Читать книгу Der Ruf der magischen Insel - Nora Berger - Страница 9

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Kapitel 3

Julie saß am Schreibtisch und tauchte die Feder in das Tintenfass. Unzufrieden strich sie das bereits Geschriebene wieder aus. Das peinliche Zusammentreffen mit Marcel war bereits einige Tage her, aber noch hatte sie der Mutter, die weiter leidend war, nichts von der Begegnung mit ihm und seiner Familie erzählt. Im Grunde war sie heilfroh, dass Marcel von sich aus die Verlobung gelöst hatte. Er war ihr beim Wiedersehen so fremd gewesen, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Ihre Beziehung war nichts weiter als eine Jugendschwärmerei gewesen, eine Luftblase, die längst zerplatzt war. Erst in der kleinen Bucht auf Guadeloupe hatte sie erkannt, was Liebe, was Leidenschaft überhaupt bedeutete – und wie schmerzhaft es war, wenn diese Gefühle nicht erwidert wurden.

Die Sehnsucht nach Charles quälte sie immer noch. Sie musste ständig an das Plakat denken, dass sie zufällig am Luxembourg Park gesehen hatte. Das Konzert von Charles und Solange sollte im Salle Pleyel am Freitag nächster Woche stattfinden und sie kämpfte mit sich, ob sie hingehen sollte oder nicht. Würde das Feuer in ihrem Herzen nicht noch heißer brennen, wenn sie das Konzert besuchte, Charles wieder spielen hörte? Zusehen musste, wie glücklich er mit Solange in Paris lebte? Warum konnte sie sich nicht von ihm lösen, obwohl sie wusste, dass ihre Liebe nicht erwidert wurde? Es war wie ein Zwang, in jeder Minute an ihn denken zu müssen.

Sie schrak zusammen, als es diskret an der Tür klopfte. André trat ein. Er strahlte über das ganze Gesicht und hielt ihr die Zeitung hin, die Revue des deux Mondes. „Das zweite Kapitel, Mademoiselle! Gerade im Feuilleton erschienen! Sehen Sie nur!“

Aufgeregt riss Julie ihm das Blatt aus der Hand. „Wirklich? So schnell?“

„Es hat Aufsehen erregt durch seine Aktualität, sagte mir der Verleger. Und die Kritiken sind gut. Nun will man natürlich mehr von Jules Potin lesen. Die Fortsetzung soll gleich in der nächsten Ausgabe gedruckt werden. Er sagte, die Leser wollten unbedingt wissen, ob das Amulett, das die Wahrsagerin der Heldin Louise ins Boot nachgeworfen hat, ihr geholfen hat, den Vater zu finden.“ Er hielt ihr triumphierend einen Umschlag hin, in dem ein Scheck lag. „Und das ist auch für Sie.“

„Großartig! Ich zahle Ihnen Ihren Anteil aus, wenn ich ihn eingelöst habe.“

„Aber nicht doch…“ André machte eine höflich abwehrende Bewegung, doch seine Wangen glänzten rot vor Freude.

Aufgeregt kramte Julie unter dem Wust von Papieren auf ihrem Schreibtisch ein Blatt hervor. „Ich habe bereits weitergeschrieben, muss aber noch ein bisschen am Text feilen.“

„Tun Sie das. Ich bringe ihn dann in die Redaktion, wenn Sie fertig sind!“

André verschwand hinter der Tür und auf Julies Lippen zeichnete sich ein stolzes Lächeln ab. Was für eine Überraschung – sie hatte Erfolg, dabei schrieb sie nur ihre eigene Geschichte auf, die mysteriösen Ereignisse, die sie mit ihrem Amulett und auf Guadeloupe erlebt hatte!

Sie griff nach dem Amulett, der Holzscheibe mit den silbernen Beschlägen, die sie seit einiger Zeit um den Hals trug und nie ablegte. Wieder einmal betrachtete sie die geheimnisvollen Symbole und die Steine, die in gefahrvollen Momenten einen besonderen Glanz annahmen. Seit einiger Zeit wirkten sie matt und Julie fragte sich, ob sie die früheren Veränderungen des Amuletts nicht einfach nur geträumt hatte. Nach all den Schicksalsschlägen, der tristen Rückkehr nach Paris mit der kranken Mutter und der Trennung von Marcel tat das Aufschreiben ihrer Erlebnisse auf Guadeloupe ihr gut. Es lenkte sie ab, trug sie in die andere Welt und ließ sie ihre traurigen und aufwühlenden Erlebnisse vergessen und leichter verarbeiten. Aber sie hätte nie gedacht, dass ihre Erlebnisse auf der fernen Insel das breite Pariser Publikum interessieren würden.

Leise erhob sie sich und betrat auf Zehenspitzen das Zimmer der Mutter, um nach ihr zu sehen. Sie lag die meiste Zeit apathisch in ihrem Bett oder auf dem Sofa. Lesen und Malen, alles, was sie früher mit Freude ausgeübt hatte, interessierte sie nicht mehr. Sogar die Konversation mit ihrer Tochter blieb einsilbig.

