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4 Der Lauf der Geschichte

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Ein Geschichtsbuch hätte ich als Kind sicher nicht in die Hand genommen, aber von Natur- und Abenteuergeschichten konnte ich nicht genug kriegen. Mit ungefähr drei Jahren bekam ich ein Bilderbuch geschenkt: A Year of Birds.

Ganz allgemein, finde ich, gibt es über Vögel ja ziemlich abgefahrene und gleichzeitig wundervolle Bücher, zum Beispiel The Big Year, The Big Twitch, The Biggest Twitch, Kingbird Highway, Lost Among the Birds, Birding on Borrowed Time, Call Collect, Ask for Birdman, The Ardent Birder, Extreme Birder, The Feather Quest, Wild America, Return to Wild America, To See Every Bird on Earth und so weiter und so fort.

Durch Vogelbücher habe ich verstanden, dass alles in historischen Zusammenhängen steht. Persönlichkeiten und Ereignisse entwickeln sich im Laufe der Zeit, eines führt zum anderen. Und schon ziemlich bald kommt man dahinter, dass man selbst auch ein Teil dieses Zeitstroms ist.

Historisch gesehen ging meine Leidenschaft für Vögel mit einem gesunden Fernweh einher. In den Lebensgeschichten der frühen Ornithologen spielten Heldentaten, die sich im Grunde aus spontanen Ideen ergaben, eine prominente Rolle. Das galt zum Beispiel für John James Audubon, der einfach Lust bekam, sich mit einer Flinte und einem Farbkasten im Gepäck auf die Spuren der Vogelwelt Nordamerikas zu begeben. Die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts hatte er wegen nicht bezahlter Schulden aus einem gescheiterten Business im Gefängnis gesessen. Anschließend durchstreifte Audubon ein paar Jahre lang kreuz und quer den Kontinent, lebte von der Hand in den Mund, studierte (und erschoss) jeden Vogel, der ihm unterkam, und dokumentierte die Spezies mit großer Akribie in wunderschönen Illustrationen. Der daraus entstandene Porträtband Birds of America von 1827 bis 1838 bescherte ihm die ersehnte Anerkennung. Wirklich berühmt wurde Audubon aber wegen seiner verwegenen Geschichten von der amerikanischen Siedlungsgrenze, der Frontier. Damit wurde Audubon ein amerikanischer Held.

Audubon war beileibe nicht der erste reisende Vogelmaler. Der schottisch-amerikanische Künstler Alexander Wilson – für manche der „Vater der amerikanischen Ornithologie“ – gab schon 1808 bis 1814 neun Bände mit Vogeldarstellungen heraus, die er von seinen kühnen Reisen mitbrachte. Und noch einmal 80 Jahre vor Wilson bebilderte der englische Naturforscher Mark Catesby seine Natural History of Carolina, Florida, and the Bahama Islands mit 220 Bildtafeln von Vögeln und anderen Tieren. Es war die erste gedruckte Bestandsaufnahme der nordamerikanischen Flora und Fauna. Man versuche sich vorzustellen, wie es Catesby gegangen sein mag, als er im Frühjahr 1712 nach Virginia kam, um die folgenden sieben Jahre die englischen Kolonien nach Pflanzen und Tieren abzuklappern. Er illustrierte viele Arten, die noch nie ein europäischer Naturkundler zu Gesicht bekommen hatte.

Eine weit verbreitete Obsession – eher ein Sport als eine Kunst oder Wissenschaft – wurde das Beobachten von Vögeln Mitte des 20. Jahrhunderts. Ein Mann hat diesen Sport mehr als jeder andere Mensch bekannt und populär gemacht.

Er hieß Roger Tory Peterson. Mit ihm kam die eigentliche Geburtsstunde der modernen Vogelbeobachtung. Der Sohn eines schwedischen Einwanderers studierte an der Art Students League und an der National Academy of Design in New York. Dort besuchte er Mitte der 1920er Jahre auch Veranstaltungen der heute noch aktiven Linnaean Society, in der Amateurbiologen zusammenkommen und sich über Vögel austauschen. Bald schloss er sich einer Gruppe von jugendlichen Vogelverrückten an, die ihr eigenes Ding auf die Beine stellten, den Bronx County Bird Club.

