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I. Kapitel Auf dem Weg ins Ungewisse

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Der Wind pfiff und jagte heulend die weißen Schneeflocken, die sich in den heftigen Böen zu spitzen Eiskristallen wandelten, in milchigem Nebel durch die Luft. Ein verwirrender Wirbel aus hellen Punkten, in dem die Grenze zwischen Himmel und Erde verschwamm, waberte in undurchsichtigen Schwaden hin und her. Wattige Flocken begannen sich langsam zu leichten, erstickenden Gebirgen zu häufen und alle scharfen Konturen der Umgebung zu runder, duftiger Unschuld in reinem Weiß einzuebnen.

Der junge Soldat, am Rande der Kräfte, spürte kaum mehr seine Füße, die herabrieselnder Schnee langsam bedeckte, und ließ sich, erschöpft und wie in Zeitlupe in die Knie brechend, in das flaumige Schneebett fallen. Der Wind hatte für eine Weile nachgelassen, um dann wieder heftiger loszubrausen; und im Nebel der sinkenden Flocken verwischten sich nach und nach alle Umrisse der Landschaft. Ein weißes Leichentuch legte sich gnädig über die Schrecken dieses erbarmungslosen Feldzuges.

Die Gedanken des Soldaten begannen sich zu verwirren, die Schmerzen wurden schwächer und eine leise, trügerische Wärme durchzog seinen abgemagerten und geschundenen Körper. Einfach aufgeben, liegen bleiben, den sinnlosen Kampf gegen sich selbst beenden, den Kopf auf den kühlen, weichen Schnee betten! Ihm war, als hörte er durch das Toben des Sturms Stimmen, die auf ihn einredeten, aber er schloss die Augen vor ihren Warnungen. Nur eine Melodie, sanft und wie von weit her, tönte in seinem Ohr, schien leise durch die Hölle der fauchenden Schneewüste zu dringen. Von einem täuschenden Wohlgefühl eingelullt, das sich in seinen ertaubenden Gliedmaßen ausbreitete, schloss er die Augen und die Spur eines selbstvergessenen Lächelns trat kaum merklich auf seine vom Frost erstarrten Lippen. Es schien fast, als summte er gegen das Heulen des Windes ein paar Takte mit.

So woll’n wir uns dort wieder sehn,

bei der Laterne woll’n wir stehn ...

Verworrene Bruchstücke undeutlicher Erinnerungen stiegen in ihm auf, von denen er nicht wusste, ob sie Traum oder Wirklichkeit waren. In seinen Ohren dröhnte es, doch umso stärker kristallisierte sich die schöne, simple Melodie heraus, das Chanson, das bei allen Soldaten um die Welt ging und das auch sie, Emilia, sich mit der Gitarre begleitend, einmal für ihn gesungen hatte. Und es war ihr gemeinsames Lied geworden, die Melodie einer unvergesslichen Erinnerung, eines Versprechens, das er um jeden Preis halten wollte. Würde er sie denn noch einmal wieder sehen, noch einmal in ihre großen, seegrünen Augen blicken, die ihn vom ersten Moment an in Bann geschlagen und in deren Tiefe er sich unvermutet verloren hatte? Nicht im Entferntesten hätte er erwartet, mitten im Krieg ein derartiges Gefühl, einen solchen Blitzschlag der Liebe zu erleben! Welche Hoffnungen, welch rauschhaftes Schweben einer plötzlichen Leidenschaft zwischen Elend, Kampf und Tod, mitten im Zusammenbrechen einer morschen Welt mit ihren alten, überkommenen Werten! Er murmelte undeutlich ihren Namen. Es war, als sähe sie auf ihn herab, als fühlte er gerade jetzt in diesem Moment, im Niemandsland an der Grenze des Todes ihren klaren Blick wie von irgendwoher mit kühler, rätselhafter Skepsis auf sich haften, fragend und ein wenig enttäuscht. Ewige Liebe, ein neues Leben – würde es das noch für sie beide geben? Es war ein Traum gewesen, eine Schimäre. Niemand konnte diese Hölle überleben, diese Agonie des Rückzugs, das Zerplatzen einer Vision von Macht und Sieg. Wo blieb jetzt sein Schutzengel, der ihn bisher begleitet und niemals verlassen, an den er geglaubt hatte? Im Grunde war es einfach, die Verantwortung aufzugeben, sich einfach fallen zu lassen, die Augen zu schließen. Er war so müde.

