Читать книгу ZwölfUhrTermin - Nora Adams - Страница 8

Venture Capital

Оглавление

»An­ni?« Er­schro­cken zuck­te sie zu­sam­men, als Cons­tan­tin kurz vor Feie­ra­bend in ihr Büro stürm­te. »Die Kin­der hab ich bei dei­nen Eltern ge­parkt, du musst heu­te Abend mit zu ei­nem Ge­schäfts­es­sen kom­men.«

Immer wenn Cons­tan­tin das sag­te, wuss­te An­ni, dass der Neu­kun­de alles an­de­re als gut zu hän­deln war. Ihr Mann hat­te ein glü­ckli­ches wirt­schaft­li­ches Händ­chen, auch was die Kon­ver­sa­tion mit Kun­den be­traf, aber wenn es schwie­rig wur­de, hat­te er sie ger­ne an sei­ner Sei­te, das war schon immer so ge­we­sen und ir­gend­wie mach­te es An­ni stolz, dass sie ei­ne be­ru­hi­gen­de Wir­kung auf ihn hat­te. Schmun­zelnd nick­te sie: »Kein Pro­blem.«

Cons­tan­tin er­wi­der­te ihr Lä­cheln und hock­te sich auf die Tisch­kan­te, so­dass er gleich ne­ben ihr saß. »Und sonst, En­gel­chen? Du siehst mü­de aus«, stell­te er fest. An­ni nahm sei­ne Hand und leg­te sie sich auf ih­re Wan­ge. Viel zu sel­ten spür­te sie die­se Nä­he.

»Ich bin auch mü­de. Kei­ne Ah­nung, was los ist, im Augen­blick füh­le ich mich täg­lich aus­ge­laugt, selbst wenn ich zwölf Stun­den ge­schla­fen ha­be.«

»Kann ich dir was ab­neh­men?«, frag­te er und sah sie be­sorgt an. Doch im sel­ben Mo­ment wuss­te sie, dass Cons­tan­tin ge­nug zu tun hat­te und sie ihm nie­mals mehr Ar­beit als nö­tig auf­bür­den wür­de. Wo­bei sich der Ge­dan­ke schlag­ar­tig in Luft auf­lös­te, als sie an ih­ren Sohn dach­te.

»Du kannst tat­säch­lich was tun«, platz­te es aus ihr her­aus. Auf­recht saß sie da, war plötz­lich an­ge­spannt und auch et­was auf­ge­regt, Cons­tan­tin end­lich von die­sem Kuss er­zäh­len zu kön­nen. »Ich hab Ma­ri­us …«

Ab­rupt wur­de sie un­ter­bro­chen. »An­ni, lass uns jetzt nicht über die Kin­der re­den. Wir sind auf der Ar­beit und hier soll­ten wir die Zeit in Be­ruf­li­ches in­ves­tie­ren. Wir spre­chen da­heim über Ma­ri­us, okay?«

Was zum Teu­fel? Wie vor den Kopf ge­stoßen be­trach­te­te sie ihn mit of­fen­ste­hen­dem Mund. Das hat­te ge­ra­de weh­ge­tan!

Na­tür­lich spra­chen sie Zu­hau­se. Nur wann? Mor­gens, wenn sie sich die Tür­klin­ke in die Hand ga­ben, oder abends, wenn An­ni vor Mü­dig­keit die Augen zu­fie­len und sie nur noch ins Bett woll­te? Wer hät­te ah­nen kön­nen, dass sich sein groß­zü­gi­ges An­ge­bot nur auf das Büro be­zieht. Sie wand­te sich ih­rem PC zu und be­gann mit der Ak­tua­li­sie­rung der Ex­cel-Ta­bel­le, die auf ih­rem Bild­schirm er­schien, so­bald der Bild­schirm­scho­ner er­lo­schen war.

Cons­tan­tins Aus­sage hat­te An­ni ge­kränkt, immer­hin waren es ge­nau­so sei­ne Kin­der und An­ni saß in die­sem Augen­blick, den sie eigent­lich mit ih­nen ver­brin­gen soll­te, im Büro und ar­beit­ete, weil er sie brauch­te. Das war ein Un­gleich­ge­wicht und ver­setz­te An­ni ei­nen ge­fühl­ten Stich in der Ma­gen­ge­gend. Pff, mor­gen wür­de sie um Punkt zwei Uhr das Büro ver­las­sen und kei­ne Se­kun­de län­ger blei­ben, dach­te sie trot­zig, wenn auch we­nig er­wach­sen. Bis­her leb­ten sie nach dem Mot­to, fü­rei­nan­der da zu sein, aber dass er ihr so ei­ne Ab­fuhr er­teil­te, ver­letz­te sie.

