Читать книгу Der Ruf der magischen Insel - Nora Berger - Страница 8

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Kapitel 2

Auf der isolierten Leprosenstation der Insel La Désirade, auf die Kapitän Rico Sauvage Gabriel und Tom gebracht hatte, weil im Bereich des unterhalb liegenden, alten Gefängnisses kein Platz mehr war, verlief das Leben im immer gleichen Rhythmus. Die beiden Gefangenen verbrachten die Nächte in einem abgesperrten Raum des Hauptgebäudes, dessen Nebentrakt als Hospital diente. Tagsüber konnten sie sich dank Pater Daniel nach einer gewissen Prüfungszeit frei bewegen und sich unter Bewachung bei verschiedenen Arbeiten nützlich machen. Eine Flucht vom steilen Tafelberg über die rau zerklüfteten Felsen, die steil ins Meer abfielen, das unten hoch aufschäumend gegen die Klippen schlug, schien völlig unmöglich. Das Gelände war zusätzlich noch mit einem mannshohen Eisengeflecht versehen.

An den abschreckenden Anblick der Leprakranken, denen Mund und Nase fehlten und bei denen sich andere Extremitäten des Körpers förmlich zersetzten, hatten sie sich mittlerweile gewöhnt. Es waren eher scheue Menschen, die ihre Krankheit als eine Strafe der Götter ansahen und die sich als Aussätzige fühlten. Pater Daniel, der hier als Arzt und Geistlicher tätig war, hatte einige von ihnen bereits zum christlichen Glauben bekehrt und sie getauft.

Auch Gabriel und Tom nahmen regelmäßig an der Messe teil. Pater Daniel war ein gutmütiger Mensch mit rundem Gesicht, Backenbart und untersetztem Körperbau. Er war nicht nur Priester, sondern auch Arzt. In seiner abgenutzten, mit einer Kapuze versehenen Soutane aus beigem Leinen arbeitete er unermüdlich im Hospital. Er ließ seinen neuen Gefangenen, die ihm wenig gefährlich schienen, tagsüber immer mehr Freiheiten. Aber er erfüllte auch gewissenhaft seine Pflicht, die ihm anvertrauten Gefangenen vom Abend bis zum Morgen in einen stickigen, mit einer Eisentür versehenen Raum zu sperren, wo sie in einfachen Etagenbetten Schlaf zu finden versuchten.

Außer ihm und den hilfreichen Schwestern befanden sich noch drei weitere Mönche des Lazarus-Ordens ständig auf der Insel: Bruder Jacob, Bruder Benedict, Bruder Eusebius, Bruder Martin und Bruder Gregorius, einfache Mönche mittleren Alters. Sie alle hatten das Gelübde abgelegt, in friedlichem Miteinander ihren Dienst an Christus und damit an den Leprakranken zu erfüllen.

Insgesamt gesehen hatte das Leben auf dem Hochplateau der Insel La Désirade etwas von einer Dorfgemeinschaft. Es gab eine Kirche, ein Hospital, in dem die schweren Fälle behandelt wurden, die von den freiwilligen Schwestern betreut wurden. Die Kranken, bei denen der Verlauf der Lepra langsam vor sich ging und denen man oft die Krankheit noch gar nicht ansah, lebten im hinteren Bereich in separaten Hütten aus Holz und Lehm, die sie selbst errichten mussten. Die Dächer waren aus einer Art Sisalgeflecht hergestellt, einer Agavenpflanze, die sie anbauten und die im warm-feuchten Klima der Kalkfelsen, die nur mit einer dünnen Humusschicht bedeckt waren, gedieh. Diese Menschen, noch im Anfangsstadium der entsetzlichen Krankheit, führten ein beinahe normales Leben, kochten, bauten etwas Gemüse an und versuchten, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Weil sie sich nicht anstecken wollten, wagten sich Gabriel und Tom anfangs nicht in das kleine Dorf und zu den Hütten. Doch allmählich verloren sie ihre Furcht – es schien ja auch gleichgültig, ob sie an der Lepra starben, oder als Gefangene auf der Insel alt wurden.

