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Ira

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Sie hat mein Verschwinden bemerkt und folgt mir. Ich höre ihre unverwechselbaren Schritte, als sie die ansonsten leere Damentoilette betritt und nach mir ruft.

– Gleich!, rufe ich hinter der Tür zurück und versuche, möglichst beherrscht zu klingen, jede Verunsicherung in meiner Stimme zu überspielen, aber mir ist klar, dass sie über meine Ohnmacht und meine Ängste Bescheid weiß, und ich kann mich nicht entscheiden, was ich schrecklicher finde: dieses Wissen oder die Tatsache, dass es so ist. Obwohl wir so viele Jahre getrennt voneinander verbracht haben, die größtmögliche Distanz zwischen uns herrschte, genügen wenige Sekunden, um in alte Muster zurückzufallen. Ich stehe ihr gegenüber und weiß, jede Mühe, mich zu verstellen, ist sinnlos. Genauso weiß sie, dass ich ihre aufgesetzte Selbstsicherheit durchschaue, dass ich weiterhin die bebrillte, die zweifelnde, die an ihrem namenlosen, andersartigen Begehren zugrunde gehende Ira vor mir sehe. Wir wissen beide um unsere Bemühungen, um unsere schwer erkämpften Erfolge, unsere westlich geschliffenen Attitüden, hinter denen wir uns verschanzen. Wir wissen, dass wir uns und der ganzen Welt etwas vormachen, indem wir sie glauben machen, wir hätten es geschafft und hätten überlebt. Denn etwas Essenzielles haben wir nicht retten können, etwas, das für immer in dieser schwarzweißen Welt haften bleiben und als leises Echo in unsere Gegenwart schwappen wird.

Ich verlasse die Kabine, vermeide den Blickkontakt, stelle mich ans Waschbecken und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Sie sieht mich im Spiegel an. Ihre unvorteilhafte Brille mit den dicken Gläsern, die ihre Augen so klein erscheinen ließen, ist schon längst durch eine elegante schwarze Hornbrille ersetzt worden, YSL prangt unübersehbar seitlich am Brillenbügel, natürlich muss es das Feinste sein, sie hat es sich schließlich hart erarbeitet. Ihre Augen kommen ganz anders zur Geltung, ich muss mich noch daran gewöhnen, sie sitzen tief, fällt mir auf einmal auf, sie neigte schon immer zu Augenringen, und bei genauerem Hinsehen erkenne ich die dunklen Ränder wieder und freue mich fast, in dieser transformierten Erscheinung etwas Vertrautes vorzufinden. Ihr Teint ist olivfarben, nur ein paar Sonnenstrahlen, und schon hat sie diese vor Gesundheit strotzende Farbe im Gesicht. Ich mag, dass sie sich die Haare nicht färbt, sie gehört zu der Sorte Frauen, denen das Alter eine neuartige erotische Anziehungskraft verleiht. Ihr Körper verrät den Drill, ihre Disziplin, diese schweißtreibende Mühe der Selbstkontrolle. Kein Gramm Fett, nirgends, keine Sekunde des Sich-gehen-Lassens, kein Gramm Leichtsinn. Ich schwanke zwischen Bewunderung und Ablehnung.

Sie lebt in Chicago, ist senior partner bei einem Goliath von Anwaltskanzlei, auf internationales Recht spezialisiert und verantwortlich für Rendite und Gewinnoptimierung der Sonnengeküssten dieser Welt. Früher hat sie die Welt verändern wollen, dann eingesehen, diesen Kampf nicht gewinnen zu können, und beschlossen, anstelle der Welt sich selbst zu ändern, sich selbst zu optimieren. Nun will sie ohne jegliche Gewissensbisse ihre wohlverdiente Prämie genießen. Sie nimmt sich, was sie braucht, und alles Hinderliche wird aus dem Weg geräumt. Ist es vielleicht auch die Angst, zurückzuschauen, wegen der sie ihr Leben umso verführerischer gestaltet, vielleicht um einen Grund weniger zu haben, sich umzublicken? Ich weiß es nicht. Aber etwas von der alten Ira, die mir in dieser Ausstellung in so vielen Bildern begegnen wird, ist noch da, und ich spüre, wie ich mich an diesem Altbekannten festhalte, wie sehr mir das Vertraute die nötige Sicherheit gibt, ich von dort aus eine Brücke zu mir selbst schlagen kann, um etwas von der Frau, die mich aus den schwarzweißen Zeitzeugnissen anstarren wird, in mir wiederzufin- den.

– Besser?, fragt sie mich und hält mir eine geöffnete Wasserflasche hin. Ich nehme einen Schluck und nicke.

– Wir schaffen das schon, sagt sie und versucht ein Lächeln. Wir stehen beide Seite an Seite und sehen uns im Spiegel an. Ich hole den Puder aus der Tasche, versuche, meine Überforderung zu überdecken.

