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Kapitel 5

Julie duckte sich in den schmutzigen Rinnstein und keuchte vor Schmerz von den Tritten und Schlägen, die auf sie einprasselten. Schüsse knallten im Getümmel und dann war plötzlich alles still. Julie wagte es kaum, aufzusehen. Die Arme schützend über den Kopf gehoben, blinzelte sie furchtsam zwischen den Fingern hindurch.

„Madame“, hörte sie eine männliche, raue Stimme sagen. „Sind Sie verletzt?“

Vorsichtig sah sie hoch und rappelte sich auf, das zerrissene Spitzenkleid vorsichtig über der Brust zusammenhaltend. „Ich … weiß nicht! Man hat mich überfallen…“ Sie schluchzte beinahe bei diesen Worten. „Wo bin ich hier? Was wollen Sie von mir?“

Der Mann, der vor ihr stand, antwortete nicht gleich. Er trug eine Art Uniform, eine graue Jacke mit silbernen Schulteraufschlägen und verschiedenen Abzeichen und einen Hut, der eher einer Kappe glich. Seine Waffe, die er in der Hand trug, verstaute er jetzt in einem Halfter an seinem Gürtel. Dann bückte er sich und hielt ihr ihre Ohrringe, das goldene Armband und ihr Abendtäschchen hin. „Das ist doch Ihr Eigentum oder? Sehen Sie nach, Madame, ob noch etwas fehlt.“

Erstaunt nahm Julie den Schmuck an sich. „Danke, aber … was ist denn geschehen? Wer sind Sie? Wo ist der Kutscher?“

„Der Kutscher ist geflüchtet. Ich denke, er steckte unter einer Decke mit den Gaunern.“ Der Mann reichte ihr den Arm, um sie zu stützen. „Ich bin übrigens Pierre Valcourt, Chef der Brigade de Sûreté in Paris, Nachfolger von Monsieur Vidocq, falls Ihnen der Name etwas sagt. Und das ist meine Mannschaft zur Bekämpfung der nächtlichen Kriminalität in Paris.“ Er wies auf drei kräftige, bewaffnete und ähnlich gekleidete Männer, die jetzt nähertraten. „Wir schützen mit unseren Patrouillen die gefährdeten Viertel von Paris vor Überfällen.“

Julie ließ seine Hand erschrocken los und hielt sich am Kutschengriff fest. „Sie helfen der Polizei?“, erwiderte sie verblüfft.

„Ja, in der Nacht, der beste Zeitpunkt für die Ganoven. Nie von der Brigade de Sûreté gehört?“

„Ja, aber nur gerüchteweise…“ Julie zog ihren seidenen Unterrock zurecht und ordnete ihr verrutschtes Kleid. Mit leisem Stöhnen untersuchte sie tastend ihre linke Seite, in die sie einen Tritt erhalten hatte. „Die Unterwelt von Paris muss großen Respekt vor ihm haben. Die einen nennen ihn Retter, die anderen sagen, er sei nicht besser, als die, die er bekämpft.“ Sie griff nach ihrem Seidenmantel, der durchweicht in der Gosse lag. Der Pelzbesatz sah aus wie eine nasse Katze.

„An all dem ist vielleicht etwas Wahres dran“, gab Valcourt zu. „Man sollte Monsieur Vidocq aber nach seinen Leistungen beurteilen. Und die waren der Gesellschaft sehr nützlich. Er hat viele Menschenleben gerettet.“ Er sah Julie prüfend an. „Soll ich Sie zu einem Arzt bringen? Mein Wagen wartet um die Ecke.“

„Nein, ich glaube, so schlimm ist es nicht. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen für Ihre Hilfe danken soll, Monsieur Valcourt.“ Sie sah sich um. „Wo sind wir hier überhaupt?“

„In der Nähe des Friedhofs Père Lachaise. Nicht gerade die feinste Gegend.“ Er zögerte leicht. „Um mir Ihre Dankbarkeit zu erweisen, müssen Sie mir eigentlich nur den Tarif zahlen, den ich für solche Fälle erhebe.“