Julie hatte die Mutter in dem Glauben gelassen, sie und Marcel würden bald heiraten. Aber vielleicht ahnte die Mutter ja die Wahrheit. Sie hatte nur einmal gefragt, wann die Zeremonie denn stattfinden würde. Julies Antwort war ausweichend gewesen und danach hatten sie nie mehr darüber gesprochen. Ihr Arzt, Doktor Turbot, schüttelte manches Mal verständnislos den Kopf. Auch er versuchte alles, um sie aus dem depressiven Zustand, in den sie nach dem Tod ihres Mannes und ihres Sohnes gefallen war, herauszuholen. Schröpfgläser, Tees, Einreibungen, Klistiere und Medikamente halfen nicht. Es war, als ginge Manon das alles nichts mehr an, als wollte sie einfach nicht mehr leben.

Mit Hilfe der Pflegerin führte Julie die Mutter jeden Abend an den Esstisch im Speisezimmer, wo sie mit ihr das Dîner einnahm. Sie versuchte jedes Mal, ein Thema zu finden, das die Mutter interessieren könnte, oder mit ihr über Dinge des Haushalts und der Finanzen zu besprechen. Doch die Unterhaltungen blieben einseitig und die Mutter schien erleichtert, wenn sie mit dem gewohnten Schlafmittel versorgt zu Bett gehen konnte. Es war, als wäre die natürliche Verbindung von Mutter und Tochter auf seltsame Weise unterbrochen, so als wäre Julie plötzlich eine Fremde für sie geworden.

Niedergeschlagen ging Julie nach dem Essen meist wieder in den Salon zurück, nahm ihr Tagebuch zur Hand und überlas einige Eintragungen. Dann tunkte sie die Feder in die Tinte und begann aufs Neue zu schreiben. Für die Leser der Revue des deux Mondes ließ sie ihre Fantasie spielen und beschwor die sonnigen Tage auf Guadeloupe vor dem Hintergrund einer bewegenden Liebesgeschichte. Sie wagte es auch, mit dramatischen Worten die Gesellschaft der hochmütigen „Grands Blancs“ anzuklagen, öffentlich zu machen, wie menschenverachtend die weißen Plantagenbesitzer mit ihren schwarzen Sklaven umgingen. Und wie sie in ihrem unausrottbaren Standesdünkel vergaßen, dass sie ihr Vermögen nur der Ausbeutung dieser Menschen verdankten, denen in ihrem Elend nichts anderes übrigblieb, als ihnen zu Diensten zu sein. Julie hoffte, dass den Parisern nach dieser Lektüre endlich die Augen aufgingen über das, was in den französischen Kolonien tagtäglich geschah.

***

Der Tag des Konzerts nahte heran und Julie hatte sich nach einigen unruhigen Nächten doch entschlossen hinzugehen. Mit zitternden Händen durchwühlte sie ihren Kleiderschrank, doch die leichten, mädchenhaften Roben, die sie früher getragen hatte, schienen ihr für diesen Anlass nicht geeignet. Und so ließ sie sich dazu hinreißen, bei einer Modistin ein schwarzes, mit heller Seide unterlegtes Spitzenkleid zu erstehen, ein Modell, das eine andere Frau sich hatte schneidern lassen. Da sie aber mit der Passform unzufrieden gewesen war und das Kleid nicht gekauft hatte, war es billiger zu haben. Es passte Julie wie angegossen, lag eng an der Taille und bauschte sich abwärts der Hüften zu einer angedeuteten Schleppe. Da der Ausschnitt ein wenig großzügig war, kaufte sie noch einen passenden Spitzenschal, der sich wie ein Hauch um ihre Schultern legte.

André war sprachlos, als er sie so vor dem Spiegel stehen sah, zum Ausgehen bereit.

„Sie sind … wunderschön, Mademoiselle Julie!“, stammelte er. „Sie sehen einfach umwerfend aus!“

Julie lächelte gequält, steckte eine widerspenstige Locke ihrer hochfrisierten Haare fest und nahm ihren Fächer. „Ach André! Sie übertreiben! Aber vielen Dank für Ihr Kompliment. Wollen Sie mich nicht zum Konzert begleiten?“

André verehrte Julie schon seit langem, doch jetzt wusste er nicht, was er sagen sollte und ihm stieg das Blut ins Gesicht. In der Gesellschaft an Julies Seite zu erscheinen – das war in seinen Träumen sein höchstes Ziel gewesen. Aber in der Wirklichkeit war er weiter der kleine Hauslehrer, dem es unmöglich war, seine krankhafte Scheu und Schüchternheit zu überwinden.