Die besten Bestimmungsbücher der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stammten von Chester Reed, der die aufkommende Naturkundebewegung mit bebilderten Vogelführern im Taschenformat versorgte. In seinem ersten Vogelführer Bird Guide: Land Birds East of the Rockies von 1905 beschrieb Reed fast 220 Arten, und jede Seite versah er mit einer farbigen Zeichnung. Ab sofort konnten Vogelbegeisterte eine tragbare und farbig bebilderte Bestimmungshilfe mit in die freie Natur nehmen. Reed ist inzwischen weitgehend vergessen, aber seine Bedeutung ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Er schuf im Grunde den ersten modernen Vogelführer, den auch Roger Tory Peterson und die anderen Mitglieder der Linnaean Society und des Bronx County Bird Club in der Tasche hatten, als sie die Vogelwelt rund um New York erkundeten.

Nachdem Peterson 1931 seinen Abschluss an der Kunsthochschule gemacht hatte, begab er sich zur Vogelbestimmung ins Gelände – im Unterschied zu Audubon und anderen Ornithologen früherer Tage mit Fernglas und nicht mit Flinte. Zwischendurch arbeitete er, unter anderem inspiriert durch Reeds Vogelführer, beharrlich an seinem großen Projekt. 1934 veröffentlichte der 26-jährige Peterson dann jenes Buch, das die Vogelbeobachtung für immer verändern sollte.

A Field Guide to the Birds war etwas vollkommen Neues. Das Buch war so anders als alle bisherigen Bücher, dass mehrere Verlage das Manuskript ablehnten und auch der Verlag Houghton Mifflin, der das Wagnis schließlich einging, nur 2000 Exemplare drucken wollte. Der Vogelführer von Peterson enthielt Darstellungen sämtlicher Vögel des östlichen Nordamerikas. Verwandte Arten waren auf den Bildtafeln nebeneinander angeordnet und in unterschiedlichem Federkleid dargestellt. Charakteristische Merkmale wurden mit Pfeilen kenntlich gemacht. Anders als Audubons vierbändiges Werk Birds of America – jeder Band wog rund 27 Kilo – konnte man Petersons Führer mit ins Gelände nehmen, und anders als Reeds kleine Vogelführer war Petersons Buch vollständig und bildete mehrere Vögel pro Seite ab.

Als die erste Auflage von A Field Guide to the Birds nach einer Woche restlos vergriffen war, wusste Peterson, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Bis das Buch seine volle Wirkung entfaltete, sollte es zwar noch dauern, Jahrzehnte später aber durfte Peterson die fünfte Auflage seines Werkes erleben, von dem bis dahin sieben Millionen Exemplare verkauft worden waren. Die Peterson-Naturführer decken von Vögeln bis zu Pilzen alles ab und sind die erfolgreichste Bestimmungsbuchreihe der Welt.

In vielerlei Hinsicht hat Peterson unsere Sicht auf die Natur verändert. Sein System der Bestimmungsmerkmale zeigt, dass es für jedes haarige Problem eine Lösung gibt, wenn man es nur genau genug analysiert. Der Field Guide vermittelte seiner Leserschaft nicht nur Wissen, sondern stand auch für einen revolutionären Perspektivwechsel. Dadurch, dass er zu jedem Vogel eine einfache Beschreibung mit charakteristischen Merkmalen lieferte, versetzte Peterson auch Laien in die Lage, komplizierte Vögel zu identifizieren. Die Vogelbeobachtung wurde massentauglich.

