Читать книгу ZwölfUhrTermin - Nora Adams - Страница 4
Vermögensplanung
Оглавление»Alter, da sind wir bei Starbucks, Mom wieder voll peinlich mit ihrem Filterkaffee, und auf einmal steht da Marc Eden neben mir und labert mich an. Marc Eden! Kannst du das glauben?« Während er seiner Zwillingsschwester von dem Höhepunkt des Tages berichtete, leuchteten Marius’ Augen, als hätte er den Allmächtigen höchstpersönlich gesehen. Dabei war er vorhin sehr kleinlaut und fand es gar nicht mal so toll, wie er von ihm angesprochen wurde.
»Nenn Amalia nicht Alter, Marius!«, fuhr Anni dazwischen. »Was ist heute nur los mit dir?« Kopfschüttelnd stand sie in der Küche und wusste nicht, was sie am meisten aufregte. War es ihr Sohn, der scheinbar von allen guten Geistern verlassen war, oder der Löffel, der in einem angetrockneten Joghurtbecher klebte, an dem wiederum ein benutztes Taschentuch hing. Großer Gott, das hier war ein verdammter Schweinestall, anders konnte sie sich das kaum erklären. Ihre Tochter stand an den Kühlschrank gelehnt und beobachtete unbeeindruckt das Schauspiel, während sie eine Banane aß.
»Außerdem hat er dich nicht bloß angesprochen, er hat dich gerügt und darauf hingewiesen, dass du dich anständig artikulieren sollst!« Innerlich jubelte sie, als sie an diesen Moment zurückdachte. Der Typ hatte solch ein Selbstvertrauen, dass selbst sie kurz innehielt, um ihn anzuschauen.
Zuerst fielen ihr seine Tätowierungen auf. Lange verschnörkelte Ausläufer sah man unter dem Jackett hervorlugen. Am Hals konnte man das Porträt eines Mannes erahnen, während seine Haare zu einem unordentlichen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden waren. Er war groß, stolz und hatte sie schon selbstbewusst erwähnt? Den knallharten Geschäftsmann, der er war, nahm man ihm ohne mit der Wimper zu zucken zu einhundert Prozent ab. Dass er das war, wusste Anni wiederum, weil man Marc Eden, den Entwickler der die angesagteste Music-App geschaffen hatte, in Köln einfach kannte. Für die einen war er der begehrte Junggeselle, für die anderen ein Mann, den man aus den Tratschspalten diverser Zeitungen, in denen er immer mal wieder mit irgendwelchen Schönheiten abgelichtet wurde, kannte. Für ihren Sohn war er weitaus mehr. Er sammelte sogar Magazine, in denen The Godfather of IT-Mist ein Interview nach dem anderen gab, stapelte sie fein säuberlich in seinem Regal, wenngleich der Rest des Zimmers einem Trümmerfeld glich.
»Aber er hat mich angesprochen, das ist der springende Punkt!«, triumphierte Marius, hievte sich zeitgleich mit den Handballen auf die Arbeitsfläche der Küchenzeile und nahm einen Schluck aus der Sprudelflasche. Nun gut, wenn er das so sehen wollte, bitte.
»Gott, Marius. Komm mal wieder klar«, entgegnete Amalia belustigt. »Hoffentlich träumst du heute Nacht nicht von deinem Zuckerberg 2.0.«
»Halts Maul, Sis! Du hast doch keine Ahnung. Geh mit deinen Barbies spielen.«
»Hey, Leute! Jetzt ist Schluss hier. Habt ihr für die Deutscharbeit gelernt?« Anni wartete nicht auf Antwort, denn diesem Gezanke durfte man erfahrungsgemäß keinen Raum zum Reifen geben, sonst schaukelte sich das pubertäre Rumgestreite im Nu zu einem monströsen Kleinkrieg hoch. »Geht lernen, damit verbringt ihr eure Zeit wenigstens sinnvoll!«
Auch wenn die zwei sie aktuell an den Rande eines Nervenzusammenbruchs trieben, eins funktionierte immer. Ihre Kinder waren wissbegierig und ehrgeizig, was sie oftmals freiwillig hinter ihre Schreibtische bewegte und zum Lernen animierte. Das ersparte Anni eine Menge unschöner Motivationsarbeit, wenn sie daran dachte, wie häufig sich die anderen Mütter darüber beschwerten.