„Mademoiselle Julie, Sie wissen, wie sehr mich ihr Vorschlag ehrt.“ Er wischte sich den Schweiß, der plötzlich auf seiner Stirn stand, mit dem Taschentuch ab. „Aber ich besitze leider nicht die passende Garderobe für eine solche Gelegenheit. Außerdem habe Ihnen ja nur ein Billet besorgt. Das Konzert ist ohne Zweifel ausverkauft.“ Seine Lippen zitterten. „Es ist wohl besser, wenn ich zu Hause bleibe. Wer sollte sich sonst um Ihre Frau Mutter kümmern? Die Pflegerin ist nur bis acht Uhr bei ihr.“

„Sie haben Recht, André. Dann werde ich allein gehen.“ Julie, die im Grunde keine andere Antwort erwartet hatte, nahm ihren Schal. „Sind Sie so nett und besorgen mir eine Droschke?“

André eilte hinaus und Julie spürte ihr Herz unruhig und bis in die Halsgrube pochen. Noch nie hatte sie so unter Hochspannung gestanden wie an diesem Abend. Sie würde Charles wiedersehen! Obwohl ihre letzte Begegnung so lange her war, hatte sie jeden Abend nur an ihn gedacht. Sie tastete nach dem Amulett, das sich im Ausschnitt ihres Spitzenkleides ein wenig unscheinbar und fast billig ausnahm.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des großzügig beleuchteten Salle Pleyel in der Rue Rochechouart, wo sie den Kutscher halten ließ, drängten sich schon kleine Gruppen festlich gekleideter Menschen in Abendroben. Der neue, großzügige Konzertsaal mit über fünfhundert Plätzen ersetzte den seit 1830 bestehenden Salon in der Rue Cadet, der nur hundertfünfzig Zuhörern Platz geboten und daher zu klein geworden war.

Von neugierigen und bewundernden Blicken gefolgt, ging sie, ihren Spitzenschal fest um die Schultern gehüllt, hinein. Sie spürte, dass die Leute über sie als alleinstehende Dame tuschelten, sie neugierig beobachteten. Ganz gegen ihre Gewohnheit trank sie an der Bar gleich zwei Gläser Champagner, von denen sie eines fast fallen ließ, so sehr zitterten ihre Hände. Doch der Alkohol konnte ihre Aufregung nur wenig mäßigen.

Als es läutete, suchte sie sofort ihren Platz in der zweiten Reihe des Parketts auf. Es wurde dunkel, nur die Bühne war hell beleuchtet. Sie hielt den Atem an, als Charles unter erwartungsvollem Applaus zum Flügel schritt. Sein aufrechter, fast stolzer Gang, seine hellen, jetzt schon mit ein paar Silberfäden durchzogenen Haare zogen besonders die Aufmerksamkeit der Damen auf sich. Er hatte sich kaum verändert, war noch immer sehr schlank und sah in seinem dunklen Frack ausgesprochen elegant aus. Er begann mit der „Apassionata“ von Beethoven, aber schlug gleich zu Anfang einen falschen Akkord an, den das Publikum mit leichtem Unmut quittierte. Doch dann fing er sich und spielte flüssig und gefühlvoll, so wie Julie es kannte.

Überwältigt schloss sie für kurze Zeit die Augen und sah ihn vor sich an jenem tropisch warmen Abend auf Guadeloupe, wo er so locker und entspannt auf dem Sommerfest für die Gäste gespielt hatte. Verstohlen wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Wie in Trance verfolgte sie sein Spiel und öffnete erst die Augen, als er sich vor dem Publikum verbeugte, das ihm nur mäßigen Beifall zollte.

Jetzt hatte sie ihn ganz nah vor sich, seine Gestalt, sein gut geschnittenes Gesicht, die Locke, die ihm wie früher in die Stirn fiel und die er mit einer nachlässigen Geste beiseiteschob. Vom Licht geblendet, von einigen Pfiffen verunsichert, blickte er lächelnd ins dunkle Publikum hinab und stutzte kurz. Hatte er sie etwa erkannt? Sie duckte sich tief in ihren Sessel.

Doch dann wandte er sich ab und kündigte mit ein paar knappen Worten Solange an, die mit ihrer Violine in einem grauseidenen Kleid erschien, das sie viel vorteilhafter wirken ließ als damals auf Guadeloupe. Die Haare wie immer straff zu einem Knoten zurückgekämmt, schien sie ihrer selbst sehr sicher zu sein. Sie verbeugte sich, verharrte eine Minute in voller Konzentration und begann mit der „Caprice Opus 1“ von Paganini. Sie spielte, das musste Julie neidlos anerkennen, furios und meisterhaft und schien förmlich mit ihrer Geige zu verschmelzen. Sie wiegte sich hin und her und ihr sonst so unscheinbares Gesicht bekam einen überirdisch verzückten, madonnenartigen Ausdruck. Das Publikum raste, als sie ihr Solo beendete. Der Beifall schien nicht abzuebben, immer wieder musste sie auf die Bühne, um sich zu verbeugen.

Es folgte eine Klaviereinlage von Charles mit Bagatellen von Beethoven. Dann brillierte wieder Solange mit meisterhaft vorgetragenen Sonaten von Bach. Julie sog die Musik, die unzählige Erinnerungen in ihr weckte, mit allen Fasern ihres Wesens in sich auf. Wie betäubt erhob sie sich nach dem Konzert von ihrem Platz und strömte im Sog des zahlreichen Publikums hinaus. Sie hatte beschlossen, keinen Kontakt zu Charles und Solange aufzunehmen. Es würde sie nur noch mehr aus der Bahn werfen und leiden lassen.

„Julie!“ Sie schrak beim vertrauten Ton der geliebten Stimme zusammen und sah auf.

