Читать книгу Der Ruf der magischen Insel - Nora Berger - Страница 10
ОглавлениеKapitel 4
Tom folgte Pater Daniel mit zitternden Knien ins Hospital. Was er dort sah, übertraf seine schlimmsten Erwartungen. Mit bleichen Lippen starrte er auf die drei dunkelhäutigen Gestalten, die vor ihm, halb von einem Tuch bedeckt, ausgestreckt auf Tragbahren lagen. Im schweißüberströmten, vor Angst und Schmerz verzerrten Gesicht eines der Patienten ragte der weiße Augapfel ohne Lid aus einer bizarr verschrumpelten Hautfalte hervor. Wangen und Kinn waren monströs verunstaltet und mit eitrigen Abszessen bedeckt. Bei dem Zweiten waren die Lippen weggefault und der Kiefer mit gebleckten Zähnen ragte nackt hervor. Der Dritte hatte statt der Nase eine entzündete Geschwulst im Gesicht, die von der typischen, schrumpeligen Elefantenhaut bedeckt war.
Pater Daniel trat neben Tom. Er hatte ein Ätherfläschchen und Wattetupfer in der Hand. Hinter ihm auf einem kleinen Tischchen lagen blitzendes Operationsbesteck, Pinzetten, Skalpelle und eine Säge.
„Ich bin kein Chirurg“, erklärte der Pater. „Aber das muss man hier auch nicht sein. Immerhin hab’ ich einige Semester Medizin studiert. Und hier hat mich die Notwendigkeit gelehrt, Menschenleben zu retten. Aber vielleicht verlängere ich ja nur das Leid. Hier, sieh dir das mal an.“ Er zog die Decke von einer vierten Trage. Der Kranke zuckte zusammen und streckte seinen Fuß aus. Oder das, was von ihm noch übrig war.
Tom schluckte, als er das eitrige Gemisch eines schwarzen, halb verfaulten Stumpfes erblickte, an dem die Zehen völlig fehlten und der einen Geruch von verwesendem Fleisch verbreitete. Für einen Moment verschwamm alles vor seinen Augen, und er musste einen Würgereiz unterdrücken. Doch dann fasste er sich.
Pater Daniel legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich finde es großartig, dass du mir helfen willst, Tom. Wir müssen den Fuß amputieren, sonst ist der Mann morgen tot. Das Gewebe ist entzündet und brandig. Keine Angst, ich habe sowas so oft gemacht, dass es beinahe schon Routine ist. Komm, zusammen werden wir das leicht schaffen.“
Auf seinen Wink trugen zwei Helfer die Trage in einen angrenzenden, kleinen Raum. Tom folgte dem Pater mit wackligen Knien. Der süßliche Gestank der Verwesung zog ihm die Kehle zusammen, aber der beißende Geruch des Äthers übertönte ihn ein wenig. Das kleine, geschlossene Fenster ließ nur wenig Sonne herein.
Der Pater krempelte die Ärmel hoch und übergoss seine Hände mit einer Desinfektionslösung, die er auch Tom anbot. Der Kranke drehte sich, halb wahnsinnig vor Angst, unruhig hin und her. „Du hältst ihn fest, wenn ich ihm die Watte mit dem Äther auf die Nase presse. Manchmal ist die Dosis leider zu gering und die Patienten wachen vorzeitig während meiner Behandlung auf. Sollte das passieren, dann musst du den Mann mit aller Kraft auf der Trage halten, ihn hinunterdrücken. Es passiert manchmal, dass sie runterfallen. Und das wollen wir doch nicht, oder?“
Tom nickte mit fest zusammengepressten Lippen. Er wäre am liebsten davongelaufen. Da öffnete sich plötzlich die Tür und Schwester Adela trat ein. Ihr marmorblasses Gesicht glich dem eines Engels, aber es hatte einen entschlossenen Zug, den Tom noch nie an ihr wahrgenommen hatte. Einige blonde Strähnen hatten sich aus ihrem leicht verrutschten Häubchen gestohlen und fielen ihr eigenwillig über Stirn und Wangen.