– Eigentlich darf das nicht sein, sagt sie, und ihr Gesicht verändert sich schlagartig, urplötzlich und unangekündigt steht die alte Ira vor mir, die große Zweiflerin, die selbstlos Ergebene, die Tatkräftigste von uns allen. Ich möchte sie in den Arm nehmen, nein, viel lieber will ich, dass sie mich mit ihren trainierten Armen umschließt, wie eben, als wir uns das erste Mal wiedersahen. Der Abend verspricht lang zu werden, es sind noch viele Stunden, die es zu meistern gilt. Wir sollten es versuchen, beschließe ich in dem Moment.

– Was meinst du?, frage ich etwas zeitverzögert nach.

– Dass wir uns nicht sehen. Ich meine, wenigstens wir zwei. Dass wir so wenig voneinander wissen, dass sich dein Leben ohne mich und meines ohne dich abspielt.

Dieses so offen sentimentale Eingeständnis hätte ich aus Iras Mund nicht erwartet, wie schwer es ihr fallen muss, diese Worte auszusprechen, aber ich bin ihr dankbar. Frage ich mich das nicht auch, warum ich um Gottes willen so lange auf sie verzichten musste, auf diese selbstsicheren Schritte, die mir folgen, sobald sie die sich über meinem Kopf zusammenbrauenden Wolken erblickt, auf diese stählernen Arme, die mich auffangen und mir eine Wasserflasche reichen, auf diese dunklen Augen, die mich im Spiegel ansehen? Wie schafft sie es, mir so schnell ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln wie kaum ein anderer Mensch? Und doch kenne ich die Antwort nur zu gut, ebenso wie sie den Grund genauestens kennt, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und warum wir auf diese Toilette geflohen sind, um uns für das Bevorstehende Mut zuzusprechen. Denn mit diesen Erinnerungen ist keine intakte Gegenwart möglich, weil es zu sehr schmerzt, wir uns ewig vorhalten müssen, dass wir am Leben geblieben sind, während die Welt, aus der wir stammen, in Schutt und Asche liegt.

– Du hast recht, wir müssen das ändern. Das habe ich auch gedacht, als du hier reinspaziert bist, die verdammt schicke Business-Lady mit Alukoffer.

Ein lächerlicher Versuch, die Schwere dieses Geständnisses entschärfen. Ira nimmt mein Angebot dankbar an. Und schießt sofort zurück:

– Na ja, gegen deine sophistication komme ich nicht an.

Ab und an mischen sich englische Wörter in ihr etwas ungelenk gewordenes Georgisch.

– Schau dir nur deine Mokassins an, ich bitte dich: solch rote Mokassins, wenn das nicht der overkill ist!

Sie lacht, und ich stimme in ihr Lachen ein.

– Versprich mir, dass du nicht abhaust, Keto. Lass mich hier nicht allein, ich brauche dich heute, sagt sie, noch bevor das Lachen verklungen ist. Ich sehe sie an, ich wende mich ihr zu.

– Ich verspreche es dir. Und heute halte ich mein Versprechen.

Sie weiß genau, was ich damit meine, aber sie lässt sich zu keinem Kommentar hinreißen. Stattdessen nimmt sie meine Hand, und wir kehren gemeinsam und mit entschiedenen Schritten zurück in den Orkan. Wir sind wieder vierzehn Jahre alt, gleich werden wir das verbogene Gitter in der Engelsstraße überwunden haben, und das große Abenteuer wird beginnen.

Im gleichen Sommer, kurz vor dem Ende der Schulferien, bekam unser Hof weiteren Zuwachs. Ira und ihre Familie zogen in den ersten Stock, und Ira kam in unsere Schulklasse.

Iras Vater war Arzt, am Städtischen Krankenhaus Nr. 9, ein angesehener Anästhesist und leidenschaftlicher Gärtner, der seine ganze Freizeit auf seiner Datscha in Kodschori verbrachte, wo er seine Pflanzen hegte und pflegte, als wären sie seine eigentlichen Patienten. Man hatte das Gefühl, die Stadt sei ihm zuwider, obwohl er sein ganzes Leben dort verbrachte, und er hätte wohl seinen Beruf an den Nagel gehängt und wäre aufs Land gezogen, wenn seine umtriebige Frau, die Matriarchin der Familie, dies zugelassen hätte. Ihr zuliebe erduldete er sein Stadtleben und zählte die Tage bis zum Wochenende, an denen er ins Grüne entfloh. Dann setzte er sich in seinen blauen 06 und fuhr hinauf in die grünen Hügel, wo ihn seine sechs oder sieben Hunde erwarteten, die in seiner Abwesenheit von einem Nachbarn versorgt

wurden.