„Tarif?“, Julie fischte ihren zweiten Schuh aus der Wasserlache im Rinnstein und sah ihn erstaunt an. „Was meinen Sie damit?“

„Fünfhundert Franc. Oder dachten Sie, man kann so etwas umsonst machen? Meine Leute und ich sind die ganze Nacht unterwegs. Und ich muss sie natürlich auch für ihre Dienste bezahlen!“ Er wies auf seine bis an die Zähne bewaffnete Begleitung, die sich ein wenig im Hintergrund hielt. „Das hier sind die fähigsten Polizisten von ganz Paris!“ Auf seinen Wink traten die Männer näher.

Julie wich ängstlich zurück. Im schwachen Mondlicht konnte sie ungewöhnlich große muskulöse Männer in grauen Uniformen mit silbernen Emblemen erkennen. Ihre verschlagenen, ein wenig primitiven Gesichter, die Knüppel, Waffen und Messer, die sie am Gürtel trugen, sprachen eine deutliche Sprache.

„Sie brauchen keine Angst zu haben“, beruhigte sie Valcourt. „Das sind alles zuverlässige Kerle, sorgfältig von mir ausgesucht. Aber vor allem machen sie alles, was ich ihnen sage. Jetzt darf ich Sie allerdings bitten, mir das Schutzgeld auszuzahlen. Wir haben heute noch eine Menge in der Stadt zu tun und werden noch woanders gebraucht.“

„Schutzgeld? Das ist ja nicht gerade wenig…“

„Ich weiß. Aber wenn Sie Ihren Schmuck, Ihr Geld und vielleicht auch Ihr Leben verloren hätten, wäre das teurer gewesen.“

„Ja, so gesehen haben Sie Recht. Aber so viel habe ich leider nicht bei mir.“

„Macht nichts, das ist in den allermeisten Fällen so. Ich begleite Sie nach Hause. Sie können mir vertrauen. Ich sagte ja, mein Wagen parkt nur ein paar Schritte entfernt. Kommen Sie!“

Er wandte sich an seine Gefolgschaft. „Ihr wisst, was ihr zu tun habt. Patroulliert weiter stadtwärts. Wir sehen uns in einer Stunde am Place des Innocents. Da erhaltet ihr weitere Instruktionen.“

Julie stolperte hinter Valcourt durch eine schmale Gasse voller Geröll und Müll. Auf einem breiteren Weg direkt vor einer Hausruine stand eine dunkle, sehr einfache Kutsche mit zwei Rappen. Der Kutscher trug die gleiche graue Jacke mit den silbernen Beschlägen wie die Wachmänner von Pierre Valcourt.

„Rue Baillet“, sagte Julie, nachdem sie eingestiegen waren, und der Kutscher setzte die Pferde wortlos in Bewegung. Julie zog ihren feuchten Seidenmantel fröstelnd um die Schultern, um die Risse an ihrem Spitzenkleid zu verbergen. Die Seite, an der sie den Tritt erhalten hatte, schmerzte bei jeder Bewegung und jedem Ruck des Wagens. Sie biss tapfer die Zähne zusammen und hielt gebührenden Abstand zu ihrem neben ihr sitzenden Retter.

Von Zeit zu Zeit betrachtete sie ihn jedoch verstohlen von der Seite. Er war nicht mehr jung, mit dunklem Teint, wulstigen Lippen und tiefen Falten im Gesicht. Sein krauses, halblanges Haar unter der Kappe war von Silberfäden durchzogen und im Nacken nachlässig mit einer dünnen Kordel zusammengebunden. Allgemein gesehen wirkte er gepflegt und schien tadellose Manieren zu haben.