Amalia ging zum Küchentisch, um dort ihre Bananenschale abzulegen, und verließ den Raum. Kopfschüttelnd stand Anni da und betrachtete den Tisch mit großen Augen. Ja, war es denn zu fassen? Der Mülleimer befand sich genau an jener Stelle, wo sie zuvor gestanden hatte und dann wunderte sie sich, warum sie in letzter Zeit so ausgelaugt war? »Amalia, räum deinen Müll weg. Manchmal frage ich mich, wie ihr beide es aufs Gymnasium geschafft habt. Das ist doch unglaublich!«, rief sie in den Flur und wartete, bis ihre Tochter zurückgekehrt war, die Aufgabe erledigt hatte und wortlos die Treppen herauflief.
Als Anni letztendlich zwei Türen zuknallen hörte, wusste sie, dass sie jetzt mindestens ein paar Stunden Ruhe haben würde. Ermüdet stützte sie sich an der Tischkante ab und atmete tief durch.
Anni war normalerweise eine Powerfrau. Sie regelte Haushalt, Kinder, war überaus engagiert in der Dorfgemeinschaft und ging regelmäßig zur Kirche. Zudem arbeitete sie im Backoffice, inklusive der Buchhaltung, in der Firma ihres Mannes, der Vermögensberater war. Anni war mit ihm liiert, seit sie sich beim Schwimmunterricht in der Schule unsterblich ineinander verliebt hatten.
Heute noch hatte sie das Bild vor Augen, wie er mit seinen Klassenkameraden am Beckenrand stand und sich über irgendetwas amüsierte. Sein Lachen bewirkte, dass sich kleine Grübchen auf den Wangen bildeten, die sie umhauten. Zwanzig Jahre war das her und natürlich hatte sich die Faszination um Constantins Grübchen gelegt. Sie verbrachten so viel Zeit miteinander, wie es für eine Unternehmerfamilie möglich war. Zugegebenermaßen war das nicht unbedingt oft. Wenn er mal wieder auf Geschäftsreise war, waren zum Ausgleich die Dorffrauen, die sie mehrmals wöchentlich sah, für sie da. Anni hatte alles, was eine Bilderbuchfamilie ausmachte. Sie hatte tolle Eltern, Schwiegereltern, großartige Kinder, wenn sie manchmal auch ein bisschen nervten, und einen treuen Ehemann.
»Hi.« Constantin trat hinter sie, gab ihr einen Kuss aufs Haar und setzte sich an den Küchentisch.
»Hallo«, grüßte sie ihn müde. »Wie war dein Tag?«
»Anstrengend! Dieser Meier ist so ein Idiot. Er ist absolut beratungsresistent«, sagte er und blickte Anni nach Zustimmung suchend an.
»Ein unsympathischer Kerl«, bestätigte sie, drückte einen Espresso aus dem Kaffeevollautomaten und stellte ihn auf dem Tisch vor ihm ab.
»Aber was bringt es? Er bezahlt nun mal anständig und auch wenn ich weiß, wie du diese abgedroschenen Sätze verabscheust: Der Kunde ist König!« Er pustete in die Tasse, nippte vorsichtig an dem heißen Getränk, und stellte sie mit einem schmerzverzerrten Blick wieder ab, während er sich die verbrannte Lippe rieb. Skeptisch beäugte er Anni kurz darauf. »Alles okay? Du siehst müde aus!«
»Das bin ich. Vielleicht ist eine Erkältung im Anmarsch, wer weiß?«, erwiderte sie und spürte in der Tat diese auslaugende Schwere, die sie seit einigen Tagen begleitete.