Schnell schrieb sie Ama­lia: Be­nehmt euch bei der Oma. Ich drück dich, bis spä­ter!

Wäh­rend sie ih­re Tochter noch in die Ar­me schlie­ßen konn­te, ge­hör­te Ma­ri­us schon eher der co­olen Frak­tion an und ver­zich­te­te auf der­ar­ti­ge Ge­fühls­zu­nei­gun­gen in der Öf­fent­lich­keit. Schein­bar nahm er sich die­se neu­er­dings wo­an­ders, dach­te sie sar­kas­tisch.

Ama­lia: Nur even­tu­ell bis spä­ter, es schneit oh­ne En­de. Viel­leicht pen­nen wir hier, außer­dem hat Oma Pfann­kuchen ge­macht.

An­ni: Das möch­te ich vor­her mit Oma be­spre­chen. Gu­ten Ap­pe­tit!

Ama­lia: Wenn das bis da­hin noch mög­lich ist. Opa sagt, sein Bein juckt.

Auto­ma­tisch schlich sich ein Lä­cheln auf An­nis Zü­ge. Wenn das Bein ih­res Vaters juck­te, war das kei­ne gu­te Wett­er­vor­her­sa­ge. Je schlim­mer es ihn är­ger­te, de­sto hef­ti­ger wur­de das Un­wet­ter. Wer brauch­te ei­nen un­zu­ver­läs­si­gen Wett­er­dienst, wenn man Vaters ver­narb­tes Bein hat­te, wel­ches er sich bei ei­nem Ar­beits­un­fall vor drei­ßig Jah­ren ver­stüm­melt hat­te? Es war immer wie­der bahn­bre­chend, wie man sich auf die­ses ei­ne fa­mi­liä­re Glied­maß ver­las­sen konn­te.

»Schei­ße! Schei­ße! Schei­ße!«, brüll­te Cons­tan­tin plötz­lich aus sei­nem Büro, was An­ni er­schro­cken auf­sprin­gen ließ. Schon im Flur kam er ihr ent­ge­gen­ge­rannt und we­del­te wild mit Un­ter­lagen in der Luft he­rum. Die freie Hand schlug er sich ge­gen den Kopf. »Ver­damm­te Schei­ße!«

Ihm jetzt zu sa­gen, dass er sich wie­der­hol­te, kä­me wohl nur se­mi­gut an, dach­te sie sich, noch et­was be­lei­digt von sei­ner Ab­fuhr. »Was ist denn?« Mut­los hielt er ihr das Blatt vor die Na­se und schüt­tel­te im­mer­zu den Kopf. »Ei­ne Daten­schutz­er­klä­rung?« Fra­gend blick­te sie ihn an. »Sprich, Cons­tan­tin! Ich kann nicht hell­se­hen!«

»Nicht bloß ei­ne, das ist die von Marc Eden und fällt dir was auf?« Was mach­te er für ei­nen Auf­stand? Sie war nicht un­ter­schrie­ben, aber das konn­te doch nicht der Grund für sei­nen Aus­bruch sein. Weiter­hin blick­te sie ihn ver­wirrt an. »Da fehlt die Un­ter­schrift!«

»Ja«, rea­gier­te An­ni zö­ger­lich auf das Of­fen­sicht­li­che.

»Fakt ist, ich darf oh­ne die­sen un­ter­schrie­be­nen Wisch kei­ner­lei Daten spei­chern und ver­ar­bei­ten. Ich brau­che sie, wenn ich sei­ne Geld­an­lagen be­rech­nen will und eben­falls Fakt ist, dass ich da­mit schon be­gon­nen ha­be. Weil wie­der­um ein drit­ter Fakt ist: Ei­nen Marc Eden lässt man nicht war­ten! Ka­pierst du das?« Sein Ge­sicht war feu­er­rot, wäh­rend er sei­ne Hän­de kne­te­te.