Als die Kutsche vor der Villa in der Rue Baillet hielt, waren die Fenster dunkel. Die Mutter schien zu schlafen, die Pflegerin und die Hausmädchen waren fort und André sicher auch schon zur Ruhe gegangen. Am Portal legte Julie den Finger auf den Mund und bedeutete ihrem Begleiter, ihr leise zu folgen und kein Geräusch zu machen, damit die Mutter nicht aufwachte. Sie entzündete die Leuchter im Flur und im Salon und bat Pierre Valcourt, dort auf sie zu warten. Rasch warf sie den nassen Mantel in eine Ecke, wischte mit einem Handtuch die Schmutzspuren von Gesicht und Armen und legte einen warmen Schal um ihre Schultern. Dann eilte sie in die Bibliothek, wo sie aus einer in einem falschen Buch versteckten Kassette die gewünschte Summe entnahm.

Als sie wieder in den Salon zurückkehrte, hatte sich Pierre Valcourt in die Karte von Guadeloupe vertieft, die ausgebreitet auf dem Tisch lag.

„Eine wunderschöne Insel“, sagte er gedankenverloren.

„Ja, das dachte ich auch einmal. Aber ich hätte niemals vermutet, dass sie mir am Ende nur Unglück bringen würde“, erwiderte Julie mit einem bitteren Unterton.

„Oh, das tut mir leid. Was ist denn passiert?“ Valcourt sah sie interessiert an.

„Das wäre wohl eine zu lange Geschichte für diese späte Stunde“, wich Julie aus. „Die Insel besitzt eine gefährliche Magie, die einen in ihren Bann zieht und nicht mehr loslässt. Doch hinter der paradiesischen Natur, dem azurblauen Himmel über zauberhaften Buchten am Meer verstecken sich Grausamkeit gegen Sklaven, Korruption und unaufgeklärte Verbrechen…“ Sie hielt inne. Warum erzählte sie einem völlig Fremden solche Dinge?

„Genauso ist es“, erwiderte Valcourt, der förmlich aufgelebt war. „Ich bin übrigens auf Guadeloupe geboren.“ Er machte eine kurze Pause. „Es ist mein verlorenes Paradies, nach dem ich mich heute noch sehne.“

„Ach!“, staunte Julie. „Aber wieso leben Sie dann in Paris?“

„Als Sohn einer schwarzen Sklavin und ihres weißen Herrn war es nahezu unmöglich, mich aus diesem Leben zu befreien und es zu etwas zu bringen. Nachdem ich mich einer Bewegung gegen die Sklaverei angeschlossen hatte, musste ich von der Insel fliehen. Die Grands Blancs haben mich beinahe umgebracht, ich wurde ausgepeitscht und in Ketten gelegt. Mein Körper ist jetzt noch voller Narben.“

„Wie schrecklich“, sagte Julie bedrückt. „Auch ich habe miterlebt, wie ein grausamer Aufseher einem Sklaven die Hand abhackte, weil er angeblich etwas gestohlen hatte.“ Sie hielt schaudernd inne und spürte, dass sie sich diesem Mann, den sie gar nicht kannte, plötzlich verbunden fühlte.

„Die Ungerechtigkeit gegen meine schwarzen Brüder darf nicht länger so weitergehen. Ich träume manchmal davon, zurückzukehren und den Kampf gegen die Sklaverei wieder aufzunehmen.“ Valcourt presste die Lippen zusammen und auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Zornesfalte.

„Sie würden also am liebsten dorthin reisen, um etwas zu ändern?“, fragte Julie und sah ihn aufmerksam an. Ihr war plötzlich ein Gedanke durch den Kopf geschossen, eine kühne Idee.

Valcourt zuckte die Achseln. „Nein, das bleibt nur ein Traum. Ich hätte keine Chance etwas zu bewirken. Mein Leben spielt sich in Paris ab und hier habe ich meine Aufgabe.“ Er machte eine Pause. „Irgendwann möchte ich natürlich meine alte Heimat wiedersehen – vielleicht, wenn ich mich zur Ruhe setze und die Brigade de Sûreté meinem Sohn überlasse.“

„Ich verstehe!“ Julie nickte, während der Gedanke weiter in ihrem Kopf kreiste, ohne dass sie es wagte, ihn auszusprechen. Erst einmal musste sie in Ruhe darüber schlafen. Schließlich hatte sie den Mann gerade erst kennengelernt.