Er war ein stiller Mann, den man, wenn er mal zu Hause war, nur mit einer karierten Decke in seinem Sessel vor dem Fernseher sitzen oder auf dem Holzbalkon stehen sah, wo er seine Balkonpflanzen umtopfte. Als ich Ira einmal zu ihrer Datscha begleiten und dort ein Wochenende mit Vater und Tochter verbringen durfte, staunte ich nicht schlecht, wie agil und aufgeweckt Herr Tamas – wie ihn alle nannten – wirkte. Als würde die Natur ihn zu einem anderen Menschen machen.

Für den gesamten Hof war es ein großes Rätsel, wie Herr Tamas seine Frau kennen- und vor allem lieben gelernt hatte. Selten habe ich solch ein ungleiches Paar gesehen. Iras Mutter, Giuli, war das absolute Gegenteil ihres Mannes. Sehr pragmatisch veranlagt und stets auf irgendeinen Nutzen fokussiert, als wäre das Leben vollkommen sinnlos, wenn man ihm nicht ständig irgendwelche Vorteile abtrotzte. Sie arbeitete im Amt für Wohnflächenverteilung und hing ständig am Telefon. Entweder redete sie jemandem etwas aus, oder sie redete jemandem etwas ein. Und es dauerte nicht lange, bis sie im ganzen Viertel gehasst, bestenfalls gefürchtet wurde, seit sie gleich in den ersten Wochen nach ihrem Einzug die alte Zizo – den erwähnten Unantastbarkeitsstatus wegen ihres toten Sohnes außer Acht lassend – dazu überredete, ihr für einen geringen Preis ein Zimmer zu überschreiben, was Zizo ohne große Widerrede tat, begeistert von der Idee, endlich ihren großen Traum erfüllen zu können und nach Leningrad zu reisen, um in die Eremitage zu gehen. Als Zizo wiederkam, hatte Giuli bereits Wände hochgezogen, ihre Küche erweitert und Zizo den Zugang über das Treppenhaus zu ihrer Wohnung versperrt, und so blieb der alten Zizo nichts anderes übrig, als von da an den Aufgang über den Hof und damit die altersschwache Holzwendeltreppe zu benutzen – eine Herausforderung für eine betagte Dame mit Hüftproblemen. Auch die Sympathien der Tatischwilis verscherzte sie sich in kürzester Zeit, indem sie Dawit mit einer Klage drohte, wenn er seine Reben nicht umgehend zwinge, die Wuchsrichtung zu ändern, andernfalls würden sie ihre Fenster überwuchern und ihr das Sonnenlicht rauben.

Giuli war immer hektisch und immer schnell, Menschen, die mit ihrem Tempo nicht mithalten konnten, strafte sie mit offener Verachtung. Nur für ihren Mann schien sie eine Ausnahme zu machen. Den stets in Lederpantoffeln apathisch herumschleichenden Tamas ließ sie gewähren, ermahnte ihn nicht, wie sie es sonst bei ihren Mitmenschen tat, schimpfte nicht und forderte nichts von ihm ein, als hätte sie schon vor langer Zeit eingesehen, dass es nichts ändern würde, und sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Wenn man das Paar gemeinsam am Esstisch sitzen oder gemeinsam den Hof verlassen sah (was äußerst selten vorkam, denn Giuli hasste das Landleben, vor allem aber die Hunde, und begleitete ihren Mann nie nach Kodschori), dann wunderte man sich, was diese so unterschiedlichen Menschen zusammenhielt. Selten gingen ihre Gespräche über Alltagsbanalitäten hinaus, kaum sagten sie etwas, was nicht mit Markteinkäufen, dem Wetter oder dem Fernsehprogramm zu tun hatte. Gäste kamen selten, Giuli schien ihrem Mann vor langer Zeit ausgeredet zu haben, Kollegen oder Freunde mit nach Hause zu bringen. Den Lärm von Betrunkenen und lauten Gesang konnte sie ohnehin nicht ausstehen, und Nachbarn, die gerne und bis spät in die Nacht feierten, blieben von ihren Drohungen und Schimpftiraden nicht verschont. »Du bist doch bloß neidisch, du blöde Kuh, halt doch endlich den Mund und gönn den anderen das, was dir nicht vergönnt ist. Und vielleicht erbarmt sich noch einer und lädt dich auch irgendwann mal zu sich ein!«, hörte ich eines Nachts die Schwarzmarktgröße Nani über den Hof rufen. Aber auch Sätze wie »Du gehörst eingesperrt, Spinnerin, geh endlich zum Psychiater, alte Giftschlange!« flogen nicht selten in Richtung des ersten Stocks mit der merkwürdigen Bebauung, die die luftige Gasse unterbrach und als einzige Betonkonstruktion in dem ansonsten aus Holz errichteten Gefüge aus Balkonen und Laubengängen eine Art Fremdkörper im Hof

bildete.