Er starrte sie fasziniert an. Noch nie hatte er sie so schön gesehen. Sie brachte einen Bottich, Tücher und Verbandszeug mit. Unter ihrem erstaunten Blick, mit dem sie ihn streifte, schob Tom die Schultern zurück und nahm eine gerade Haltung an, um sich einen kraftvollen und gelassenen Anschein zu geben. Vor ihr durfte er sich auf keinen Fall als Feigling erweisen. Was auch immer kam, er musste es durchstehen.
***
Gabriel wunderte sich, dass Tom so lange ausblieb. Normalerweise arbeitete er um diese Zeit immer an dem Fluchtseil, das sie in dem Felsenloch versteckten. Wieder hatte er eine Menge strohige Fasern beiseitegeschafft, die möglichst bald verarbeitet werden mussten. Zum Glück waren ständig Dächer auszubessern, weil Stürme sie beschädigten und so würde er eine Entschuldigung haben, falls jemand die angehäuften Binsen entdeckte.
Gabriel teilte sich die anfallende Arbeit zur Errichtung neuer Hütten meist mit Bruder Jacob und Bruder Martin. Bruder Eusebius fehlte seit einiger Zeit in dieser Runde. Es hieß, er fühle sich schwach und leide an unbestimmten Symptomen. Aber man konnte die Augen nicht ganz davor verschließen, dass die schöne Tochter eines von der Lepra infizierten Ehepaares, die noch nicht so sehr von der Krankheit gezeichnet war, es Bruder Eusebius angetan hatte. Er hatte schon länger jede Gelegenheit genutzt, um in ihrer Nähe zu sein. Und jetzt erwartete das Mädchen ein Kind. Das war hier oben an sich nichts Ungewöhnliches, denn es gab viele Familien unter den Aussätzigen, in denen auch Kinder geboren wurden. Aber die Kleinen lebten oft nicht lange, denn meist waren sie, ohne eine Wahl zu haben, dem gleichen, grausamen Schicksal ausgesetzt wie ihre Eltern.
Pater Daniel war von Anfang an nichts anderes übriggeblieben, als Bruder Eusebius gewähren zu lassen. Was sollte man in dieser Einsamkeit auch mit einem Mönch anfangen, der plötzlich vor Liebe blind war? Und jetzt hatte der verliebte Bruder sich vielleicht bei dem Mädchen an der Krankheit angesteckt.
Als die Sonne langsam unterging, kehrte Gabriel kehrte zum Hauptgebäude zurück. Es war die Zeit, in der man sie wieder in ihre Zellen einschloss, nicht ohne ihnen einen Napf mit Essen und einen Krug Wasser mit etwas Rum vermischt, zu reichen. Aber weder Tom, noch Pater Daniel oder die hilfreichen Schwestern waren irgendwo zu sehen. Sie mussten noch im Hospital beschäftigt sein, wo die schlimmsten Wunden der Kranken behandelt und eitrige Stellen so gut es ging entfernt wurden.
Ein beinahe unmenschliches Gebrüll schallte immer wieder durch die Gänge und durchdrang die festen Mauern. Gabriel schauderte. Er wusste, dass Pater Daniel manchmal nichts anderes übrigblieb, als das verfaulte Fleisch einfach wegzuschneiden, wenn der Patient noch eine Weile überleben sollte. Die Gelegenheit nutzend, in der er unbeobachtet war, schlich er an der Umzäunung entlang bis zur Klappe, von der aus die Toten ins Meer geworfen wurden.
Hier oben konnte man im Gegensatz zu den unteren Gefängnissen, in deren Nähe sich ein winziger Friedhof befand, niemanden begraben, denn der Boden des Tafelbergs war zu steinig und hart. Vorsichtig rüttelte er an der Klappe des schweren Eichenholzes, an dem ein solides Schloss mit einer Eisenkette saß. Das würde ohne passendes Werkzeug kaum zu öffnen sein. Er blickte prüfend auf das meterhohe Eisengeflecht mit seinen harten, spitzen Stahlstäben und sah dann in die Tiefe.