Seine Bücher machten Peterson berühmt. Und doch gab es da etwas, das in seinem Leben noch fehlte: die Abenteuerreise, die in den Kreisen seiner Vorgänger Tradition gewesen war. Peterson reiste viel, aber seine Arbeit ließ ihm nie längere Auszeiten. 1953 war es endlich so weit. Mit dem britischen Seevogelexperten James Fisher unternahm Peterson eine Reise quer durch Nordamerika. Die beiden bastelten sich eine 48.000 Kilometer lange Route zusammen, die von Neufundland bis zur Südspitze Floridas, am Golf von Mexiko entlang nach Südtexas und Mexiko, quer durch Arizona und dann die Pazifikküste nordwärts bis zum Bundesstaat Washington führte und mit einem Flug zu den Pribilof-Inseln in Alaska endete. Die beiden brachen im April auf und beendeten die Reise genau 100 Tage später im Juli. Aus Petersons Reisebeschreibung und Fishers Tagebucheinträgen entstand das Buch Wild America. Der Klassiker der frühen ökologischen Literatur enthielt faszinierende Beobachtungen nicht nur von Vögeln, sondern auch von Alligatoren, Seebären und dem Amerika der 1950er Jahre.

Wild America ritt auf der Welle der modernen Umweltbewegung, die in den 1950er Jahren durch die USA schwappte. Vögel spielten dabei eine wesentliche Rolle. Die beiden Naturforscher machten ihre Leserschaft mit Orten bekannt, von denen viele noch nie gehört hatten, und steigerten damit das Interesse an der Natur.

Ganz weit hinten im Buch findet sich eine interessante Fußnote von Peterson:

„Nebenbei, meine Jahresliste umfasste Ende 1953 insgesamt 572 Arten (weitere 65 mexikanische Vögel habe ich nicht mitgezählt).“

Ergänzung von Fisher: „Auf meiner Liste standen 536 Vögel plus 65 mexikanische Arten plus 117 weitere Arten, die ich in Europa gesichtet habe – insgesamt also 718.“

Hier, im Kleingedruckten, stand sie schwarz auf weiß: die Herausforderung, die es anzunehmen galt.

Als Peterson und Fisher durch Nordamerika reisten, war ein anderer Herr Fisher – in diesem Fall Dean Fisher aus Michigan – auf dem Weg zu einem Kreuzer der US-Marine, der in den Pazifik auslaufen sollte. Dean Fisher war Vogelnarr und führte Buch über die Vögel, die er auf seinen Einsätzen im Ausland sah. Als er 1958 aus der Navy ausschied, hatte er an die 900 Vogelarten gesehen. Doch das war für ihn noch lange nicht das Ende der Fahnenstange.

1959 brach er mit einem Freund zu einem Abenteuer der besonderen Art auf. Die beiden fuhren von Kalifornien aus quer durch Mexiko, passierten Panama auf einem Frachter und reisten bis hinunter an die Südspitze Südamerikas. Dort verschifften sie ihr Fahrzeug nach Südafrika, durchquerten die Sahara, setzten nach Spanien über und fuhren quer durch Europa bis nach Indien. Anschließend trampten sie eine Weile durch Südostasien, stachen in südliche Richtung in See und reisten zum Abschluss quer durch Australiens Norden. Sie waren drei Jahre unterwegs.

Bei jeder Gelegenheit ging Fisher auf Vogelerkundung – in Parks, Sümpfen, Wäldern und Wüsten. Viele Spezies konnte er nicht identifizieren, weil es in den meisten Ländern noch keine Bestimmungsbücher gab, aber er machte sich ausführliche Notizen. Es konnte eine ganze Weile, manchmal sogar Jahre dauern, bis er herausfand, was er gesehen hatte. Am Ende kam er auf über 4000 Vogelarten. Über 3000 davon hatte er auf besagter Weltumrundung gesichtet. Allein im Jahr 1959 verzeichnete er 1665 Arten, eine bis dahin unerreichte Meisterleistung. Ohne es überhaupt darauf angelegt zu haben, war er der erfolgreichste „Bird Lister“ seiner Zeit.

Etwa zeitgleich machten sich auch andere Hobbyornithologen auf den Weg in entlegene Winkel der Erde. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Reiseverkehr und mit ihm der Tourismus in Schwung, es gab neue technische Möglichkeiten und die Menschen wurden immer mobiler. Als in den späten 1950ern regelmäßig Passagierflugzeuge in den Himmel starteten, verkürzte sich die Reisezeit für eine Atlantiküberquerung zum Beispiel von fünf Tagen per Schiff auf wenige Stunden per Flugzeug. Vogelliebhabern wurde zunehmend klar, wie viele Spezies eigentlich jenseits der eigenen Landesgrenzen auf sie warteten.