Am Ausgang stand Charles mit einem Lächeln vor ihr, gepflegt wie immer und unglaublich gutaussehend. „Ich freue mich, dich zu sehen, Julie. Du wolltest doch wohl nicht gehen, ohne Solange und mir guten Tag gesagt zu haben?“ Er sah sie mit einem fast spitzbübischen Ausdruck an und Julie erkannte jetzt eine leichte Veränderung seines Gesichts, den etwas müden Ausdruck seiner Augen, den resignierten Zug um den Mund.

„Wie bezaubernd schön du bist.“ Seine Stimme klang warm und beinahe zärtlich. „Was für ein elegantes Kleid. Ich habe oft an dich gedacht! Wollen wir nicht zusammen essen gehen?“

„Oh.“ Julie spürte, wie das Blut heiß in ihre Wangen schoss. „Danke für das Kompliment!“ Sie überhörte den letzten Satz und sagte ausweichend: „Es war ein wunderbares Konzert! Aber Solange und du – ihr wollt nach der anstrengenden Vorstellung sicher unter euch sein.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Dabei möchte ich wirklich nicht stören!“

„Aber keine Spur! Du störst uns gar nicht. Wir haben ohnehin vor, noch mit dem Direktor des Hauses zu dinieren. Und da würde ich mich freuen, wenn du mitkämst. Wir haben uns sicher viel zu erzählen.“ Er überlegte kurz. „Was hälst du vom Restaurant ‚Grand Vefour‘? Es soll eine hervorragende Küche haben.“

Ohne dass Julie Zeit hatte, zu widersprechen, winkte er einer Droschke, die gerade vorüberfuhr. „Steig schon mal ein, ich sage inzwischen Solange Bescheid. Wir treffen uns am Restaurant.“ Ein kurzes Lächeln und er war verschwunden.

Julie versuchte, ihr wild klopfendes Herz und ihre widersprüchlichen Empfindungen zu beruhigen. Wie sollte sie nur diesen Abend überstehen? Mit Charles und Solange als vis-à-vis?

Doch dann kam alles ganz anders. Im eleganten Ambiente des Speiselokals wurden sie an einem bevorzugten Tisch am Fenster, der zum Palais Royal hinausging, von mehreren Kellnern versorgt, die frische Austern auf einer großen Platte anrichteten und großzügig Champagner und Wein einschenkten. Das Menü bestand nach den hors d’oeuvres aus köstlichem Rehrücken in Wacholdersauce, gefolgt von dem Fischgang, einer zarten Seezunge in Buttersauce. Abschließend wurde das von Likören begleitete Dessert „Birne Hélène“ serviert, ein schaumiges Etwas aus Eis, Schokolade und Frucht.

Die Unterhaltung war locker, sie drehte sich um Musik, Termine und die Zusammenstellung von Programmen. Monsieur Brevet, der rotbackige, untersetzte Direktor der Société, der den Sohn des Gründers, Ignaz Pleyel vertrat, sprach dem Essen mit gutem Appetit zu und erwies sich als gutgelaunter Unterhalter. Solange war etwas in sich gekehrt, obwohl ihr an diesem Abend ein ungeahnter Triumph gelungen war.

„Ich gratuliere Ihnen, Madame Meunier“, lobte der Direktor sie überschwänglich, „zu Ihrem Erfolg heute Abend. Es war formidable! Um ehrlich zu sein – damit habe ich nicht gerechnet. Eine so großartige Künstlerin auf der Violine hat Paris seit Paganini nicht mehr gehört. Sie werden morgen in aller Munde und in den Zeitungen sein. Ich garantiere Ihnen, dass Ihr nächstes Konzert schon in dieser Woche ausverkauft sein wird.“

Solange lächelte geschmeichelt und überrascht zu diesen Lobeshymnen, während Charles mit gerunzelter Stirn ein Stückchen Brot auf der Tischdecke zerkrümelte. Nichts an ihm ließ noch den unbeschwerten Charme erkennen, mit dem er einst ihr Herz bezaubert hatte.

„Monsieur Brevet“, begann Solange mit einem Mal. Sie holte tief Luft. „Ich spreche ungern beim Dîner von finanziellen Dingen, noch dazu vor einer dritten Person. Aber Mademoiselle de Percault ist eine Freundin der Familie und wir haben deshalb keine Geheimnisse vor ihr.“

Julie sah überrascht und etwas peinlich berührt auf.

„Wenn wir, also mein Mann und ich, für weitere Konzerte zur Verfügung stehen sollen, hätten wir fürs Erste gerne einen Vorschuss von, sagen wir, etwa eintausend Francs. Sie verstehen sicher, dass wir uns in Paris erst einrichten müssen. Und ich möchte die Großzügigkeit meines Onkels, in dessen Haus wir bis vor kurzem gewohnt haben, nicht länger in Anspruch nehmen. Tatsache ist, dass wir uns eine möblierte Wohnung im Marais gemietet haben. Aber dort wohnen wir sehr beengt und haben nicht vor, lange dort zu bleiben.“ Sie sah den Direktor gespannt an, der gerade genüsslich einen Löffel Eis mit Sahne auf der Zunge zergehen ließ.