Hier, an diesen schroffen, steilen und an manchen Stellen tückisch glatten Felsen war es unmöglich, ohne Halt und Sicherung hinunterzuklettern. Aber selbst mit der Hilfe eines Seils würde es ein großes Wagnis sein. Die in Sackleinwand genähten Leichen, die man durch die Klappe bugsierte, prallten manchmal gegen die felsige Wand und rutschten die Abhänge hinunter, bis sie schließlich im Meer landeten. Aus diesem Grunde hatte Gabriel seinen ersten Plan, sich an Stelle einer Leiche in einen Sack nähen und hinunterwerfen zu lassen, aufgegeben. Ein Flüchtling würde so nur noch tot unten ankommen oder die sich wild und schäumend an den Klippen brechenden Wellen würden ihm den Rest geben.
Sich vorbeugend, krallte Gabriel sich dicht über dem Abgrund an den dolchartigen Eisenspitzen fest und starrte in die Tiefe, um auszumachen, wie die Beschaffenheit der Felsen weiter unten aussah. Linker Hand leuchtete ein kleiner Streifen kiesigen, mattgrauen Strandes wie ein Vorsprung am Fuß des Berges, gesäumt von ein paar wilden Büschen. Diesen Strand konnte man wahrscheinlich ohne Schwierigkeiten erreichen, falls man heil unten ankam. Denn trotz aller Bemühungen war es nahezu hoffnungslos, dass ihr selbstgedrehtes Seil irgendwann einmal ganz bis nach unten reichen würde. Im schlimmsten Fall hing man dann zwischen den Felsen irgendwo über dem Abgrund, dazu gezwungen, freihändig und unter Lebensgefahr den schwindelerregenden Rest des Abstiegs zu wagen. Aber Tom hatte Recht – lieber abstürzen und den Tod in Kauf nehmen, als ein auf ewig Verbannter auf einer Lepra Insel zu sein!
Gabriel zwang sich dazu, die Gefahren auszublenden und nur an den Plan zu denken. Falls sie tatsächlich heil den Streifen schmalen Strandes erreichten, stellte sich die Frage, wie sie übers Meer nach Guadeloupe kommen sollten. Ein guter Schwimmer müsste die Distanz von La Désirade bis zur benachbarten Schmetterlingsinsel bei ruhigem Seegang in vier oder fünf Stunden überwinden können. Was Tom anbetraf, so würde er das möglicherweise schaffen, aber er selbst konnte sich nur kurze Zeit über Wasser halten. Ein Stück Schwemmholz oder Strandgut wäre unabdingbar, an das er sich klammern könnte. Der günstigste Fall wären stabile Hölzer, aus denen sie sich eine Art Floß bauen konnten. Aber womit sollten sie dann rudern, die Richtung halten? Angestrengt starrte er auf den Streifen kiesigen Strandes, aber er konnte weder Bretter noch Äste entdecken.
Gabriel seufzte und richtete sein Augenmerk noch einmal auf die Felsen in der Mitte des Abhangs. Dort gab es tatsächlich mehr Vorsprünge und rauere Stellen als oben, das war gerade noch zu erkennen, obwohl es jetzt rasch dunkel wurde und die Landschaft vor seinen Augen verschwamm. Plötzlicher Schwindel erfasste ihn, sein Herz klopfte laut vor Erregung und er zog sich vor dem Abgrund zurück. Die Flucht war ein Risiko, aber sie mussten es eingehen. Leben oder Tod – eine andere Möglichkeit gab es nicht.
***
Pater Daniel drückte den Wattebausch, der mit einem scharfen Äthergemisch und einer Mischung aus Bilsenkraut und Mohn getränkt war, dem sich wild aufbäumenden Kranken auf die Nase. Tom hielt ihn fest, bis seine Zuckungen schwächer wurden. Dann sah er entsetzt zu, wie Pater Daniel mit einem Messer rasch das Fleisch, die Sehnen und Muskeln des verfaulenden Fußes durchschnitt und alles hochzog. Dann griff er nach der Säge und setzte sie an. Das Geräusch, mit dem er auf den Knochen traf, ließ Toms Nerven bis in ihre Tiefen vibrieren. Blut schoss hervor, das Schwester Adela, so gut es ging, eindämmte, indem sie die Adern abklemmte. Es war tatsächlich eine ungeheure Kraftanstrengung und eine nervliche Prüfung, die Pater Daniel ohne mit der Wimper zu zucken vollbrachte.