Tom litt am meisten unter der Isolation, der Eintönigkeit einer Lebensgemeinschaft todgeweihter Kranker. Sein unerschütterlicher Optimismus wurde nach und nach zu einer dumpfen Schwermut, weil er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, auf welche Weise sie diese Insel im Leben noch einmal verlassen sollten. Gabriel dagegen ließ sich nicht entmutigen, er schmiedete ständig neue Fluchtpläne, auch wenn es unmöglich schien, aus dieser vom Meer umgebenen Einöde mit den kahlen, steilen Kalkfelsen zu entkommen.

Gleich unten, neben der Steilküste, lag das alte heruntergekommene Gefängnis, in das aufständische Franzosen gebracht wurden, die nach einer Weile dem Vergessen anheimfielen. Es wurde von einem versoffenen Kommandanten, den die beiden schon kennengelernt hatten, und einigen Soldaten bewacht. Gabriels Gehirn arbeitete unablässig an einer Möglichkeit zum Entkommen. Am Anfang hatte es seine Aufmerksamkeit erregt, dass die Toten, da man sie schlecht auf dem Felsengelände beerdigen konnte, in einen Sack genäht und durch eine Klappe einfach ins Meer geworfen wurden. Aber wie sollte man sich anstelle einer Leiche in diesen Sack schmuggeln? Den Sturz von oben würde sowieso niemand überleben, denn die Felsen waren scharfkantig und auch unten im Meer lauerten Klippen, auf die man bei der großen Höhe aufschlagen konnte. Hinunterklettern schien auch so gut wie unmöglich, außerdem war die Klappe immer versperrt. Selbst wenn es gelingen sollte, den Schlüssel an sich zu bringen, war das gefährliche Gelände zu steil und die Felsen an manchen Stellen tückisch, weil sie entweder zu spitz oder zu glatt waren, um Halt zu bieten.

Nach solchen Erwägungen übermannte auch Gabriel manchmal die Verzweiflung. Doch sein Überlebenswille gewann meist schnell wieder die Oberhand. Irgendwie würde es eines Tages doch klappen. Man musste einfach abwarten.

***

Von Zeit zu Zeit wurden die Schwestern auf La Désirade abgelöst und es kamen neue freiwillige christliche Pflegerinnen des Lazarus Ordens aus Frankreich, die Bonnes Soeurs et Fréres. Das geschah allerdings unter streng geregelten Bedingungen. Man sperrte Gabriel und Tom an diesen Tagen in das Gelass, in dem sie üblicherweise nur die Nacht verbrachten. Neugierig spähten sie durch das vergitterte kleine Fenster, das in die dicken Mauern eingelassen war, um die Neuankömmlinge, die einen solch opfervollen Dienst taten, zu beobachten.

Tom war es nicht entgangen, dass diesmal eine junge, blonde Schwester unter ihnen war, die sein Interesse weckte; ein feingliedriges Wesen mit hübschen, regelmäßigen Zügen, das sich von seinen robusteren Kolleginnen angenehm abhob. Ihr Name war Schwester Adela und Tom konnte nicht aufhören, sie anzusehen, wenn sie in seiner Nähe auftauchte. Ihm schien, als würde sie es bemerken und erröten, doch er wagte nicht, sie anzusprechen. Der einstige Schiffsjunge Tom hatte sich von einem mageren, hochaufgeschossenen und kindlichen Burschen zu einem stattlichen und gutaussehenden jungen Mann gewandelt. Sein wild gelocktes, dunkles Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, und die Arbeit an den Hütten mit ihren Strohdächern, die er mit nacktem Oberkörper ausführte, hatte seine Muskeln und seinen Oberkörper gekräftigt.

