismus, in dem die einzelnen Wohnparteien die Organe bildeten, alle miteinander verbunden, alle notwendig, um den Körper am Laufen zu halten. Erst später kam mir der Verdacht, dass die Kommunisten bei der Wohnungsverteilung ihr Augenmerk darauf richteten, in diesem Mikrokosmos viele verschiedene Berufsgruppen anzusiedeln, die sich gegenseitig aushelfen konnten, damit dem Staat möglichst wenig Belästigung und Aufwand entstand: Wurde einer krank, wurde er hofintern versorgt, brauchte jemand Strümpfe, die nur unter dem Ladentisch verkauft wurden, regelte man auch das untereinander, wollte sich jemand gute Noten kaufen, um an der Universität studieren zu können, wurde das nachbarschaftlich geklärt. Der Hof war ein Staat im Staat. Ein auf den ersten Blick vorbildlich sozialistischer: Alle waren gleich, mit denselben Rechten ausgestattet, unabhängig von Ethnie und Geschlecht, aber natürlich war auch das nur eine Scheinrealität. Im Grunde hatte jeder seinen Platz in diesem Konstrukt, und jeder wusste über seine Privilegien Bescheid. Und so würde der armenische Schuster Artjom nicht einmal im Traum darauf kommen, seine Fühler nach einer Georgierin aus einer Akademikerfamilie auszustrecken, genauso wenig würde die Fabrikantenfamilie Tatischwili die kurdische Familie von rechts gegenüber zu sich einladen.

Sogar wir, die Kinder des Hofes der Rebengasse 12, hatten diese ungeschriebenen Gesetze verinnerlicht, ohne uns selbst dessen bewusst zu sein. Wir ahmten einfach die Erwachsenen nach, wobei die Tatsache, dass wir den kurdischen Tarik beim Verstecken und bei Himmel-und-Hölle mitspielen ließen, obwohl uns eingetrichtert wurde, dass er schmuddelig war, eine Lernschwäche hatte, seinen Schnodder aß und weggeworfene Kaugummis kaute, einzig und allein darin begründet lag, dass es sich gut anfühlte, jemanden wie ihn in unserer Nähe zu dulden. Denn auch das war eine Eigenheit unseres Hofes, unseres Viertels, ja, vielleicht unserer Stadt: Wir wollten immer um jeden Preis gemocht oder geliebt werden, und wir wussten, dass es sich gut machte, einen Schwächeren zu beschützen, in dieser Mehrvölkerstadt, die seit Jahrhunderten mit den anderen koexistierte. Schließlich waren wir doch die besten Gastgeber und die tolerantesten Nachbarn, wir krümmten niemandem ein Haar und luden alle zu uns ein, wir bewirteten sie und lachten ihnen ins Gesicht, aber wenn sie wieder gingen, atmeten wir erleichtert auf und rümpften die Nase über ihre Tischmanieren oder ihre derbe Art. Die anderen waren immer ein wenig schlechter und ein wenig gröber, ein wenig dümmer und ein wenig benachteiligter als wir.

Unsere Wohnung war meiner Großmutter väterlicherseits, die wir »Babuda eins« nannten, nach der Rehabilitierung ihrer Familie überlassen worden. Sie hatte hohe Decken und feuchte Wände, schnörkelige Balkone zur Straßenseite und tropfende Wasserhähne, gegen die jeder Handwerker machtlos war. Hier wuchs mein Vater auf, dorthin brachte er meine Mutter, nachdem sie Moskau den Rücken gekehrt hatten. Dorthin brachte man auch meinen Bruder und fünf Jahre später mich, nachdem wir in einem kahlen Kreißsaal irgendwo in Bahnhofsnähe das Licht der Welt erblickt hatten. In meinem Zimmer – mein winziges improvisiertes Reich – hingen lauter Poster aus teuer auf dem Schwarzmarkt ergatterten »Ausländischer-Film«-Magazinen. Als Kinder hatten mein Bruder und ich das schöne, etwas größere Zimmer geteilt und nicht selten Kissenschlachten und Mutproben veranstaltet, aber mit den Jahren wurde es zu eng für uns beide, und so wurde ich in die winzige Kammer neben der Küche – einst Vorratskammer – verfrachtet. Ich mochte sie nicht sonderlich gern, aber immerhin hatte ich es besser als Babuda eins und (folgerichtig meine Großmutter mütterlicherseits) Babuda zwei, die sich das Wohnzimmer teilten, in dem sie ihre Schüler empfingen und Bücher übersetzten – und die es während ihrer schlimmsten Auseinandersetzungen genauso teilen mussten wie in den friedlichen Zeiten – und das jeden Abend mit viel Aufwand, mit Geschiebe und Gezerre in ein Schlafzimmer verwandelt wurde.

Der Laubengang im zweiten Stock gehörte nicht nur zu unserer, sondern auch zur Wohnung von Nadja Alexandrowna, eine alleinstehende, kinderlose Witwe, von der wir uns nicht vorstellen konnten, dass sie jemals jung gewesen war, und die den fatalen Fehler begangen hatte, sich während ihrer Studienzeit an der Moskauer Lomonossow-Universität in einen georgischen Gitarrenlehrer zu verlieben. Sie verlor ihren Kopf und ihren Verstand und reiste ihm in seine sagenumwobene Heimat nach, die von vielen ihrer dichtenden Landsleute besungen und bewundert worden war. Nachdem die stürmische Liebe verklungen und die kopflose Leidenschaft abgeebbt waren, quartierte der Gitarrenlehrer seine russische Trophäe bei seiner älteren Schwester ein und verschwand wochenlang in den Armen anderer Damen. Anscheinend war Nadjas Liebe hartnäckiger und unerschütterlicher als die ihres Mannes, denn sie hielt ihm zu seinen Lebzeiten und auch darüber hinaus die Treue und fand jedes Mal irgendeine Entschuldigung für sein unverzeihliches Verhalten. Auch als er mit zwei Frauen uneheliche Kinder zeugte und sie ab und an mit nach Hause brachte, fand Nadja, dass es dem »armen Mann« zustehe, da sie selbst aufgrund einer schwerwiegenden Kinderkrankheit keine bekommen konnte. Mit etwas sehr Entscheidendem musste dieser dauerfeiernde Mann seine fragile und ätherische Frau entschädigt haben, denn anders war ihre bis zur Dummheit aufopferungsvolle Liebe nicht zu erklären. Nach dem Tod der unverheirateten Schwester des Gitarristen und nach dessen Ableben durch Leberzirrhose blieben Nadja die dunkle, feuchte Zweizimmerwohnung, ihre Zimmerpflanzen und ihre Katzen – und ihr Russisch, das sie bis zu ihrem Lebensende nie gegen Georgisch eintauschte, ebenso wenig wie sie es sich nehmen ließ, uns Kinder mit Nougat- und Sauerdornbonbons zu beschenken.

Ich weiß bis heute nicht, warum die Babudas ihre distanzierte Haltung ihr gegenüber bewahrten, sie waren zwar stets freundlich zu ihr, liehen ihr hin und wieder etwas Mehl, Backpulver oder Eier, aber eine gewisse Skepsis blieb bestehen. Wahrscheinlich lag es daran, dass sich die beiden noch sehr gut an ihren Mann und ihr »unwürdiges« Leben an seiner Seite erinnerten und ihr diese weibliche Hingabe, die an nahezu religiöse Selbstaufopferung grenzte, nicht verzeihen konnten. Und obwohl sie viel gemeinsam gehabt hatten – auch Nadja war eine Frau der Literatur und der erhabenen Verse –, schlossen sie keine Freundschaft, und so blieb Nadja Alexandrowna bis zu ihrem Tod bloß eine Nachbarin, die man nur zu großen Festen einlud und der man an Ostern rote Eier und Paska brachte.

Eine Etage tiefer, im ersten Stock, wohnten die Basilias. Was wohl aus ihnen geworden ist? Die voluminöse Nani, nebenberuflich Verkäuferin in einem städtischen Gastronom irgendwo auf der anderen Flussseite, hauptberuflich Schwarzmarkthändlerin und die gewiefteste Frau des ganzen Hofs (nicht einmal Iras Mutter konnte da mithalten). Ich erinnere mich an die bunten Kittel, die sie immer trug. Sie schaffte es wahrlich, mit allen und allem Handel zu treiben: Bat man sie um ein bisschen Salz, wollte sie im nächsten Augenblick ein halbes Kilo Reis als Gegenleistung. Sie konnte jeden dazu überreden, irgendetwas zu kaufen, und vor allem die Frauen des Hofs waren ihr hörig, nahmen ihre Übellaunigkeit, ihre derbe Art geduldig hin, denn gegen eine angemessene Bezahlung konnte sie alles auftreiben, was das Herz begehrte und was der sowjetische Staat nicht hergab: von Kinokarten für eine geschlossene Filmvorführung bis hin zu tschechoslowakischer Unterwäsche. Von ihrem Mann Tariel war meist nur der imposant behaarte Rücken zu sehen, denn auch in seiner Freizeit war er unermüdlich an seinem KAMAZ zugange, der zum Groll aller Kinder immer im Hof parkte und beim Spielen störte. Ihr einziger Sohn, Beso, hatte weder das Talent seines Vaters noch das seiner Mutter geerbt; er war ein langsamer Zeitgenosse, träge und bewegungsfaul, der sich immerzu im Schritt kratzte und schon als kleiner Junge eine ausgeprägte Neugier allem Sexuellen gegenüber zeigte.

Wohnten die Basilias Wand an Wand mit Zizo? Ja, natürlich, so muss es gewesen sein, denn später wurde der Wohnraum dieser alten Dame durch Iras Familie, die Schordanias, beschnitten, und der erste große Hofskandal war vorprogrammiert. Zizo habe ich nie gemocht, musste mir aber immer alles von ihr gefallen lassen, so hatte man es mir und den anderen Kindern des Hofes eingebläut. Denn diese alte alleinstehende Dame mit albernen Hütchen auf dem Kopf und einem stets jammernden Tonfall hatte vor Jahren ihren einzigen Sohn bei einem Autounfall verloren, und dieser Verlust verlieh ihr in den Augen der Hofgemeinschaft einen Märtyrerinnenstatus. Sie durfte, was die anderen nicht durften: schimpfen und klagen, mahnen und eben jammern. Von ihrer Zweizimmerwohnung trat sie später ein Zimmer an Iras Mutter Giuli ab. Aber ihr war damals sicherlich nicht klar gewesen, dass diese ihr dadurch den Zugang zu ihrer Wohnung über das Treppenhaus versperren und zum ewigen Klagen und Stöhnen auf dem Weg über die Wendeltreppe verdammen würde.