Tom hielt den Patienten mit eisernem Griff darnieder, der sich jetzt trotz des Äthers aufbäumte und schreckliche Schmerzensschreie ausstieß. Tom unterdrückte ein Würgen und wandte die Augen von dem blutigen Stumpf und den Resten des Fußes ab, der auf dem Boden lag. Die Amputation würde das Leben des Patienten retten. Aber sie heilte nicht die Krankheit, die sich in andere Glieder fressen würde.
Adela verband die Wunde und man brachte den Patienten in ein Zimmer, in dem Schwester Eutymea Wache hielt. Tom fühlte den Boden unter seinen Füßen wanken, ihm war plötzlich furchtbar schlecht. Totenblass hielt er sich nur mühsam aufrecht, denn er wollte vor Schwester Adela keine Schwäche zeigen. Der jungen Nonne, so zart sie auch schien, schien der Anblick von Blut und dem gesamten Operationsvorgang wenig auszumachen.
Sie nickte Tom aufmunternd zu. „Das haben Sie gut gemacht. Darf ich Ihnen zur Stärkung ein kleines Glas selbstgemachten Kräuterlikör anbieten? Das beruhigt die Nerven!“
Tom zwang sich zu einem gequälten Lächeln. Das Würgen stieg höher in seine Kehle. „Ja, gerne…“, wollte er sagen, doch plötzlich tanzten bunte Punkte vor seinen Augen und seine Beine knickten wie von selbst unter ihm ein.
Tom fand sich auf einer Liege im Schwesternzimmer wieder. Adela, über ihn gebeugt, hielt ein Glas mit einer aromatischen Flüssigkeit an seine Lippen. Gehorsam nahm Tom einen Schluck des bittersüßen Gemischs. Er verzog das Gesicht. Doch schon bald spürte er belebende Wärme und wohltuende Ruhe in sich aufsteigen. Er seufzte tief auf. „Ich hab’ ja schon einiges erlebt … hatte mal sowas wie Cholera. Da ging es mir ziemlich schlecht. Aber zusehen, wie man Glieder abschneidet … das war wohl etwas viel beim ersten Mal.“
„Ja, mir ist es am Anfang auch nicht leichtgefallen“, gab Schwester Adela mit einem mitfühlenden Lächeln zu. „Man muss zusehen, wie die Menschen hier bei lebendigem Leibe verfaulen. Aber mit diesem Eingriff können wir ihr Leben verlängern – und das wollen die meisten. Es ist nicht immer leicht, aber ich bin ja hierhergekommen, um zu helfen.“ Sie strich sich die widerspenstigen, blonden Locken aus dem Gesicht, die sich bei der Hitze der Arbeit aus ihrem Häubchen gelöst hatten. „Geht es Ihnen jetzt besser?“
„Ja“, erwiderte Tom. „Sie sind wirklich ein Engel in Menschengestalt. Und Sie sehen auch genauso aus. Bezaubernd und wunderschön.“
Ehe Adela zurückweichen konnte, griff er nach ihrer Hand und küsste sie. In das Gesicht der Schwester stieg leichte Röte. Sie zog rasch ihre Hand zurück, schlug verlegen die Augen nieder. „Es wird hier schnell dunkel, wenn die Sonne untergeht. Man wird mit der Arbeit nie richtig fertig.“
In der Tat war der Raum jetzt nur noch von schummrigem Dämmerlicht erfüllt, was ihm eine fast heimelige Note gab. Adela machte sich daran, die Lampe auf dem Tisch zu entzünden. „Ich denke, Sie sind nun wieder wohlauf und ich kann Sie zu Ihrer Zelle bringen.“
Tom nickte. Er wäre gern länger so dagelegen und hätte mit Adela geplaudert, ihr viele Fragen gestellt. Bis jetzt wusste er von ihr nur, dass sie Waise war und sich nach einem kurzen Klosterleben zum Dienst auf dieser Insel entschlossen hatte. Behindert durch einen leichten Drehschwindel erhob er sich und stolperte absichtlich zur Seite.
„Stützen Sie sich auf meinen Arm!“ Adela war erschrocken herbeigesprungen und hielt ihn fest. Dieser hübsche Bursche brachte sie immer wieder in Verwirrung. Neulich hatte sie sogar von ihm geträumt und sich darüber geärgert. Ihr Bräutigam war Jesus und das Gelübde, ihm zu folgen, hatte sie im Kloster abgelegt.