„Tja, meine Liebe“, begann er nach einer Weile mit honigsüßer Stimme. „Ich verstehe Sie natürlich nur zu gut, aber es tut mir leid. Einen Vorschuss kann ich meinen Künstlern niemals sofort zahlen. Erst müssen die Kosten eingespielt sein. Bis jetzt waren Sie ja eine unbekannte Größe in Paris, aber Sie hatten den großen Vorteil, gleich in diesem berühmten Saal spielen zu dürfen. Wir wählen unsere Musiker sorgfältig aus und müssen viele Absagen erteilen.“ Er nahm einen weiteren Schluck Wein und blickte Solange begütigend an. „Wenn ich allerdings Ihr Talent bedenke, wird sich die Kostenfrage sicher bald regeln. Trotzdem müssen wir erst die nächsten Konzerte abwarten. Bis dahin kann ich Ihnen leider nur eine prozentuale Beteiligung des Kartenverkaufs anbieten.“

„Dann trete ich eben in anderen Konzertsälen auf“, sagte Solange verärgert und in einem Ton, den Julie ihr gar nicht zugetraut hätte.

„Aber, aber, mein gutes Kind, bleiben Sie bitte auf dem Boden der Tatsachen. Ein Arbeiter verdient in Paris etwa zwei oder drei Francs am Tag! Ich könnte Ihnen maximal hundert Francs vorstrecken, weil ich an Ihr Talent glaube. Kommen Sie doch bitte morgen in mein Büro, damit wir alles in Ruhe besprechen können.“ Er zögerte einen Moment und sah über den Tisch von einem zum andern. „Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Das Angebot weiterer Konzerte gilt in erster Linie nur für Sie, Madame.“ Er wandte sich jetzt mit einem entschuldigenden Lächeln direkt an Charles. „Ich bedauere sehr, Monsieur, aber im Moment kann ich leider nicht allzu viel für Sie tun. Wir sind bei unseren zahlreichen Pianisten auf Monate hinaus völlig ausgebucht.“ Er nickte ihm zu, während seine Schweinsäuglein listig zwinkerten. „Vielleicht später wieder. Aber im Moment haben wir genug hervorragende Klavierinterpreten in Paris, die von mir bereits feste Zusagen haben.“

Charles, blass geworden, duckte sich wie unter einem unerwarteten Schlag. „Was wollen Sie damit sagen?“, fuhr er auf, doch Solange legte begütigend ihre Hand auf seinen Arm.

Der Direktor verbeugte sich leicht gegen ihn. „Verzeihung, mein Herr, ich möchte Ihre Leistung keineswegs schmälern. Aber man muss seine Grenzen kennen. Sie haben heute gleich zu Beginn gepatzt. Das Publikum in Paris ist verwöhnt. Es gibt hier Namen wie Chopin und Liszt – Künstler und Komponisten mit formidabler Reputation. Sie haben alle schon im Salle Pleyel gespielt und das Publikum hingerissen. Leider sind diese Künstler verwöhnt und ziemlich kapriziös. Chopin ist ein Genie, aber er ist nicht ganz gesund und tritt nicht gerne in der Öffentlichkeit auf. Man weiß nie, ob er nicht in letzter Minute doch noch absagt.“ Er nahm genussvoll noch einen Löffel Eis und ließ es auf der Zunge zergehen. „Da könnten wir dann etwas für Sie arrangieren, damit das Konzert nicht ganz ausfällt.“

Charles sah ihn fassungslos an und brachte zum ersten Mal in seinem Leben vor Verblüffung kein Wort heraus.

„Sehen Sie, Liszt bereist die Welt, spielt in adligen Häusern, wo er fürstlich entlohnt wird“, fuhr der Direktor fort, griff zu seinem Glas und trank den restlichen Wein mit einem großen Schluck aus. „All diese Künstler sind natürlich so teuer, dass ich sie mir bei den bestehenden Unkosten nicht immer leisten kann. Sie begreifen vielleicht jetzt, dass ich vollkommen unbekannten Künstlern wie Ihnen und Ihrer Frau mit Ihrem Auftritt bereits eine ganz große Chance geboten habe.“

Solange senkte den Kopf und schob den Rest des Desserts von sich. Auch Charles schien mit einem Mal der Appetit vergangen zu sein. Er saß da wie ein begossener Pudel. Dann raffte er sich zu einer Erwiderung auf. „Wollen Sie damit etwa andeuten ich sei nur zweitklassig? Eine billige Alternative!“

Der Direktor wand sich. „So habe ich das natürlich nicht gemeint. Sie haben sicher Ihre Qualitäten, aber…“ Er räusperte sich, stockte und nestelte an seiner Serviette.

Julie als unbeteiligte Zuhörerin fühlte sich auf einmal unbehaglich und peinlich berührt von der plötzlich entstandenen Diskussion über Charles’ Fähigkeiten und die Gage. Das war etwas, womit sie an diesem Abend bei einem solchen Essen nicht gerechnet hatte.

Ein unheilvolles Schweigen trat ein.