Aus dem stillen Räume, aus der Erde Grund,

hebt mich wie im Traume dein verliebter Mund ...

Die Melodie ließ ihn nicht schlafen, sie summte erneut in seinen Ohren und er entsann sich plötzlich mit überdeutlicher Genauigkeit des simplen Textes, der wie ein fernes Versprechen klang. Ihm war, als hörte er plötzlich seinen Namen rufen, und hochschreckend starrte er in den undurchdringlichen Nebel des dichten Schneegestöbers. Im grauen Dämmerbereich des Bewusstseins, von dumpfer Schwäche umfangen, glaubte er einen Schatten zu erkennen. Doch es waren nur täuschende windgepeitschte Flockenschwaden. Aus, vorbei, er würde sie nie wieder sehen! Sie, die bisher sein Motor gewesen war, der ihn antrieb zu überleben, gesund heimzukommen! „Wir bleiben zusammen! Ich komme zurück zu dir!“ In der Kirche zu Kulm hatte er es ihr in einer sentimentalen Anwandlung gelobt. Zum ersten Mal packten ihn Zweifel an seinem eigenen Versprechen. Sollte er jetzt nicht lieber beten, an den unausweichlichen Tod denken, an den grausamen Gefährten, der ihn bisher im Laufe des Krieges auf allen Wegen begleitet und belauert hatte und dem er immer wieder – selbst in den gefährlichsten Situationen – entwischt war? Aber er wollte doch noch nicht sterben und er konnte nicht beten! Wieder tauchten die schönen, ernsten Züge Emilias vor seinen Augen auf. „Vergiss mich nicht!“, hatte sie gesagt – und er hatte es geschworen.

Nasse Schneeflocken fielen unablässig auf sein Gesicht. Es war ihm gar nicht mehr kalt. Warum nicht im Gedenken an die schönen Momente sterben, wenn es schon sein musste – in der Erinnerung an die Stunden mit ihr? Nur die Liebe zu ihr erweckte damals die fast schon in ihm erloschene Hoffnung neu, den aussichtslos gewordenen Krieg zu überleben, ließ den vagen Lichtblick einer besseren Zukunft im Frieden aufblitzen. Das war nun alles vorbei, Illusion, ein unerfüllbarer Traum wie so viele seit Beginn dieser grausamen Schlacht, die schon verloren war und die man immer noch nicht beenden konnte, trotz aller Opfer, die sie schon gekostet hatte.

Und sollte mir ein Leid geschehn,

wer wird bei der Laterne stehn

... mit dir, Lili Marlen?,

sang es laut in seinen Ohren. Irgendetwas bäumte sich auf in ihm, empörte ihn. Ein anderer nähme seinen Platz in ihrem Herzen ein, wenn er nicht mehr zurückkäme, ganz einfach! Doch er würde diese Frau nie einem anderen gönnen, niemals! Sie gehörte ihm, für immer und ewig!

Gewaltsam riss er die Augen auf und versuchte sich mit dem gesunden Arm hochzustemmen. Spitze Eiskristalle stachen ihm wie Nadeln ins Gesicht, verwischten seinen Blick und es schwindelte ihn. Die verletzte Schulter schmerzte höllisch. Entmutigt ließ er sich mit einem tiefen Seufzer wieder in die flockige weiße Watte fallen, in das Nichts, das ihn umgab, und versuchte sich in den vielleicht letzten Augenblicken seines Lebens noch einmal ihr Antlitz mit den zart gezeichneten Brauen unter der nussbraunen Haarfülle heraufzubeschwören; ganz deutlich sah er ihre großen, leuchtenden Augen auf sich gerichtet, die sich beim letzten Abschied wie in einer plötzlichen Ahnung verschattet und mit Tränen gefüllt hatten. Damals schien es, als könnte er in ihrem Blick etwas Unausgesprochenes lesen; er begann zu ahnen, dass sich hinter ihrer abwehrenden, spröden Fassade unendlich viel Gefühl verbarg. Zu spät, jetzt war es vielleicht zu spät! Er hätte ihr seine Liebe schon früher gestehen sollen – ein Wiedersehen vereinbaren, an einem x-beliebigen Ort nach dem Krieg – wenn alles vorbei war. Wenn sie überlebten ... Aber waren diese Sentimentalitäten nicht überflüssig inmitten von Chaos, Leid und Zerstörung? Er hatte seine Gefühle heruntergeschluckt und all das, was er ihr noch sagen wollte, in seinem Herzen verschlossen. „Warte auf mich! Wir sehen uns wieder!“ Sie hatte nur stumm genickt und die Schultern gezuckt, als glaubte sie nicht daran. Sollte sie wirklich Recht behalten?