Sie versuchte, sich zusammenzureißen, sachlich zu bleiben und Tom, der sich nahe an sie drängte, ein Stück von sich zu schieben. Doch das war nicht so einfach, denn Tom hatte jetzt ihren Arm ergriffen und hielt ihn fest.
„Danke“, sagte er mit einem treuherzigen Augenaufschlag und lehnte aufseufzend den Kopf an ihre Schulter. Er fühlte die Wärme ihres Körpers, spürte, wie sie durch seine Berührung leise erzitterte. Ihr frischer Duft nach Zitrone und Kräutern, die feinen Löckchen, die sich in ihrem Nacken kräuselten, berauschten ihn. Am liebsten hätte er jetzt diese Stelle geküsst. Aber er durfte nicht zu schnell vorgehen, musste sich vorerst mit dem begnügen, was sie ihm erlaubte.
Adela atmete heftiger, sie wagte nicht, sich Tom zu entziehen, der sich schwer auf sie stützte und von dem Erlebnis der Amputation sichtlich angeschlagen war. Auf seltsame Art war ihr Toms Nähe angenehm und sie musste sich eingestehen, dass sie ihn von Anfang an gemocht hatte. Er hatte ein gutes Herz, das spürte sie. Vielleicht saß er ja tatsächlich unschuldig hier fest – wer wusste das so genau! Tom streckte sich jetzt und presste seine Lippen auf Adelas Nacken, dort wo sich die blonden Löckchen befanden. Adela stieß einen erschrockenen Seufzer aus und wollte zurückweichen, doch Tom hielt sie fest und drückte sie an sich.
Erst beim Knarren der Tür ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. Pater Daniel stand im Raum. In seiner blutbespritzten Schürze sah er sehr erschöpft aus. „Was machst du denn noch hier, Tom?“
„Schwester Adela wollte mich gerade in meine Zelle bringen“, erwiderte Tom mit einem verlegenen Lächeln. „Sie hat mir einen Kräuterlikör eingeflößt, weil es mir nicht gut ging. Normalerweise kann ich kein Blut sehen.“
„Du hast dich tapfer gehalten, Tom, das muss man dir lassen“, sagte Pater Daniel müde. „Geh in deine Zelle und ruh dich aus. Ich könnte dich morgen wieder brauchen.“
Tom zuckte zusammen und Schwester Adela, deren Wangen sich rot gefärbt hatten, erwiderte rasch: „Vielleicht können Sie Toms weiteren Einsatz ein paar Tage verschieben, Pater. Es war wohl ein bisschen zu viel für ihn.“
„Meinetwegen.“ Der Pater ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und stützte den Kopf in die Hände. „Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es auch nicht an. Manchmal weiß ich wirklich nicht, ob sich das alles lohnt, was wir hier machen.“
„Was meinen Sie damit, Pater?“ Adela sah ihn verwirrt an und ordnete ihr Häubchen, das nach Toms Kuss etwas schief auf ihrem Kopf saß.
„Die armen Hunde, die ich jetzt behandle, werden ohnehin sterben, denn die Krankheit schreitet fort. Was spielt es für eine Rolle, wenn wir ihr Leben mit einer so schmerzhaften Amputation verlängern?“
„Oh Pater, das dürfen Sie nicht sagen. Ich finde, es spielt eine große Rolle“, mischte Tom sich auf einmal ein. „Sie schenken ihren Patienten noch ein paar Jahre. Ist das nicht etwas, was alle wollen? Ein qualvolles Leiden mit einem langsam verfaulenden Glied, das den ganzen Körper vergiftet – das muss doch schrecklich sein, oder?“ Er sah zu Adela hinüber, die beifällig nickte.
„Ja, wahrscheinlich hast du Recht, Tom. Und im Grunde mache ich es ja auch deswegen.“
„Ich … ich wollte Ihnen noch sagen, dass ich morgen wieder ins Hospital komme“, sagte Tom.