Irgendwann fasste er sich ein Herz und fragte Schwester Adela mit scheuer Verlegenheit, aus welchem Gebiet Frankreichs man sie hierhergeschickt habe. Mit niedergeschlagenen Augen antwortete sie, sie käme aus dem Kloster der „Filles de la Croix“ in Paris. Tom sagte der Orden der „Filles de la Croix“ nicht das Geringste, und als er nachfragte, erklärte sie ihm, er sei eine mit dem Lazarus Orden verbundene, dominikanische Gemeinschaft der Nonnen, die sich nach den Wirren der Französischen Revolution wieder neu in Paris gruppiert hätten.

Nach diesen Worten verschwand sie eilig wieder im Trakt des Hospitals, um ihrer Pflicht nachzugehen. Tom sah ihrer schmalen Gestalt lange nach. Ihm schien als hätte er noch nie so seelenvolle helle Augen gesehen, eine so weiße Stirn, auf die sich aus der Haube kleine Löckchen gestohlen hatten, einen so zart geschwungenen Mund, der weiße, regelmäßige Zähne sehen ließ, wenn sie sprach.

Gabriel hatte die kleine Szene wohl bemerkt. Er beschloss, Tom irgendwann einmal darauf anzusprechen und ihm zu erklären, dass er sich keine Hoffnungen machen solle. Nonnen wie sie hatten sich ganz Gott geweiht und durften keinen Mann ansehen. Doch er schob diese Aussprache immer wieder hinaus, wenn er sah, wie Tom durch Schwester Adela aus seiner Lethargie erwachte. Er sah die Flamme, die in seinen Augen glühte, wenn Adela in der Nähe war. Ihretwegen wagte Tom sich sogar ins Hospital, um dort Arbeiten zu verrichten, vor denen er sich bislang gescheut hatte. Auch Pater Daniel entging Toms Interesse nicht. Er schien etwas zu ahnen und beauftragte Tom und Gabriel mit der Errichtung neuer Hütten am Rande des Lepra-Dorfes.

Ein einziges Mal nur hatte Gabriel versucht, Pater Daniel davon zu überzeugen, dass er und Tom unschuldig waren. Ihm Geld zur Unterstützung und Errichtung neuer, komfortablerer Gebäude auf der Insel anzubieten, wenn er sie freiließe. Doch der Pater, pflichtbewusst wie er war, hatte ihn nur lächelnd angesehen und den Kopf geschüttelt. Er wusste zwar nicht, was die beiden genau getan hatten, aber er glaubte an die Obrigkeit und war der Meinung, dass ein Verbrecher sich gottgefällig zeigen und für seine Straftat büßen müsse.

Um nicht allzu viel über ihre verfahrene Situation nachdenken zu müssen, stürzten Gabriel und Tom sich in die Arbeit, die Errichtung weiterer Unterkünfte, die für neu angekommene Leprakranke geschaffen werden sollten. Das Holz auf dem Tafelberg war rar. Man musste das Wenige mühsam zusammenklauben, es aneinander nageln und mit Lehm vermischen, um damit Bauteile zu konstruieren, die auf simple Art zusammengesetzt wurden. Es war eine mühselige Arbeit, die nur noch vom Binden der in der Sonne getrockneten Agavenpflanzen für die Dächer der Hütten übertroffen wurde. Die scharfen Stränge der Pflanze schnitten in die Hände, wenn man sie ernten und danach mit Hilfe von Wasser in die gewünschte Form bringen wollte. Aber Gabriel und Tom war es lieber, in der heißen Sonne zu arbeiten, als trübsinnig im Schatten auf das die Augen blendende Blau des Meeres zu starren und auf die in nicht allzu großer Ferne liegende Küste, deren nebelhafte Umrisse man vom einem bestimmten Punkt aus erkennen konnte.