Der Sturm ließ nach und die Flocken fielen jetzt stetig, lautlos und sanft. Irgendetwas in ihm stemmte sich immer noch gegen den Tod, gegen die Stille, gegen das Nichts; es war, als ruhte der Blick Emilias spöttisch auf ihm, und er hörte sie sagen: „Die Soldaten halten ihr Versprechen doch niemals.“

„Doch, ich halte mein Versprechen“ – er sah sich selbst wie in einem Spiegel und seine Stimme klang eigensinnig –, „ich habe es ehrlich gemeint. Ich will mit dir ein neues Leben anfangen!“ Und nun? Nun sollte er verrecken, hier in der Ferne, auf diesem eiskalten Boden ... Eine schläfrige Gleichgültigkeit und tiefe Erschöpfung nach allen Kämpfen und Strapazen der letzten Jahre erfasste ihn und lullte ihn gnädig mit wirren Träumen und Erinnerungsfetzen ein.

Welch unglaubliche Anstrengung war es gewesen, durch den tiefen Schnee hinter den Geschützfahrzeugen herzustapfen, nicht die Orientierung zu verlieren, nicht der Verlockung nachzugeben, sich auf einen der hinten angebundenen Schlitten zu werfen und sich ziehen zu lassen! Und doch – irgendwann war der Punkt erreicht, da musste er sich, geschwächt vom Hunger und Durchfall der letzten Tage, ganz einfach darauf fallen lassen, bäuchlings sich festklammernd, um durch das ständige Schlingern über die Unebenheiten des Weges nicht heruntergeschleudert zu werden. Doch die schlimmste Gefahr war das plötzliche Einschlafen, das sekundenlange Einnicken, bei dem die Arme erschlafften und man sich, vom nächsten Buckel hochkatapultiert, in einem der bodenlosen Schneehaufen am Wegrand wiederfand. Es war sehr schwer, sich daraus wieder auszugraben und gleichzeitig den Geschützwagen einzuholen. Unzählige Kameraden waren bereits zurückgeblieben oder auf diese Weise verloren gegangen. Sie hatten eine Zeit lang versucht, um ihr Leben zu rennen, um dann erschöpft auf Nimmerwiedersehen zurück in den Schnee zu fallen. Man konnte sie dabei beobachten, ihnen zurufen, sie ermutigen, aber helfen konnte man nicht – der Wagen blieb nicht stehen, er konnte nicht anhalten, das war allen klar. Zweimal war er selbst heruntergerutscht – ein Alptraum, den er unter Aufbietung aller seiner Kräfte bewältigt hatte, mit rasenden Pulsen, jagendem Atem und der schier übermenschlichen Anstrengung des Laufens und Stolperns durch die tiefen Schneewehen, die jeden Schritt zu einem Sprung machten, aber die Füße zäh am Boden haften ließen, quasi im letzten Moment, bevor die Kräfte zu versagen begannen. Beim dritten Mal war es ihm nicht mehr gelungen. Nun lag er da und ließ sein Leben Revue passieren. Es war noch ungelebt – er war doch noch zu jung zum Sterben, zu früh hatte man ihn eingezogen, ihn hinaus in den Krieg geschickt. Sollte jetzt schon alles zu Ende sein?

Irgendjemand rüttelte ihn an der Schulter und das Summen in seinen Ohren ließ nach. „Steh auf, Kamerad, komm.“

Von kräftigen Armen hochgezogen erhob sich Conny benommen und taumelte wie aus einem tiefen Schlaf erwacht. Zwei Männer stützten ihn. „Bist du verletzt?“

Müde und traumumfangen schüttelte er den Kopf und versuchte, langsam zu prononcieren: „Eine – verrenkte – Schulter – vielleicht, mein Arm –, meine Füße sind taub.“

Einer der beiden Soldaten nahm eine Hand voll Schnee und rieb dem Schwankenden damit das Gesicht ab. „Komm, du kannst hier nicht liegen bleiben. Du wirst erfrieren. Schaffst du es? Wir sind nicht weit weg. Ein Panzerwagen in der Nachhut wir können jeden Mann brauchen, der noch halbwegs auf den Füßen steht. Hier.“ Er zog eine unetikettierte Flasche aus der Tasche seines schweren Ledermantels. „Haben die Russen gebraut. Das bringt dich wieder auf die Beine, Kamerad!“