Pater Daniel sah ihn überrascht an. „Das ist eine gute Entscheidung.“ Er erhob sich mit einem tiefen Seufzer und band die blutige Schürze ab. Ermutigend klopfte er ihm auf die Schulter. „Ich bin sehr froh darüber. Komm mit. Ich bringe dich selbst in deine Zelle. Schwester Adela soll dir noch etwas Zusätzliches zum Abendessen bringen. Das hast du dir verdient. Hast dich wirklich tapfer gehalten.“
Tom folgte ihm ohne Widerrede. Ohne dass Pater Daniel es merkte, wandte er noch einmal den Kopf und sah zu Adela zurück. Ihre Blicke trafen sich. Ihm wurde bewusst, dass er sich gerade bis über beide Ohren in sie verliebt hatte.
***
In der Zelle, einem nackten Mauergelass mit Steinboden, in dem sich nichts weiter als zwei übereinanderstehende Bettgestelle und ein wackliger Holztisch mit Stühlen befanden, erwartete Gabriel Tom schon ungeduldig. „Wo warst du denn so lange? Heute geht wohl alles drunter und drüber.“ Er sah Tom neugierig an. „Hast du beim Abladen der Vorräte vom Schiff helfen dürfen? Die Neuankömmlinge auf dem Weg hier herauf begleitet? Ich habe dich nirgendwo gesehen. Es wäre so wichtig gewesen, die Gegend dort unten ein wenig zu erkunden, zu sehen, wo die Gefängniswärter Wache halten. Aber ich konnte mich einfach nicht wegschleichen. Dieser dumme Pater Martin hat mich genau beobachtet und gleich zurückgepfiffen.“
„Oh, Patron“, seufzte Tom und verdrehte die Augen. „Sie können sich nicht vorstellen, was ich heute erlebt habe! Mir ist jetzt noch kotzübel.“ Er warf sich erschöpft und mit bleicher Miene auf seine karge Bettstatt, die mehr einer Pritsche glich, und verschränkte die Arme unter dem Kopf.
Gabriel sah ihn erwartungsvoll an. „Was hast du denn gemacht?“
Tom verzog das Gesicht. „Ich habe mich leichtsinnigerweise überreden lassen, im Hospital auszuhelfen. Und dabei kann ich doch gar kein Blut sehen!“
„Du? Im Hospital? Wieso denn das?“
„Weiß auch nicht. War wohl kein anderer da. Pater Daniel hat mich gefragt, ob ich ihm und Schwester Adela assistiere. Es gäbe so viele schwere Fälle. Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass es um eine Amputation ging! Jedenfalls musste ich den Patienten festhalte, weil die Narkosemittel nicht ausreichten. Es war … einfach schrecklich. Und dann habe ich mich auch noch breitschlagen lassen, morgen wieder auszuhelfen.“ Er stöhnte laut.
„Alle Achtung“, sagte Gabriel bewundernd. „Das hätte ich selbst mir nicht zugetraut.“ Nach einer Weile fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu: „Jetzt begreife ich! Schwester Adela war dabei! Da konntest du natürlich nicht nein sagen. Wolltest ihr wohl imponieren!“
„Quatsch!“ Tom verzog das Gesicht und wurde rot.
In diesem Moment drehte sich der Schlüssel in der Tür und sie wurde quietschend geöffnet. Bruder Martin erschien mit einer duftenden Platte, die er missmutig und mit einem deutlichen Scheppern auf den Tisch stellte. „Hier, das ist für euch. Reis, Kräuter und Kaninchenragout in scharfer Sauce. Schwester Adela hat es selbst zubereitet und wünscht euch guten Appetit!“ Bärbeißig setzte er hinzu: „Wir anderen müssen uns mit Reis, Bohnen und dem üblichen getrockneten Fisch zufriedengeben. Dabei war ich es, der die Kaninchen gefangen hat.“
Gabriel lief das Wasser im Munde zusammen. „Das riecht ja ganz köstlich! Womit haben wir denn ein solches Mahl verdient?“ Er nahm seinen Blechteller und häufte sich eine Portion darauf.