»Sag ihm halt nicht, dass du be­reits an­ge­fan­gen hast«, fuhr sie ihn ver­ständ­nis­los an. Bei je­dem an­de­ren Kun­den wür­de er kei­nen Auf­stand ma­chen. Sie kann­te ih­ren Mann gar nicht so pro­mi­fo­kus­siert. Auto­ma­tisch frag­te sie: »Gehts dem Un­ter­neh­men schlecht?« Gott, das war ih­re Exis­tenz, wenn die Fir­ma auf der Kip­pe stand, konn­te sie es doch plötz­lich nach­voll­zie­hen.

Cons­tan­tin blick­te sie an, als hät­te sie ei­nen fet­ten Her­pes auf der Lip­pe. »Was?«, frag­te er bloß und vern­ein­te ent­geis­tert mit ei­nem Kopf­schüt­teln.

»Na, ich kann lei­der nicht ver­ste­hen, wa­rum du bei Eden so ei­nen Auf­riss machst!«

Es dau­er­te ge­fühl­te Mi­nu­ten, bis er re­de­te – ru­hig, be­dacht und wie­der ganz fo­kus­siert. »Pass auf, wie du mit mir sprichst, An­ni. Wir sind hier auf der Ar­beit und ich bin dein Boss, ver­giss das nicht.« Un­fass­bar, jetzt strit­ten sie sich we­gen ei­ner be­scheu­er­ten Daten­schutz­er­klä­rung. Wie konn­te es nur so weit kom­men, dass so viel Feind­se­lig­keit zwi­schen ih­nen lag? Re­si­gnie­rend schloss sie die Augen, immer­hin hat­te sie im Ge­fühl, dass jeg­li­che Art, das Gan­ze jetzt an­zu­spre­chen, zum Schei­tern ver­ur­teilt war. Sie griff sich das Blatt aus sei­ner Hand und steu­er­te die Gar­de­ro­be in ih­rem Büro an. »Was tust du?«

»Ich wer­de zu ihm fah­ren!« Ih­ren Man­tel zu­ge­knöpft, leg­te sie die Daten­schutz­er­klä­rung an­schlie­ßend schnell in ein Ku­vert, rief Marc Eden in der Daten­bank auf, schrieb so­wohl die Adres­se des Fir­men­sit­zes, als auch sei­ne pri­va­te auf und er­griff ih­re Ta­sche.

»An­ni …« Er hielt sie am Arm fest, be­vor sie den Raum ver­las­sen konn­te.

»Was, Cons­tan­tin?« Sie wuss­te, dass ih­re Stim­me et­was zu laut war und doch woll­te sie ih­ren Frust nicht un­ter­drü­cken.

»Ich woll­te dich eben nicht so an­fah­ren, aber das ist ein über­aus wich­ti­ger Kun­de. Es tut mir leid.«

»Ich ha­be es be­grif­fen und jetzt lass mich los, wir sind hier schließ­lich auf der Ar­beit«, sprach sie, wohl­wis­send, dass sie ge­ra­de sei­ne ver­nich­ten­den Wor­te be­nutz­te, die sie eben ver­letzt hat­ten. Heu­te soll­te er sie bloß in Ru­he las­sen.

»Pass auf dich auf, es wur­de ein Schnees­turm an­ge­kün­digt. Viel­leicht nimmst du lie­ber die Bahn, da­mit du pünkt­lich zum Abend­es­sen da bist. Adres­se schick ich dir per Mail«, rief er, als sie die Tür schon er­reicht hat­te, al­lem An­schein nach voll­kom­men ein­ver­stan­den da­mit, dass sie sich jetzt auf den Weg mach­te, um ihn zu ret­ten, höhn­te ihr In­ne­res. Oh­ne zu rea­gie­ren, ver­ließ sie das Büro.

Na toll! Das auch noch! Sie blick­te zum Himmel und es fiel ihr schwer, ir­gend­et­was zu er­ken­nen, außer die wei­ße, dich­te Flo­cken­pracht, die auf sie nie­der rie­sel­te. Ihr Auto war schon von ei­ner di­cken Schnee­schicht be­deckt und doch ent­schied sie sich für die­sen Weg. In der Stadt wur­den die Stra­ßen recht schnell ge­räumt, so­dass sie op­ti­mis­tisch war. Immer­hin hat­te sie so ei­ne Hei­zung un­term Hin­tern und muss­te sich nicht durch die küh­le Däm­me­rung schla­gen. Wo­mög­lich war es ein­fach nur Trotz, weil Cons­tan­tin ihr ge­ra­ten hat­te, mit den öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mitteln zu fah­ren.