Die beiden Gefangenen sprachen wenig, während ihnen vor Anstrengung der Schweiß den Rücken hinunterlief. Doch plötzlich ließ Tom das Gewerke, das er in Händen hielt, fallen, stieß einen Schrei aus, sprang auf und fasste sich an die Stirn. Gabriel sah ihn erstaunt an. Hatte Tom jetzt den Verstand verloren? Doch dieser wirbelte lachend einen Strunk der eingeweichten Pflanze um seine Taille. „Sehen Sie das, Patron?“

Gabriel runzelte die Stirn. „Ein Stück Sisal. Na und?“

„Das ist unsere Rettung!“, rief Tom freudig erregt aus. Er sah sich nach allen Seiten um und dämpfte seine Stimme. „Ein Seil. Das Material ist unglaublich zäh, aber mit Wasser wird es geschmeidig! Wir könnten ein Seil daraus flechten! Müssten täglich nur ein Stück an das andere knüpfen und irgendwann wäre es lang genug, um…“

Gabriel schüttelte den Kopf. „Tom! Nimm Vernunft an! Wie soll das gehen, bei einer Länge von mindestens dreihundert Metern? Das schaffen wir nie – unbemerkt von unseren Bewachern! Und würde das Material überhaupt halten? Du denkst doch nicht wirklich, dass wir uns damit bis ans Meer abseilen könnten?“

„Wieso nicht?“ Toms Augen leuchteten in dem früheren, optimistischen Glanz, den Gabriel schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte. „Und wenn es Jahre dauern sollte! Wir werden jeden Tag ein Stück daransetzen und dann, wenn es lang genug ist, befestigen wir es oben und lassen uns mit seiner Hilfe Stück für Stück die Felsen hinunter.“

„Und wenn es sich als zu kurz erweist? Was dann?“ Gabriel sah ihn fragend an, bevor er die Antwort selbst gab. „Dann stürzen wir in die Tiefe, in den Tod, ins Meer!“

„Das wird nicht geschehen, Patron! Es kann gehen – es muss gehen, egal, wie lange es dauern wird. Wir werden das Seil jeden Tag um weitere Meter verlängern. Dann brauchen wir nur noch den Zugang durch die Klappe, durch die die Leichen geworfen werden. Wir machen das Seil dort fest…“

„Hör auf, Tom! Wann sollten wir an dem Seil arbeiten? Wo es lagern? Schau dir mal Schwester Eutymea an, die dort drüben im Schatten sitzt. Sie beobachtet uns die ganze Zeit. Und Pater Daniel ist auch nicht gerade dumm. Er hat die Verantwortung für uns und trägt den Schlüssel für die Leichenklappe mit allen anderen an seinem Gürtel. Der Schlüssel ist unerreichbar für uns. Ich habe ihn bei meiner wöchentlichen Beichte niemals davon überzeugen können, dass man uns hier unschuldig gefangen hält.“

„Wir könnten ihm den Schlüssel stehlen oder durch einen falschen austauschen!“

Gabriel schüttelte den Kopf. „Als wenn das so einfach wäre. Hast du eigentlich mal daran gedacht, was passiert, wenn dieses brüchige Seil reißt? Wenn es uns nicht trägt?“

„Mir ist es lieber, kopfüber ins Meer zu stürzen, als hier lebendig begraben zu sein“, gab Tom mürrisch zurück. „Wir müssen nur sorgfältig genug arbeiten. Jedes Stück mit Wasser anfeuchten, es kneten, damit es geschmeidiger wird und es dann so fest wie möglich flechten. Vielleicht finden wir auch etwas Baumharz, damit wir die Ansatzstücke noch fester verkleben können. Warum sollten wir es nicht einfach versuchen?“ Das Blut stieg ihm ins Gesicht und er sprang auf. „Ich will weg aus dieser Einöde, von der Insel der Verdammten, der Leprakranken! Mein ganzes Leben liegt noch vor mir! Ich halte es einfach nicht länger aus, nur von Todgeweihten umgeben zu sein!“

„Leise!“ Gabriel sah zu Schwester Eutymea hinüber, die in ihrem strengen, weißen Kleid mit der dunklen Haube unter einem aufgespannten Tuch saß, das sie gegen die Sonne schützte und mit ernster Miene an einer Näharbeit stichelte. Ab und zu ließ sie ihre wachsamen Blicke über die Gefangenen schweifen.