Das ganze Erdgeschoss gehörte den Tatischwilis mit ihrer geräumigen Wohnung, dieser nahezu unwirklich vorbildhaften Vorzeigefamilie, der man trotz ihrer übertriebenen Gastfreundschaft, ihrer Geselligkeit und den beeindruckenden Kochkünsten der Familienmutter im Hof mit großem Misstrauen begegnete. Die Ablehnung ging vor allem von den Vertretern der Intelligenzija des Hofes aus und war dem Beruf geschuldet, den der Familienvater einst ausübte, Dawit, der immer nur »der Tschechowik« genannt wurde, ein Wort, dessen Bedeutung ich erst viele Jahre später erfassen sollte – der sowjetische Inbegriff für staatliche Verdorbenheit und Korruption. Diese Menschen waren die »Kapitalistenschweine« der Sowjetära und jedem »ehrbaren« Menschen ein Dorn im Auge. Hinzu kam, dass diese Familie eine Spur zu perfekt schien, und so war man unermüdlich darum bemüht, Fehler und Probleme dieser Musterfamilie aufzudecken.

Anna Tatischwili saß zwei Bänke vor mir und war die inoffizielle Prinzessin der Klasse, eine Schönheit und die Klassenbeste über viele Jahre, bis Ira ihr wenigstens diesen letzten Status streitig machte. Ihr Bruder Otto, der Prinz der Familie, war ein kleiner Sadist. Wie ich ihn hasse, wie mich heute noch dieses Unbehagen befällt, wenn ich an ihn denke. Dieser ewig Flüchtige. Wie es sich wohl mit seiner Schuld leben lässt?

Schon als Kind offenbarte er gewisse Auffälligkeiten, aber man gab sich mit endlosen Rechtfertigungen seiner Eltern zufrieden. Hieß es nicht damals, er sei halt ein »besonderer Junge«, mit dem man viel Geduld bräuchte? Nur einmal, als er eines Tages die Katze von Nadja Alexandrowna im Auffangbecken unter dem Wasserhahn im Hof ertränkte – der kleine Tarik war Zeuge der Folter geworden und hatte uns davon erzählt –, verlor man diese schier endlose Geduld und prophezeite, es würde »kein gutes Ende mit ihm nehmen«. Wie recht sie doch hatten.

Das Häuschen auf Stelzen rechter Hand – auch das war ein unausgesprochenes Gesetz – beherbergte die Absteiger und Außenseiter. Dieses Gesetz wurde erst durch den Einzug von Lika Pirweli und ihren beiden Mädchen auf den Kopf gestellt. Zuvor wohnten dort nur der armenische Schuster Artjom, der von Frau und Kindern wegen seiner übermäßigen Liebe zum Alkohol verlassen worden war, und die kurdische Familie, die ich als Kind namenlos glaubte, denn keiner nannte sie bei ihrem Vor- oder Familiennamen, sondern immer nur »die Kurden«. Arbeitete der Vater nicht in den Schwefelbädern, oder bringe ich etwas durcheinander? Ich sollte Ira fragen, ja, sie hat ein phänomenales Gedächtnis, sie wird es wissen. Die älteren Kinder der kurdischen Familie, insgesamt waren es wohl fünf oder sechs, waren alle bereits ausgezogen und teilweise verheiratet. Tarik, der Jüngste, war der Nachzügler, und man munkelte, die Eltern hätten die Sache mit der Fortpflanzung bereits als abgeschlossen betrachtet, als er sich der Welt ankündigte. Tarik mit der Brille mit den dicken Gläsern, die seine Augen in winzige Punkte verwandelte, war ein unglaublich lieber und höflicher Junge, über den völlig zu Unrecht allerlei Schwachsinn im Umlauf war, was es ihm nicht gerade leicht machte, von den anderen Kindern akzeptiert zu werden. Irgendwie war er trotzdem immer dabei, und zu jeder Jahreszeit sah man ihn im Hof spielen. Tarik war ein großer Tierfreund, der jedem Straßenköter einen Namen gab und ihn mit Leckereien fütterte, die er seinen Eltern oder den Nachbarn stibitzte. Ich weiß nicht, ob seine Mutter ihn derart abgöttisch liebte, weil er so unerwartet als spätes Glück auf die Welt gekommen war, oder weil er es im Leben nicht leicht hatte, aber sie tat es so übereifrig, dass sie Tarik sicherlich mindestens genauso im Weg stand wie all die idiotischen Gerüchte über ihn. Tarik, ja, Tarik, der Seismograph für das aufkommende Unglück, der Vorbote des Niedergangs, der das Ende unserer Kindheit einläutete.

Mein Blick wandert weiter über das Bild unseres Hofes, zur gegenüberliegenden Seite, zum roten Backsteinhaus. Die Wohnungen im roten Haus waren stabiler, schöner, sicherer, die Bewohner des roten Hauses waren Urgesteine des Hofes, und man zollte ihnen besonderen Respekt. Auch lebten dort nicht, wie bei uns, gleich mehrere Familien auf einem Stockwerk, sondern insgesamt bloß zwei – oder besser gesagt, eine Familie und Onkel Giwi, ein Name, der bei fast allen (und vor allem den älteren) Hofbewohnern grenzenlose Bewunderung auslöste, meist von einem bedauernden Kopfschütteln begleitet.

Onkel Giwi … ich muss lächeln und lasse mir diesen Namen auf der Zunge zergehen, auf der sich in Sekundenschnelle der Geschmack meiner Kindheit ausbreitet, das Aroma von sahnigem Eis, von Buchweizen, von Sauerdornbonbons und Estragonlimonade. Onkel Giwi schien schon immer in diesem Backsteinhaus gelebt zu haben, seit der Zarenzeit, vor allen Revolutionen und vor den Bolschewiken. Im Sommer wie im Winter standen seine Fenster offen und klassische Musik drang aus seiner Wohnung. Er galt als Held des Zweiten Weltkrieges, dekoriert mit etlichen Tapferkeitsmedaillen; bis nach Berlin sei er gekommen, General im Ruhestand und passionierter Pianist – ein Autodidakt, wurde meist ehrfürchtig hinzugefügt. Eine Wucht von einem Mann, so kategorisierten ihn meine Babudas, und ich unterstellte den beiden, in diesen hochgewachsenen, hageren Mann mit den hängenden Schultern und dem watscheligen Gang verliebt zu sein.

Vor allem Eter, Babuda eins, die pedantische und strengere meiner beiden Großmütter, bei der ich mir am allerwenigsten vorstellen konnte, dass sie zu irgendwelchen romantischen Gefühlen imstande war, wurde regelrecht schwach, sobald das Gespräch auf Onkel Giwi kam, und wer weiß, vielleicht hätte sie auch tatsächlich sein Herz erobern und mit ihm ununterbrochen über die Erhabenheit der Musik und der deutschen Sprache plaudern können, wäre da nicht ein Haken gewesen, ein unüberwindbares Hindernis, das es ihr unmöglich machte, eine ernsthafte Beziehung mit ihm in Erwägung zu ziehen: Onkel Giwi war überzeugter Stalinist und hatte nicht einmal nach der Zerschlagung des Stalinkults dessen Porträt von der Wand abgehängt, unter das er immer eine Vase mit frischen Blumen stellte.

Ja, dieser galante, kinderlose Witwer mit Veteranenrente und einem Faible für Bach und das Schachspiel verehrte den Massenmörder, der Eters Leben ruiniert und ihre Zukunft zerstört hatte. Immer wenn die Dinge in den Augen von Onkel Giwi in eine gefährlich falsche Richtung liefen, wurde der »stählerne Mann« herbeizitiert. »Würde er nur sehen, welchen Abgrund das Ganze hinunterrollt!«, stöhnte er, wenn er morgens am offenen Fenster die Zeitung las oder den Nachrichten im Radio lauschte. »Seine eiserne Hand, und alles wäre wieder im Lot.« Diese Ausrufe hinderten die meisten betagten Damen des Viertels nicht daran, von seinen feinen Manieren und seinem adretten Kleidungsstil zu schwärmen, auch sprachen sie alle mit offensichtlicher Rührung von seiner grenzenlosen, herzzerschmetternden Liebe zu seiner leider, leider zu früh verstorbenen Frau. Welch eine Liebe, welch Hingabe, welch Zärtlichkeit! Und während sie feuchte Augen bekamen und ihr Mund sich zu einem sehnsüchtigen Strich verzog, kam der Verdacht auf, dass sie sich, ohne es sich vielleicht selbst einzugestehen, an die Stelle dieser ewigen Julia wünschten, der es nicht vergönnt gewesen war, alt zu werden und mit Giwi Nachkommenschaft zu zeugen.

Seine Sprache, die etwas gekünstelt und altmodisch wirkte, brachte uns Kinder immer zum Lachen, und manchmal klingelten wir unter allerlei blödsinnigen Vorwänden an seiner Tür, um mit ihm ins Gespräch zu kommen und seine komplizierten Sätze zu hören. »Der Frühling ist mit seinen zarten Pudertönen in unserem Hof erblüht, sehen Sie hin, Sie unschuldigen Geschöpfe«, sagte er einmal im Vorbeigehen zu uns, und wir prusteten los, kaum dass er hinter seiner Holztür verschwunden war. »Ich wünsche Ihnen allen ein Jahr voller Herzensangelegenheiten, die sich zu Ihrer größtmöglichen Zufriedenheit fügen«, begrüßte er uns einmal zu Neujahr, und wir wiederholten diese Worte tagelang, konnten uns nicht mehr einkriegen. Und sofort muss ich an den Tag denken, an dem er das alte Heft vor mich hinlegte …

Ich frage mich, wer von meinen beiden Babudas die glorreiche Idee hatte, meinen Bruder und mich mit einer schier unmenschlichen Überzeugungsleistung dazu überreden zu wollen, uns von Onkel Giwi etwas über klassische Musik erzählen zu lassen. Natürlich scheiterten sie bei Rati, mein Bruder schrie wie am Spieß, er wolle doch nicht wie so ein Muttersöhnchen zum Spott des ganzen Viertels werden, aber mir gelang es nicht, mich ihrem Willen zu entziehen, und so ging ich ein paarmal tatsächlich zu ihrem Idol, um die hohe musische Erziehung zu erhalten. Und wahrscheinlich hätte ich mir noch eine ganze Weile Vorträge über Bachs Etüden oder über Schostakowitschs Siebte anhören müssen, die Onkel Giwi wegen seiner Erinnerungen an den Krieg besonders schätzte, aber unerwarteterweise war Onkel Giwi selbst meine Rettung.

Bei einem seiner Vorträge sprang er plötzlich auf, um aus dem Hinterzimmer irgendwelche Notenhefte zu holen, und so nutzte ich die Gelegenheit und ergriff gedankenversunken die Serviette, die vor mir auf dem Zeitungsstapel auf dem Tisch lag, und begann zu zeichnen. Wie so oft zeichnete ich geistesabwesend, ohne mir ein bestimmtes Motiv vorzunehmen, während sich seine Stimme im Hintergrund aufzulösen begann. Ich vertiefte mich so sehr in meine geliebte Beschäftigung, dass ich zuerst nicht bemerkte, dass er hinter mich getreten war. Er hielt inne, ich schrak zusammen und ließ den Stift aus der Hand gleiten.

