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DIE SCHULE DER WAHRNEHMUNG

– EIN VORWORT | Roland Reichenbach

Manchmal behaupte ich, ich würde mich für Architektur interessieren. Gelogen ist es zwar nicht, wenn ich dann aber mein baukulturelles Wissen so richtig ernsthaft in die Mangel nehme, muss ich zugeben, dass ich es in diesem Bereich nicht so weit gebracht habe, wie ich mir vielleicht vorgaukle. Immerhin kann ich beispielsweise Bauernhäuser des Berner Oberlands von solchen aus dem Emmental, Entlebuch, Jura, Wallis oder Graubünden unterscheiden – von aussen. «Holz oder Stein?» ist dazu schon eine hilfreiche Ausgangsfrage. Müsste ich aber sagen, was diese Häusertypen im Innenbereich unterscheidet, so ist leider nicht sicher, ob ich eine einzige zutreffende Aussage machen könnte. Bisher bin ich auch ohne diese spezifische Unterscheidungskompetenz durch das Leben gekommen. Was kümmert es mich also?

Die gebaute Welt ist vergleichsweise beständig. Manche wohnen in Häusern, in denen schon Generationen zuvor Menschen gewohnt haben. Das sind die alten Häuser. Die Bewohnerinnen und Bewohner, selbst wenn sie das Haus besitzen, entwickeln vielleicht ein Gefühl dafür, dass sie in diesem Haus im Grunde nur vorübergehende Gäste sind; dem Anschein nach werden auch sie von diesem Gebäude überlebt werden. Solche Häuser mögen gefallen oder nicht, doch um sogenannte «Bausünden» handelt es sich höchstwahrscheinlich nicht. Schult man seinen Blick ein wenig, so entdeckt man erstaunlich viele kleine und grosse Bausünden. Doch baukulturelle Bildung, um die es in diesem Buch geht, will Kinder beziehungsweise Schülerinnen und Schüler in erster Linie für das ganze Spektrum der gebauten Umwelt sensibilisieren und sie in der Wahrnehmung ihrer Lebenswelt fördern. Baukulturelle Bildung ist Wahrnehmungsschulung. «Sehen kommt vor Sprechen. Kinder sehen und erkennen, bevor sie sprechen können» (Berger, 2016, S. 7), meinte John Berger. Doch die Welt wird von Beginn des Lebens an nicht nur gesehen, sondern auch gehört, gerochen, ertastet und geschmeckt. Dies trifft auf die natürliche, die soziale sowie die gebaute Umwelt zu. Die fünf Körpersinne ermöglichen nicht nur von Anbeginn einen Zugang zur Welt, sondern lassen uns uns auch als Leib selbst erleben. Doch die Metaphorik der Sprache verweist vielfältig auf die fundamentale Bedeutung aller fünf Sinne für unsere Weltbezüge; so ist manches nach unserem «Geschmack», manchmal sind wir unangenehm «berührt», auch wenn dies uns vielleicht zu bestimmten «Einsichten» verhilft, und mitunter müssen wir Personen «gehorchen», die wir nicht «riechen» können.