„Ich verstehe dich ja, Tom!“, fuhr Gabriel mit gedämpfter Stimme fort. „Aber es wird ewig dauern, bis so ein Seil lang genug ist, das sage ich dir schon jetzt.“

„Na und?“, stieß Tom unbeherrscht hervor. „Eines Tages wird es soweit sein. Das gibt Hoffnung.“

„Jetzt halt endlich den Mund!“, fuhr Gabriel ihn an. „Kapier doch endlich, dass wir kein Aufsehen erregen dürfen! Sonst scheitert der Plan schon im Vorfeld.“

Tom verzog das Gesicht und machte sich wieder an die Arbeit. „Diese vertrocknete Ziege! Die mag mich sowieso nicht und ich sie auch nicht. Die niederen Arbeiten lässt sie immer von den jüngeren Schwestern verrichten. Ich habe noch nie gesehen, dass sie einen Kranken mit offenen Wunden verbunden hat.“

„Deshalb müssen wir uns vor ihr ganz besonders in Acht nehmen“, warnte Gabriel erneut.

„Ich wüsste jemanden, der sanfter und uns viel gewogener wäre… “ Tom grinste geheimnisvoll.

Gabriel schüttelte den Kopf. Er wusste, worauf der Junge anspielte. „Mach dir nur keine falschen Hoffnungen, mein Lieber! Eine Nonne ist ausschließlich mit Jesus verheiratet.“

„Vielleicht muss man es darauf ankommen lassen, Patron“, flüsterte Tom mit träumerischem Blick.

„Sei still! Du redest uns noch um Kopf und Kragen.“ Gabriel warf einen erneuten Blick zu Euthymea hinüber. Man konnte nicht wissen, was sie sah und hörte.

„Die falsche Schlange. Sie mag uns nicht“, murmelte Tom „Wie sie uns ansieht. Als wären wir die schlimmsten Verbrecher.“

„So schlecht kann sie doch nicht sein. Immerhin hat sie sich freiwillig für ihren Dienst auf der Leprainsel entschieden“, gab Gabriel im Flüsterton zurück, während er ein Stück trockenes Holz mit einer Säge bearbeitete.

„Ach was, hinter ihrem Rücken sagt man, sie wäre nur hier, weil sie vor vielen Jahren von ihrem Verlobten verlassen wurde. Wahrscheinlich hasst sie alle Männer und damit auch uns.“

„Du hörst mal wieder die Flöhe husten, Tom. Aber mir ist gleichgültig, was sie von uns denkt“, sagte Gabriel, der sich langsam für die Fluchtidee zu erwärmen begann. „Halten wir mal fest: Wir werden versuchen, täglich ein paar Bündel der zusammengedrehten Fasern dieser Pflanze an eine bestimmte Stelle zu bringen, wo wir sie unauffällig bearbeiten können.“

Tom nickte. „Und wo sollen wir die Teile des Seils dann verstecken?“ Er ließ seine Blicke über die karge Landschaft schweifen. Es war in der Tat nicht so einfach, dafür ein Plätzchen zu finden. Das Gelände war abgeschirmt und ziemlich übersichtlich.

„Das ist dein Problem“, sagte Gabriel und legte die Säge beiseite. „Es war ganz allein deine Idee.“ Er nahm das gesammelte und zugeschnittene Holz und machte sich auf den Weg zu den neu zu erbauenden Hütten, die ein wenig außerhalb lagen.

Tom folgte ihm mit einem Armvoll Strünke der Agavenpflanze. Überrascht raffte Schwester Eutymea rasch ihre Handarbeit und das schützende Sonnensegel zusammen und eilte ihnen, so schnell es der Weg über die Felsen erlaubte, nach.