– Oh, tut mir leid, murmelte ich und versuchte, die Serviette verschwinden zu lassen.

– Nein, nein, warten Sie, zeigen Sie her, das sieht interessant aus.

Jetzt, wo ich an diese Szene denke, fällt mir ein, dass er jedes Lebewesen siezte, und ich muss daran denken, wie sehr wir Kinder des Hofes diese Eigenart mochten und uns durch seine Anrede gleich viel bedeutsamer fühl-

ten.

Zögerlich schob ich die Serviette zu ihm hin. Erst beim genauen Hinschauen realisierte ich, was, oder besser gesagt, wen ich zu zeichnen versucht hatte, und wurde augenblicklich rot. Es waren Onkel Giwis aristokratische Züge, die ich mit flüchtigen Strichen skizziert hatte, seine lange Adlernase und sein etwas fliehendes Kinn. Er nahm die Zeichnung in die Hand und führte sie nah an seine Augen, er hatte keine Brille auf und wollte anscheinend kein Detail übersehen.

– Nicht schlecht, junges Fräulein, gar nicht mal so schlecht. Zeichnen Sie regelmäßig?

– Gelegentlich, gab ich kleinlaut zu.

– Bevorzugt Porträts?

Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte, und zuckte mit den Schultern.

– Ich meinte, ob Sie lieber gegenständlich zeichnen oder sich mehr dem menschlichen Antlitz widmen?

– Keine Ahnung. Ich zeichne alles, was ich interessant finde.

– Oh, dann fühle ich mich ja geehrt. Sie sollten damit unbedingt weitermachen, fügte er hinzu, noch immer in die Zeichnung vertieft. – Vielleicht wird eines Tages ein zweiter Kramskoi aus Ihnen.

Ich fühlte mich geschmeichelt und war heilfroh, dass ich ausnahmsweise wusste, von wem er sprach. Reproduktionen der »Unbekannten« schmückten etliche Haushalte meiner Kindheit, und wenn nicht dieses Gemälde, so doch »Das Mädchen mit den Pfirsichen« von Serow, das wir ebenfalls, allerdings als kleine Postkarte, im Bücherregal, angelehnt an die Buchrücken, stehen hatten und über das Dina immer sagte, es sehe mir ähnlich.

Auch Onkel Giwi hatte »Die Unbekannte« in einem vergoldeten Rahmen an derselben Wand hängen, die auch Stalins riesiges Porträt schmückte. Links von der »Unbekannten« hing ein Schwarzweißfoto seiner so früh verstorbenen Frau, die mit dem etwas schüchternen Blick, den adrett zusammengebundenen Haaren und dem Nerzkragen aus einem anderen Jahrhundert zu stammen schien.

– Mögen Sie Ihre Arbeit nicht beenden?, forderte er mich auf. – Ich hole ein richtiges Blatt Papier, und Sie zeichnen das Porträt fertig, in Ordnung? Die Etüden können warten, fügte er noch hinzu, als wollte er mir die Aufgabe damit schmackhaft machen.

Ich willigte trotz meiner Verunsicherung ein, denn es schien mir tatsächlich immer noch besser, als weiter endlose Vorträge über Musik hören zu müssen. Er holte ein altes verblichenes Malheft und legte es vor mich hin. Ich griff zum Bleistift und hoffte, er würde aufstehen und mich allein lassen, aber ich traute mich nicht, ihn um diesen Gefallen zu bitten. Er schien sichtlich stolz, dass er von einer Sekunde zur anderen zum Modell geworden war, sei es auch nur für ein halbwüchsiges Mädchen. Ich gab mir alle Mühe, studierte seine Züge genauer und begann, die Linien präziser zu setzen. Seine Augen waren schön, auf die wollte ich mich konzentrieren, sie sollten im Fokus stehen. Sie waren glasklar, wach, als versteckte sich dort der Quell seiner Jugend, denn sie wirkten im Vergleich zu seinem restlichen Gesicht eigenartig jung.

Für einen kurzen Augenblick verdichtete sich die Zeit, die Geräusche verstummten schlagartig, sogar das Ticken der Wanduhr löste sich auf, die Welt, das Außen, alles wurde dumpf und ruhig. Ich spürte, wie Gänsehaut meine Arme überzog, ich hielt diese Konzentration kaum aus, aber zugleich ahnte ich, dass dieser Moment etwas Besonderes war, und ich wollte keine Regung, keinen noch so winzigen Impuls verpassen. Auch Onkel Giwi schien den Atem angehalten zu haben, auch er schien an einem magischen Ort zu sein, an dem alles zeitgleich existierte und zugleich nichts von Bedeutung war.

Ich werde immer voller Dankbarkeit an diesen Moment, an diesen sonderbaren Mann zurückdenken, der mir die Kraft offenbarte, die in mir steckte und die mir als Kompass im Leben hätte dienen sollen. Und doch werde ich im selben Augenblick bleischwer, denn nichts stimmt mich trauriger, nichts reißt mir so gnadenlos den Boden unter den Füßen weg wie der Gedanke daran, dass ich diesen Kompass eines trüben Februarnachmittags vor langer, langer Zeit im Zoo neben dem Affengehege gegen das blanke Überleben eingetauscht und seitdem nie wieder zurückerlangt habe.

Ich wusste nicht, wie lange wir so dagesessen hatten, eine Ewigkeit oder nur fünf Minuten. Mit zittriger Hand reichte ich ihm die Zeichnung.

– Sie haben Talent, junge Dame, Sie haben Talent. Und ich denke, dass dieses Talent nicht in der Musik liegt, sondern in der Malerei, der sollten Sie sich ernsthaft widmen, sagte er leise und setzte diesmal seine Lesebrille auf, um die Zeichnung besser studieren zu können. Eine ganze Weile saß er reglos da, und ich hätte alles gegeben, um zu erfahren, was in jenen Sekunden in seinem Kopf vorging. Ich fühlte mich geschmeichelt und zugleich war mir bange. Als hätte ich durch seine Worte eine Verantwortung auferlegt bekommen, der ich mich nicht gewachsen fühlte.

– Darf ich die Zeichnung behalten?, fragte er mich.

Noch nie hatte jemand einer Zeichnung von mir solchen Wert beigemessen. Bei uns zu Hause war ich stets das Kind, das »vor sich hin kritzelte«, nur ab und an gab es wohlwollende Blicke von meinem Vater oder ein Lob der Babudas für meine »Fantasie«. In der Schule interessierte sich ohnehin keiner für meine künstlerischen Ambitionen, und auch ich war bis dahin nicht erpicht darauf gewesen, meine »Kunstwerke« groß herumzuzeigen. Für mich war es etwas, das ich tat, wie atmen oder essen, ohne darüber nachzudenken. Natürlich war ich immer noch misstrauisch und bezweifelte, dass er wirklich begeistert war, aber ich wusste, er war ein ungemein seriöser Mensch ohne besondere humoristische oder ironische Ader, und so blieb mir am Ende nichts anderes übrig, als ihm zu glauben.

Und tatsächlich entdeckte ich einige Wochen später, als ich vom Hof in das offene Fenster seiner Wohnung blickte, meine einfache Zeichnung seines Gesichts zwischen seiner verstorbenen Frau, der »Unbekannten« von Kramskoi und Stalins Porträt. Voller Überraschung und Überforderung blieb ich stehen und stellte mich auf die Zehenspitzen, unfähig, die Augen von dieser merkwürdigen Anordnung abzuwenden.

Nur zwei Tage nach dieser schicksalhaften Begegnung klopfte Onkel Giwi an unsere Tür. Die Babudas waren vollkommen außer sich, als wäre Jean Gabin höchstpersönlich erschienen (dass Jean Gabin der schönste Mann der Welt war, darüber herrschte eine seltene Einigkeit zwischen ihnen). Alles, was die Vorratsschränke hergaben, wurde auf dem Küchentisch angerichtet und frischer grüner Tee gekocht. Nach oberflächlichem Geplänkel kam Onkel Giwi zur Sache:

– Ich denke, wir sollten die kleine Keto nicht mehr nötigen, mich mit ihren Besuchen zu beehren, sagte er und räusperte sich bedeutungsvoll.

– Wieso denn das? Was hat sie denn angestellt? Keto, was hast du verbrochen?, rief Babuda eins durch die Wohnung.

Ich hatte mich, als ich Onkel Giwis Stimme hörte, in mein Zimmer geschlichen und lauschte an der dünnen Wand. Ich ahnte, dass sein Besuch etwas mit mir zu tun hatte, und wusste noch nicht so recht, welche Folgen das für mich haben würde.

– Oh nein, sie ist ein aufgewecktes, reizendes Mädchen, keine Frage.

Man hörte die beiden Babudas erleichtert aufatmen.

– Was ist es dann?, wollte Oliko, Babuda zwei, wissen.

– Ich denke einfach nicht, dass ihr Interesse der klassischen Musik gilt. Ihr Talent übrigens ebenso wenig, gestand Onkel Giwi entwaffnend ehrlich und brachte die beiden Babudas für einen Moment zum Verstummen.

– Aber das Interesse daran kann man doch fördern, man kann die Ohren schulen …, stammelte Oliko schließlich.

– Man kann eine Leidenschaft nicht auf Knopfdruck entfachen, und Musik ist eine Leidenschaft, muss eine Leidenschaft sein, alles andere wäre Zeitverschwendung und ihrer nicht würdig.

Er räusperte sich: – Allerdings …

– Ja?, fragten die Babudas im Chor. Und wie viel Hoffnung in dieser Frage mitschwang! Vielleicht bestand ja noch eine Möglichkeit, eine klitzekleine Chance, dass ich ihrem Idol, diesem galanten Herrn, weiterhin Besuche abstatten durfte.

– Sie hat ein für ihr Alter beeindruckendes Talent, glauben Sie mir, nur nicht für die Musik, sondern …

– Sondern?

Diesmal war es Babuda eins, die es kaum noch aushielt vor Neugier.

– Sondern für die bildende Kunst, möchte ich sagen. Sie zeichnet frappierend gut. Ohne Zweifel.

Es folgte eine Pause, und es ärgerte mich, die Gesichter der Babudas nicht sehen zu können. Waren sie überrascht? Enttäuscht? Ein triumphales Gefühl breitete sich in mir aus, wusste ich doch, wie viel Wert sie auf seine Meinung legten. Ich vernahm ein weiteres Räuspern, eine der Babudas hustete, und ich hörte Oliko sich eine Zigarette anzünden, gewiss gefolgt von einem vorwurfsvollen Blick Eters.

– Ja, sie kann vielleicht ganz gut zeichnen, aber eine klassische musikalische Ausbildung ist doch etwas anderes …

Babuda eins konnte ihre Enttäuschung nicht länger im Zaum halten.