Monsieur Brevet tastete nach seiner Taschenuhr und zog die Augenbrauen hoch. „Oh, schon so spät!“ Er erhob sich hastig und schloss die Knöpfe seiner Jacke. „Tut mir leid, aber ich muss Sie leider schon verlassen. Meinen herzlichen Dank für das exzellente Dîner. Und sprechen Sie doch morgen noch einmal wegen der Planung des nächsten Konzertes – und natürlich des Vorschusses – in meinem Büro vor.“ Damit wandte er sich um und winkte dem Kellner, ihm seinen Mantel zu bringen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, war er rasch aus der Tür.

Die Zurückgebliebenen sahen einander überrascht und betreten an.

„Was für ein unverschämter Mensch!“, brach Solange als Erstes das Schweigen. „Aber was sollen wir dagegen machen?“ Sie zuckte hilflos die Schultern.

„Was bildet sich dieser hochnäsige Kerl eigentlich ein? Wir treten selbstverständlich auch in Zukunft nur gemeinsam auf“, Charles warf einen Blick zu seiner Frau hinüber. „Das wird ihn hoffentlich zur Vernunft bringen. Und wenn nicht, dann werden wir ihn boykottieren. Es gibt ja auch andere Konzertsäle in Paris, nicht wahr, Liebling?“

Solange nickte, beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas zu.

Das war das Signal für Julie, sich mit einem verlegenen Lächeln ebenfalls zu erheben. „Vielen Dank für den wunderbaren Abend. Ich muss leider auch schon gehen. Meine Mutter erwartet mich. Sie ist seit einiger Zeit leidend und auf Hilfe angewiesen.“ Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie den ganzen Abend über nichts von sich, dem Schicksal ihres Bruders und den traurigen Umständen, die ihre Rückkehr nach Paris erfordert hatten, erzählt hatte und dass es bei den Gesprächen eigentlich nur um Solange und Charles gegangen war.

Als sie sich verabschiedet hatte und der Kellner ihr am Ausgang in den Mantel half, stand Charles zu ihrer Überraschung plötzlich vor ihr. „Julie warte bitte, ich muss dich ganz kurz unter vier Augen sprechen.“

„Aber…“

Er ließ sie nicht ausreden und zog die leicht Widerstrebende mit sich an die Bar.

Solange, an ihrem Champagnerglas nippend, hatte ihnen mit einem merkwürdigen Ausdruck nachgesehen und als der Kellner ihr jetzt die Rechnung präsentierte, legte sie sie achtlos beiseite.

„Was darf ich dir zu trinken bestellen?“, fragte Charles mit einem nervösen Zucken um die Augen.

„Nichts, ich habe heute schon genug getrunken“, wehrte Julie ab.

„Nur ein kleines Glas“, beharrte Charles. „Es ist mir sehr peinlich, dass du Zeugin dieses unerfreulichen Gesprächs mit diesem Monsieur Brevet werden musstest. Aber ich konnte ja nicht ahnen…“

„Das macht doch nichts.“ Julie schüttelte den Kopf und nippte an dem Cognac, den der Barmann ihr reichte. „Du solltest das nicht so ernst nehmen“, sagte sie mit leichter Verlegenheit. „Brevet geht es natürlich ums Geschäft. Aber es gibt sicher noch andere Möglichkeiten, in Paris vorwärtszukommen. Und jetzt wäre es sehr nett von dir, wenn du mir draußen eine Droschke rufst, damit ich nicht lange suchen muss.“

Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, die er seltsam bittend auf sie geheftet hatte. Wieder fühlte sie den Zauber, den er auf sie ausübte, der ihre Knie weich werden ließ und ihr Inneres in Aufruhr brachte.

„Entschuldige, das werde ich natürlich gleich tun. Aber zuerst möchte ich dich noch etwas fragen.“ Charles orderte hastig noch einen doppelten Cognac für sich, den er mit einem Zug austrank. Julie bemerkte das leichte Zittern seiner Hände, seine Unruhe.

„Julie, es … es ist mir furchtbar peinlich, mit dir über so etwas zu sprechen“, begann er schließlich. „Aber ich habe natürlich angenommen, dass der Direktor, dieser geizige Kerl, das Dîner nach der Premiere bezahlt.“ Er bestellte noch einen weiteren Cognac. „Und jetzt, nachdem er sich den Bauch vollgeschlagen hat, lässt er uns einfach mit der Rechnung sitzen. Dabei hat er selbst dieses teure Restaurant vorgeschlagen.“

Julie begann zu ahnen, worauf er hinauswollte.

Er zögerte. „Es ist nämlich so … dass Solange und ich im Moment sehr knapp bei Kasse sind. Wir hatten jede Menge Ausgaben … und haben von diesem, entschuldige bitte, Mistkerl noch keinen Centime Gage bekommen.“

Es gab eine kleine Pause, in der Charles den dritten Cognac bestellte.

„Ach so! Mach dir bitte wegen der Rechnung keine Sorgen“, sagte Julie schnell, der das Gespräch immer unangenehmer wurde. „Ich übernehme das.“

Sie winkte dem Kellner, der eilfertig erschien. „Das Dîner meiner Freunde geht auf meine Rechnung“, erklärte sie ihm. Sie wies zu Solange hinüber, die scheinbar unbeteiligt in ihr leeres Glas sah.