Kaum war der Plan mit dem Seil geboren, machte sich Tom schon mit Feuereifer an die Umsetzung. Während Gabriel Holz sammelte und sich weiter mit dem Hüttenbau beschäftigte, ging Tom seiner Aufgabe nach, die Dächer zu decken, die er zum Schutz gegen Wind und Regen mit der zu Bündeln gefassten, strohartigen Faser der Agave versah. Einen Teil des Materials schaffte er ab jetzt heimlich beiseite. Er sammelte die Strünke in einem Loch in einer Felsspalte, die er mit einem Stein verschloss. Unermüdlich flocht, drehte und wand er in unbeobachteten Momenten unter Einsatz von Wasser die strohigen und widerspenstigen Fasern zu einem stabilen Strick, den er nach dem Trocknen locker zusammenrollte, in die breite Felsspalte schob und den Stein davor rollte. Langsam, aber sicher wuchs der Strick weiter, jeden Tag kam ein gutes Stück Länge hinzu.

Alles ging gut, nur Toms Hände wurden von der Arbeit ganz rissig und wund. Er nutzte die Gelegenheit, um sich von der sanften und ahnungslosen Schwester Adela Salbe zu holen und gleichzeitig ein paar Worte mit ihr zu plaudern. Die hübsche Schwester ging ihm nicht mehr aus dem Sinn und der Gedanke betrübte ihn, dass er sie im Falle einer Flucht niemals wiedersehen würde.

Gabriel versuchte, Toms Beschäftigung mit dem Seil zu decken und gleichzeitig seine eigene Arbeit so zu machen, dass niemand Verdacht schöpfte. Die Leprösen waren zu sehr mit sich selbst, ihrer Krankheit, dem täglichen Leben, etlichen Handwerkertätigkeiten und ihrem Gemüseanbau in ihren bescheidenen Gärtchen beschäftigt, als dass sie sich noch um etwas anderes hätten kümmern können. Die christlichen Brüder, einschließlich Pater Daniel, hatten alle Hände voll im Hospital zu tun, und Schwester Eumythea hatte zum Glück noch keinen Verdacht geschöpft. Je länger das Seils wurde, umso stärker wurde in Gabriel und Tom die Hoffnung, dass das kühne Vorhaben eines Tages doch gelingen könnte. Wie sie allerdings an den Schlüssel für die Leichenklappe kommen sollten, war ihnen bisher noch schleierhaft. Pater Daniel trug ihn sichtbar am Gürtel seiner Kutte, die er nur zum Schlafen ablegte.

Eines Tages begegnete Tom unvermutet Schwester Adela, die mit einem Tablett, beladen mit Verbandszeug, Salben und Fläschchen mit Ölen vom Hüttendorf zurückkehrte. Adela errötete, senkte den Kopf und wollte vorübergehen.

„Kommen Sie Schwester, das ist doch viel zu schwer für Sie!“, sagte er schnell. Schon hatte er das Fasernbündel, das er auf dem Arm trug, zu Boden geworfen und nahm ihr trotz ihres Protestes das schwere Tablett ab.

„Danke“, sagte sie verlegen, ihn mit einem scheuen Blick aus ihren großen graublauen Augen streifend. „Das ist sehr freundlich von Ihnen.“

„Nicht der Rede wert.“ Tom lächelte sie an, während seine Augen Funken sprühten. „Ich … ich wollte Sie schon lange einmal etwas fragen…“

„Ja?“, sagte Adela und senkte die Augen. „Sprechen Sie nur.“

Tom wusste nicht recht, wie er beginnen sollte. „Ich hoffe, meine Frage beleidigt Sie nicht, aber wieso wird ein so hübsches und zartes Mädchen wie Sie Nonne? Und nimmt auf dieser einsamen Insel einen so anstrengenden und nicht ungefährlichen Dienst auf sich?“

„Oh!“, Adelas Wangen färbten sich purpurrot. „Wenn man Jesus dienen will, sollte es ganz selbstverständlich sein, dass man sich der Ärmsten der Armen annimmt. Ich habe mich dazu berufen gefühlt, das Schwerste zu wählen und die Lepra-Kranken zu pflegen. Es war ganz allein meine Entscheidung, Nonne zu werden.“