Conny nahm einen tiefen Schluck und schüttelte sich, als der scharfe Schnaps ihm durch die Kehle rann. Er setzte noch einmal an, bis der andere ihm die Flasche aus der Hand nahm und lachte. „Halt, lass uns auch noch was übrig! Wie heißt du? Welche Division?“

Conny fühlte den brennenden Alkohol wie eine Flamme durch seinen Körper rinnen, zugleich mit dem hochschießenden Gefühl der Hoffnung, es doch noch einmal geschafft zu haben, der Müdigkeit, der Erschöpfung, der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben entronnen und dem Tod, wie schon so oft in diesem Krieg, von der Schippe gesprungen zu sein. Ein eigenartiges Lächeln spielte um seine weißen, vom Hauch des Todes schon gestreiften Lippen, die langsam wieder Farbe annahmen. Triumphierend schienen die letzten Takte der Melodie noch einmal in ihm aufzuklingen.

... wenn sich die späten Nebel drehn,

will ich bei der Laterne stehn,

wie einst Lili Marlen ...

Er schaffte es, er wollte es schaffen! Es gab keinen anderen Gedanken als diesen, der ihm neue Kraft und beinahe Flügel verlieh, als er halbtot und stolpernd zwischen den Kameraden schwankte. Vielleicht würden sie sich doch wieder sehen!

Auf seinem Landsitz tief in den Berchtesgadener Bergen, auf dem Obersalzberg, ließ Hitler, aufgerüttelt durch die bedrohlichen Nachrichten und die Schreckensmeldungen der Kommandanten, noch einmal ein Treffen der leitenden Feldmarschalle und Generäle einberufen, um eine Lagebesprechung abzuhalten.

Generalfeldmarschall von Manstein, der von Lemberg aus eingeflogen war, versuchte den Führer erneut davon zu überzeugen, dass die Divisionen der Ost- und Nordfront seit langem überfordert seien und unter starkem feindlichem Druck stünden, dem sie, auch angesichts der unzureichenden Versorgung auf dem Luftwege, auf die Dauer nicht gewachsen sein würden. Es kam zu einer scharfen Auseinandersetzung, bei der Hitler die Verantwortung für die ungünstige Entwicklung der Heeresgruppe dem Feldmarschall selbst zuzuschieben versuchte, der die ihm im Laufe der Zeit zugeführten Kräfte „verkleckert“ hätte. Dieser aber wusste es besser, wusste, dass die Divisionen meistens zu spät oder nur vereinzelt zur Verfügung standen doch er schwieg, er musste schweigen. In sich gekehrt biss er die Zähne zusammen, als Hitler ihm vorwarf, die Front würde immer weiter zurückgenommen, weil vor den wenigen feindlichen Panzern, die die Luftwaffe beobachtet hatte, angeblich ganze Truppenteile davonliefen. Das Blut schoss von Manstein ins Gesicht, doch er blieb ruhig und beherrscht, auch wenn es in ihm kochte. Traurig ließ er seine Blicke durch den großen Vortragsraum mit dem herrlichen Blick über die grandiose Bergwelt der Alpen gen Salzburg schweifen, als wenn er Abschied nähme von seinen Idealen, von der Idee des Sieges und dem Glauben an den Führer, der ihn jetzt so schmählich enttäuschte. Warum sollte er noch von der schwindenden Widerstandskraft der Truppen sprechen, von ihrer Erschöpfung und den zusammengeschmolzenen Stärken? In langen Briefen hatte er versucht, Hitler von einer anderen Strategie zu überzeugen. Doch dessen starrsinnige, gegen ihn fast feindliche Haltung ließ ihn verzweifeln und entmutigte ihn vollends. Er erkannte zum ersten Mal den diktatorischen Charakter jenes Mannes, dem bei aller Begabung doch die Grundlage militärischen Könnens fehlte, dem nur durch sein Charisma alle bisher so blind gefolgt waren und dem der anfängliche Erfolg Recht gegeben hatte. So sollte denn alles bis zum bitteren Ende weitergeführt werden. Niemand würde das Rad der Vernichtung, das sich immer schneller zu drehen begann, jetzt noch aufhalten können. Durch die Panoramafenster schaute von Manstein zu, wie die Sonne langsam hinter den eisglitzernden Berggipfeln verschwand und die Landschaft in düsteres Zwielicht tauchte.