„Das Amulett da um ihrem Hals“, wollte Valcourt wissen. „Woher haben Sie das? Ist es aus Guadeloupe?“

„Vermutlich kommt es von dort. Eine Wahrsagerin gab es mir in Le Havre, als ich ihr sagte, dass ich das Schiff nach Guadeloupe nehmen würde“, sagte Julie.

„Ein ungewöhnliches Stück. Diese Art befindet sich normalerweise nur im Besitz von Schamanen. In meiner früheren Heimat sagte man, so etwas zu tragen sei für Laien nicht ganz ungefährlich.“

„Und warum?“, fragte Julie beunruhigt und tastete nach dem unebenen Holz.

„Weil nur der richtig damit umgehen kann, der die nötigen Zaubersprüche und Rituale kennt. Die Symbole darauf, die eine eigene Sprache haben und sich verändern können, sind nicht so einfach zu deuten.“

„Woher wissen Sie das alles?“, Julie sah ihn fragend an.

„Oh, meine Mutter war zwar Sklavin, aber sie verstand viel von Medizin und den Voodoo-Künsten. Viele Schamanen sind der Meinung, dass ein Amulett seinem Träger je nach Laune der Götter oder der Loas wie man sie bei uns nennt, Glück oder auch Unglück bringen kann. Bei Gefahr betet man zu ihnen, opfert ihnen, um sie zu besänftigen und dazu zu bringen, Wünsche zu erfüllen.“

„Das hört sich alles sehr geheimnisvoll an. Vielleicht erzählen Sie mir ein anderes Mal mehr darüber.“ Julie fühlte sich auf einmal sehr müde und ein wenig unbehaglich. Sie überreichte Valcourt den geforderten Betrag.

„Dann kommen Sie doch einmal in mein Büro in der Rue Pajol“, schlug er vor. „Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, welch magische Kräfte in Ihrem Amulett stecken.“

„Vielleicht doch, es gab da einige Dinge…“ Julie verstummte, ein Gähnen unterdrückend.

„Ich sehe, Sie sind müde und ich werde mich jetzt besser verabschieden.“ Valcourt erhob sich. „Außerdem warten meine Leute auf mich. Es gibt in dieser Nacht sicher noch viel zu tun. Es hat mich gefreut, Sie kennengelernt zu haben.“ Er verbeugte sich höflich. „Auf ein baldiges Wiedersehen, Madame.“

„Mademoiselle“, verbesserte ihn Julie und geleitete ihn zur Tür. „Mademoiselle Julie de Percault.“ Sie hielt kurz inne. „Eine Frage noch, Monsieur Valcourt. Wenn ich einen ungewöhnlichen Auftrag auf Guadeloupe für Sie hätte? Zum Beispiel in einem Kriminalfall zu recherchieren? Würden Sie ihn annehmen und einige Zeit auf der Insel verbringen?“

„Das käme darauf an, um was es sich handelte und wie dieser Auftrag bezahlt wäre“, wich Valcourt aus. „Und was mein Sohn dazu sagen würde, der in meiner Abwesenheit die Geschäfte hier in Paris übernehmen müsste. Vielleicht sollten wir einmal in Ruhe über dieses Thema reden.“ Er überreichte Julie seine Visitenkarte. „Brigade de Sûreté, offizielles Sicherheitskommando von Paris. Mein Detektivbüro ist in der Rue Pajol Nummer 12.“

„Eine letzte Frage.“ Julie zögerte. „Ich lebe mit meiner kranken Mutter allein in diesem Haus. Könnten Sie es in Zukunft auch von Ihrer … Brigade überwachen lassen?“