„Das frage ich mich allerdings auch“, knurrte Bruder Martin mit grimmiger Miene und warf einen neidischen Blick auf die Speisen. „Ihr zwei Halunken habt wohl bei Schwester Adela einen Stein im Brett!“
„He, he“, erregte sich Gabriel. „Wir sind keine Halunken! Wie oft soll ich noch sagen, dass wir unschuldig …“
„Ja, ja, das alte Lied kenn ich schon. Das kannst du deiner Großmutter vorsingen“, erwiderte Bruder Martin, knallte die Eisentür zu und schloss sorgfältig hinter sich ab.
„Dieser Idiot!“, stieß Gabriel mit vollem Mund hervor. „Er mag uns nicht und würde uns wohl am liebsten den Kragen umdrehen, wenn seine Religion es ihm erlaubte. Isst du nichts?“ Er nahm den Holzlöffel und wollte auch Tom eine Portion zuteilen. Doch der winkte ab. „Später! Lassen Sie mir was übrig, Patron. Ich kann jetzt nichts essen, hab’ immer noch die Bilder vom Hospital vor Augen.“
Träumerisch starrte er in die Luft, während Gabriel es sich mit großem Appetit schmecken ließ. Satt und ein wenig schläfrig legte er sich nach der Mahlzeit wieder zurück auf seine Pritsche. „Hör mal Tom“, begann er nach einer Weile. „Ich hab’ nachgedacht. Es wird höchste Zeit, dass wir hier wegkommen. Ich will jetzt nicht länger warten. Heute habe ich mir die Klappe noch einmal angesehen, durch die sie die Leichen schieben. Die Felsen fallen an dieser Stelle sehr steil ab, die Klippen unten sind zerklüftet. Es sieht ziemlich gefährlich aus, aber das ist uns ja bewusst. Wenn wir da runterwollen, sollte das am besten im Morgengrauen geschehen, wenn alle noch schlafen. Wir müssen schließlich sehen, wohin wir unsere Füße setzen und wo wir das Seil festmachen. Das wird eine ziemliche Kraftanstrengung.“
Tom, die Arme unter dem Kopf verschränkt, blickte in die kleine Kerzenflamme, das einzige Licht, das ihnen erlaubt war und das sie sehr sparsam verwendeten. „Das Absteigen über die Felsen macht mir keine Sorge. Ich war auf dem Schiff immer der Geschickteste in den Wanten.“
„Das kann ich von mir nicht gerade behaupten. Ich bin ganz und gar nicht schwindelfrei“, gab Gabriel etwas kleinlaut zu. „Immerhin haben wir ja das Seil! Hoffentlich reicht es wenigstens über das steilste Stück. Weiter unten sieht es ja etwas besser aus, rauer und es gibt Vorsprünge, falls das Seil nicht ausreicht.“
„Das schaffen wir schon, Patron“, beruhigte ihn Tom.
„Hoffentlich. Ich darf nicht daran denken, dass der Strick reißen könnte. Aber unser größtes Problem ist immer noch der Schlüssel für die Klappe. Pater Daniel trägt ihn ja ständig an einer Kette am Gürtel seiner Kutte.“
„Wir könnten das Schloss vor Ort lockern und dann herausbrechen“, schlug Tom vor.
Gabriel schüttelte den Kopf. „Unmöglich! Ich hab’s mir heute angesehen. Das Holz ist ziemlich dick und das Schloss aus stabilem Eisen geschmiedet. Ich wette, dass wir das mit unseren Werkzeugen nicht aufkriegen.“
Tom seufzte nur. Er war müde und die Augen fielen ihm beinahe zu.
„Vielleicht wäre es besser, eine Kopie des Schlüssels anzufertigen, der aber nicht ins Schloss passt“, überlegte Gabriel weiter. „Oder noch besser, den Schlüssel einfach durch einen ähnlichen auszutauschen. Legt Pater Daniel den Gürtel denn nie ab?“
Tom schlug die Augen wieder auf und gähnte. „Doch. Bei der Amputation heute hat er den Schlüsselbund beiseitegelegt, als er die Schürze über seine Kutte gezogen hat.“
„Das wäre doch die Gelegenheit, die Schlüssel zu vertauschen! Wenn du ihm das nächste Mal assistierst, tauschst du den Klappenschlüssel einfach durch einen ähnlichen aus“, schlug Gabriel vor.