Für einen Augenblick pluralisiert sich die Zeit, ich habe das Gefühl, zu halluzinieren, ich sehe Ira, diese stählerne, selbstbewusste Frau, die mich unter ihre Fittiche nimmt und zurück in den Saal führt, und gleichzeitig sehe ich das kleine Mädchen vor mir, das sie einst war. Mit ihren stillen und behutsamen Bewegungen stets darauf bedacht, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, spaziert sie nachdenklich vor mir her, etwas ungelenk mit ihren knochigen Knien in den immer makellos hochgezogenen weißen Strümpfen. Ich sehe ihre überdimensionale Brille auf der Nase, die sie sehr erwachsen wirken lässt, und die schmerzhaft nach hinten gekämmten Haare, die ihrem Gesicht etwas Leidvolles verleihen. Ihr dunkler Teint, Erbe ihrer strengen Mutter, ist derselbe wir früher, aber die Spuren ihrer einstigen Schüchternheit suche ich vergebens.

– Schau, das ist die Neue aus dem Ersten. Sie sieht doch nett aus, was meinst du, Bukaschka?, rief damals Babuda eins, als wir in den Hof bogen, woraufhin ich ihr mit dem Ellenbogen einen Stoß versetzte, denn ich wollte auf keinen Fall, dass das neue Mädchen diesen albernen und mir verhassten Kosenamen hörte. Ira stand im Hof und hielt nach etwas Ausschau, als hätte sie dort etwas verloren. Ich tat so, als würde sie mich nicht sonderlich interessieren, und schlenderte mit lässigem Gang an ihr vorbei. Sie aber sah zu mir auf, fixierte mich mit ihrem ernsten Blick hinter den dicken Brillengläsern und lief dann mit leisen Schritten an mir vorüber, geübt darin, übersehen zu werden. Etwas an diesem Gang stimmte mich traurig, und ich musste unweigerlich an Dina denken und daran, wie radikal unterschiedlich diese beiden Neuzugänge bei uns im Hof doch waren. Die eine stets gewohnt, zu siegen und die Welt nach ihren Wünschen zu gestalten, und die andere wie eingekapselt in ihrem eigenen Kosmos, der so sehr nach Einsamkeit roch.

Die folgenden Tage vor dem Schulanfang, als sich der Hof langsam wieder mit Kindern füllte, die alle aus den Sommerferien in die staubige Tbilisser Augusthitze zurückkehrten, bekamen wir sie nicht mehr zu Gesicht. Nur einmal sah ich sie am Fenster ihrer Küche stehen und das lustige Treiben auf dem Hof beobachten. Dieser Anblick hatte etwas Bedrückendes, sie wirkte so ernst, als harrte sie aus, wartete auf etwas, auf einen Wink von jemandem, vielleicht hoffte sie, dass man sie hinunterriefe, damit sie sich dem lauten Treiben anschloss, aber ich traute mich nicht, denn ihre Art, wie sie da mit verschränkten Armen stand, hatte etwas Ablehnendes.

Ich kann nicht sagen, warum ich so überrascht war, als sie am ersten Schultag unsere Klasse betrat. Die Lehrerin führte sie wie ein Kleinkind an der Hand, gefolgt von unserem lauten Gekicher und unseren bissigen Kommentaren. Sie wurde uns als Irine Schordania vorgestellt. Die Eltern seien aus einem anderen Stadtteil zugezogen, und nun sollten wir uns gefälligst Mühe geben, Irine in unsere Klassengemeinschaft aufzunehmen, und sie willkommen heißen. Aber etwas verriet mir, dass es in Irines Fall anders ablaufen würde als bei Dina Pirweli, die die Aufmerksamkeit aller Mitschüler auf sich zog wie eine besonders rare Blume. Irine wirkte nicht wie eine, deren Nähe man auf Anhieb sucht. Auch ich blieb zunächst auf Abstand zu ihr. Einerseits war ich so vollkommen in meine neue Freundschaft abgetaucht, dass mir kaum Raum für jemand Zweites blieb, und zum anderen ließ Irines Art, die sich selbst Ira nannte, etwas in mir auf Distanz gehen. Dieser Abstand zwischen uns wuchs in den folgenden Wochen umso mehr, je klarer wurde, dass Irine mit ihren Leistungen alle – sogar Anna Tatischwili – im Raketentempo überholte und bald den Thron der Klassenbesten bestieg. Sie war beeindruckend gut in fast allen Fächern, ihre Ernsthaftigkeit hatte etwas ihrem Alter Unangemessenes, was natürlich den Neid der Vorzeigeschülerinnen und auch derer weckte, die diese Positionen noch anstrebten, und sie zu ihrer Konkurrentin machte. Was die Gemüter am meisten erhitzte, war die Tatsache, dass sie sich, anders als zum Beispiel die Musterschülerin Anna Tatischwili, kaum Mühe gab. Sie meldete sich selten unaufgefordert zu Wort, hob die Hand kaum jemals freiwillig, aber jedes Mal, wenn die Lehrer sie aufriefen, schossen aus ihr die richtigen Antworten hervor. Das machte uns alle stutzig. Was war das für ein Mädchen? Paukte sie ununterbrochen im stillen Kämmerlein, oder flog ihr das ganze Wissen wirklich so unangestrengt zu? Auch schien sie es nicht nötig zu haben, Freundschaften zu schließen. Erst viel später habe ich begriffen, dass sie es schlichtweg nicht anders kannte; sie war schon immer eine Einzelgängerin gewesen und hatte die Situationen, in denen sie ihren Mut zusammengenommen hatte und auf Gleichaltrige zugegangen war, bitter bereut. Man sah sie immer mit ihrem zum Bersten vollgepackten Schulranzen die Engelsstraße hochlaufen und in unsere Gasse einbiegen. Dann verschwand sie im Treppenhaus und tauchte einige Stunden später wieder auf, um mit demselben Ranzen zu irgendeinem Förderzirkel zu gehen. Später erfuhr ich von den tief beeindruckten Babudas, dass sie nicht nur Mitglied im Debattierklub im Pionierpalast war, sondern sogar Landesjugendmeisterin im Schach. Man sah sie im Grunde nur hinein- und hinausgehen, immer mit dem gleichen, konzentrierten Gesichtsausdruck, als nähme sie außer sich selbst nichts wahr.