»Leg dich hin. Ich mach hier Klarschiff!« Mit einer ausladenden Bewegung zeigte er auf die vollgestellte Küchenzeile, was er nicht näher erläutern musste.
Entschuldigend hob Anni die Schultern. Es brauchte keine weitere Erklärung, schließlich wusste Constantin, welches Pensum Anni tagtäglich erfüllte und was für Schweine in puncto Sauberkeit ihre Kinder waren. Er stand schon immer hinter ihr und würdigte, was sie tat.
»Bin im Bett!«, sagte sie, warf ihm einen dankbaren Blick zu und ließ die chaotische Küche mit ihrem geordneten Ehemann im Einklang zurück. Schnell entledigte sie sich ihrer Klamotten, putzte sich die Zähne, zog sich ein viel zu großes Shirt über, welches sie zum Schlafen gerne trug, und flochte sich ihre fast hüftlangen Haare zu einem Zopf. Als sie endlich die kühlen Bettlaken auf ihrer Haut spürte, merkte sie, wie sich zumindest ihre Muskeln entspannten und sie langsam runterfahren konnte. Das Kissen unter ihrem Kopf mit den Händen zurechtgerückt, betrachtete sie akribisch die Zimmerdecke, während sie den Tag Revue passieren ließ: Sie weckte die Kinder, fuhr ins Büro, kochte für Amalia vegetarisch, für Marius fleischhaltig und räumte das Haus auf, wie jeden Tag. Daraufhin fuhr sie mit ihrem Sohn in die Stadt, denn er brauchte dringend ein Zubehörteil für seinen Laptop, ohne das sein Leben scheinbar spätestens am Abend sinnlos gewesen wäre. Dass ein Weg bis in Kölns Innenstadt im Feierabendverkehr eine Stunde dauerte, versuchte sie, zu verdrängen. Denn diesen Weg mussten sie immerhin zweimal fahren, um nach Hause zu kommen. Und dann wollte sie sich einfach nur einen Kaffee genehmigen, da tickte ihr Sohn wortwörtlich aus, weil sie auf diesen IT-Guru trafen. Wie er sie genannt hatte: »Rotschopf und Superman«, murmelte sie leise vor sich, bevor über ihre Lippen ein Lächeln huschte. Er war wirklich süß. Nein, das passte nicht. Er war eher sexy, ja. Seine ganze Haltung strotzte vor Selbstbewusstsein und dieses gewisse Fünkchen Arroganz stand ihm außerordentlich gut. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme. Er war auf eine Art unnahbar und dennoch war er, den sie normalerweise nur von gedruckten Zeitungsfotos kannte, für Anni heute wahrhaftig greifbar. Er hatte es geschafft, sie zum Lächeln zu bringen, und automatisch fragte sie sich, wann Constantin das zum letzten Mal fertiggebracht hatte. Ein ungutes Gefühl mischte sich zu dem zarten Kribbeln, was durch den Gedanken an Marc erweckt wurde. Einen solchen Vergleich hatte sie noch nie gezogen, fiel ihr in diesem Moment auf und gleichzeitig auch, dass es schon sehr lange her war, dass sie, bis auf ein nettes und respektvolles Lächeln, seit Monaten nicht mehr mit ihrem Mann herzhaft gelacht hatte. Die Augenbraue zusammengezogen, rollte sich Anni zur Seite. Was sollte sie nun mit dieser Erkenntnis anfangen? War es überhaupt von Bedeutung? Klar, war es das. Bisher existierte in Annis Leben nur ein Mann und das war Constantin, den sie liebte. Er war fürsorglich, hilfsbereit, kultiviert und stand für seine Familie ein. Aber ein Bauchkribbeln gab es ewig nicht mehr.
Das war normal, wenn man bedachte, dass sie bereits seit so langer Zeit ein Paar waren. Der Alltag hatte sie fest im Griff, da blieb keine Zeit für derartige Liebeleien, die auch nur ansatzweise etwas in ihr auslösen könnten. Dass das völliger Quatsch war, war ihr durchaus bewusst und trotzdem versuchte sie sich mit dem Ergebnis ihrer geistigen Arbeit zufriedenzugeben.