– Sie sollten ihr Talent fördern. Ein professioneller Maler sollte sich ihre Zeichnungen ansehen.

Onkel Giwis Stimme wirkte etwas schroffer als sonst.

– Ja, sicherlich, sicherlich, das machen wir, Eter, oder?

Babuda zwei war dazwischengegangen und versuchte, die Stimmung wieder aufzuheitern.

– Wissen Sie, setzte Onkel Giwi erneut an, für die Musik muss man sich öffnen, man muss zulassen, dass sie einem bis in die Seele dringt, dass sie dort etwas anrichtet, im wahrsten Sinne des Wortes, und das, was sie dort angerichtet hat, muss man dann der Außenwelt offenlegen. Das möchte Keto nicht. Sie braucht ihre Schale. Gott weiß, wofür, aber das tut sie.

Dieser Satz blieb mir – von meinem winzigen Zimmer aus lauschend – in Erinnerung. Jetzt noch, Lichtjahre von diesem Augenblick, von diesem Ort entfernt, hallt er in mir nach. Ich hatte damals nicht wissen können, wie gut Onkel Giwi neben den Noten auch die Menschen lesen konnte.

Bald gingen den Babudas die Argumente aus, und sie gaben sich enttäuscht geschlagen. Sie bedankten sich übertrieben unterwürfig für seinen Besuch, und kaum war Onkel Giwi fort, unterzogen sie mich einem endlosen Verhör, ob ich nicht doch irgendetwas angestellt haben könnte, bis sich eine tiefe Melancholie über die beiden legte und man sah, wie sie sich von ihrem Traum verabschiedeten, aus ihrer Enkelin eine große Musikerin zu machen.

Bei all den Unterschieden, all den Ambivalenzen, die ihre Biografien aufwiesen, waren meine beiden Großmütter durch und durch Menschen ihrer Zeit, das heißt, sie waren sowjetisch geprägt und machten eine klare Unterscheidung zwischen erhabener und niederer Kunst. Klassische Musik, auch Ballett, ebenso bestimmte Sportarten, die in der Sowjetunion sehr beliebt waren, beruhten auf Disziplin, auf unermüdlichem Fleiß, man musste sich die Finger wund spielen, die Füße blutig tanzen, den Körper bis zum Umfallen trainieren, um etwas zu erreichen, denn als Künstler oder Sportler hatte man erfolgreich zu sein, sichtbar, mit Orden behängt und anerkannt, als Künstler musste man grenzenlose Bewunderung hervorrufen und mit Trophäen ausgezeichnet werden, dagegen war alles, was einem leichtfiel (und als solches wurde auch meine Fähigkeit zu zeichnen eingestuft), schlichtweg unseriös und wurde als nicht förderungswürdig erachtet. Es war eben einfach nur ein Zeitvertreib, eine jugendliche Spielerei, und man durfte das Kind nicht auch noch in der Annahme bestärken, dass das Leben einem etwas schenkte, dass etwas ohne harte Arbeit zu erreichen war, dass man durch etwas, das einem »einfach so zufiel«, im Leben glücklich werden konnte.

Mein Blick verharrt beim ersten Stock, dem winzigen Ausschnitt des Bildes aus der Vogelperspektive: die Iaschwilis. Neben Onkel Giwi die einzigen weiteren Bewohner des roten Backsteinhauses. Merkwürdigerweise sehe ich nicht als Erstes Lewan vor mir; es ist Nina, seine Mutter, die sich vor meinem inneren Auge aufbaut. Diese weiche, einladende, liebevolle und kultivierte Frau mit der Alabasterhaut und den grünen Augen, dem ewig schlummernden Blick einer Sirene, hatte etwas von einer Tschechow-Figur mit ihrem gehäkelten Überwurf, ihren adrett gelegten Haaren und ihren Baskenmützen. Sie arbeitete in der staatlichen Bibliothek und wurde von meinen Großmüttern gleichermaßen geliebt und geachtet, obwohl sie eine Generation jünger war als die Babudas, doch schien sie viel mehr mit ihnen gemeinsam zu haben als mit anderen gleichaltrigen Frauen im Viertel. Welch ein schönes Trio sie doch abgaben, die Babudas und Nina an unserem Küchentisch, wo sie abwechselnd mit der einen oder der anderen Backgammon spielten. Ab und an rauchten Nina und Oliko eine Zigarette oder unterhielten sich über das Buch, das sie gerade ausgelesen hatten. Nina versorgte die Babudas mit Index-Büchern, an die Normalsterbliche nicht so leicht rankamen. Und gleich wird diese idyllische Erinnerung von ihrem grausigen, wölfischen Heulen überdeckt, an jenem Tag, an dem der Tod unangekündigt an ihre Haustür klopfte.

Ninas Mann Rostom, auch sein Gesicht sehe ich genau vor mir, seine Melancholie, seine überdimensionale Brille und die hellen, schütteren Haare. Ich sehe mich seine Dunkelkammer betreten, Dinas liebster Ort. Ich frage mich, ob ich mir diese Wohnung als ein Zuhause für mich habe vorstellen können, habe ich je darüber nachgedacht, dort zu wohnen, daran geglaubt, dort glücklich zu werden? Ich weiß es nicht mehr.

Rostom, ja, Rostom. Dieser schweigsame, in seiner eigenen Welt lebende Mann. War es »Der Kommunist«, für den er als Zeitungsfotograf arbeitete? Ja, ich glaube schon, schließlich galt es als ein angesehener Posten, auch wenn er viel lieber seine großformatigen Porträtaufnahmen entwickelte als die üblicherweise verlangten staatskonformen Motive. Ich sehe die Wände dieser schlicht eingerichteten und meist nach Kuchen duftenden Wohnung vor mir, die mit seinen Fotos geschmückt waren, und obwohl es sich bei den Porträtierten um Bekannte und Nachbarn handelte, ja um Familienmitglieder, kam es mir jedes Mal so vor, als würde ich sie auf seinen Bildern zum ersten Mal sehen.

Wie wir es als Kinder liebten, im sanften Rotlicht seiner Dunkelkammer die an einer Wäscheleine befestigten Fotoabzüge zu begutachten. Wie oft habe ich dort, unter dem Vorwand, mir Rostoms Fotos ansehen zu wollen, die Nähe zu seinem jüngsten Sohn gesucht, der seine Zuneigung niemals offen zugeben wollte, die Situation aber nutzte, um meine Schulter zu streifen, meine Hand zu berühren. Wie kostbar diese fragile Zweisamkeit im roten Licht doch war.

Wahrscheinlich ging es auch Rostom so, wahrscheinlich fand er in diesem schummrigen Licht den nötigen Frieden. Nur ab und an, wenn einer seiner Söhne etwas anstellte oder Nina der Geduldsfaden riss, kroch er ans Tageslicht und sah sich gezwungen, das Wort zu ergreifen und den strengen Vater zu geben, obwohl ihm wahrscheinlich am deutlichsten klar gewesen sein muss, dass weder sein Ältester, Saba, noch sein Zweitgeborener, Lewan, sich vor den angedrohten Konsequenzen fürchteten. Wie oft Lewan sich über die aufgesetzte Strenge seines Vaters lustig gemacht hat! Und Saba, der schöne Saba, »das Schneewittchen«, wie er diesen Namen gehasst hat, den ihm mein Bruder passenderweise aufgedrückt hatte. Ich muss kurz die Augen schließen, ich muss kurz Atem holen, wieder denke ich an Flucht.

Wie oft ich mich gefragt habe, ob mein Bruder den Weg eingeschlagen hätte, den er einschlug, wäre das mit Saba nicht passiert. Dieser wunderschöne Junge mit den pechschwarzen Locken, grünen Augen, der schneeweißen Haut. Der Freund, den mein Bruder am meisten liebte und brauchte. Ich muss schmunzeln, wenn ich an seine Schüchternheit und Ungeschicklichkeit denke, die so überhaupt nicht zu seiner entwaffnenden Erscheinung passte. Wie wenig er mit weiblicher Aufmerksamkeit umgehen konnte, um die ihn alle Freunde, auch sein Bruder, beneideten. Aber den größten Teil von Sabas Charme machte genau die Tatsache aus, dass er sich seiner Wirkung auf andere Menschen und insbesondere auf das andere Geschlecht überhaupt nicht bewusst war. In weiblicher Gesellschaft verhielt er sich tollpatschig und wirkte überfordert, lief ständig rot an, wenn man ihn direkt ansprach, und er schien meinen draufgängerischen Bruder mit seiner zupackenden Art zu brauchen, als jemanden, den er nachahmen, an den er sich anlehnen konnte, um in dieser Welt voller Ansprüche und Erwartungen zurechtzukommen.

Ich habe nie begriffen, warum er sich oft so unwohl fühlte, hatte er doch alles, um bewundert, geliebt, gar angehimmelt zu werden, aber vielleicht war es das Erbe seines Vaters, vielleicht brauchte auch er eine Dunkelkammer, die ihm die nötige Sicherheit und den nötigen Frieden bescherte. Auch er hätte eine gute Romanfigur abgegeben, aber nicht aus Tschechows Universum, nein, vielmehr eine Figur aus einem französischen Roman, vielleicht von Flaubert oder Proust. Umso absurder erschien mir die Tatsache, dass er sich ausgerechnet meinen Bruder als seinen besten Freund auserkor. Mein Bruder Rati stand für alles, was Saba nicht verkörperte, Rati war die Galionsfigur einer Männerwelt, die Saba fremd war, er sprach die Sprache der Straße, er war auf die Art maskulin, die in unserem Land geschätzt und geachtet wurde. Doch wollen mir auch die Motive meines Bruders für diese ungleiche Freundschaft nicht einleuchten, bis heute ist es mir unerklärlich, was mein störrischer, radikaler, rastloser und rebellischer Bruder an der Seite dieses empfindsamen Jungen gesucht und gefunden hat, der alles verkörperte, was Rati belächelte. Saba war sein Gegenteil: ruhig, in sich gekehrt, wortkarg, ungeschickt, schamhaft und vor allem schreckhaft. Nie habe ich Saba jemanden bedrängen, geschweige denn irgendeine Art körperlicher oder verbaler Gewalt ausüben sehen, alltägliche Dinge für Rati und seine sonstige Gefolgschaft. Es muss irgendwo tief in meinem Bruder, in einem verborgenen Winkel, etwas gegeben haben, das sich nach Sabas Besonnenheit und Selbstgenügsamkeit sehnte.

Und Ratis schützende Hand garantierte Saba die Unantastbarkeit, die er brauchte, um er selbst sein zu dürfen. Der Preis für diese Unantastbarkeit war, Rati und seine Freunde zu Streitfällen und Schlägereien begleiten zu müssen. Dabei war es Sabas Pflicht, bei den diversen Rasborki als eine Art Friedensstifter zu fungieren und die Handbremse zu ziehen, wenn die Situation aus dem Ruder lief.