Einer dieser reisefreudigen Vogelkundler war der junge Peter Alden. Während seines Studiums an der University of Arizona verbrachte Alden Mitte der 1950er Jahre jedes Semester fünf Wochen als Reiseleiter im benachbarten Mexiko. Bei seinen Exkursionen ging es vor allem um die mexikanische Kultur, aber auch um Vögel. Nach seinem Examen baute er diesen Job aus. Für die Massachusetts Audubon Society leitete er mehrere Reisen zu exotischen Zielen. 1968 beobachtete er über 2000 Arten, ein neuer Jahresweltrekord. Alden leistete Pionierarbeit für den internationalen Vogelbeobachtungstourismus, der heute eine eigene Reisesparte darstellt.

Der wohl bedeutendste nichtamerikanische Birdwatcher war in diesen frühen Jahren der Brite Stuart Keith. Sein Faible für die Vogelwelt hatte er während des Studiums der klassischen Philologie in Oxford entdeckt. Inspiriert durch Wild America von Fisher und Peterson siedelte Keith 1955 von England nach Kalifornien über und nahm die Nordamerika-Jahresliste, das North American Big Year, ins Visier, die Roger Tory Peterson in jener schicksalhaften Fußnote erwähnt hatte. 1956 wurde Keith nicht nur 25 Jahre alt, sondern er reiste auch mit seinem Bruder durch die USA und Kanada und folgte dabei einer ähnlichen Route wie einst Peterson und Fisher. Er nahm sich allerdings mehr Zeit und bekam 594 Vogelarten zu Gesicht, ein neuer Nordamerika-Big-Year-Rekord.

Die meisten Ornithologen der Zeit gingen von rund 8600 Vogelarten weltweit aus. Keith fragte sich, wie viele dieser Vogelarten man in seinem Leben wohl mit eigenen Augen sehen könnte. Auf seinen Touren und in Gesprächen mit anderen Birdern wie Roger Tory Peterson und Peter Alden stellte er fest, dass die sich offenbar die gleiche Frage stellten.

Keith erkannte die Zeichen der Zeit. Er war 1968 einer der Gründer der American Birding Association und deren erster Vorsitzender. Zusammen mit seinem Freund Jim Tucker gab er die Zeitschrift Birding heraus. Der Verein widmete sich zwar in erster Linie der Vogelwelt Nordamerikas, aber seine Mitglieder – im ersten Jahr waren es 115, bald 500 und heute rund 13.000 – kamen keineswegs nur aus den Vereinigten Staaten. In der Anfangsphase drehte sich in dem Verein alles um Vogellisten. Es war ein ziemlich exklusiver Club: Aufgenommen wurde nur, wer mindestens 500 Arten in Nordamerika oder 70 Prozent der Vögel in seinem Heimatbundesstaat gesichtet hatte. Anhand der aufgelisteten Gesamtzahlen, die die Mitglieder einschickten, wurde die Rangfolge festgelegt.

Zu Beginn der 1970er Jahre war Keith der weltweite Listenkönig. Sein nächstes Ziel war von wahrlich historischen Ausmaßen. Verschiedene vielreisende Vogelbeobachter, darunter auch Roger Tory Peterson, hatten sich vorgenommen, die Hälfte aller auf der Welt lebenden Vögel zu sehen, nach damaliger Datenlage also rund 4300 Arten, und Keith wollte der Erste sein, der diese Marke knackte. Er kämpfte sich durch die unwirtlichsten und entlegensten Winkel der Erde und erreichte sein Ziel offiziell 1973 mit 41 Jahren. (Auch Peterson schaffte 50 Prozent aller Vogelarten, allerdings erst Mitte der 1980er Jahre.) Keith wurde eine kleine Birding-Berühmtheit; das US-Magazin People feierte ihn als „Superstar“.