Sie ent­rie­gel­te ihr Auto, setz­te sich seit­lich auf den Sitz und stieß mit ih­ren Stie­feln an­ein­an­der, so­dass der gan­ze Schnee ab­fiel. Dann dreh­te sie sich nach vor­ne, schloss die Tür und hoff­te, dass der Schei­ben­wi­scher den Neusch­nee weg­fe­gen wür­de. Es war zwar viel, aber nicht fest. Et­was ver­lang­samt, den­noch ziel­si­cher, schob er sich über die Schei­be und sorg­te für ei­ne freie Sicht.

Lang­sam schlän­gel­te sie sich durch Kölns Stra­ßen, immer da­rauf be­dacht, ihr Auto nicht zu schrot­ten. Cons­tan­tin wür­de sie kil­len, nach­dem er ihr vor­hin noch an­ge­ra­ten hat­te, die Bahn zu neh­men. All­mäh­lich frag­te sie sich, ob das so ei­ne gu­te Idee ge­we­sen war, sei­nen Rat zu ig­no­rie­ren. Die Flo­cken­dich­te wur­de immer ge­wal­ti­ger und von ei­nem Räum­dienst war weit und breit kei­ne Spur.

Es dau­er­te ei­ne knap­pe hal­be Stun­de, bis An­ni end­lich die Adres­se der Fir­ma an­vi­siert hat­te. Ei­nen Park­platz zu be­kom­men, war heu­te mal aus­nahms­wei­se kein Pro­blem, weil alle an­de­ren of­fen­kun­dig ver­nünf­ti­ger waren und ihr Auto bei die­sem Cha­os­wet­ter Zu­hau­se ste­hen­lie­ßen. Oder aber sie fuh­ren aus rei­ner Vor­sicht heim und be­weg­ten sich nicht mehr vor die Haus­tür, was de­fi­ni­tiv sehr ver­nünf­tig ge­we­sen wä­re.

Ge­ra­de trat sie auf das im­po­san­te und be­rühmte Fähr­haus zu, wel­ches am Rhei­nu­fer stand, als ihr Han­dy klin­gel­te. »Weis­haupt?«, nahm sie das Ge­spräch ent­ge­gen und ver­such­te oh­ne Kno­chen­brü­che ihr Ziel zu er­rei­chen.

»Das Es­sen heu­te Abend fällt aus. Der Kun­de hat­te ei­ne Auto­pan­ne und hat ab­ge­sagt«, er­klär­te Cons­tan­tin ihr seelen­ru­hig.

Immer noch leicht an­ge­säu­ert, ant­wort­ete sie kurz an­ge­bun­den: »Dan­ke, dass du Be­scheid gibst! War sonst noch was? Es ist schwei­ne­kalt und ich muss schau­en, dass ich vor­an­kom­me.«

»Nein, sonst war nichts. Ich schau jetzt, dass ich nach Hau­se komm. Pass auf dich auf, En­gel­chen.«

An­ni leg­te auf. En­gel­chen? Blöd­mann! Das En­gel­chen steht ge­ra­de mit­ten in ei­nem Schnees­turm, über ei­ne Stun­de von ih­rem Haus ent­fernt, und ver­sucht dem Blöd­mann sei­nen Arsch zu ret­ten. Aber schön, dass Herr Weis­haupt schon mal nach Hau­se fährt. Ist ja auch wirk­lich das Ver­nünf­tigs­te bei dem Wet­ter, wenn man sich nicht auf den Stra­ßen her­um­treibt. Ha! Ha!

End­lich hat­te sie das war­me Foy­er be­tre­ten und ging zur An­mel­dung. »Ich möch­te ger­ne zu Eden Dy­na­mics«, sag­te sie und war­te­te.

»Ihr Na­me, bit­te?«, frag­te ei­ne rund­li­che Mitt­vier­zi­ge­rin, wäh­rend sie den Tele­fon­hörer in die Hand nahm.

»Weis­haupt. Ich ha­be kei­nen Termin«, ge­stand sie, be­vor ihr das Of­fen­sicht­li­che eh gleich mit­ge­teilt wur­de.

»Ei­ne Frau Weis­haupt, hat kei­nen Termin!« Die Da­me sah An­ni ins Ge­sicht, wäh­rend sie den Hörer weiter­hin ans Ohr hielt. »Was ist Ihr An­lie­gen?«, frag­te sie.