Auf einmal höre ich sie: Lewans unnatürlich tiefe Stimme, als hätte er schon mit zehn Jahren jeden Tag eine Zigarre geraucht, dazu dieser leicht schnippische Ton, in dem immer eine vage Provokation mitschwingt. Ich schlucke, etwas schnürt mir die Kehle zu. Ich habe seinen Geruch in der Nase, dieser lederne, angespannte Geruch des ewig Suchenden, der nie gefunden hat, wonach ihn verlangte. Lewan war ein Wirbelwind an Energie, ein explosives und furchtloses ewiges Kind. Wenn ich an meine Schulzeit denke, denke ich immerzu an irgendeinen Streich, irgendeine Schandtat, für die er verantwortlich war, und sehe das beschämte Gesicht seiner Mutter vor mir, die wegen seines aufsässigen Verhaltens in die Schule zitiert wurde. Obwohl er mich mit seinen dummen Sprüchen und seiner Hektik oft zur Weißglut brachte, war er mir der liebste Mensch in Ratis Umfeld. Er strahlte eine so beneidenswerte Zuversicht aus, eine so überbordende Positivität, dass es unmöglich war, sich seinem Charme zu widersetzen. Er war das schwarze Schaf der ansonsten recht schwermütigen und zu sentimentalem Trübsinn neigenden Iaschwili-Familie. Hätte Nina nicht durch ihren Feinsinn und ihren Posten ein derartiges Ansehen bei unserer Direktorin genossen, wäre er bei mehreren Gelegenheiten von der Schule geflogen.

Lewan war kleiner und wendiger als sein älterer Bruder, ebenfalls ein dichter Lockenkopf, auch wenn seine Gesichtszüge etwas gröber wirkten als die des dandyhaften Saba, nur die Augen der Brüder waren identisch – mit dichten Wimpern, groß, ewig erstaunt, ewig nach etwas Ausschau haltend, bei Saba leuchtend grün, bei Lewan sumpfgrün. Wann habe ich das letzte Mal in Lewans Augen geblickt, ich weiß es nicht, und es ist heute auch nicht mehr wichtig. Aber ich denke an seine Locken, und meine Finger bewegen sich in Gedanken impulsiv durch seine dichte Mähne.

Ich weiß nicht, warum, aber mich faszinierten die Iaschwili-Brüder von klein auf. Wie sich diese Gegensätze in den zwei Brüdern vereinten, hatte etwas Filmreifes, als hätte sich die Natur bemüht, akkurat auf den Kopf gestellte Spiegelbilder zu schaffen, fast eine penible Symmetrie der Differenzen. Ich konnte nicht anders, als Lewan bei all der Überforderung, die ich in seiner Gegenwart verspürte, für sein Ungestüm, seine Emotionalität und seine Herzlichkeit zu mögen. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an seine Nähe und fand es befremdlich, wenn er für eine Weile aus meinem Blickfeld verschwand. Auch wenn ich nicht genau wusste, wo er war, konnte ich mir sicher sein, dass er jeden Augenblick auftauchen würde.

Wann fing diese eigenwillige Zuneigung an? Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann verblüfft feststellte, dass sich sein Verhalten mir gegenüber schlagartig änderte, wenn wir allein waren, was äußerst selten vorkam, aber dann verwandelte er sich urplötzlich in einen neugierigen, etwas verlegen wirkenden Jungen, der ständig etwas von mir wissen wollte. Mir gefiel seine Wissbegierde, und ich stand ihm für jede Auskunft zur Verfügung, beantwortete beflissen seine Fragen. Ob es dabei um meine kulturellen Vorlieben ging oder meine Zeichnungen, die er eines Tages zufällig in unserer Loggia bemerkte und die ihn aus irgendeinem Grund interessierten – er bombardierte mich mit Fragen, kaum dass wir im Hof einmal zu zweit zurückblieben. Kam auch nur eine der Babudas hinzu, schlüpfte er schnell wieder in seine Rolle und behandelte mich wie gewohnt abweisend.

Jahrelang pflegten wir diese merkwürdige Beziehung, die mich mit der Zeit zu ärgern begann. Seine Haltung war für mich nicht nachvollziehbar, ich begriff nicht, warum er meine Nähe suchte und sich zugleich dafür zu schämen schien, aber ich fasste nicht den Mut, ihn darauf anzusprechen, stattdessen gewöhnte ich mich an dieses kribbelige Geheimnis und begann, es mit zunehmendem Alter sogar aufregend zu finden. Es war etwas Besonderes, das ich mit ihm teilte, und diese Besonderheit galt nur mir – während er für die anderen der Rowdy blieb. Ich genoss diese Exklusivität, genoss seine unerschöpfliche Neugier, seine doppeldeutigen Blicke während der sich zufällig ergebenden, nie verabredeten Treffen.

Mit den Jahren entwickelte ich eine gewisse Routine bei diesen Begegnungen: Ich ahnte, wann wir allein bleiben und er mit hastigen Blicken prüfen würde, ob wir auch wirklich ungestört waren, um dann sofort zur Sache zu kommen: »Warum zeichnest du unseren Hof immer aus der gleichen Perspektive?« – »Ich habe ein cooles neues Album von einer sehr schrägen Engländerin, Kate Bush heißt sie, willst du es hören und mir sagen, wie du sie findest?« – »Rot steht dir, warum trägst du das nicht öfter?« – »Magst du auch klassische Musik?« Die Fragen kamen oftmals zusammenhanglos und wie aus der Pistole geschossen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er sie in der Zeit, in der wir uns nicht sahen, sammelte, und auf die nächste Gelegenheit wartete, um mich einem seiner Kreuzverhöre zu unterziehen. Nach und nach entdeckte ich eine gewisse Logik in diesen wirren Fragen und wurde auch mit meinen Antworten schneller. Ich hatte keine Mühe mehr, von meinen Musikvorlieben zu bestimmten Zeichentechniken, vom Lieblingsessen zu irgendeinem Streit in der Schule und dann zu einem neuen Film im Kino »Oktober« zu wechseln. Ich lernte mit der Zeit, von den Fragen auf Lewans Interessen zu schließen, sie verrieten so viel über ihn, und in mir festigte sich ein neues, ein eigenes Bild dieses Jungen, das er aus einem verborgenen Grund nur mir offenbaren wollte.

Er war musikvernarrt und liebte klassische Musik nicht nur, sondern kannte sich sogar unerwartet gut aus. Anders als bei mir hatten die langen Nachmittage bei Onkel Giwi, zu denen seine Mutter auch ihn verpflichtet hatte, bei ihm offenbar gefruchtet. Er hatte einiges für Kunst übrig, aber anders als sein Bruder gab er dieses Interesse nicht unumwunden zu, um bloß nicht aus der Rolle des harten, unerschütterlichen Rowdys zu fallen. Aber er sehnte sich anscheinend nach jemandem, mit dem er seine weiche Seite teilen konnte. Ich war diejenige, die er dafür erwählt hatte, und ich nahm diesen heimlichen Austausch als kleines, unverhofftes Geschenk an. Manchmal fragte ich mich, was mich daran hinderte, einfach selbst den Hof zu überqueren und ihn zu besuchen, um unsere Gespräche in der erforderlichen Ruhe zu führen, aber etwas in mir ahnte, dass ich mit diesem Schritt unsere zaghafte, übervorsichtige Nähe aufs Spiel setzen würde, und ich ließ es sein.

Und wie würde man uns wohl beschreiben, die Kipianis, die letzten Bewohner dieses Hofs? »Die Kipianis«, ja, so nannte man uns im Hof, der Nachname stand für alle drei Generationen in der Dreizimmerwohnung, so viele Jahre, so viele Vergangenheiten und mögliche Zukunftsversionen in sich vereinend, so viele Gegensätze, so viele eingeäscherte Träume …

Die Babudas, wie sehr sie mir doch fehlen. Sie markieren den Beginn meiner persönlichen Zeitrechnung. Babuda eins, Babuda zwei. Zwei Anfänge ein und derselben Geschichte. Bevor ich auf die Welt kam, nannte mein Bruder sie beide »Bebia«, schlicht »Großmutter«. Das aber sorgte stets für Verwirrung. Wenn mein Bruder nach Bebia rief, drehten immer beide die Köpfe nach ihm um und verloren sich in tüchtiger Fürsorge, um einander auch in diesem Punkt in nichts nachzustehen. Als meinem Bruder dieser ewige Wettstreit zu blöd wurde, beschloss er, ihnen beiden den Großmutter-Status abzuerkennen. Zuerst nannte er sie, zu ihrem Entsetzen, bei ihren Vornamen – Eter, die Großmutter väterlicherseits, und Oliko, die Großmutter mütterlicherseits –, später wählte er dann die Bezeichnung Babuda, »Schwester des Großvaters«, was keiner Logik folgte, aber auf eine sehr kindlich-intuitive Weise den Konflikt entschärfte. Dazu nummerierte er sie auch noch durch: Eter wurde zu Babuda eins und Oliko zu Babuda zwei.

Babuda eins war im Jahr der Einverleibung der kurzlebigen georgischen Demokratie durch die Bolschewiken geboren und wiederholte stets, dies komme »nicht von ungefähr«. Das gewaltsame Ende der Demokratie und ihr Streben nach Autonomie und Disziplin stünden durchaus miteinander in Verbindung. Sie war eine sehr nüchterne, im engeren Sinne intellektuelle Person, die allerdings einen Hang zur Mystik und eine sentimentale Ader für die Heroik besaß. Sie sei in diesem schicksalhaften Jahr geboren worden, weil das Leben nur den Auserwählten derlei Wendepunkte zumute. Das Universum habe gewusst, dass sie diese persönliche Herausforderung würde meistern können. Dass diese Herausforderung ihrem gesamten Volk galt, vergaß sie allzu gern, zumal es ihr insbesondere darum ging, Babuda zwei ihre Überlegenheit zu demonstrieren, da diese erst zwei Jahre später das Licht der Welt erblickt hatte, in einem weit weniger symbolisch aufgeladenen Jahr.

Ihr etwas albernes Konkurrenzgehabe zog sich durch ihrer beider Leben wie ein roter Faden, als gälte es, alles, aber auch wirklich alles, dieser koketten Rivalität unterzuordnen. Ich hätte allzu gern gewusst, wann sie damit begonnen hatten, und vor allem, wer von ihnen. Manchmal glaubte ich, dass sie nur auf die Welt gekommen waren, um sich gegenseitig das Leben schwer zu machen, dass sogar meine Eltern nur aus diesem einen Grund geheiratet hatten: um diese beiden kruden, eigenwilligen Seelenverwandten und Rivalinnen zusammenzubringen, und keineswegs, um meinen Bruder und mich zu zeugen oder in ihrer kurzen Ehe glücklich zu werden.