In dem spannenden Artikel „Birding Planet Earth: A World Overview“ in der Zeitschrift Birding beschrieb Keith seine Leidenschaft so: „Es war der aufregendste Moment in meiner Birding-Laufbahn, als ich die Hälfte tatsächlich geschafft hatte. Für unermüdliche, engagierte Welt-Birder, die erst ruhen, wenn sie einen Kiwi und einen Kasuar gesehen haben, für alle, die ein Mal einen Jabiru sehen wollen, sind 4300 Arten ein machbares Lebensziel. Ich habe dafür 26 Jahre gebraucht.“

Keith wagte sogar eine Prognose für die Zukunft: „Ich schaffe 6000, und sei es erst, wenn ich im Rollstuhl sitze.“

Später zeigte sich, dass er dieses Ziel sogar noch überschreiten würde. Er reiste weitere 30 Jahre, bis er Anfang 2003 auf einer Vogeltour auf der mikronesischen Insel Chuuk einem Schlaganfall erlag. Am Vortag hatte er mit Vogel Nummer 6600 seiner Lebensliste noch die Ponape-Erdtaube, auch Karolinentaube genannt, gesichtet.

In seinem Artikel sprach Keith auch die Idee einer einjährigen Birding-Weltreise an: „Das ist aber ein großes Thema und einen eigenen Artikel wert. Darauf möchte ich hier nicht eingehen, sondern vielmehr Leserinnen und Leser einladen, monatsgenaue Routenvorschläge für eine solche Weltreise einzuschicken. Um über dieses Thema zu schreiben, wäre der amtierende Weltjahreslistenchampion Peter Alden geeignet, der schon mehrfach über 2000 gekommen ist. Wie sieht’s aus, Peter? Schaffst du auch 3000?“

Diese Zeilen lösten etwas Besonderes in mir aus. Hier war, soweit ich weiß, zum ersten Mal in gedruckter Form ganz konkret die Rede von einem „World Big Year“. Hier war sie, die Idee, ein ganzes Kalenderjahr um die Welt zu reisen und möglichst viele Vogelarten aufzuspüren.

Keith inspirierte mit diesem Artikel viele andere Vogelfreunde, brach aber nie selbst zu einem World Big Year auf, weil er nach eigenem Bekunden lieber ein bestimmtes Gebiet gründlich durcharbeitete.

Unter Vogelbeobachtern wurde nun die Frage diskutiert: Wie viele Vögel der Welt kann man in einem Jahr sehen, wenn man es wirklich darauf anlegt?

Viele Birder, die die frühen 1970er Jahre noch erlebt haben, blicken heute mit Wehmut auf die alten „goldenen“ Zeiten zurück. Da kam vieles zusammen: Birdern wurde bewusst, dass sie Teil einer großen Gemeinschaft sind. Sie fingen an, Informationen im großen Stil untereinander auszutauschen. Regionalvereine wurden gegründet, man vernetzte sich, vieles war noch so neu, dass irgendwie jeder einen Beitrag zum ornithologischen Wissen leisten konnte.

„Birdwatching wandelte sich vom lokalen Hobby in ein Fieber, das den ganzen Kontinent erfasste“, schrieb der amerikanische Birder Kenn Kaufman Jahre später im Rückblick. „Erst heute, mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten, erkennen wir, welche grundlegenden Veränderungen sich damals vollzogen und welche weitreichenden Folgen das hatte … Das Birding des 21. Jahrhunderts ist ein Produkt der kurzen Zeitspanne zwischen 1970 und 1975.“

Als Kaufman 1973 – langhaarig, High-School-Abbrecher – auf Vogelsuche durch die Vereinigten Staaten trampte und ein entsprechend ereignisreiches Jahr verlebte, war das unter anderem Petersons Buch Wild America geschuldet. Das sogenannte North American Big Year, also ein Jahr lang auf Vogeltour durch Nordamerika, kam in Mode. Ted Parker brachte es 1971 auf 626 Vogelarten und stellte damit den bisherigen Rekordhalter Stuart Keith in den Schatten. Nur zwei Jahre später zogen Kaufman und der Pädagoge Floyd Murdoch aus, um wiederum Parker zu toppen. Es war das erste Mal, dass in einem Jahr zwei Birder antraten, um einen neuen Rekord aufzustellen. Damit kam ein neuer Aspekt ins Spiel: der Wettkampf.