„Selbstverständlich.“ Valcourt verbeugte sich. „Ich werde alles in die Wege leiten und Sie dann darüber informieren.“

Julie sah ihm nach, wie er mit elastischen Schritten in seinen Wagen stieg, der rasch davonrollte. Erst jetzt spürte sie die Schrammen und Kratzer an ihrem Arm wieder, den scharfen Schmerz am Rippenbogen. Sie zog sich langsam aus, versorgte ihre Verletzungen mit einer Salbe, die sie im Medizinschränkchen fand und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Sie sah nach ihrer Mutter, die ein Schlafmittel bekommen hatte und ruhig im Bett lag, hüllte sich in eine Decke und setzte sich im Salon vor das bereits erloschene Kaminfeuer.

Dann ließ sie den Abend noch einmal Revue passieren. Nur der Kerzenleuchter erhellte noch matt das Zimmer. Der Überfall der Banditen und die Rettung durch Valcourt mit seiner Sicherheitsbrigade hatten sie tief erschüttert. Viel zu aufgewühlt, um ins Bett zu gehen, entstand nach und nach ein Plan in ihrem Kopf. Sollte sie Valcourt wirklich damit beauftragen, nach Guadeloupe zu fahren, um im Fall ihres Vaters und Bruders zu ermitteln? Er war dort geboren, er kannte sich aus und sie hielt ihn dieser Aufgabe für fähig. Aber konnte sie ihm vertrauen? Sie war sich fast sicher, dass er lächelnd ablehnen oder aber eine astronomisch hohe Summe fordern würde, die sie niemals aufbringen konnte.

Sie tastete nach ihrem Amulett, dem Valcourt so viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte, nahm es ab und betrachtete wie schon so oft die rätselhaften Symbole, die ihr nichts sagten. Warm lag es in ihrer Hand und die Steine leuchteten geheimnisvoll im Halbdunkel. Sie beschloss, ihn gleich morgen in der Rue Pajol aufzusuchen.

***

Einige Tage vergingen und Julie verschob den Besuch im Detektivbüro von Pierre Valcourt immer wieder. Der Entschluss, den sie in der Nacht des Überfalls gefasst hatte, schien ihr im nüchternen Licht des Tages unsinnig. Außerdem nahm die Pflege der Mutter und das Schreiben für die Revue des deux Mondes sie so in Anspruch, dass sie für nichts anderes mehr Zeit hatte.

Inzwischen schien jeder in Paris den Namen Jules Potin zu kennen, aber niemand wusste, wer sich dahinter verbarg. Manche vermuteten hinter dem Pseudonym einen bekannten Pariser Autor und wieder andere sprachen von einem aufstrebenden, jungen Talent. Doch kaum jemand dachte an eine Frau. Die Folgen von „Unter der brennenden Sonne der Sklaveninsel“ wurde mit Begeisterung gelesen und die Plantage „Jardin de fleurs“ war in aller Munde. Man verachtete den brutalen Aufseher, den Julie Monsieur Jackson genannt hatte, bemitleidete die armen Sklaven, die für ihn schufteten und nur Schläge erhielten. Jeder war begierig, etwas über die heilenden Kräfte der Schamanen, über die Voodoo-Religion einer fremden Kultur zu erfahren und man nahm großen Anteil an der Heldin Louise, dem plötzlichen Verschwinden ihres Vaters und der gefährlichen Suche ihres fiktiven Bruders Paul nach ihm.

Ohne dass Julie es geplant hätte, war sie zu einer Zeitungsschreiberin geworden, einer Literatin, auf deren Romanfortsetzungen mittlerweile andere Verleger und Literaturgrößen von Paris aufmerksam wurden. André glänzte in seiner neuen Rolle als Agent und Mittelsmann und war glücklich über seine Beteiligung an den Erträgen. Pünktlich lieferte er jede Woche einen neuen Abschnitt von Jules Potin bei der Zeitung ab, der in kurzen Abschnitten in den Ausgaben des Feuilletons erschien.