Die Babudas waren sich in genauso vielen Eigenschaften ähnlich, wie sie sich radikal voneinander unterschieden. Es war eine dauernde Reibung, die eine Energie freisetzte, die sie beide am Leben hielt. Mit zunehmenden Jahren schienen sie von dieser Energiequelle immer abhängiger zu werden, und wenn gerade mal kein Streitthema anstand, wenn sich gerade kein äußerlicher Konflikt anbot, dann wurde eine Meinungsverschiedenheit regelrecht heraufbeschworen, ein Zwist provoziert. Ihre Auseinandersetzungen schienen sie zu befeuern, sie zu Höchstleistungen anzuspornen, so hielten sie ihre Lebensgeister und Köpfe wach, eben wie Menschen, die sich täglich körperlich betätigen, um in Form zu bleiben. Sie waren die tragenden Säulen unserer Familie, deren Zusammenfinden, so schien es, nicht bloß dem Zufall, sondern einem geheimen kosmischen Plan zu verdanken sei, dem sie von Kindertagen an gefolgt waren.

In Eters Erzählungen von ihrer Kindheit kamen stets märchenhaft anmutende Figuren vor, da gab es Gouvernanten aus Dresden und Handarbeitslehrerinnen aus Krakau, sogar einen Reitlehrer aus Armenien für ihren jüngeren Bruder. Ich stellte mir meine Großmutter damals als ein pausbäckiges Mädchen mit türkisen Schleifen im Haar und in Lackschühchen vor – wie ich es in unserer alten englischen Ausgabe von »Alice im Wunderland« gesehen hatte –, das mit ernstem Gesicht und aufrechter Haltung in einem lichtdurchfluteten Zimmer sitzt und Rotkehlchen auf ein Stofftaschentuch stickt. Diese lichtdurchflutete und wohlige Kindheit jagte mir einen Schauer über den Rücken, weil ich ja aus den Erzählungen wusste, dass bald Dunkles und Finsteres über sie hereinbrechen und ein böser Zauber sich über das schöne Haus mit geschwungenen Bögen und vergoldeten Spiegelrahmen legen würde: Die Bolschewiken würden kommen und ihnen alles wegnehmen. In meiner kindlichen Vorstellung waren die Bolschewiken allesamt böse Mächte der Finsternis, sie trugen schwarze Gewänder und hatten nur ein Auge, wie der Zyklop in unserem Buch der griechischen Mythologie, das ich als Kind so sehr liebte. Was ich damals nicht begriff, war, dass diese Bolschewiken nicht gekommen und wieder gegangen waren, sondern über siebzig lange Jahre bei uns blieben, und dass auch ich unter ihnen lebte.

Die Szene, wie ihr Vater, ein vornehmer Seidenfabrikant, eines Nachts abgeholt wurde, habe ich noch heute vor Augen, meine Vorstellung davon ist immer noch genauso lebendig wie damals, als ich mit geweiteten Augen und mit offenem Mund dieser grausamen Geschichte lauschte.

Ich sehe sie vor mir, finstere Männer, die ihn um drei Uhr morgens abholen kommen, als die Stadt noch in einem tiefen Schlaf versunken liegt, ich höre die Mutter weinen, höre den Vater seine Frau trösten und ihr Mut machen, sehe, wie er die Bolschewiken mit erhobenem Haupt höflich bittet, ihn nicht anzufassen, er wolle eigenständig und in Würde ins wartende Auto steigen. Und wie die bösen Bolschewiken beschämt zu Boden blicken – bloßgestellt von so viel Haltung – und wie die kleine Eter, vom Lärm geweckt, barfuß ins Wohnzimmer gelaufen kommt und der Vater ihr sagt, es sei nur ein Spiel, wie Verstecken für Erwachsene, und sie solle sich nicht fürchten, er würde sich an einem »sehr sicheren Ort« verstecken.

Das lichtdurchflutete Zimmer wurde durch ein dunkles, feuchtes Loch nahe der Ortatschala-Festung ersetzt, wo sie niemanden kannten und wo nur Arbeiterfamilien hausten, mit denen sie keine Sprache teilten. »Sie hatten nur Verachtung für uns übrig, sie dachten, dass wir uns für etwas Besseres hielten«, betonte Eter immer, wenn sie an diese Stelle kam. Die Briefe aus Astrachan, wohin ihr Vater deportiert worden war, wurden rar, und die Mutter erkrankte an Tuberkulose. Als Eter, gerade siebzehnjährig, einen jungen, von der Permanenten Revolution besessenen und den Marxismus als letzte Rettung der Menschheit preisenden Bolschewiken heiratete, war die Hoffnung groß, damit ihrer Familie aus der bitteren Not herauszuhelfen und ihren Vater zurückholen zu können. Denn als Kinder eines »Vaterlandsverräters« hatten sie weder eine Chance auf Bildung noch auf eine ordentliche Anstellung. Ihre Hoffnungen zerfielen zu Staub: Erst erreichte sie ein Brief aus Astrachan, der Häftling sei auf einer Baustelle tödlich verunglückt, dann wurde der Große Vaterländische Krieg ausgerufen und sowohl ihr Bruder als auch ihr frisch angetrauter Mann an die Front berufen. Ein Jahr später fiel ihr geliebter Bruder Guram, der Gedichte auf Deutsch schrieb und Puccinis Arien sang »wie kein anderer«, auf der Halbinsel Kertsch. »Er war nicht für den Krieg geschaffen, er hatte die Seele eines Schwans«, wiederholte Eter an dieser Stelle, und ich versuchte, mir einen Guram vorzustellen, der nicht mein gleichnamiger Vater war, der Gedichte auf Deutsch schrieb und eine Schwanenseele besaß, aber es gelang mir beim besten Willen nicht.

Ihr Mann, den sie kaum mehr als aus den Briefen kannte, die er ihr von der Front schrieb, und in dem sie unbedingt einen Kriegshelden sehen wollte, wenn er schon nicht zum romantischen Helden taugte, hinterließ nur eine einzige signifikante Spur in ihrem Leben, und das auch nur, weil der Zufall es wollte, dass er nach einer Verwundung im letzten Kriegsjahr zur Genesung in ein Tbilisser Krankenhaus verlegt wurde. Bei diesem Aufenthalt muss es zur Zeugung meines Vaters gekommen sein, der dann bereits als Halbwaise zur Welt kam, da sein Vater, kaum genesen, erneut in den Kampf aufbrach und es nicht schaffte, die letzten Kriegstage zu überleben.

Der Status als junge Kriegswitwe machte ihr Leben etwas erträglicher, sie schluckte ihren Zorn und ihre Enttäuschungen hinunter wie bittere, aber nötige Medizin, krempelte die Ärmel hoch und begann, das Leben neu zu erfinden. Sie gab ihrem Sohn den Namen ihres geliebten Bruders, Guram, und besann sich auf die Dinge, die sie glücklich gemacht hatten. Sie dachte an die lichtdurchfluteten Nachmittage, an denen ihr Bruder Guram und sie sich im Aufsagen von Gedichten überboten hatten, im Wettstreit um das Lob ihrer deutschen Gouvernante Martha. An diesen magischen Ort kehrte sie nun immer wieder zurück, sammelte auf, was dort zurückgelassen worden war. Und auch wenn viele sich wunderten – der Krieg war gerade erst vorbei und Deutsch die Sprache der Feinde –, beschloss sie, Germanistik zu studieren, denn für sie existierte auch ein anderes Deutschland, Marthas Deutschland, das Deutschland ihres Vaters, das er öfter geschäftlich aufgesucht hatte, das Deutschland der Brüder Grimm und Heines und Kleists und Novalis’ und Hölderlins – und natürlich ihres geliebten Goethe.

Sie studierte Germanistik und ergatterte sogar ein Stipendium, mit dem sie gerade so über die Runden kamen. Wie oft mein Bruder und ich uns doch anhören mussten, dass die deutsche Sprache und Kultur ihr das Leben gerettet hätten. Dieser Sprache blieb sie bis zu ihrem Lebensende treu, in dieser Sprache fand sie Trost und Wärme, Güte und Erhabenheit – alles, was ihr das Leben seit der Verhaftung und Verschleppung ihres Vaters verwehrt hatte. Ein Trick meines Bruders funktionierte später immer: Sie war jedes Mal zutiefst betroffen und entrüstet, wenn er sagte, dass Deutsch »wie ein Presslufthammer« klinge und er sich weigere, es zu lernen.

Eigentlich bedauere ich es, dass ich die stundenlangen Zankereien und Diskussionen zwischen ihr und Babuda zwei um die Vorzüge der deutschen gegenüber der französischen Sprache nicht in irgendeiner Form dokumentiert habe. Es waren wahre Gladiatorenkämpfe, richtige Lehrstücke in der Disziplin des verbalen Duells. Welch absurde Argumente teilweise angeführt wurden, wer da nicht alles zitiert wurde: Die Nibelungensage versus das Rolandslied, Goethe versus Racine, Voltaire versus Kant, Musil versus Proust. Diese Streitereien, diese nie endenden Argumente, dieses Gegenüberstellen von französischen und deutschen Tugenden war die ewige Begleitmusik meiner Kindheit. Und wir alle wussten, dass es in diesem Kampf keinen Gewinner geben konnte, dass immer der unbefriedigende Gleichstand bleiben würde.

– Schon deswegen ist Deutsch die wunderbarste Sprache der Welt, weil zwischen dem Leben und dem Lieben nur ein einziges kleines i steht, sagte Babuda eins an einem sonnigen Morgen am Frühstückstisch. Mein Vater war in seine Zeitung vertieft, mein Bruder und ich zankten uns um irgendetwas, Oliko hatte im Hintergrund das Radio mit folkloristischem Kitsch laufen, alles war wie immer. Wir alle ahnten bereits die heraufziehende endlose Diskussion.

– Deda, bitte nicht schon wieder, und vor allem nicht jetzt!, stöhnte mein Vater.

– Was denn? Es muss nun mal gesagt werden.

Eter sah zufrieden in Olikos Richtung, die so tat, als hätte sie nichts gehört, obwohl man merkte, dass sie ihrer Rivalin durchaus Respekt zollte und ihre Eröffnung recht gekonnt fand.

– Reichst du mir die Butter bitte, mein Sonnenschein?, wandte sich Oliko an meinen Bruder.

Eter erwartete keine Lorbeeren, aber man spürte, dass sie diesen banalen Satz durchaus als einen kleinen Sieg wertete, und aß zufrieden weiter. Doch kurz bevor wir uns alle vom Frühstückstisch erhoben, kam der Gegenschlag:

– Und wisst ihr, warum Französisch die schönste Sprache der Welt ist?

Olikos funkelnde Augen streiften jeden Einzelnen von uns. Dass wir in diese ewigen Diskussionen immer hineingezogen wurden, waren wir gewohnt, wir waren die Arena, wir feuerten sie an, ohne uns wäre das Spiel sinnlos und langweilig.