„Das ist wirklich großartig“, stammelte Tom. „Ich bewundere Ihren Mut.“

Adela nickte, sah sich um und fuhr mit leiser Stimme fort. „Ich muss gestehen, dass mir das einfache Klosterleben zu eintönig war. Ich wollte mehr tun. Hier kann ich wirklich helfen, etwas bewirken. Pater Daniel ist ein leuchtendes Beispiel für mich.“

Tom nickte gedankenvoll, während sie ein Stück schweigend nebeneinander hergingen. „Und was sagt Ihre Familie dazu?“

Adela schüttelte den Kopf. „Nichts! Ich habe keine Familie. Meine Eltern waren Bauern. Sie sind früh gestorben und dann musste ich mit meinem Bruder Louis in ein Waisenhaus. Leider kam Louis auf die falsche Bahn…“ Sie seufzte fast unhörbar. „Er hat sich Menschen angeschlossen, die einen schlechten Einfluss auf ihn haben. Ich konnte ihm nicht helfen.“

„Das hört sich nicht gut an“, erwiderte Tom. „Aber trösten Sie sich, ich kann das verstehen. Ich bin auch eine Waise. Meine Mutter kenne ich nicht – sie hat mich einfach ausgesetzt. Ich war ihr wohl lästig. Im Waisenhaus hat es mir überhaupt nicht gefallen und so bin ich eines Tages einfach abgehauen. Ich musste mich schon sehr früh alleine durchschlagen…“

„Aber warum sind Sie dann … kriminell geworden?“ Adela betonte das Wort und sah ihm neugierig ins Gesicht.

Tom traf dieser Blick mitten ins Herz. „Kriminell? Nein … nein“, stotterte er. „Ich bin nicht kriminell, wenn man von kleinen Diebereien absieht, mit denen ich mich manchmal über Wasser gehalten habe, um essen zu können.

Ich schwöre Ihnen, ich bin völlig unschuldig hier. Genau wie mein Patron. Er ist ein vermögender Mann aus Paris, der auf der Suche nach seinem auf Guadeloupe verschwundenen Vater war. Verbrecher wollten seine ererbte Plantage an sich bringen und haben uns beide gefangen genommen und hierher verschleppt. Diese Männer müssen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden! Aber wie sollen wir die Tat aufklären, wenn wir hier auf dieser Insel sind?“

Schwester Adela machte eine abwehrende Geste. „Nein, schweigen Sie. Jeder Verbrecher behauptet, er sei unschuldig. Ich will das nicht hören!“

Tom sah sie zerknirscht an. „Sie glauben mir nicht, oder? Aber ich schwöre Ihnen beim Herzen Ihres Herrn Jesu, dass ich die Wahrheit spreche. Ich habe nichts Böses getan – genauso wenig wie mein Patron.“

Er sah sie so offen und frei an, dass sich auf Schwester Adelas Gesicht leichte Zweifel malten.

„Ich möchte Ihnen ja gerne glauben…“ Sie blieben stehen und ihre Augen tauchten für eine ganze Weile ineinander, ohne dass sie etwas sagte. Adela spürte auf einmal eine seltsame Verbundenheit mit dem jungen Mann, dessen bernsteinfarbene Augen im Licht der Sonne so eindringlich und ehrlich leuchteten.

Tom versuchte, sein ganzes Herz in seinen Blick zu legen. Er war plötzlich wie berauscht und ihm war, als bliebe die Zeit für einen kurzen Moment stehen. „Schwester Adela!“, stammelte er. „Ich würde Ihnen gerne die ganze Geschichte erzählen, damit Sie mich verstehen und sich selbst ein Urteil bilden können. Mein grausames Schicksal und das meines Patrons, eines wahrhaftigen, edlen Mannes, den ich über alles verehre.“

Adela schüttelte verwirrt den Kopf. „Nein, es tut mir leid. Aber das geht nicht. Das ist gegen die Ordensregel.“ Sie machte ein paar schnelle Schritte voran.