Im Grunde war Ira ein Mädchen, das mehr als alles andere auf der Welt geliebt werden wollte. Sie lernte, weil es ihr leichtfiel und weil sie sich davon Anerkennung erhoffte, sie war zurückhaltend, weil sie glaubte, so niemanden zu stören, sie war gehorsam, weil sie dachte, auf diese Art nicht negativ aufzufallen. Und jedes Mal war sie ratlos, wenn sie feststellte, dass sie mit ihrem Verhalten das Gegenteil erreicht hatte, dass sie nur mehr Ablehnung erfuhr. Dann verstand sie die Welt nicht mehr, zog sich zurück und versuchte sich glauben zu machen, dass sie eine Welt nicht brauchte, die sich auf diese Art von ihr abwandte. Ihr stets richtiges Verhalten provozierte alle um sie herum, auch ich bildete da keine Ausnahme; wenn man sie lange genug beobachtete, kam man nicht umhin, etwas Unanständiges in ihrer Anwesenheit tun zu wollen, man hegte sofort den Wunsch, etwas Verbotenes anzustellen, etwas Dummes und Blödsinniges zu sagen. Es war wie ein Naturgesetz, das aber nur in Kraft trat, sobald man in Iras Nähe kam. Manchmal tat es mir leid, ich wunderte mich über mich selbst, warum ich sie während der kleinen Pause mit einer Wasserpistole bespritzte oder warum ich aus dem Fenster des Hochparterres sprang, als sie davorstand, mir dabei beide Knie aufschrammte, oder warum ich Kaugummis unter ihre Schulbank klebte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ihr Richtig veranlasste mich zum ewigen Falsch. Aber all das änderte sich mit Dina, wie alles andere auch.

Wenn ich an die Geschichte mit dem Tagebuch denke, kippt meine Stimmung augenblicklich, und etwas Bleiernes befällt mich. Ich würde sie so gern fragen, dieses Mädchen, das sie damals war, ob sie die Frau, die jetzt neben mir steht, mag, aber ich senke den Blick und beschwöre die Erinnerung an Anna Tatischwili herauf, das schönste Mädchen der Klasse, die einstige Klassenbeste, der Ira vom ersten Tag an ein Dorn im Auge war. (Nein, ich werde nicht an Ophelia denken, nicht an die Spuren, die sie hinterließ …) Anna war es gewohnt, von allen bewundert zu werden, für diese Erhabenheit schien sie wie geboren, und jede Gefährdung dieser Erhabenheit wurde mit perfider Taktik bekämpft. Ja, sie war es gewohnt, immer beklatscht und gehätschelt zu werden, in einem Meer des Lobes zu baden: für ihre Schönheit, ihr mustergültiges Verhalten, ihre guten Noten. Sie liebte es, eine Königin zu sein, und jede, die sie in ihrer Nähe duldete, durfte sich glücklich schätzen. Sogar in einem Alter, in dem Jungs ihre Zuneigung eigentlich nur durch Schubsen, Necken und Stoßen zum Ausdruck bringen, erhielt sie Blumen zum Frauentag und hatte an ihrem Geburtstag kleine anonyme Geschenke vor der Haustür liegen. Nicht Iras Äußeres, aber ihre Klugheit weckte sofort Annas Rivalität. Zudem musste sich Anna für ihre Leistungen enorm anstrengen, sie erhielt Nachhilfestunden und büffelte ununterbrochen, während Ira das Wissen zuzufliegen schien. Das konnte Anna nicht dulden. Sie setzte ihre Gefolgschaft aus zwei ihr sklavisch ergebenen Mädchen, die hinter ihrem Rücken von uns »die Bediensteten« genannt wurden, darauf an, Iras Schwachstellen herauszufinden. Sie spionierten sie aus, suchten ihre Nähe, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, und wurden bald fündig: Sie entdeckten, dass Ira regelmäßig in ein aufgequollenes, abgenutztes Notizbuch schrieb, und sie gingen davon aus, dass es sich dabei um ihr Tagebuch handeln müsste. Und so warteten sie auf die nächste Gelegenheit, um ihr das Buch zu entwenden. Als Ira einmal im Unterricht auf die Toilette musste und ihren Schulranzen offen stehen ließ, klaute die bis zum Erbrechen devote Eka das dicke Notizbuch und übergab es ihrer »Chefin«. Es dauerte nicht lang, und schon ging das Tagebuch von Hand zu Hand, der ganze Schulhof las daraus vor, es wurde gelacht und gegrölt. Als Ira voller Entsetzen den Diebstahl entdeckte, versuchte sie, Anna das Tagebuch zu entreißen, jedoch spürte sie, dass sie sich damit nur noch lächerlicher machte. Ira war körperlich sehr ungeschickt, als hätten sich ihre ganzen Talente auf ihre geistigen Fähigkeiten konzentriert. Im Gerangel um das Notizbuch schlug sie mit voller Wucht zu Boden und musste, in Tränen aufgelöst, von den Lehrern nach Hause geschickt werden, begleitet vom höhnischen Gelächter der ganzen Klasse.