Julie schrieb gerade eifrig an einem neuen Teil, als André ziemlich aufgeregt und ohne anzuklopfen eintrat. Er räusperte sich und Julie sah auf.

„Der Chefredakteur will Sie dringend sprechen!“, sagte er, rot im Gesicht und ein wenig atemlos. „Wenn ich es richtig verstanden habe, möchte er sich die Rechte an der Verlegung Ihres Romans als Buch sichern. Und er will eine Pressekonferenz für Jules Potin arrangieren.“

Julie sah auf und runzelte die Stirn. „Eine Pressekonferenz kommt gar nicht infrage. Dann müsste ich ja mein Pseudonym enthüllen. Und die Verhandlungen mit dem Chefredakteur über ein Buch überlasse ich getrost Ihnen.“

„Etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht“, gestand André. „Und ich danke Ihnen vielmals für Ihr Vertrauen. Ich werde die Konferenz absagen – mit dem Argument, dass Jules Potin lieber im Verborgenen bleiben möchte.“ Er wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. „Der Chefredakteur sagte, es wäre unglaublich, wie der Absatz der Zeitung gestiegen sei. Die Leute wollen unbedingt wissen, wie die Geschichte auf Guadeloupe weitergeht und ob man Louises Vater finden wird! Haben Sie den neuen Artikel schon fertig? Wenn Sie wollen, bringe ich ihn gleich zur Zeitung, bevor sie schließen. Es kam heute schon eine eilige Anfrage des Journals. Man drängt auf neuen Stoff, weil die Leser wohl ungeduldig darauf warten. Der Redakteur sagte, es gäbe viele Kritiken, gute und schlechte, aber Letztere wären immer die gleichen Neider, die überall ein Haar in der Suppe finden.“ Er kramte in seiner Tasche. „Bevor ich es vergesse.“ Er überreichte ihr einen Umschlag. „Das hat gerade ein Diener in die Redaktion gebracht. Ich soll es Ihnen nur persönlich aushändigen.“

Julie riss den Umschlag mit dem hübschen Wappen auf: Madame Georges Sand gibt sich die Ehre, Monsieur Jules Potin am Samstag zu einer literarischen Soirée einzuladen. Wir diskutieren diesmal über das Thema „Literatur zur Sklavenhaltung in der Karibik und den afrikanischen Ländern“, las sie ein wenig verwundert.

Georges Sand, die berühmteste Schriftstellerin in Paris, die außerdem mit dem ein wenig schwierigen, aber sehr gefragten Pianisten Chopin zusammenlebte, lud sie ein! Ihr erster Gedanke flog zu Charles! Wie gerne hätte er Chopin wohl kennengelernt, etwas über seine Technik, seine Kompositionen erfahren! Aber vielleicht konnte sie ja bei der Gelegenheit von ihm Tipps erhalten, die einem jungen, noch unbekannten Pianisten von Nutzen wären. Was für eine unglaubliche Gelegenheit, die sich ihr da bot!

Doch dann flog ein Schatten über ihr Gesicht und sie legte die goldgedruckte Einladung auf bestem Büttenpapier seufzend beiseite. „Zu schade, dass ich da nicht hingehen kann“, sagte sie betrübt. „Die erwarten Jules Potin, einen Mann! Damit wäre ja mein Pseudonym gelüftet.“

André dachte einen kurzen Moment nach. „Sie würden aber gerne gehen?“, fragte er dann.