– Weil nur im Französischen der Orgasmus als »der kleine Tod« bezeichnet wird.

La petite mort, fügte sie noch in ihrem eleganten Französisch genüsslich hinzu.

Mein Vater verschluckte sich an seinem Tee.

– Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren, die Kinder sitzen mit am Tisch!, echauffierte sich Eter auf der Stelle, aber sie schimpfte halbherzig, man merkte, dass sie ihrer Gegnerin durchaus Anerkennung entgegenbrachte.

– Was ist ein Orgasmus?, fragte mein Bruder und strahlte die beiden älteren Frauen scheinheilig an.

Eter Kipiani galt als Koryphäe an der Germanistischen Fakultät der Staatlichen Universität, wo sie zunächst als Professorin, später als Fakultätsleiterin arbeitete. Ihr Sohn, mein Vater Guram, war ein viel zu früh erwachsen gewordener Junge, der den hohen geistigen Ansprüchen seiner Mutter zu genügen und schon als Schüler mit den geliebten Studenten seiner Mutter Schritt zu halten versuchte, von denen sie unentwegt sprach. Sie weihte ihren Sohn in all ihre Sorgen und Probleme ein, unterschätzte aber die emotionale Bürde, die sie ihm damit auferlegte. Mein Vater sollte daher im Laufe seines Lebens eine bestimmte Strategie im Umgang mit seiner dominanten Mutter entwickeln, die er bis zu ihrem Lebensende beibehielt: Er lieferte ihr das, was sie hören und sehen wollte, und das, was ihn wirklich umtrieb oder belastete, behielt er für sich. Ich bin bis heute davon überzeugt, dass die endlose Rivalität der beiden Babudas ursprünglich genau dort ihren Anfang nahm: im Herzen meines

Vaters.

Vater zeigte schon früh eine große Begeisterung für die naturwissenschaftlichen Fächer. Im Gespräch mit seiner Klassenlehrerin nickte seine Mutter wortlos und bemerkte mit leichtem Bedauern in der Stimme: »Ich hätte ihn so gerne für das Wesentliche entflammt …« Die Lehrerin sah Eter etwas irritiert an: »Ich wollte ihn für die landesweite Jugendolympiade der Mathematik anmelden!« Doch Eter zuckte bloß mit den Schultern.

Er gewann die Olympiade und wurde im folgenden Jahr an die Komarow-Begabtenschule geschickt, an der auch andere bebrillte Mathegenies unterrichtet wurden. Allerdings entdeckte er dort seine große Passion: die Physik. Und er entschied nach seinem Abschluss mit Bestnote, dem besonders meinem Bruder gegenüber vielzitierten »Roten Diplom«, Physik zu studieren. Dank der Fürsprache einiger Lehrer gelang es ihm, am Moskauer Institut für Physik und Technologie angenommen zu werden, an einem der führenden Eliteinstitute in der Sowjetunion.

Die Mutter meiner Mutter, Babuda zwei, offiziell Olga, aber am häufigsten Oliko genannt, hatte ein nicht minder tragisches Schicksal als ihre ewige Kontrahentin. Auch sie war in den Wirren der Sowjetisierung Georgiens auf die Welt gekommen, und als Abkömmling der Bourgeoisie hätte sie wie Eter alle Voraussetzungen gehabt, ein unbekümmertes, leichtfüßiges Leben zu führen. Ein schönes vor allem. Denn anders als die Mutter meines Vaters war sie eine Ästhetin durch und durch und der Schönheit auf Gedeih und Verderb verfallen. Alles auf der Welt wurde von ihr nach Schönheit bewertet, und wurde einmal etwas für schön befunden – eine Blume, ein Mensch, ein Haus, eine Katze oder ein Buch –, war es, zumindest bis zur nächsten Entdeckung, das Objekt ihrer vollkommenen Verzückung. Sie musste unentwegt verliebt sein: in die Welt, in die Menschen, in sich selbst. Sie musste verzückt werden, berauscht, trunken sein von allem, was sie umgab, um sich lebendig zu fühlen. Diese Eigenschaft, davon bin ich überzeugt, rettete ihr so oft das Leben und ließ sie, trotz all der schwerwiegenden Verluste – zuletzt der Verlust des eigenen Kindes – nicht verbittern und nicht ihre größte Gabe einbüßen: in jeder Banalität nach einem Wunder Ausschau zu halten. Ja, Babuda eins hatte durchaus recht, wenn sie behauptete, Oliko gleiche einem Schmetterling, der herumflattere, und zwar schön, aber zugleich vollkommen unbeständig sei. Und manchmal erlosch ihr Interesse genauso schnell, wie es aufgeflammt war, und natürlich wurden die meisten ihrer Pläne und Vorhaben nicht umgesetzt, etwas, das Eter zutiefst suspekt war, denn sie war eine Frau der Gründlichkeit, aber für Oliko kam es darauf gar nicht an.

Wenn ich heute darüber nachdenke, fällt mir kaum ein anderer Mensch ein, der diese uneingeschränkte Fähigkeit zum Glücklichsein besessen hat. Und dass das Leben ihr gegenüber so mit dem Glück geizte, erscheint mir ebenso ungerecht wie dumm. Denn das Leben sollte demjenigen, der es jeden Tag zu feiern bereit ist, entgegenkommen, sollte mit ihm einen lebenslangen Tanz tanzen. Aber wie so oft war es dem Leben egal, mit welchen Erwartungen wir an es herantreten, aber vor allem war es in Olikos Fall zunächst einmal den Bolschewiken egal.

Olikos Vater war Chirurg und frankophiler Sozialdemokrat der ersten Stunde, ein glühender Anhänger der Republik, die in seiner sonnigen Heimat nur drei Jahre hatte bestehen können, und er beschloss trotz des Angebots seines Bruders, der noch vor der Revolution nach Frankreich emigrieren konnte, ihm nachzufolgen, in seiner Heimat zu bleiben – so schlimm würde es schon nicht werden. Das hatte er noch bis zu dem Tag wiederholt, an dem er enteignet und gedemütigt, von schwarz gekleideten Tschekisten abgeholt und ins Metekhi-Gefängnis geworfen wurde. (Oliko nannte sie immer »die Tschekisten«, und ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass »die Tschekisten« und »die Bolschewiken« ein und dasselbe waren.) Den Chefarzt des Michailowski-Krankenhauses werde man nicht so leichtfertig hinter Gitter bringen, hatte er angeblich immer wieder betont. Und dann hatte er doch bei der Verhaftung, bei der er kein Wort gesagt haben soll, einen bereits fertig gepackten Koffer unter seinem Bett hervorgeholt.

Über die Jahre wurde dieser braune, abgenutzte Koffer auch für mich zu einem Symbol von allem Kolossalen und Eruptiven, das von einem Tag auf den anderen in unser Leben hereinbrechen und dort alles verwüsten kann, was wir uns in mühseliger, jahrelanger Arbeit aufgebaut haben.

Lange, quälende Monate der Ungewissheit begannen. Olikos Mutter stand ganze Nächte lang vor dem Metekhi-Gefängnis, übervoll mit Menschen, die es nicht geschafft hatten, den falschen Götzen zu huldigen. »Deportation wäre schlimmer gewesen, immerhin hatte er die Hoffnung, in seiner Heimatstadt und damit in der Nähe seiner Familie zu bleiben.« Eter ging an dieser Stelle der Erzählung regelmäßig dazwischen, als gälte es, sich auch im Leid mit ihrer innig geliebten Konkurrentin zu messen. Spätestens wenn Oliko von dem einzigen Treffen zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater zu erzählen anfing – wie es ihrer Mutter gelang, die Wachmänner zu bestechen und das mit allergrößter Mühe zusammengestellte Päckchen mit Nahrung und ein paar sauberen Kleidungsstücken durch die dicken Gefängnismauern zu schleusen, und wie der an Diphtherie erkrankte und geschwächte Vater das Paket dann fallen ließ, weil seine Hände zu sehr zitterten –, langte es Eter und sie unterbrach Oliko mit einem spitzen Kommentar. Ihrer Mutter sei es immerhin gelungen, ihrem Vater etwas zukommen zu lassen. Da verlor dann Oliko die Contenance und fuhr Babuda eins mit der für sie so typischen hohen Stimme an: »Wie kannst du es wagen, dir so etwas anzumaßen! Du hast doch gar keine Vorstellung, wie es für meine Mutter war und wie wir uns gefühlt haben! Sie haben dir wenigstens deine Mutter gelassen, mir ist auch sie entrissen worden …«

Und schon ging das ganze Theater von vorn los, in den Hauptrollen: Eter, die strenge, disziplinierte, harsche Mutter unseres Vaters, und Oliko, die verträumte, ewig romantische und kindlich begeisterungsfähige Mutter unserer toten Mutter.

Meist endeten solche Szenen damit, dass eine der beiden beleidigt aus dem Zimmer stürmte und das Areal ihrer Konkurrentin überließ. Wir aber blieben so oder so in den Fängen ihrer Geschichten, für uns schienen sie gar keinen großen Unterschied zu machen: Sie waren gleich traurig und gleich erschreckend und gleich fern. Mein Bruder und ich waren dazu verdammt, die ewigen Zuhörer zu sein, und sogar er, der sich später in seiner kompromisslosen Rebellion so sehr von der Familie abwandte, verstand damals, dass sie uns brauchten, mehr noch als wir sie. Dass ihre Tragödien und Komödien stets hinter verschlossenen Türen stattgefunden hatten, und dass diese Tatsache vielleicht das allergrößte Drama ihres Lebens darstellte.

Olikos Vater blieb der Gulag erspart. Denn die unwürdigen Zustände im Gefängnis, die nicht vorhandene Hygiene, aber allem voran die Entmenschlichung der Mitinsassen durch die Wachen, deren Zeuge der lebensfrohe Arzt wurde, bereiteten ihm ein schnelles Ende. Und als die Familie glaubte, das Schlimmste liege hinter ihr, wurde auch die Mutter abgeholt und nach Petschora, in die Teilrepublik Komi, deportiert. Zusammengepfercht wie Vieh in engen, fensterlosen Kabinen auf einem kleinen Schiff schnitten sie durch die hohen Wellen des Weißen Meers und fuhren bis ans Ende der Welt, dort, wo das Überleben nur möglich war, wenn man das Menschsein ablegte wie einen wunderschönen Seidenumhang, der sich im tiefsten Winter als nutzlos erweist.

Dann kam die Stelle, an der es meinem Bruder und mir gleichzeitig die Tränen in die Augen trieb, und zwar unabhängig davon, wie oft wir sie bereits gehört hatten und wie genau wir Olikos Wortwahl kannten, wenn sie beschrieb, was sie erst viele Jahre später von einer Überlebenden erfahren hatte: wie ihre Mutter in der arktischen Wildnis, bei unvorstellbarer Kälte, den anderen Lagerfrauen georgischen Gesang beibrachte und sie beim Holzhacken mehrstimmig »Zizinatela« sangen. Olikos Stimme riss an dieser Stelle ab, und es entstand eine unerträgliche Pause, die keiner von uns zu füllen vermochte.