Kaufmans 1997 erschienene Autobiografie Kingbird Highway zeugt von seiner Leidenschaft. Als Jugendlicher verbrachte er viele Nächte unter Brücken und schränkte sich so drastisch ein, dass er mit weniger als einem Dollar pro Tag auskam. Mit seiner Vogeltour fand sich Kaufman in einer wachsenden Community wieder, und Ende 1973 hatte er sich einen festen Platz erobert. Dass er mit 666 Arten einen neuen US-Rekord aufstellte, um noch im gleichen Jahr von Murdoch mit 669 Arten auf Platz zwei verwiesen zu werden, war für ihn so unwichtig, dass er die Gesamtzahlen nur als Nachtrag im Anhang seines Buches vermerkte.

Kingbird Highway hatte enormen Einfluss auf mich. Mit zwölf Jahren las ich es zum ersten Mal. Was für eine Geschichte! Hier war ein Typ, der nicht den ausgetretenen Pfaden folgte, ein Rebell, der sich auf Vogelsuche begab, egal, wohin das führte. Bücher sind so stark, dass Wild America den jungen Kaufman zu einer Birding-Revolution anregte, und Kaufmans Kingbird Highway bestärkte wiederum mich in meinen Träumen.

In den 1980er Jahren waren North American Big Years unter Hardcore-Birdern eine feste Institution. Eins wurde immer klarer: Der US-Rekord stand zur Disposition. James Vardaman, ein Geschäftsmann, witterte die Chance, Werbung für seinen Forstbetrieb zu machen. Er heuerte ein Team von Ornithologen an, die ihn ein Jahr lang durch Nordamerika führen sollten. Am Ende hatte er 699 Vogelarten auf der Liste und damit den Beweis geliefert, was ein „lausiger Birder, aber genialer Promoter“ zustande bringen konnte, wenn er genug Geld und Zeit investierte und sich Experten anvertraute. Auf seiner Reise legte Vardaman über 220.000 Kilometer zurück. Manchmal flog er 32.000 Kilometer extra, nur um einem vagabundierenden Vogel nachzujagen, der auf der anderen Seite des Kontinents gesichtet worden war. Seine Strategie hatte Vorbildcharakter für die späteren Rekordjäger, die deutlich über die 700-Arten-Marke drängten und im neuen Jahrtausend sogar 750 Vogelarten in einem Jahr anpeilten.

Dieses Extrem-Birding hatte wirklich nichts mehr mit dem Freizeitvergnügen von damals zu tun, als man einfach so durch die Wälder streifte, um zu sehen, was da flattert. Man hat schon all die gängigen Vögel auf der Liste, also jagt man einem seltenen, nicht sesshaften Vogel hinterher und schleudert dafür massenhaft CO2 in die Luft, was die Ausbeute auf dem Kontinent langfristig massiv schmälert.

Am Ende seines Buches Call Collect, Ask for Birdman schreibt Vardaman: „Ich würde mich gern an die Planung eines World Big Year machen. Aber wegen der Entfernungen und Tücken eines solchen Projekts wird die Planung mehrere Jahre in Anspruch nehmen, und die Ausführung des Plans wird weitere 365 Tage benötigen und wahrscheinlich schon beim heutigen Preisniveau 700.000 Dollar kosten. Deshalb kann ich den Versuch frühestens 1985 wagen. Falls ich den Plan nicht in die Tat umsetzen kann, trete ich ihn nur zu gern an jemand anderen ab. Ob 5000 zu schaffen sind?”

Weiß der Himmel, wie Vardaman auf seine Kostenschätzung kam – aus seinen 700.000 Dollar von 1980 hätte die Inflation bis zu meiner Weltreise über zwei Millionen Dollar gemacht –, aber immerhin dachte er in großen Dimensionen. Er reiste lange genug, um auf 2800 Arten netto zu kommen und 1984 einen neuen offiziellen Weltrekord aufzustellen; einen koordinierten internationalen Rekordversuch unternahm er nicht.