Ich schämte mich, ihr nicht geholfen zu haben, und hasste Anna insgeheim, aber ich war machtlos gegen sie; sie hatte längst die Klasse auf ihre Seite gezogen. Unter dem Vorwand, ebenfalls auf Annas Seite zu stehen, schlich ich mich an Eka heran und bat sie, nach Schulende einen Blick ins Tagebuch werfen zu dürfen. Was ich da erblickte, überraschte mich dermaßen, dass ich verstummte. In jedem sozialistischen Haushalt hing einer dieser Kalender an der Wand, von denen man täglich ein Blatt abriss. Manchmal standen da kurze Biografien von Vorzeigemenschen des Sozialismus, die am jeweiligen Tag geboren oder gestorben waren, manchmal waren es Anekdoten, dann wieder Rezeptideen für Vorzeigehausfrauen. Iras Heft war vollgeklebt mit diesen abgerissenen Kalenderblättern, die alle in kleiner, sehr erwachsener Schrift beschrieben waren. An Gagarins Geburtstag war vermerkt: »Schlecht geschlafen, Iago hat Magenprobleme, hoffe, er muss nicht eingeschläfert werden, Vater schimpft wegen seiner störrischen Patienten, und Mama will schon wieder nichts davon wissen.« Über dem Tag der Arbeit war festgehalten: »Bald Umzug. Neues Viertel. Neue Wohnung. Neue Schule. Es wird sich eh nichts ändern.« Und so ging es das ganze Jahr weiter. Etwas an der Gründlichkeit, wie die Kalendertage abgerissen und in ihr Heft geklebt worden waren, etwas an der seriösen Handschrift hatte etwas unsagbar Deprimierendes, und ich fühlte mich auf Anhieb schäbig, das Gelächter und Gekicher von Anna Tatischwili und ihren Bediensteten bekam auf einmal einen besonders widerlichen Beigeschmack. Aus diesen Kommentaren sprach ein einsames Mädchen, das vollkommen auf sich gestellt war, ohne zu begreifen, warum die Welt ihr die kalte Schulter zeigte und warum man ihr diesen grausamen Streich gespielt hatte. Selten gab es erfreulichere Einträge, und wenn, dann drehten sie sich meist um ihre Schachspiele und gewonnenen Turniere. Auffallend war auch, dass sie kaum etwas über andere notierte, und wenn, dann nur über ihre Eltern oder die Hunde

des Vaters.

Ich fühlte mich miserabel. Auf unserem kurzen Nachhauseweg blödelte Dina wieder herum, tänzelte vor mir her und wollte mir später unbedingt zeigen, wie man eine Torte macht. Aber trotz meiner Vorfreude konnte ich mich nicht von dem Gefühl lösen, das mich beim Lesen des Notizbuchs befallen hatte. Ich fühlte mich wie eine Versagerin. Ich dachte unentwegt an das ernste, traurige Mädchen mit den dichten Augenbrauen und den klugen Augen, und daran, wie sie sich wohl gerade fühlte, während die blöde Tatischwili und ihre Gefolgschaft ihre intimsten Gedanken allen zugänglich machten.

– Was hast du?, fragte mich Dina, als ihr mein ernster Gesichtsausdruck und mein Schweigen auffielen.

– Es ist furchtbar, was sie mit der armen Ira gemacht haben, murmelte ich. Überrascht stellte ich fest, dass Dina von alldem nichts mitbekommen hatte, obwohl die halbe Schule daran beteiligt war. Verdutzt sah sie mich an und fragte nach:

– Die aus unserem Hof? Die Kluge?

– Ja, die.

Sie forderte mich auf, stehen zu bleiben, und ließ mich jedes Detail erzählen.