Charles atmete erleichtert auf. „Du beschämst mich, Julie. Ich danke dir so sehr!“ Er nahm ihre Hand und küsste sie so lange, dass sie sie ihm errötend entziehen musste. „Wenn wir hier erst Fuß gefasst haben, werde ich mich revanchieren.“

„Komm, das ist doch nur eine Kleinigkeit, in Anbetracht der Gastfreundschaft, die dein Vater meiner Familie auf Guadeloupe erwiesen hat“, wehrte Julie ab.

Der Kellner näherte sich jetzt eilfertig und präsentierte eine unverschämt hohe Rechnung. Julie zückte ihr Portemonnaie und steckte dem Keller dann noch ein Trinkgeld zu. Ihr entging nicht, dass Charles hinter ihrem Rücken einen erleichterten Blick mit Solange wechselte.

„Warte hier!“, beschied er ihr, nachdem alles geregelt war. „Ich sorge dafür, dass du gleich einen Wagen bekommst.“ Er wandte sich noch einmal um. „Bitte besuch uns doch einmal in unserer vorläufig noch bescheidenen Bleibe im Marais, in der Rue Saint Antoine 75. Solange und ich würden uns wirklich freuen. Wir kennen noch nicht sehr viele Leute in Paris.“

„Gerne. Aber ich bin im Moment wirklich sehr beschäftigt“, erklärte Julie zögernd, doch Charles war schon hinausgestürmt und hielt eine vorüberfahrende Kutsche an.

Galant riss er die Wagentür auf und stützte sie beim Einsteigen. „Julie“, flüsterte er dabei ganz nah an ihrem Ohr. „Du glaubst nicht, wie glücklich ich bin, dich heute getroffen zu haben! Sehen wir uns bald wieder?“

Julie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und nannte dem Kutscher ihre Adresse in der Rue Baillet. Dieser schnalzte den Pferden zu, die sogleich losliefen. Im Rückfenster sah sie, wie Charles ihr nachwinkte, bevor er ins Restaurant zurückkehrte.

Stumm saß sie in den Polstern und dachte über den merkwürdigen Abend nach, über Charles, der weder mit Solange noch über sein Konzert besonders glücklich zu sein schien. Er wirkte fast ein wenig verbittert über die Realität, die ihn in Paris erwartet hatte. Aber seinen Charme, seine gefährliche Verführungskraft hatte er nicht eingebüßt und es war ihm wieder gelungen, sie mit Blicken und Worten um den Finger zu wickeln.

Die Sache mit der Rechnung war seltsam gewesen, denn Julie wusste, dass Charles als Sohn eines reichen Plantagenbesitzers über genügend Mittel verfügen müsste. Aber vielleicht hatte ihm der Vater den Geldhahn zugedreht oder Charles wollte nicht zugeben, dass seine Konzerte doch nicht so einträglich waren, dass er sich weiter den Lebensstil eines verwöhnten Dandys leisten konnte. Auf Guadeloupe war Charles mit einer Heerschar von Sklaven ein ganz anderes Leben gewohnt. Aber in Paris kostete Luxus viel mehr und das hatte er wohl noch nicht begriffen.

Solange schien aus härterem Holz geschnitzt zu sein und ihr hatte der enthusiastische Beifall des Publikums gegolten. Charles hatte ein paar Pfiffe kassiert. Aber warum war Solange auch nicht in der Lage gewesen, die Rechnung zu zahlen? Ihre als reich geltende Familie kam aus der Generation der während der französischen Revolution ausgewanderten Adeligen, die sich auf den Kolonien zu Plantagenbesitzern entwickelt hatten. Vielleicht waren sie geizig und hielten ihr Geld zusammen. Der Operndirektor der Opera Comique, ein weitläufiger Verwandter Solanges mit ausgezeichneten Beziehungen zur Musikwelt, hatte sie ja bereits großzügig unterstützt und sie eine Zeit lang bei sich wohnen lassen.

Vertieft in ihre Gedanken bemerkte Julie gar nicht, dass der Kutscher einen Umweg machte und sie durch ihr unbekannte, enge und unbeleuchtete Gassen fuhr, die von halb abgerissenen Gebäuden gesäumt wurden. Da die königliche Armee der Aufständischen in den verwinkelten Gassen von Paris nicht mehr Herr wurde, weil es dort leicht war, sich zu verstecken und Barrikaden zu errichten, hatte König Louis-Philippe ganze Straßenzüge einreißen lassen, um einen besseren Überblick zu bekommen. Aber die Errichtung neuer Häuser ging nicht von heute auf morgen und in der Gegend, durch die sie jetzt fuhren, sah es wie auf einer Baustelle aus.

Julie klopfte vernehmlich an die Scheibe. „Monsieur, hatten Sie mich nicht richtig verstanden? Ich hatte Ihnen als Adresse die Rue Baillet genannt!“, rief sie dem Kutscher zu.

Der Mann stellte sich taub und reagierte nicht gleich. Julie klopfte erneut und diesmal so energisch an die Scheibe, dass er sich umwenden musste.