Die junge Rotkreuzschwester blickte mit angespanntem, ernstem Gesicht in die weiße Schneewüste, die im grauen Licht des dämmernden Morgens vor dem Fenster vorüberflog. Der Zug ratterte mit monotonem Geräusch durch die flache Landschaft, vorbei an den dunklen Schemen winterlich dürrer Bäume und den von Frost überzogenen Büschen, die sich kaum von den weiß überschneiten Feldern abhoben. Sie war erschöpft, an den äußersten Rand ihrer Kräfte getrieben, und konnte dennoch nicht die Augen schließen vor Angst, dass die Bilder der Nacht und der vergangenen Tage sie wieder überfielen. Wie Schatten zogen die Erlebnisse der letzten Nacht an ihr vorbei, das Echo von lautem Stöhnen und Wimmern erklang noch in ihrem Ohr und sie versuchte, die Flut der Eindrücke an den äußersten Rand ihres Bewusstseins zurückzudrängen. Eine dumpfe Gleichgültigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen gegenüber all dem Elend, dem sie begegnete. Sie wagte nicht daran zu denken, wie alles weitergehen würde.

Ein Aufseufzen neben ihr schreckte sie aus dem Halbschlaf, in den sie kurz gefallen war. Die junge Frau auf dem Sitz neben ihr mit dem Kind auf dem Arm bewegte sich unruhig. Die filzige Decke war heruntergefallen und Schwester Emilia bückte sich mit einem mitleidigen Blick auf die vor Kälte zitternde Gestalt und schob ihr den groben Stoff über die Schultern, das Kleine schien fest in den Armen seiner Mutter eingeschlummert zu sein – wenigstens spürten die Kinder nicht die Gefahr und die Ausweglosigkeit des sinnlosen Krieges. Sein winziges weißes Gesichtchen war eng an die Brust der Mutter geschmiegt.

Wenn der Zug nur schneller führe! Erst in Stolp an der Ostsee wären sie in Sicherheit, da gäbe es Essen, Kleider und einen Ofen, an dem sie sich wärmen konnten.

Die junge Frau, eine Ukrainerin mit hohen Backenknochen und dichten schwarzen Haaren, war nicht älter als sie selbst. Sie hob ihren Blick Hilfe heischend zu der Schwester empor und murmelte mit trockenen Lippen: „Wasser, Wasser. Ich habe keine Milch mehr für mein Kind.

Emilia schüttelte hilflos den Kopf. Sie hatte nur eine geringe Ration Wasser und die musste sie für die Medikamente aufheben. „Wir sind bald da, murmelte sie beschwichtigend, mit einem sorgenvollen Blick das blutleere Gesichtchen an der Brust der Mutter streifend, die ihr Kind schützend an sich drückte. Erschauernd, bis in die Knochen von der eisigen Kälte umklammert, die im Abteil herrschte und ihre Glieder lähmte, wendete sie sich wieder dem Fenster zu. Ihr Kopf schmerzte und sie war wie betäubt von Müdigkeit und der in ihrem Kopf sich drehenden Ereignisse der letzten Tage. Es war noch nicht Zeit, ihren Rundgang zu machen, sich um die Alten und Kranken des Transportes zu kümmern, die von den Strapazen der Flucht, von der Kälte, vom Hunger aufs Äußerste erschöpft waren. Mit frostklammen Fingern wühlte sie in ihrem Medikamentenkoffer, nahm eine Tablette und zerkaute das bittere Pulver in ihrem Mund. Das Gesicht verziehend spülte sie das bittere Gemisch mit einem kleinen Schluck herunter und wartete auf die Wirkung. Trotz aller Einfachheit der Schwesterntracht mit dem strengen weißen Häubchen war sie mit ihren regelmäßigen Zügen, dem fein gezeichneten Mund und den großen meergrünen Augen unter der hohen Stirn eine auffallend schöne Erscheinung. Groß und schlank, mit aufrechter Haltung und graziösem Gang schien sie nicht in diese Szenerie zu passen und der Staffage eines Spielfilms zu entstammen. Seufzend steckte sie eine lange, lockige Haarsträhne, die herabgefallen war, mit Hilfe einer Haarnadel streng zurück. Ihre dicken brünetten Zöpfe, von denen sie sich immer noch nicht trennen mochte und die ihr ein mädchenhaftes Aussehen verliehen, waren nur locker gebunden, im Nacken zusammengefasst und reichten ihr fast bis zur Hüfte.