– Komm mit, beschloss sie, nachdem ich ihr das Ganze mehrfach wiedergegeben hatte. Auch das war typisch für sie: etwas zu beschließen, ohne ihr Gegenüber einzuweihen, und dann zu erwarten, dass man blind vertraute, blind folgte. Ich tat es. Ja, meist tat ich es.

– Was hast du jetzt vor? Was willst du machen?

Auf meine ewigen Fragen auf dem Heimweg erhielt ich keine Antwort mehr. Stattdessen schleifte sie mich ins Treppenhaus und klingelte an der Wohnungstür der Tatischwilis. Die stets freundliche Natela machte die Tür auf und bat uns sofort herein.

– Aniko lernt gerade, aber ich rufe sie. Wollt ihr vielleicht etwas von dem Birnenkuchen? Ich habe ihn gerade frisch gebacken.

Es roch tatsächlich köstlich, und ich hätte um ein Haar genickt, aber Dina ließ es nicht dazu kommen:

– Nein, danke, antwortete sie etwas schroff und blieb im Flur stehen.

Anna kam mit einem Handtuch um das nasse Haar aus ihrem Zimmer und sah uns gelangweilt an.

– Was gibt’s?

Sie hatte sich noch nie Mühe gegeben zu verbergen, dass sie uns für ihrer unwürdig hielt.

– Du hast immer noch das Tagebuch, oder?, fragte Dina überraschend freundlich.

– Ja, und?

– Keto kann gut malen, und ich dachte, es wäre lustig, wenn sie ein paar Zeichnungen reinkritzelt.

Ich begriff nicht, welchen Plan sie verfolgte, und versuchte, mir mein Erstaunen nicht anmerken zu lassen.

– Wenn du meinst. Aber ich möchte das Tagebuch heute Abend wiederhaben, gab Anna mit der gewohnten Gleichgültigkeit zurück. Sie zog keine Sekunde in Erwägung, von uns reingelegt zu werden, ja, sie zweifelte ihre Überlegenheit nicht an. Sie verschwand für einen kurzen Augenblick, und ich zischte Dina an:

– Was hast du vor?

Aber bevor sie mir eine Antwort geben konnte, kehrte Anna schon mit dem dicken zerfledderten Heft zurück. Sie gab es ihr ohne jegliches Zögern, Dina reichte es gleich an mich weiter.

– Danke, das wird echt lustig!, sagte sie und öffnete die Tür, sie ließ mich vorgehen, um sich dann plötzlich schlagartig umzudrehen und Anna mit voller Wucht gegen den Schuhschrank zu schubsen.

– Du scheiß Kuh!, zischte sie sie an. Annas Gesicht verzog sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse, der Schreck über das, was Dina sich mit ihr erlaubte, war sichtlich größer als der tatsächliche Schmerz. Sie war empört und beleidigt.

– Ist alles in Ordnung bei euch?, hörte man Natela aus der Küche rufen, und Dina legte den Zeigefinger auf die Lippen. Etwas in ihrem Gesichtsausdruck ließ Anna verstummen.

– Ja, alles gut, Deda, rief sie und richtete sich auf. – Was bildest du dir ein, du Versagerin?

Sie sah uns hasserfüllt an.

– Ihr seid erledigt!

– Bist du wahnsinnig geworden?, fragte ich Dina, als wir wieder im Hof standen. – Du hast sie geschlagen!

Etwas in mir empörte sich darüber, und zugleich war ich unendlich stolz auf meine neue Freundin, die so voller Überraschungen steckte.

– Ich habe sie gerade mal geschubst. Sie hätte Schlimmeres verdient. Manchmal muss man den Leuten eine reinhauen, wenn sie es nicht anders verstehen, sagte Dina, und ich wusste, dass gegen ihre Überzeugung jedes Argument machtlos war.

– Geben wir Ira das Tagebuch jetzt zurück?, fragte ich.

– Noch nicht.