„Eine Straßensperre“, brummte er undeutlich. „Diese verdammten Revolutionäre. Wahrscheinlich planen sie wieder irgendeine Dummheit. Für den Umweg kann ich leider nichts.“

Julie schüttelte den Kopf. Es war immer das Gleiche. Protestmärsche aufgebrachter Bürger, heißblütige Revolutionäre, die die Absetzung des Königs forderten. Ein Attentat nach dem anderen war bereits auf Louis-Philippe verübt worden, aber er hatte alle wie durch ein Wunder überlebt. Julie griff nach ihrem Amulett, das plötzlich unangenehm heiß auf ihrer Haut lag. Irrte sie sich oder glänzten die Steine im Schummerlicht stärker als sonst?

Seufzend lehnte sie sich wieder gegen die Polster und ihre Gedanken kehrten zu Charles zurück. Wie schmerzhaft mussten die Pfiffe für ihn gewesen sein! Und erst die harten Worte des Direktors des Salle Pleyel über sein Spiel, aber wahrscheinlich wollte der Mann nur die Gage drücken, indem er die Konkurrenz anderer Pianisten hervorhob. Das musste den sensiblen Charles sehr gekränkt haben. Wie nervös er gewirkt hatte, wie enttäuscht. Seine leisen Worte beim Abschied: „Ich bin so glücklich, dich getroffen zu haben…“, hatten ihr Herz aufs Neue in Aufruhr gebracht.

Sie bewiesen doch, dass er nicht vergessen hatte, was in der kleinen Bucht auf Guadeloupe geschehen war.

Julie riss sich zusammen, um die romantischen Traumbilder zu verscheuchen. Charles hatte sie zurückgewiesen und sich für Solange entschieden, das durfte sie niemals vergessen. Sie nahm sich fest vor, die beiden auf keinen Fall in ihrer Wohnung im Marais zu besuchen. Ihn wiederzusehen würde die alte Wunde nur weiter aufreißen, die Flamme der Leidenschaft zu Charles neu anfachen.

Plötzlich gab es einen heftigen Ruck. Unsanft wurde Julie aus ihren Gedanken gerissen und nach vorn geschleudert. Sie landete auf dem harten Kutschenboden. Die Pferde wieherten erschrocken. Irgendjemand war ihnen in die Zügel gefallen und hatte sie zum Anhalten gezwungen. Julie zog sich mühsam hoch und versuchte aus dem Fenster zu sehen. Es war stockfinster. Nur Gott wusste, in welchem Stadtteil von Paris sie sich hier befanden. Hatte der Kutscher sie absichtlich in diese öde, verrufene Gegend gefahren? Julie tastete nach ihren Diamantohrringen, nach dem schimmernden Bracelet aus gehämmertem Gold an ihrem Arm und zog fröstelnd ihren pelzbesetzten Mantel aus gefütterter Seide enger um ihre nackten Schultern. Ausgerechnet heute hatte sie den Schmuck angelegt, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte, um zu diesem Anlass besonders schön zu sein.

Das Amulett brannte alarmierend auf ihrer Haut und seine Steine funkelten so intensiv, dass man sie selbst im Dunkeln nicht übersehen konnte. Es warnte sie, das war offensichtlich. Schon auf Guadeloupe hatte sie sich immer wieder gefragt, durch welche magische Kraft diese Reaktion ausgelöst wurde. Doch eine Antwort hatte ihr bisher niemand geben können.

Sie riss das Fenster auf. „Was ist los? Warum halten wir?“ Sie wiederholte ihren Ruf, doch auf dem Bock war niemand mehr zu sehen.

Stattdessen wurde die Wagentür aufgerissen. Julie erschrak vor dem geschwärzten Gesicht unter der Schiebermütze, das jetzt vor ihr auftauchte. Der Kerl, flankiert von drei anderen zerlumpten Gestalten, hielt ihr grinsend ein blankes Messer unter die Nase. „Los Mädchen, Geld her, Schmuck, was immer du bei dir hast.“

Julie schüttelte entsetzt den Kopf. „Hilfe!“, schrie sie, doch ihr zweiter Hilferuf wurde von einer widerwärtig behaarten Hand, die sich auf ihren Mund presste, erstickt. Jemand zerrte sie aus der Kutsche und sie fühlte tastende Hände an ihrem Körper. Obwohl sie sich wie wild wehrte, war sie gegen die Räuber machtlos.

„Keine schlechte Beute, die Kleine“, hörte sie eine raue Stimme. Man zerrte ihr den Mantel von den Schultern, beraubte sie der Ohrringe und des Armbandes und entriss ihr die kleine Abendtasche mit ihrem Portemonnaie. Sie wand sich verzweifelt und biss, als der Griff sich einmal lockerte, so fest sie konnte in die Hand, die ihren Mund verschloss. Mit einem Schrei und einem darauffolgenden saftigen Fluch ließ der Angreifer sie los und sie stürzte unsanft in den Straßendreck.

„Hilfe!“, schrie sie jetzt wieder aus voller Kehle. „Überfall! Zu Hilfe!“

„Miststück! Schlampe! Halt dein Maul!“ Jemand trat ihr heftig in die Seite. Der Schmerz war so groß, dass sie nach Luft rang und beinahe das Bewusstsein verlor.

Der Ruf der magischen Insel

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