Der einzige Ornithologe dieser Generation, der auf eine höhere Jahreszahl kam, war James Clements. Der Einzelgänger schrieb das Standardwerk schlechthin über die Vögel dieser Welt. Für seine Dissertation an der California Western University erarbeitete Clements die Checkliste, die die meisten amerikanischen Birder (auch ich) benutzen und in der die Namen aller Vogelspezies auf Erden standardisiert werden. Später betrieb er eine Druckerei und konnte es sich erlauben, viel zu reisen. 1989 brach er mit dem Vorsatz auf, so viele Vögel wie möglich zu sehen. Mit der Big-Year-Idee warb er Spenden für das Los Angeles Museum of Natural History ein. Ende 1989 hatte Clements rund 426.000 Kilometer zurückgelegt und 3663 Vogelarten erfasst. In Westafrika wurde er festgenommen, weil er sich „unerlaubt“ an einen Nashornvogel herangepirscht hatte. Clements brachte 50.000 Dollar für das Museum zusammen. Bis zu seinem Tod 2005 setzte er seine Vogelstudien im Ausland fort und hinterließ dem Cornell Lab of Ornithology die Aufgabe, seine Welt-Checkliste weiterzupflegen.

Heute ist James Clements als einer der passioniertesten Verfechter und Pioniere der Vogelbeobachtung in Erinnerung. Eine in Peru lebende Mückenfängerart heißt ihm zu Ehren Polioptila clementsi. Von seinem Big Year 1989 wissen allerdings nur die wenigsten. Der Rekord, den Clements damals aufstellte, blieb ganz unscheinbar fast 20 Jahre lang bestehen. Bis sich jemand ernsthaft anschickte, diesen Rekord zu brechen, erlebte das Birding insgesamt eine weltumspannende Revolution.

Ich war drei Jahre alt, als Clements die Welt umrundete, und gehöre zur Generation der Digital Natives, zu den sogenannten Millennials – den ersten Jahrgängen, die mit dem Internet groß und um die Jahrtausendwende erwachsen wurden. Kulturell unterscheiden wir Millennials uns erheblich von den Babyboomern und der Generation X: Wir sind progressiver, weniger religiös, besser ausgebildet, weniger familienorientiert, urbaner, weniger politisch, narzisstischer, weniger umweltbewusst und vor allem technologieabhängiger. Meine Generation lebt mit und von Computern und Smartphones, mit allen Vor- und Nachteilen. Wir sind Kinder des World Wide Web.

Wie erklärt sich vor diesem Hintergrund, dass Birding in den letzten Jahren immer mehr Menschen fasziniert? Wenn sich keiner mehr über die Umwelt Gedanken macht, würde man doch erwarten, dass das Interesse an Outdoor-Aktivitäten nachlässt. Stattdessen werden sie merkwürdigerweise immer beliebter. Am besten brachte das 2014 eine Schlagzeile der Männerzeitschrift Esquire auf den Punkt: „Uh-Oh. Birdwatching Is About to Become Cool“ – Birdwatching wird gerade echt cool. Wenn kurz hintereinander Owen Wilson in dem Hollywoodfilm Ein Jahr vogelfrei einen Birder spielt, Jonathan Franzen für den New Yorker einen langen sorgenvollen Artikel über Vögel schreibt und Rockstar Geddy Lee mit den Worten „Ob ihr’s glaubt oder nicht – ich bin ein Birder“ zitiert wird, ist da ganz offenkundig etwas in Bewegung.

Man könnte Birding für eine Gegenbewegung zur Technisierung halten oder vermuten, die Rückbesinnung auf die Natur entspringe einem tief verwurzelten Bedürfnis des Menschen. Mir gefällt der Gedanke, dass sich die Leute eine Outdoor-Therapie suchen, um ihren digitalen Lebensstil auszugleichen. Wahrscheinlich ist es aber genau umgekehrt: Die ganze Technologie und Vernetzung hat die Art und Weise verändert, wie man seine Freude an der Vogelwelt und der Natur ausleben kann, und sie hat neue Möglichkeiten eröffnet. Kurioserweise lassen wir uns ausgerechnet durch das Internet dazu inspirieren, raus in die Natur zu gehen.