Unweigerlich dachte sie an Marc, wie er sie, mit seiner lockeren Art, bestimmend und überlegen vor diesem dämlichen Kaffeeheini gerettet hatte. Er konnte es einfach, da war nichts geschauspielert, er war, wie er war. Das Kribbeln kehrte wieder in ihren Bauch zurück. Er war definitiv eine Marke für sich und gar nicht so abgehoben, wie er in der Presse dargestellt wurde. Was hätte ihr Constantin in dieser Situation getan? Er hätte sie wahrscheinlich aufgefordert, etwas anderes zu bestellen, um kein Aufsehen zu erregen, und Marius hätte er ebenfalls zurechtgewiesen, aber ganz sicher nicht so cool wie Marc Eden, stellte sie schmunzelnd fest. Wenn sie nur daran dachte, wie Marius sich in der Schule mit dem Treffen brüsten würde, musste sie sich ein Auflachen verkneifen. Unter den Nerds konnte er damit Eindruck schinden, das war Fakt. Nun gut, sie gönnte ihm seinen glanzvollen Moment.
Anni wälzte sich von einer Seite zur anderen, fand keine Ruhe. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, ließen sie aufgebracht zurück. Und immer, wenn sie knapp davor war, in einen entspannten Schlaf abzudriften, tauchten Marcs Augen vor ihren auf und machten sie von der einen auf die andere Sekunde wieder hellwach. Gedanklich durfte sie sich diese entgleisenden Ausrutscher ruhig erlauben, solange Constantin das nicht mitbekam.
Ein kurzes Klopfen ertönte an der Zimmertür: »Mom!«, flüsterte Marius leise, als er nähertrat.
»Hm?«, brummte Anni, nicht gewillt, auch nur ein Wort von sich zu geben. Müde, schlafen, Gehirngulasch … Lasst mich doch alle in Frieden. In Gedanken spulte sie noch mal einen Schritt zurück und ergänzte, heißer und scharfer Gehirngulasch. So weit war es schon mit ihr gekommen, dass sie so einen geistigen Unfug fabrizierte.
»Mom!«, erklang eine vorwurfsvolle Stimme.
Marius. Ihr Sohn, ach Gott, da war doch was. Widerwillig schaltete sie das Nachtlicht an. »Was?«, fragte sie monoton.
»Meinst du, wir könnten morgen noch mal zu Starbucks fahren? Wir setzen uns einfach ein bisschen dahin und warten, vielleicht kommt Marc Eden ja wieder. Dann könnte ich mich richtig mit ihm unterhalten.«
»Hä?« Er musste durchgedreht sein. Und sie gleich mit, denn jetzt war es um ihre Artikulation geschehen. Was sollte man zu solch einem Vorschlag nur sagen? Ihr Sohn wollte sich in ein Café setzen, Stunden dort verbringen, nur um möglicherweise sein Vorbild anzu-treffen. »Marius, ich sags nur ein einziges Mal: Geh sofort in dein Bett!«
»Alter, bleib mal cremig. Du gehst ja ab.«
Jetzt setzte sich Anni doch auf. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich meine Zeit mit dir irgendwo in Köln vergeude, nur weil dieser Eden sich dort einmal einen Kaffee geholt hat? Fernab davon, dass das total bescheuert ist, weißt du nicht mal, ob er regelmäßig da ist oder doch nur sporadisch. Lass mich damit einfach in Ruhe, okay? Ich möchte schlafen.«
»Darf ich denn wenigstens nach der Schule dahin? Ich könnte meine Hausaufgaben da machen.«
»Raus!«, forderte Anni schroffer, als es geplant war und registrierte beruhigt, dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Himmel Herrgott, wie konnte man nur in einen derartigen Fanmodus verfallen, das war ja schon fast krankhaft.