Unwirklich erschien ihr die Situation, in der sie sich seit Monaten befand: herausgerissen aus der Familie, aus der unbeschwerten Lebhaftigkeit ihrer Kindheit, und plötzlich ganz allein dastehend – ja, mehr noch, verantwortlich für Hunderte von Menschen. In Transporten irrte sie von einem Ort zum anderen, beladen mit dem Leid und der Krankheit Fremder, als wäre ganz allein sie es, die Segen, Gesundheit und Frieden bringen könnte. Erschöpft lehnte sie sich zurück und eindämmernd zwischen Traum und Wirklichkeit ließ sie ihre Gedanken Zuflucht bei angenehmen Erinnerungen suchen, die alle schrecklichen Eindrücke der Gegenwart zurückdrängten.

Das ernste Gesicht des jungen Soldaten stand vor ihren Augen, seine zurückhaltende, aber sichere Art, seine schüchterne Höflichkeit. Sie fühlte seine verträumten braunen Augen auf sich ruhen, die auf eine unerklärliche Weise ihr Vertrauen erweckten. Trotzdem verwirrte sie irgendetwas in seinem Wesen und drang bis in ihre Träume. In ihrer Schürzentasche knisterte sein Bild, das sie oft betrachtete, obwohl sie nicht wusste, ob sie ihn jemals im Leben wieder sehen würde. Sie hatten eine so wunderbare, wie verzauberte Zeit in Kulm verbracht. Der Aufbruch kam zu abrupt und sie wusste eigentlich nichts über ihn als seinen Namen und dass sie sich unvermutet in ihn verliebt hatte.

Sie würde die Erinnerung an ihn tief in ihrem Herzen bewahren.

Aufgrund der plötzlichen Nachricht, der Russe nahe, war das Kloster mit den Verletzten, den Flüchtlingen aus der Ukraine und von überall her, Hals über Kopf geräumt worden. Man musste rasch weiterziehen, vor dem Feind davon, und sie sollte den Zugtransport begleiten, der die Flüchtlinge in ein Lager nach Stolp brachte. Kopflos war sie noch einmal in ihr Zimmer unterm Dach gestürzt und hatte den Rest ihrer Sachen zusammengepackt. Wo sollte sie nur eine Nachricht hinterlassen? Es war sinnlos. Die Zeit drängte und man rief nach ihr.

Vor den Toren des Klosters peitschte der Wind ihr in scharfen Böen eisigen Schneestaub entgegen und blies ihr dicke Flocken ins Gesicht. Man hatte das meiste ihrer privaten Habe schon mitgenommen und sie musste sich mit dem dünnen Mäntelchen begnügen, das sie über einem Baumwollkleid mit Jacke trug. Draußen waren viele Kranke schon auf Schlitten verfrachtet, der Sanitätswagen war bis zum Letzten beladen und überall herrschten Hast und wirres Durcheinander. Die Wagen, die die Leute zum Bahnhof bringen sollten, warteten schon.

„Ah, Schwester Emmi“, rief der Arzt Dr. Frings, „endlich! Ich dachte schon, Sie hätten uns im Stich gelassen! Wir müssen uns beeilen, damit wir bei diesem Wetter noch über die Weichsel kommen. Wir werden uns dem Flüchtlingstreck, der von Osten kommt, anschließen. Sie fahren mit Ihrer Gruppe zum Bahnhof und begleiten sie nach Stolp. Ich bin zuversichtlich, dass der Zugverkehr und die Geleise in nächster Zeit nicht unterbrochen werden und wir auf diesem Wege noch recht viele herausbringen können. Seien Sie tapfer! Ich vertraue Ihnen!“

„Ich – ich allein?“, rief Emilia, während ihr das Herz bis zum Halse klopfte. „Warum ich?“ Doch der Arzt antwortete nicht. Er hatte sich schon umgedreht, um durch den tiefen Schnee zum Kloster zurückzustapfen, und der heulende Wind erstickte ihre Frage und blies sie davon.

Der Film riss, als der Zug ein durchdringendes, lang gezogenes Pfeifen ausstieß. Mit monotonem Stampfen ratterte er in mäßigem Tempo weiter durch das flache Land, vorbei an Dörfern, Weilern und Ländereien, zum Teil schon von den Bewohner verlassen, über eine Ebene, durch die ein gnadenlos eisiger Wind strich. Der ungewöhnlich langanhaltende, strenge Winter hatte das Leben erstarren lassen; Lähmung lag über allem, klamme Angst vor den Russen und vor dem Ungewissen.