Olikos Schwester, die laut Oliko noch nie im Leben ein Rührei zubereitet hatte und stattdessen Tage hindurch in drei verschiedenen Sprachen las, sah sich gezwungen, für sich und ihre Schwester nach einem Weg zu suchen, der ihr Leben sicherer machen würde. Und so heiratete sie, ähnlich wie meine Babuda eins, einen »Apparatschik« (auch so ein Wort, das mir bedrohlich und fremd vorkam wie ein gefährliches Zauberwesen aus einem Märchenbuch), einen NKWD-Mitarbeiter. Sie sagte Ja zu jemandem, den sie abgrundtief verachtete. Das schlechte Gewissen wegen des Opfers, das ihre Schwester für sie brachte, wurde Oliko ihr ganzes Leben lang nicht los. Beide überlebten. Auch den Krieg, der die ganze Welt erzittern ließ und die Zeitrechnung auf die Stunde null zurück-

setzte.

Als Olikos ehrgeizigem »Apparatschik«-Schwager eine Stelle im Volkskommissariat in Moskau angeboten wurde, blieb Oliko allein zurück. Immerhin überließ ihr der Schwager seine geräumige Wohnung nahe der Universität, wo sie ein Studium der französischen Sprache und Literatur aufnahm und glaubte, ihrem Vater auf diese Weise den nötigen Respekt zu zollen. Sie verliebte sich gleich im ersten Studienjahr in einen jungen Professor, den sie »mein Troubadour« nannte, und stürzte sich Hals über Kopf in das Abenteuer Liebe. Sie war zu einer äußerst reizvollen jungen Frau herangewachsen. (Ich sehe die vielen Schwarzweißbilder mit zackigen Rändern vor mir, auf denen sie als junge Frau verewigt ist.) Sie war zart und umgeben von einer Aura der Zeitlosigkeit, so völlig anders als die triste und unheilvolle Nachkriegsrealität. Die Menschen hatten zu viel Grauen erlebt, nun dürstete es sie nach Schönheit, und Oliko war bereit, mehr als reichlich davon zu geben. Die Liebe musste vorerst geheim gehalten werden, immerhin war sie seine Studentin, wenn auch wenig jünger als er. So trafen sie sich heimlich in den Hausdurchgängen und in den schattigen, kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt. Wahrscheinlich lag es an dieser Zeit, in der sie ihre Liebe auf die ganze Stadt verteilen musste, mitsamt ihren Verstecken, dass Oliko Tbilissi aufsog, als wäre es ein Gedicht.

»Die Ninoschwili-Straße eignet sich zum Pflaumenessen und zum Witzeerzählen.« Nicht selten warf sie solch merkwürdige Kommentare in den Raum. »Hinter der Karawanserei kann man sich wunderbar küssen, da gibt es einen herrlichen Rosengarten.«

Anscheinend war ihre Liebe nur für Verstecke geeignet, für das heimliche Geflüster und die geheimen Blicke, denn sie verwelkte, sobald sie ans Tageslicht gezerrt wurde wie ein Schattengewächs, dem zu viel Sonne abträglich ist. Schon auf dem Weg zum Standesamt spürte Oliko, dass der Zauber schwand, traute sich aber nicht, das lang ersehnte Vorhaben zu torpedieren. Genau ein Jahr hielt ihre Ehe, Oliko gab sich die allergrößte Mühe, eine Vorzeigehausfrau zu sein, und gab sogar ihre Stelle als Lehrerin der französischen Sprache und Literatur auf. Doch ihr Troubadour hatte sich längst in einen typischen Kaukasier verwandelt, der jeden Morgen gebügelte Hemden auf dem Stuhl erwartete und eine warme Mahlzeit, wenn er nach Hause kam. Oliko ging ein vor Langeweile und begann, ausgedehnte Stadtspaziergänge zu unternehmen, französische Chansons vor sich hin summend. Mit einem dieser Chansons verzauberte sie einen adretten Herrn mit schickem Hut, der nach einer schmerzlichen Scheidung gerade dabei war, sich nach einer neuen Wohnung umzusehen.

Der adrette Herr war ein galanter Ingenieur und ein passionierter Bergsteiger, und so entdeckte Oliko ihre Liebe für die kaukasischen Berge. Die Liebe zu den Bergen überdauerte auch diese kurze und ebenfalls kinderlose Ehe. Nach der zweiten Trennung fand Oliko endlich zu ihrer Berufung, der sie ihr Leben lang treu bleiben sollte. Sie begann, französische Belletristik zu übersetzen. Bei Anatole France habe sie ihre Unschuld als Übersetzerin verloren, fügte sie an dieser Stelle gerne hinzu und kicherte wie ein kleines Mädchen. Die Ehemänner kamen und gingen, aber es blieben France, La Rochefoucauld, Rolland, Balzac, Sand, Flaubert, Verne, Montaigne und ihre »große Liebe« Baudelaire, den sie teils illegal für Samisdat übersetzte.

Im Schriftstellerverband lernte sie einen Redakteur des Lyrikkomitees kennen, ihr dritter und letzter Mann und unser unbekannter Großvater. Der respektable Redakteur mit dem literarisch-heroischen Namen Tariel liebte Lyrik, guten Wein und schöne Frauen, außerdem eilte ihm ein heldenhafter Ruf voraus – er war tatsächlich bei der Erstürmung des Reichstags in Berlin dabei gewesen, und seine Brust schmückten viele Verdienstorden. Ihre dritte Ehe hinterließ Oliko schließlich etwas viel Bedeutenderes als die Berge oder die geheimen Gassen der Stadt: Sie hinterließ ihr eine Tochter, die Oliko auf den Namen Esma taufte, nach einer Frau aus den Bergen, die sie auf einer Wanderung in Kasbeg kennengelernt hatte und die ihr Ziegenmilch zu trinken gab, damit Olikos Schönheit ihr und ihren Ziegen Glück brächte. Und obwohl Oliko Ziegenmilch nicht ausstehen konnte, trank sie die Kanne leer. So will es zumindest die Legende.

Tariel war ein guter Vater, aber kein guter Ehemann. Sein Hunger nach Wein und Weibern war unstillbar, und die Ehe wurde nach fünf Jahren geschieden. Kurz vor Ratis Geburt starb Tariel auf dem Weg zu einer Verabredung mit seiner neuen Flamme an einem Herzinfarkt.

Esma wuchs zu einer abenteuerlustigen jungen Frau heran und lernte in der von ihrer Schwiegermutter verabscheuten Stadt meinen Vater kennen. Sie wurde zu unserer Mutter und lebte ihr Leben ohne jegliche Geschwindigkeitsbegrenzung, bis sie eines trüben und feuchten Februarmorgens mit schwindelerregendem Tempo – aber das ist eine andere Geschichte, und ich bleibe noch bei unserem Hof.

Ich verweile mit dem Blick auf unserer Fensterfront, die aus der Höhe so winzig erscheint. Ich denke an meinen Vater Guram. Ich habe früh genug gelernt, ihn mit seinen Formeln allein zu lassen. Worte schienen für ihn immer etwas Belastendes, Unnötiges zu sein. Er beantwortete zwar alle Fragen höflich, aber er verschwendete niemals auch nur einen Satz, der nicht irgendeinem Zweck diente. Aber am allerwenigsten konnte er über Gefühle sprechen.

Es gab eigentlich nur zwei Themen, bei denen er mit Worten nicht geizte: Physik und Jazz, mit dem er als Student infiziert wurde und der ihm zeit seines Lebens immer wieder Zuflucht bot. So wie auch Moskau, er liebte diese Stadt und die Zeit, die er dort verbracht hatte. Vielleicht weil er, der Streber mit der Brille, dort zum ersten Mal richtige Freunde fand. In Moskau, als Student des renommierten Instituts für Physik und Technologie, war er unter Gleichgesinnten und nicht mehr der ewig Misstrauen erweckende Besserwisser und Eigenbrötler. Als er in den Semesterferien nach Hause kam, soll ihn seine Mutter kaum wiedererkannt haben: Die Hemden waren nicht mehr gestärkt und bis oben hin zugeknöpft, die Haare trug er länger, als es die sozialistische Doktrin guthieß, die buschigen Augenbrauen wirkten nicht mehr lächerlich, sondern markant, der Gang war nicht mehr schlurfend, seine Schultern schienen breiter, und so trat er, erhobenen Hauptes und mit einer schicken Aktentasche, in den Hof seiner Kindheit und zog alle Blicke auf sich.

Außerdem lernte er in dieser großen, grauen Stadt seinen persönlichen Gott, den Nobelpreisträger Alexander Michailowitsch Prochorow kennen, ein Vorreiter auf dem Gebiet der Quantenelektronik, der schnell zu einem Ersatzvater und Mentor für ihn wurde. Er wählte ihn zum Doktorvater, und der große Wissenschaftler bot ihm als Vizedirektor einen Forschungsplatz im Labor für Quantenelektronik im Lebedew-Institut an. Für Guram ging ein großer Traum in Erfüllung. Er zog aus dem Wohnheim aus, begann das Leben eines krankhaft ehrgeizigen Wissenschaftlers, drang in subversive Künstlerkreise vor und entflammte für seine zweite große Passion: den Jazz. Wie oft Rati und ich uns die Geschichte des sowjetischen Jazz anhören mussten! Er konnte ewig von leerstehenden Lagerhallen und verlassenen Fabrikgebäuden schwärmen, in denen verbotene Jam Sessions abgehalten wurden, die geheimen Treffen einer Sekte glichen und zu denen jeder Eingeweihte nur jeweils einen weiteren Gast mitbringen durfte. Und so brachte jemand eines Tages meine Mutter dorthin mit.

Vom ersten Augenblick sei er »schwer beeindruckt« von ihr gewesen, berichtete mein Vater, und das war vielleicht die emotionalste Beschreibung, zu der er sich hinreißen ließ. Ja, ich glaube ihm, so jemand wie er muss von der jungen Frau mit dem frechen Pagenkopf und der nervösen Mimik einer Getriebenen, die keine Sekunde zu verlieren hatte, beeindruckt gewesen sein.

Er war mehr als überrascht, als er mit ihr ins Gespräch kam und feststellte, dass sie ebenfalls aus Georgien kam und an der Lomonossow-Universität ihren Abschluss in Kunstwissenschaften machte. Sie habe sich übertrieben über diese Entdeckung gefreut, als gäbe es in ganz Russland außer ihnen beiden keine weiteren Georgier. Diese junge Frau mit dem wie schneebedeckte kaukasische Berge anmutenden Namen wurde zu Ratis und meiner Mutter.

Ich löse meinen Blick von der Fotografie und drehe mich um.

Das mangelnde Licht

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