Das Informationszeitalter hat auch die Kommunikation der Birder untereinander revolutioniert. Heute tauscht man sich über Plattformen und Foren wie BirdingPal, eBird und BirdForum aus. Aus einer Nischenbeschäftigung für wohlhabende Rentner ist eine internationale Bewegung geworden. Außerhalb der USA und Europas, in Ländern wie Brasilien, Indien und den Philippinen, entwickeln sich eigene Varianten und bereichern die Birding-Kultur. In China beispielsweise gilt Birding inzwischen als Kennzeichen sozialen Aufstiegs; Ferngläser und Spektive muss man sich schließlich leisten können, und obendrein braucht man genug Freizeit, wenn man Vögel beobachten will. Vor zehn Jahren gab es in ganz China so gut wie keine Birder, heute bilden sich an vielen Unis und in den meisten großen Städten Gruppen.

Gleichzeitig kann man sich dank der technologischen Entwicklung heute leichter über Vögel informieren. Digitalkameras machen das Identifizieren zum Kinderspiel, und Ferngläser sind mittlerweile so gut, dass sich die Hersteller schon Sorgen machen, ob ihre Kunden sich jemals wieder ein neues kaufen müssen. Bestimmungsbücher sind für fast jeden Ort der Welt zu haben, und immer häufiger sind sie als Apps fürs Smartphone verfügbar. Das Cornell Lab of Ornithology hat die App Merlin entwickelt, die mit einer Genauigkeit von 80 Prozent feststellen kann, welche Vogelart auf einem Handyfoto zu sehen ist. Eine andere App identifiziert Vogelgesang. Du hältst dein Handy hoch, und es verrät dir den Namen des unsichtbaren Sängers. Großartig.

Heute ist eine Weltreise ungefähr so schwierig oder leicht wie eine Reise durch die USA in den 1970er Jahren, als die erste Birdwatching-Revolution im Gange war.

2008 beschlossen die beiden britischen Birder Ruth Miller und Alan Davies, Clements’ Rekord von 1989 zu toppen. In den 19 Jahren seit damals war viel passiert, und die beiden hielten den Zeitpunkt für gekommen, die Idee des World Big Year wiederzubeleben. Miller und Davies gingen mit großem Ernst zur Sache, sie planten etliche Einzelreisen, um so viele Vogelarten wie möglich sichten zu können. Sie verkauften ihr Haus, um das Ganze zu bezahlen. Am Ende des Jahres hatten sie gemeinsam 4341 Vogelarten in über 20 Ländern gesehen, Clements’ Liste getoppt und gezeigt, was im neuen, vernetzten Zeitalter möglich ist.

Ich verfolgte ihren Weg genau und fahndete in ihrem Buch The Biggest Twitch nach Anhaltspunkten, wie man ihre Weltreiseroute strategisch optimieren könnte. Miller und Davies flogen nach jeder Reisestation nach Hause, reisten hin und her, ließen einige ganz wichtige Gebiete aus und hielten sich satte drei Monate in Europa auf, obwohl das der Kontinent mit den wenigsten Vogelarten ist. Mich beschäftigte die Frage, ob jemand ein noch größeres Big Year auf die Beine stellen könnte und wie man das angehen müsste.

In jenem Frühjahr machte ich meinen Collegeabschluss und peilte den einen oder anderen Forschungsaufenthalt an, um mich an entlegenen Orten in Vogelprojekten zu betätigen. Als die Weltwirtschaft zusammenbrach, durfte ich die Krise in einem mehr als tiefgekühlten Zelt in der Antarktis aussitzen, wo ich im Rahmen einer Langzeitstudie Pinguine mit GPS-Sendern ausstattete, um ihre Bewegungen zu verfolgen. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich mir ein paar Jahre später den Big-Year-Rekord vornehmen würde, hätte ich nur gelacht. Heute weiß ich, dass der Plan bereits in dieser Zeit in meinem Hinterkopf zu keimen begann.

Vogelfrei

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