Emilias Lider, die sich bei dem Heulton, der einer Luftangriffswarnung glich, erschreckt geöffnet hatten, senkten sich erneut schwer über die Augen und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sie der Wirklichkeit langsam durch einen Traum entrückte. In der Sommerglut des bessarabischen Augustes lief sie über den mit Margeriten und Kornblumen übersäten Wiesenrain eines Weizenfeldes und ihre Zöpfe flogen im Sommerwind. Ein paar Burschen aus dem Dorf riefen sie an und versuchten sie einzuholen; doch sie verdoppelte ihre Geschwindigkeit, bis der Blütenkranz aus dicken Margeriten, den sie sich ins Haar geflochten hatte, herunterfiel. Sie hob ihn auf und lachte ihnen von weitem schadenfroh zu. Keiner von den Bauernburschen konnte das wilde Mädchen erreichen, keiner gefiel ihr; sie wollte einen aus der Stadt, einen von den eleganten, höflichen Männern, die ab und zu durch das kleine Nest Mariowka kutschierten und der Dorfschönheit mit dem sehnsuchtsvollen Blick interessiert nachsahen. Außer Atem warf sie sich, müde gelaufen, ins Gras, umgeben von hohen Weizenhalmen, die sich im Winde wiegten. Sie starrte in den blauen Himmel, umkost von der lauen Sommerluft. Eigentlich sollte sie jetzt draußen auf dem Felde mithelfen. Doch sie hatte keine Lust, sie hasste die Landarbeit. Am liebsten wollte sie selbst in die Stadt, in die Schneiderlehre zu Pjotr Nastorikowitsch, der diese unnachahmlich eleganten und leicht fallenden Kleider kreierte, so eines wie das schimmernde rote Samtkleid mit dem schrägen Faltenwurf und der leichten Schleppe, das die in Tarutina reich verheiratete Anastasia, die ab und zu noch ihre alten Eltern in Mariowka besuchte, beim letzten Mal getragen hatte, der sie immer bewundernd nachsah, wenn sie aufrecht und mit wiegenden Hüften den Hof ihrer Eltern verließ und in die glänzende neue Kutsche stieg, ein prächtiges Gefährt mit zwei feurigen Schimmeln davor. Emilia schneiderte so gut es ging selbst, und wenn sie ein schönes Kleid sah, kopierte sie es sofort. Sie sammelte Stoffe wie andere Leute Briefmarken und ihre Phantasie kannte keine Grenzen. Der ganze Ort staunte über sie und tuschelte, wenn sie in einem ihrer selbst genähten Kleider bei einem Tanzfest auftauchte. Sie genoss es und es gefiel ihr, in ihren aufwändigen, pelzbesetzten, manchmal mit Spitzen verzierten und in besonders raffiniertem Schnitt kopierten Meisterwerken aufzufallen, die sie irgendwo gesehen und sofort eifrig nachgearbeitet hatte. Aber sie wusste, hier auf diesem schlammigen Boden, inmitten von Menschen, die schwer arbeiteten und anderes im Sinn hatten als Putz und Tand, würden diese Kreationen niemals richtig zur Geltung kommen.

Ein scharfer Ruck lief durch den Zug. Emilia wurde nach vorn geschleudert und fast von ihrem Sitz gerissen. Ihre Medikamententasche, die sie wie einen Schatz auf den Knien umklammert gehalten hatte, fiel zu Boden und öffnete sich und in wahllosem Durcheinander rollten Mullbinden, Tablettenschachteln und Spritzen heraus. Neben ihr stöhnte die junge Frau und ein alter Mann, der sich in die Ecke des Abteils gekauert hatte, murmelte polnische Worte und bekreuzigte sich ein über das andere Mal. Die dicke Bäuerin mit dem Kopftuch um das von Wind und Wetter gegerbte, runde Gesicht schrie auf, sie war von der Bank geglitten. Ihre Kinder, ein schmächtiger Junge von etwa siebzehn Jahren und ein zwölfjähriges Mädchen, beugten sich besorgt über sie, halfen ihr auf ihren Platz zurück und versuchten dann eifrig, die lebensrettenden Utensilien einzusammeln, die auf dem Boden verstreut lagen.