Das griechische aísthēsis bedeutet bekanntlich «Wahrnehmung». Ein bedeutsamer Aspekt der menschlichen Entwicklung und Bildung ist Wahrnehmungsschulung, also letztlich ästhetische Bildung. Es geht darum, mehr, bewusster, anders und feiner beziehungsweise differenzierter wahrzunehmen. Hierzu ist Wissen nicht nur hilfreich, sondern notwendig. Wer mehr weiss, kann auch mehr wahrnehmen, das trifft auf die natürliche, die soziale und die gebaute Umwelt gleichermassen zu. Wer sich in Flora und Fauna ein wenig auskennt, erlebt auf einem Spaziergang durch den Wald sehr viel mehr, als wer nur Gräser von Bäumen und Vögel von Säugern unterscheiden kann. Wer über sich und die anderen viel nachgedacht hat, versteht sich und seine soziale Umwelt besser. Sein Erleben ist tiefer, breiter und nachhaltiger. Wer sich aber (auch) für die gebaute Umwelt, das heisst die menschliche Baukultur, zu interessieren vermag, der oder die erfährt nicht nur objektives Wissen über Häuser, Brücken oder Bollwerke, über Baustile und Baumaterialien, sondern erhält zunächst nur stillschweigend und dann zunehmend Einblicke in die conditio humana: Der Mensch ist als homo faber ein baukulturelles Wesen, er «baut» sich seine Umwelt, in der er wohnt, arbeitet, überhaupt die meiste Zeit seines Lebens verbringt. Baukultur, zuallererst in ihrer Erscheinungsform als Behausung, könnte als die «zweite Haut» des Menschen bezeichnet werden. Sie nicht nur in ignoranter Weise zu nutzen oder nur am Rande zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie bewusst wahrzunehmen, verstehen und beurteilen zu können, das heisst, sich zu ihr in ein Verhältnis setzen zu können, ist ein bisher noch sehr vernachlässigtes Bildungsziel. Diese Form der Bildung fokussiert nicht auf Verfügungswissen, das heisst konkrete Handlungskompetenzen, mit denen Menschen nach Gusto in der Welt hantieren können, sondern auf Urteilskompetenzen und Orientierungswissen, die in der zeitgenössischen Bildungsdiskussion unterschätzt und wenig berücksichtigt sind. Menschen sind nicht nur «Handlungssubjekte», Kinder und Jugendliche wie auch Erwachsene müssen nicht nur Handlungskompetenzen erwerben, sondern die Welt, in der sie leben, verstehen, damit sie sich selbst verstehen, verorten können (Taylor, 1985).

Baukulturelle Bildung bringt den Menschen in die Lage, sich zum hergestellten Lebensraum in leiblicher, emotionaler und geistiger Hinsicht zunehmend differenzierter in ein Verhältnis zu setzen. Die gebaute Umwelt wird somit als Ausdruck der mit Menschen geteilten Welt erfahrbar, dies nicht nur in ihren schönen, sondern, wie erwähnt, auch ihren hässlichen Seiten. In der gebauten Umwelt manifestieren sich technische, historische, soziale, politische, ethische und ästhetische Dimensionen, Errungenschaften, Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Zusammenlebens, wie sie sonst kaum in dieser Dichte zu erfahren sind. Daher hat sie für Bildungsprozesse ein so grosses, aber wenig genutztes Potenzial. Die hergestellte Welt, die Gegenstände, Gebilde und Gebäude verleihen der Welt eine Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, ohne die sich – so Hannah Arendt – «das sterblich-unbeständige Wesen der Menschen auf der Erde nicht einzurichten wüsste; sie sind die eigentlich menschliche Heimat des Menschen» (Arendt, 1996, S. 161). Bildungstheoretisch betrachtet hat der Bildungsprozess zentral mit Eindrucksbildung und Ausdrucksbildung zu tun (Gauchet, 1985). Der Mensch lässt sich prägen, das heisst beeindrucken, seinen Eindrücken will oder muss er dann – auf die eine oder andere Art – wiederum Ausdruck verleihen. Ohne Eindruck keinen Ausdruck, könnte man sagen. Daher stellt die Eindrucksfähigkeit des Menschen die Basis aller Bildung dar.