»Das sind Un­ter­lagen, die von Herrn Eden drin­gend un­ter­schrie­ben wer­den müs­sen«, ver­deut­lich­te sie, in­dem sie lä­chelnd den Um­schlag hoch­hielt.

»Herr Eden ist nicht mehr im Haus. Sie sol­len die Un­ter­lagen bei mir hin­ter­las­sen, sei­ne Se­kre­tä­rin wird sie ihm vor­le­gen«, er­klär­te sie, in­des sie den Hörer oh­ne ein Wort des Ab­schieds auf­ge­legt hat­te.

Oh Mann! Dann hät­te sie es ein­fach per Post schi­cken kön­nen, das wä­re der­sel­be Ef­fekt ge­we­sen, dach­te sich An­ni de­pri­miert. »Ist Herr Eden denn zu­hau­se?«, frag­te sie, als sie sich er­in­ner­te, dass sie sei­ne pri­va­te An­schrift eben­falls no­tiert hat­te.

Arg­wöh­nisch wur­de sie be­trach­tet: »Bei al­lem Re­spekt, jun­ge Da­me. Selbst wenn ich es wüss­te, wür­de ich Ih­nen die­se In­for­ma­tion nicht ge­ben dür­fen.« Ver­ständ­nis­los schüt­tel­te sie den Kopf. »Ei­nen schö­nen Tag«, mur­mel­te sie, wen­de­te sich ih­rer Ar­beit zu und ig­no­rier­te An­ni. Man konn­te es we­nigs­tens ver­su­chen, auch wenn sie die Re­ak­tion jetzt we­nig über­rasch­te.

Frus­triert ver­ließ sie die An­mel­dung und als sie her­aus­trat, frag­te sie sich nur ei­nes: Wie lan­ge war sie in die­sem ver­damm­ten Ge­bäu­de? Es konn­ten doch höch­stens fünf Mi­nu­ten ge­we­sen sein. Der neu ge­fal­le­ne Schnee mach­te eher den An­schein, dass sie min­des­tens ein paar Stun­den da­rin ver­bracht ha­ben muss­te. Ge­nervt stapf­te sie zu ih­rem Auto, wel­ches schon wie­der nicht mehr sicht­bar war. »Mann!«, fluch­te sie, wäh­rend sie aus­ge­laugt die Auto­tür, fes­ter als nö­tig, hin­ter sich ins Schloss zog. Tief durch­at­men, An­ni. Kurz über­leg­te sie, auf di­rek­tem We­ge heim­zu­fah­ren und Cons­tan­tin die­se däm­li­che Daten­schutz­er­klä­rung mit Schwung um die Oh­ren zu hau­en, ent­schied sich aber dann da­für, bei Marc Eden an­zu­hal­ten, des­sen Adres­se auf ih­rem Heim­weg lag. Zu­min­dest muss­te sie kei­nen gro­ßen Um­weg fah­ren, we­nigs­tens et­was Gu­tes.

Mitt­ler­wei­le war der Ver­kehr fast kom­plett zum Er­lie­gen ge­kom­men. Autos stan­den im Gra­ben, so­dass An­ni im Schritt­tem­po weiter­fuhr. Auf ei­nen Un­fall konn­te sie ge­trost ver­zich­ten. Das war das Letz­te, was sie jetzt brauch­te.

Für ei­nen Weg, den sie nor­mal­er­wei­se in zwan­zig Mi­nu­ten zurück­le­gen wür­de, be­nö­tig­te sie sa­ge und schrei­be ein­ein­halb Stun­den. In­zwi­schen war es Abend, die Fens­ter in die­ser ru­hi­gen Wohn­ge­gend, in der Eden wohn­te, waren be­leuch­tet. Fa­mi­lien sa­ßen an ih­ren Ess­ti­schen, lach­ten, un­ter­hiel­ten sich und sa­hen dem fröh­li­chen Schnee­trei­ben zu und sie? … Ja, An­ni ver­fluch­te ih­re Si­tua­tion, wünsch­te sich nach Hau­se in ei­ne hei­ße Wan­ne, mit ei­nem Glas Rot­wein und ei­nem tol­len Buch. Doch von die­sem Ge­dan­ken konn­te sie sich ver­ab­schie­den. Wenn sie heu­te, oder auch mor­gen, je nach­dem wie lan­ge sie un­ter­wegs war, heim­kam, wür­de sie tod­mü­de und vol­ler Schmerz durch ih­re ver­kram­pften Mus­keln ins Bett fal­len und drei Ta­ge durch­schla­fen. Aber da­von war sie so­wie­so noch meilen­weit ent­fernt, al­so muss­te sie sich des­we­gen kein Kopf­zer­bre­chen be­rei­ten.