„Ja sehr gerne! Aber das ist leider ganz unmöglich!“

„Warum? Halten Sie mich bitte nicht für unverschämt, Mademoiselle Julie. Aber wenn Sie eine Perücke trügen und Hosen anziehen, würde keiner merken, dass Sie eine Frau sind. Ich … kann Ihnen gerne ein paar Sachen leihen!“

„André!“ Julie lachte kurz auf. „Perücke und Männerkleider! Das nähme mir doch keiner ab. Da mache ich mich nur lächerlich! Ich kann da nicht hingehen.“

„Warum nicht?“, beharrte André. „Sie sollten es wagen. Dort werden Sie die berühmtesten Schriftsteller von Paris treffen. Und Georges Sand ist auch ein männliches Pseudonym. In Wirklichkeit heißt die Dame Amantine Aurore Lucile Dupin du Francueil, das habe ich herausgefunden. Und sie trägt Männerkleidung, ohne sich zu genieren. Das könnten Sie doch auch! Es wäre wirklich eine einmalige Chance. Probieren Sie es doch einfach mal vor dem Spiegel aus. Ich helfe Ihnen, wenn Sie möchten.“

„Meinen Sie wirklich?“ Julie sah ihn unsicher an. „Stimmt, George Sand ist eine Frau. Und dafür bekannt, dass sie Hosen trägt, Zigarren raucht und unter einem männlichen Pseudonym schreibt.“

André nickte ihr ermunternd zu. „Aber jetzt geben Sie mir bitte Ihren neuen Artikel.“

Julie besann sich, dann sah sie auf das eng beschriebene Blatt Papier, das vor ihr lag. „Warten Sie noch einen Moment, ich werde ihn so schnell es geht beenden.“ Sie nahm mit zitternden Händen die Feder und tauchte sie in die Tinte. „Entschuldigen Sie, aber ich bin gerade etwas nervös. Es fehlen wirklich nur noch ein paar Sätze.“

Etwas unbeholfen nahm André auf dem Klavierschemel Platz und wartete geduldig darauf, dass Julie, die fieberhaft weiterschrieb, ihm den fertigen Text überreichen würde. Der Erfolg von Julies Roman, den sie in der Ich-Form schrieb, war schwer zu erklären. Aber das Problem der Sklavenhaltung brannte den Franzosen auf den Nägeln. Leidenschaftliche Befürworter stritten in der Assemblée Nationale mit den Gegnern des Sklavenhandels.

Nicht alle hatten sich in den Kolonien persönlich von der Situation überzeugen können und so kursierten viele falsche Tatsachen und Gerüchte. Julie rückte vieles in ihrer einfachen Sprache gerade und stellte ihre eigenen Beobachtungen, die sie romanhaft ausschmückte, in den Fokus. Alles basierte eigentlich auf den Tagebuchaufzeichnungen, die sie für ihren Verlobten Marcel geschrieben und später fortgesetzt hatte, weil sie sie von ihrem Kummer und ihrer unglücklichen Liebe zu Charles ablenkten.

Dass sie mit ihrem Roman über die Zustände auf den Kolonien in ein Wespennest stechen und in Paris heiße Diskussionen darüber in Gang setzen würde, hatte sie nicht ahnen können. Und jetzt war ihr Roman eine Bestätigung für die zahlreichen Gegner der Sklavenhaltung, die darum kämpften, endlich ein Gesetz gegen die unmenschliche Behandlung, die Verfolgung und den Kauf gefangener, afrikanischer Sklaven durchzusetzen und diese nicht länger als Ware zu behandeln.

Julie hatte den Artikel beendet und überreichte ihn André. „Danke, André, dass Sie mir helfen und in allen Schwierigkeiten zu mir halten! Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie tun sollte.“

André schoss vor Verlegenheit das Blut ins Gesicht. „Sie wissen doch, dass ich immer für Sie da bin“, murmelte er. „Ich wäre ja ein Unmensch, wenn ich Sie und Ihre Mutter ganz allein lassen würde! Nach allem was geschehen ist und was wir zusammen erlebt haben.“

Julie lächelte ihn an. „Ja, André, das weiß ich sehr zu schätzen. Aber jetzt gehen Sie schnell und bringen die neue Folge zur Revue des deux Mondes! Und bitte besorgen Sie mir eine Perücke! Und Männerkleidung.“

„Gerne, Mademoiselle Julie.“ André grinste verschwörerisch und war im nächsten Moment aus der Tür.

Der Ruf der magischen Insel

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