Baukulturelle Bildung kann sich im weitesten Sinne an Dimensionen ästhetischer Bildung orientieren. Die Auflistung von Kriterien oder Dimensionen hat häufig einen analytischen Sinn, tatsächlich handelt es sich aber nur um unterschiedlich akzentuierte Perspektiven auf das Amalgam eines ästhetischen Artefakts. Denn letztlich bildet jedes baukulturelle Erzeugnis – vom Innenraum einer Wohnung bis zum Strassennetz einer Grossstadt – eine phänomenale Ganzheit, die es zunächst weniger zu analysieren («in seine Momente zu zerlegen»), als vielmehr zu beschreiben und «verstehen» gilt. Dennoch ist es bedeutsam, Kriterien und Dimensionen zu diskutieren, die sich auf das Konzept der baukulturellen Allgemeinbildung beziehen. Dazu gehören die Dimensionen (1) Wahrnehmung, das heisst die Erweiterung und Differenzierung der Wahrnehmung baukultureller Phänomene, (2) Funktionalität, das heisst das Verständnis für die Bedeutung und Kriterien der Funktionen von baukulturellen Erzeugnissen, (3) Materialität, womit das Verständnis und der Zugang zu der Vielfalt der Baumaterialien und ihrer Bearbeitungsmöglichkeiten gemeint ist, (4) Gemeinsinn und Kommunikation, dabei unter anderem die Schärfung des Sinns für «Geschmacksgemeinschaften» und deren Grenzen, und (5) Imagination und Kreation, die auf die Förderung und Erweiterung der Möglichkeiten und Neuschöpfung geistiger und sinnlicher Produktion zielen, etwa in Form von Ideen, Entwürfen, Fragen an konkrete Umsetzungsmöglichkeiten. Diese – miteinander verschränkten – Dimensionen dienen nicht nur dem besseren Verständnis einschlägiger Urteils- und Artikulationskompetenzen in baukultureller Hinsicht, sondern sie bilden zugleich den Gegenstand, an dem sie aktualisiert und entwickelt werden können. So kann ein Gebäude – eine Fabrik, ein Kuhstall, ein Einfamilienhaus – in Bezug auf seine Herstellungsweise betrachtet werden (betrifft u. a. die Dimension der Materialität/Stofflichkeit), es kann aber auch architekturhistorisch eingebettet und diskutiert werden, es kann mit anderen vor Ort oder an entlegenen Orten, zeitnah und «zeitfern» vorhandenen Gebäuden, Architekten, Vorstellungsweisen in seiner Erscheinungsweise vergleichend betrachtet werden (betrifft die Dimension Wahrnehmung), es kann im Sinne seiner sozialen Bedeutung, Anerkennung und Werthaftigkeit beurteilt werden (Aspekte Gemeinsinn und Kommunikation), es kann auf unerwartete Weise in einen Diskussionskontext gestellt und thematisiert werden (Imagination). Immer aber geht es beim Bildungsgedanken darum, die Bedeutung des betrachteten Gegenstandes für das menschliche Leben und Zusammenleben selbst zu beschreiben, zu deuten und kritisch zu betrachten (Reichenbach, 2021).