Tom hielt sie mit der freien Hand am Arm fest, während das Tablett bedrohlich schwankte. „Denken Sie darüber nach, was ich Ihnen gesagt habe. Ich spüre, dass Sie ein mitfühlendes Herz haben. Verweilen Sie heute Abend nach der Messe noch eine Weile oben in der Kapelle, um zu beten … bitte!“

„Nein!“ Adela entriss ihm so brüsk das Tablett, dass eines der Tinkturfläschchen hinunterfiel. Ohne es aufzuheben, eilte sie verwirrt und ohne sich noch einmal umzusehen, dem Hospital zu.

Doch Tom lief ihr nach, das Fläschchen in der Hand. „Schwester Adela, bitte warten Sie!“

Der farbige Pförtner am Eingang sah ihn missbilligend an und Tom übergab ihm die Medizin. „Schwester Adela hat wohl nicht gemerkt, dass etwas von ihrem Tablett hinuntergefallen ist“, erklärte er dem Mann.

In diesem Moment kam Pater Daniel die Treppe herunter. Er ging schleppend, und Tom fand, dass er ganz und gar nicht gut aussah, sondern ziemlich übernächtigt wirkte. Seine Augen waren rotgeädert und die Wangen bläulich und wie aufgequollen. „Was machst du hier, Tom?“, fragte er müde. „Hast du keine Arbeit?“

„Doch, doch“, versicherte Tom. „Ich … ich wollte nur fragen, ob man mich vielleicht hier im Hospital brauchen könnte. Sie wissen ja Pater, ich mache jede Arbeit.“

„Mmmh“, murmelte der Pater und sah ihn verwundert an. „Das ist wie ein Wink Gottes. Du kommst mir tatsächlich wie gerufen. Wenn du mir ein wenig im Hospital zur Hand gingst, wäre das sehr hilfreich, denn meine Mitbrüder sind voll beschäftigt. Bruder Eusebius teilt gerade die neu angekommenen Kranken nach Schweregrad ein und Bruder Martin sorgt dafür, dass die leichteren Fälle in den Hütten im Dorf untergebracht werden. Bruder Jacob ist dabei, den Sterbenden, die bald in das Reich Gottes aufgenommen werden, die Beichte abzunehmen. Ich weiß wirklich nicht, wo mir der Kopf steht!“ Er kratzte sein spärliches Haupthaar mit der Tonsur. „Leider müssen wir auch die Toten bei der Hitze sobald wie möglich dem Meer übergeben, denn der Zersetzungsprozess schreitet so rapide voran, dass eine längere Aufbewahrung der Leichen uns gefährden würde. Und dann gibt es noch diejenigen, deren Leben ich nur durch eine Amputation retten kann. Unsere Schwestern sind von der Arbeit überfordert. Ich bin froh, dass du mir assistieren kannst.“

„Und wie … soll das vor sich gehen?“ Tom schluckte. „Ich meine, was muss ich dabei machen?“

„Nichts Schlimmes. Die Kranken werden an einen Holzpflock gebunden und du hältst sie mit aller Kraft fest, während ich operiere.“ Er zuckte die Schultern, als er Toms entsetzten Blick auffing. „Nun ja, wir haben zwar ein Narkotikum, aber ich muss sparsam damit umgehen, denn so schnell kommt kein Nachschub mehr vom Festland.“

Tom überlief ein Schreckensschauer nach dem anderen. Konnte er doch kaum in ein von der Lepra zerfressenes Gesicht eines Kranken sehen, auf die von den Lippen entblößten Kiefer, in das schwärende Loch, das einmal eine Nase gewesen war, die eitrigen Wunden, in die sich mit Vorliebe die Fliegen setzten. Ihm wurde schon schlecht, wenn er auch nur einen Tropfen Blut sah. Doch dann dachte er an Schwester Adela und straffte den Rücken. Wenn die zarte Adela so etwas schaffte, dann musste er das doch erst recht können!

„Wann … brauchen Sie mich?“, murmelte er mit blutleeren Lippen.

„Gleich“, beschied ihm der Pater. „Komm mit!“

Er ging voraus und Tom folgte ihm mit einem lautlosen Würgen in der Kehle.

Der Ruf der magischen Insel

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