Wir gingen zu Dina in die stets dunkle Kellerwohnung und setzten uns an den großen runden Holztisch im Esszimmer, das zugleich als Küche diente. In der Wohnung roch es nach feuchtem Lehm und Holz, nach Farben und Lack. Überall standen alte Möbel, die Menschen weggeworfen hatten und denen Lika ein zweites Leben eingehaucht und die sie in Kunstwerke verwandelt hatte. Ich liebte jedes einzelne von ihnen. Den schweren Eichenschrank mit bunten Verzierungen, in dem sie das Geschirr aufbewahrten. Die weiß gestrichene Kommode mit den goldenen Schubladengriffen. Die handbestickten Vorhänge mit kleinen Hunden und Löwen. Das zweistöckige Hochbett, in dem die Schwestern schliefen und das Lika mit roten Punkten verziert hatte, als hätte das Bett Pusteln. Geheimnistuerisch legte Dina das große Heft auf den Küchentisch und schlug es auf. Dann begann sie zu lesen. Dabei überflog sie die Notizen nur, las nichts zu Ende, als wäre es ihr unangenehm, Teil dieses intimen Vorgangs zu sein. Auf einmal stand sie auf, holte ein Federmäppchen aus ihrem Schulranzen, zog einen spitzen Bleistift heraus und begann, etwas neben Iras Handschrift mit den sauberen Schleifen zu kritzeln. Neben den Eintrag an Gagarins Geburtstag über Iagos Magenprobleme und Vaters Geschimpfe notierte sie: »Ich sah heute sehr schön aus.« Beim Tag der Arbeit neben der Umzugsnotiz, die besagte, es würde sich eh nichts ändern, schrieb sie: »Es wird sich alles ändern. Ich werde neue Freunde finden. Und das wird für die Ewigkeit sein.« Bei ihrem Geburtstag, zu dem Ira geschrieben hatte: »Habe das Buch bekommen, das ich mir gewünscht habe: ›Der Graf von Monte Christo‹. Aber ansonsten nichts Besonderes passiert«, ergänzte sie: »Ich bin ein Jahr älter und noch klüger geworden.« Irgendwann hörte sie auf, stand auf und goss sich Wasser ein.

– Und?, fragte ich.

– Was und?

– Wird sie …?

– Was genau meinst du?

– … wird sie neue Freunde finden? Für die Ewigkeit?

– Ja. Wir werden ihre Freunde werden.

Jedes Mal, wenn Dina Dinge für mich mitbeschloss, spürte ich einen kurzen Anflug von Missmut. Aber meist stimmte ich ihr in der Sache zu und äußerte meinen Ärger nicht. Und auch hier gab ich ihr im Grunde recht: Ich wollte von nun an auch Iras Freundin sein.

Abends klopften wir an Iras Tür. Sie erschien im Türrahmen, immer noch in der Schuluniform, und wich instinktiv zurück, als sie uns sah.

– Ja?, stammelte sie verschreckt.

– Wer ist denn da? Wer muss um diese Uhrzeit noch so gegen die Tür hämmern?, hörte man Giuli rufen.

– Es ist für mich, Deda, erwiderte Ira mit der gewohnten Unsicherheit in der Stimme, nur ihr Blick blieb auf uns fixiert, in sich ruhend.

– Ich habe etwas für dich, etwas, das dir gehört, sagte Dina und reichte ihr mit gesenktem Kopf das Heft.

– Danke, sagte Ira, und bevor wir noch etwas sagen konnten, schloss sie die Tür vor unserer Nase.

Die nächsten drei Tage erschien sie nicht in der Schule. Die offizielle Begründung war der Sturz, die inoffizielle wohl die Scham. Als sie wieder in den Unterricht zurückkehrte, wirkte sie noch verunsicherter als sonst; man spürte, dass sie sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte. Anna Tatischwili und ihre Bediensteten ließen sie in Ruhe. Aber ihre verächtlichen Blicke in unsere Richtung verrieten, dass sie schon über den nächsten Racheakt brüteten. Auf dem Nachhauseweg holte Ira Dina ein und flüsterte ihr ein zaghaftes »Danke« im Vorbeigehen zu. Dann eilte sie mit schnellen Schritten an uns vorüber.

– Warte noch!, rief Dina und lief ihr nach. Ängstlich sah sie sich um, mit hängenden Schultern stand sie vor uns und stocherte mit der Fußspitze in der Erde herum.

– Willst du mit uns in den Muschtaidi-Park gehen?, fragte Dina und strahlte sie an. Ich hatte nichts von diesem Plan gewusst, und wahrscheinlich gab es ihn auch erst seit diesem Moment.

– Ich kann nicht, muss nach Hause und später zum Schach, murmelte Ira verlegen.

– Quatsch, das kannst du immer noch tun, jetzt kommst du mit, wir werden viel Spaß haben. Im Park gibt es die beste Zuckerwatte der Stadt!

Und schon marschierte sie zielsicher voraus, wie ein General, der wortlosen Gehorsam von seiner Armee erwartet. Ira sah irritiert zu mir, ich zuckte mit den Achseln.

– Ich bekomme auch Ärger, war das Beste, was mir in der Situation einfiel. Ich sah bereits das Zögern und das Misstrauen in ihren Augen und die Angst vor den Konsequenzen, die ein solcher unangekündigter Ausflug nach sich ziehen würde.

An jenem Tag war da das bunte Kettenkarussell, und Dina gelang es, uns kostenlos einzuschleusen, da waren viel Gelächter und ein Wettbewerb, wer die hässlichste Fratze ziehen konnte, da waren Gekicher und von Zuckerwatte verklebte Finger. An jenem Tag war da der Stolz auf uns selbst, über uns hinausgewachsen zu sein, und das nur, weil es plötzlich jemanden gab, der uns zeigte, dass es so leichtfüßig ging. Und plötzlich war da ein: Wir.

Das mangelnde Licht

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