„Unmöglich! Schwester Adela ist ja immer dabei. Außerdem gibt es gar keinen Schlüssel, der so ähnlich aussieht.“
„Doch. Der Schlüssel für die Vorratskammer ist das gleiche Modell!“, sann Gabriel weiter. „Nur die Schwestern und Bruder Martin haben Zugang zu den Lebensmitteln. Adela könnte ihn dir zustecken…“
„Kommt gar nicht infrage!“, protestierte Tom. „Ich will Adela da nicht mit hineinziehen und sie in Schwierigkeiten bringen. Außerdem würde es auffallen, wenn plötzlich der Schlüssel zur Vorratskammer fehlt.“
„Na und? Jemand könnte ihn verlegt haben. Und wenn wir fort sind, tauscht Adela die Schlüssel unauffällig wieder aus.“
„Niemals!“, fuhr Tom auf. „Da kann ich nicht von ihr verlangen.“ Er legte sich wieder auf die durchgelegene Matratze und zog die dünne Decke über die Ohren.
„Was ist denn auf einmal mit dir los? Du hast doch selbst gesagt – lieber tot als auf einer Lepra Insel dahinvegetieren.“
„Ja, klar hab’ ich das gesagt. Aber ich weiß nicht … ich glaube, ich habe mich in Adela verliebt.“
„Dann vergiss bitte nicht, dass Adela eine Nonne auf einer Leprastation ist! Ihr werdet nie eine Zukunft haben. Oder willst du wegen ihr hier gar nicht mehr weg?“
„Doch!“ Tom stützte sich auf die Ellenbogen. „Lieber heute als morgen. Ich weiß ja, dass meine Liebe keine Zukunft hat. Aber … alles, auch unsere Flucht ist dadurch viel schwieriger geworden. Ich würde Adela vielleicht niemals mehr wiedersehen!“ Seine Stimme klang heiser. „Und das ist ein ganz komisches Gefühl.“
„Denk immer daran: Hier geht es um unser Leben, unsere Zukunft. Adela hat ein Gelübde abgelegt. Irgendwann ist sie wieder fort und dann bleibst du auf dieser Insel allein zurück.“
„Sie liebt mich doch gar nicht.“ Tom vergrub das Gesicht in dem harten, mit Stroh gefüllten Kissen. „Weil sie die Braut von Jesus Christus ist. Aber trotzdem…“
„Unsinn, du bist ihr nicht gleichgültig, das sieht doch ein Blinder. Die Art, wie sie dich ansieht, errötet, wenn du in ihrer Nähe bist!“
Tom sah ihn zweifelnd an.
„Aber damit wir unser Ziel erreichen, musst du das Feuer noch ein wenig schüren. Verstehst du, was ich meine?“
„Das wäre einfach nur gemein von mir.“ Tom schüttelte widerstrebend den Kopf.
„Überleg es dir! Es ist vielleicht unsere einzige Chance! Pater Daniel ist ein gutmütiger Mensch. Er würde Schwester Adela niemals bestrafen oder ihr etwas Böses antun. Außerdem könnte man ihr den Austausch der Schlüssel ja gar nicht beweisen.“
„Nein, nein.“ Tom vergrub das Gesicht in den Händen.
„Gut, wenn du nicht willst, dann kannst du meinetwegen allein hier versauern.“ Gabriel schlug wütend mit der Faust gegen das eiserne Bettgestell. Er warf sich auf die Seite und kehrte Tom den Rücken zu. Eine tiefe und lange Stille trat ein.
Nach einer Weile erklang Toms leise Stimme. „Verzeihen Sie, Patron!“ Er setzte sich gerade auf. „Ich habe nachgedacht. Lassen Sie mich hier nicht allein. Ich werde tun, was ich kann, das verspreche ich.“
„Endlich bist du vernünftig geworden“, sagte Gabriel erleichtert. „Wir müssen zusammenhalten, das ist das Wichtigste!“
Tom nickte. „Ja, das sehe ich auch so. Aber ich muss sehr vorsichtig sein. Wenn Adela uns verrät, wäre alles umsonst.“
Er nahm seinen Teller mit der kalt gewordenen Mahlzeit und begann zu essen.
„Wir reden morgen weiter“, murmelte Gabriel, schläfrig geworden und zog sich die Decke über den Kopf.“