«Kinder erkunden die lokale Baukultur» ist meines Erachtens ein schöner Titel für die Studie, die die Autorinnen Noëlle von Wyl, Lea Weniger und Barbara Windholz hier nun in Buchfassung vorlegen. Die Erkundung passt in zweierlei Hinsicht, sowohl in ihrer physischen als auch ihrer symbolischen Bedeutung. So kann ein Gelände ausgekundschaftet werden. Allein der Schulweg macht das Kind ortskundig, da gibt es vieles zu sehen und noch viel mehr zu verstehen. Es lernt auch Umwege und Abkürzungen zu nehmen, das gehört zur kindlichen Freiheit. Aber um zu verstehen, muss es mehr als nur sehen können, die Dinge zeigen sich meist nicht von selbst. Man muss sich von anderen auch etwas zeigen lassen, was nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann. Zum Glück ist die Bereitschaft des Kindes, sich etwas zeigen zu lassen, sehr ausgeprägt, eine gute Einrichtung der Natur. Es ist auf Verstehen angelegt und auf Mitteilung, zum kindlichen Realismus gehört das Wissenwollen. Kinder wollen in der Regel nicht in einer individuell-subjektiven Bubble verschwinden, sondern wissen, wie es ist, und dazugehören. Davon handelt Bildung: mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen und sich zu ihr verhalten können. Durch baukulturelles Wissen erhält die wahrgenommene Um- und Lebenswelt des Kindes – wie auch der Erwachsenen – Bedeutung. Verstehen verleiht dem Wissen Sinn, meinte Hannah Arendt. Dazu ist aber mitunter eine bestimmte Systematik nötig, Zugangsweisen sollen bewusst ermöglicht und unterstützt werden. Die Autorinnen ordnen ihren Zugang zur baukulturellen Bildung nach elementaren Phänomenen: nach Farbe und Form, Material und Oberfläche, Massstab und Dimension, Licht und Schatten, Öffnung und Transparenz, Innen und Aussen, Schmuck und Ornament, Statik und Konstruktion. Die wahrnehmbaren und wahrgenommenen Phänomene bilden immer den Ausgangspunkt, und durch Wissen (z. B. die Kunde über Material) werden die Phänomene interessant und erhalten Bedeutung. Verstehen ist die Leistung, Phänomene und Wissen in einen Zusammenhang zu bringen – diese Synthese- und Integrationsarbeit ist beim kleinen Kind wie auch beim Erwachsenen nicht von grundverschiedener, sondern von gleicher Art. Mit der Zeit lernt der baukulturell interessierte Mensch auch sehr vieles über die vielfältigen Zusammenhänge von gebauter Welt zur Natur-Natur und zur Natur des Menschen kennen. Macht man seine kleinen Erkundungen in der Stadt oder auf dem Land, hat man nicht immer den Eindruck, dass sehr viel daran gedacht wird, wie Häuser gebaut sein sollten, damit sich die Menschen in ihnen auch wohl fühlen.

Wenn die Schulkinder nun – angeleitet soweit wie nötig und wichtig – ihre Erkundungen beispielsweise zu «Licht und Schatten» machen, so betreten sie unmerklich ein nahezu unerschöpfliches Universum, das weiter reicht als vom Baum als Schattenspender zur globalen Lichtverschmutzung und ihren bizarren Konsequenzen für Mensch und Tier oder von der Geschichte der Feuerstelle bis zur Nutzung von Solarenergie … Vielleicht werden manche von ihnen später verstehen, warum die «Aufklärung» so und nicht anders heisst, oder hinterfragen, ob das Mittelalter wirklich so «dunkel» war. Natürlich werden sie zunächst nur einzelne, konkret-gegenständliche Aspekte der Baukultur verstehen. Doch ohne solche Anfänge wird die gebaute Welt, die uns umgibt und in der wir leben, die uns im Guten wie im Schlechten prägt und die immer auch ein markanter Ausdruck der sozialen Verhältnisse darstellt, vielleicht nie wirklich wahrgenommen. Das wäre unaufgeklärt.

Es ist ein grosses Verdienst der Autorinnen, sich dem bis heute vernachlässigten Bildungsbereich der Baukultur auf didaktisch und pädagogisch überzeugende Weise angenommen zu haben. Dem Buch von Nöelle von Wyl, Lea Weniger und Barbara Windholz wünsche ich daher die Aufmerksamkeit und Würdigung, die es ganz sicher verdient!

Literatur

Arendt, H. (1996). Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper (Original «The Human Condition», 1958).

Berger, J. (2016). Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Frankfurt a. M: Fischer (Original «Ways of Seeing», 1972).

Gauchet, M. (1985). L’école à l’école d’elle-même. In M. Gauchet (Hrsg.), La démocratie contre elle-même (S. 109–169). Paris: Collection Tel.

Reichenbach, R. (2021). Baukulturelle Allgemeinbildung. Eine bildungstheoretische Annäherung. In Archijeunes (Hrsg.), Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung (S. 51–70). Zürich: Park Books.

Seock Jae, Y. (2005). The Traditional Space. A Study of Korean Architecture. Seoul: Ewha Womans University Press.

Taylor, C. (1985). Self-interpreting animals. In ders., Philosophical Papers, Bd. I: Human Agency and Language (S. 45–76). Cambridge: Cambridge University Press.

Kinder erkunden die lokale Baukultur (E-Book)

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