Sie park­te auf ei­nem klei­nen Park­platz, wo zu­vor ein an­de­rer mit sei­nem Fahr­zeug ge­stan­den hat­te, denn sonst wä­re der Schnee dort di­cker ge­we­sen, er­griff ih­re Ta­sche, die Un­ter­lagen und stieg aus. Cons­tan­tin saß mitt­ler­wei­le in ih­rer war­men Kü­che, hat­te er ihr eben ei­ne Nach­richt ge­schickt, und sie saß tief und fest im Schla­mas­sel. An­ni hob bei je­dem Schritt ihr Bein ganz hoch, an­ders wä­re es ihr nicht mög­lich, durch den Schnee zu stap­fen. Sie stieg ei­ne Trep­pe hin­auf, die zu ei­ner Rei­he von Wohn­häus­ern führ­te, wo er laut Adres­san­ga­be woh­nen muss­te, hielt sich da­bei an dem ver­eis­ten Ge­län­der fest, denn man wuss­te ja nicht, wie glatt es un­ter all­dem war. Ge­streut hat­te hier de­fi­ni­tiv nie­mand, ver­mut­lich mach­te das eh noch kei­nen Sinn.

Sie hat­te den Ge­dan­ken noch nicht zu En­de ge­bracht, da rutsch­te sie mit ei­nem Fuß aus, knall­te kurz da­rauf mit bei­den Knien auf die Stufen. Ihr Ge­sicht konn­te sie noch schüt­zen, in­dem sie hef­tig mit den Hän­den auf den Be­ton auf­schlug und doch lan­de­te auch ihr Kopf im Schnee. »Ahh!«, gab sie ei­nen kräch­zen­den Laut von sich. Was war hier ge­ra­de pas­siert? Fuck! Leb­te sie noch? Ja, denn sonst wür­den ihr nicht sa­ge und schrei­be alle ver­damm­ten Stel­len an ih­rem Körper weh­tun. Sie muss­te auf­ste­hen, es wur­de kalt, vor al­lem wä­re sie aber im Nu völ­lig durch­nässt und die Un­ter­lagen … »Mist, die Un­ter­lagen!«, schim­pfte sie, ig­no­rier­te den Schmerz und griff nach dem Um­schlag, in dem sich das hei­li­ge Do­ku­ment be­fand. Ver­dammt, wa­rum hat­te sie ihn nicht zu­ge­klebt? Schnell sprang sie auf, schüt­tel­te das Ku­vert, aus dem da­rauf­hin ei­ne Men­ge Schnee her­aus­fiel. Ganz toll, An­ni! Gran­di­o­se Leis­tung!

Re­si­gnie­rend setz­te sich An­ni auf die Stufen und käm­pfte da­rum, nicht in Trä­nen aus­zu­bre­chen. Das hat­te sie aber so was von ver­sem­melt. Und die­ser ät­zen­de Schnee hör­te nicht auf, sich zu ver­meh­ren. Sie streck­te ih­re Bei­ne aus und be­trach­te­te das Di­lem­ma. Ih­re Strumpf­ho­se war vol­ler Schnee, an den Knien war der Stoff auf­ge­ris­sen, ih­re blu­ten­de und ver­letz­te Haut kam zum Vor­schein. An­ni hat­te kei­ne Kraft mehr, sie war so­wie­so schon täg­lich so mü­de und die­se Stra­pa­zen brach­ten sie fast um. Ei­nes war Fakt, durchs Rum­sit­zen wür­de sie kei­nes­falls schnel­ler nach Hau­se kom­men. Des­we­gen rap­pel­te sie sich end­lich auf, raff­te ih­re Ta­sche vom Boden, schüt­tel­te den Um­schlag noch ein­mal aus, wenn das auch nicht mehr viel be­wirk­te, und ging zu Haus­num­mer fünf­zehn.

Sie klin­gel­te.

ZwölfUhrTermin

Подняться наверх