Emilia erhob sich seufzend mit einem Dankeswort, ihre Tasche wieder fest an sich pressend, und ihr Blick wanderte automatisch zu der jungen Mutter, die nur aufgestöhnt hatte und ihr Kind wie vorher eng an sich gedrückt hielt, als wollte sie es mit ihrem eigenen Körper wärmen. Ihre Augen starrten angstvoll, weit aufgerissen und fiebrig glänzend zu ihr herüber. Das Kind regte sich nicht und unter dem wollenen Mützchen war nur der Schimmer seines stummen, gelblichen Gesichtchens zu erkennen. Der Verdacht Emilias erhärtete sich, als sie die blau angelaufenen Händchen des Kleinen sah, die in eigenartiger Starre an seiner Seite baumelten.

Sie wandte, ohne ein Wort zu sagen, den Blick ab. Jetzt war nicht die Zeit dazu, sich damit auseinander zu setzen.

Der Siebzehnjährige, kein Kind, aber auch noch kein Mann, sah sie fragend an. „Warum hält der Zug hier auf offener Strecke?“ Seine Stimme klang rau und gebrochen und er hustete hohl nach den wenigen Worten.

Emilia zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. „Ein technisches Problem vielleicht“, erwiderte sie und versuchte dem Jungen zuzulächeln. So schwer ihre Glieder auch waren, sie musste nachsehen, was geschehen war, und zugleich ihren drei-stündlichen Rundgang durch die Waggons antreten, um nach den Kranken, Alten und Kindern zu schauen.

Der Zug schien sich wieder in Bewegung zu setzen. Doch schon nach kurzer Zeit wurde die Fahrt mit einem heftigen Ruck und durchdringendem Schleifen der Räder erneut unterbrochen. Emilia bemühte sich, das Fenster zu öffnen und hinauszusehen.

Sie standen auf den Gleisen mitten in der vereisten und öden Landschaft, in der ein bleiches und trübes Winterlicht die frostigen Zweige und schneebedeckten Erderhebungen erhellte. Emilia zog den Kopf zurück und blickte auf die Uhr. Es war erst acht Uhr morgens. Wenn sie doch nur endlich in Stolp wären und sie diese Last, die Leute, die mit Hilfe suchendem Ausdruck in den Augen flehend zu ihr aufsahen, als wäre allein sie es, die Rettung bringen könnte, endlich abliefern, sich dieser Bürde, die sich ihr drückend auf die Brust legte, endlich entledigen könnte! Sie fühlte sich so hilflos angesichts des unsagbaren Leides, das sie umgab.

Seufzend nahm sie ihre Rotkreuztasche und hängte sie über die Schulter, in der Hand die Wasserflasche, das kostbare Nass, das sie nicht verschwenden durfte. Sie war innerlich wie durch und durch gefroren, steif und unbeweglich ihre Beine. Mühsam dehnte sie den erstarrten Körper und probierte vorsichtige Bewegungen ihrer eingeschlafenen Glieder und ein ermunterndes Lächeln. Dies und ein paar warmherzige Worte halfen den Leuten oft mehr als jede Medizin.

Langsam ging sie durch die Abteile, verband Wunden, verteilte schmerzlindernde Mittel, Hustensaft, von dem sie wusste, dass er kaum nützte, Chinintabletten; in schwereren Fällen gab sie Spritzen und hoffte, dass einige der stark fiebernden kleinen Kinder die nächste Nacht noch überleben würden. Die Liste der Beschwerden war unnennbar lang; es gab Durchfälle, Mangelernährung, Lungenentzündung und Unterkühlungen, ganz zu schweigen von Schwäche und Kreislaufproblemen aus Nahrungsmangel. Alle Mitreisenden hatten Hunger. Wenn der Zug noch länger hielt, würde die Nahrungsversorgung gefährdet sein. Doch niemand klagte, alle duckten sich aus Angst vor dem Einmarsch der Russen, die an der Weichsel schon auf Kulm zurücken sollten.

Ein junges Mädchen, abgemagert bis auf die Knochen, die an den Schultern fast durch die Haut stachen, nur in ein verlaustes, schmutziges Wolltuch gehüllt, starrte ihr mit großen Augen aus dem durch ständigen Hunger abgezehrten und gealterten Gesicht entgegen. Mitleidig nahm Emilia ein Stück ihrer Brotration aus ihrer Schürze und reichte es ihr. Die Kleine verzog den Mund und schüttelte den Kopf. Sie verspürte keinen Hunger mehr, nur Ekel beim Anblick der Nahrung und wusste nicht, dass sie sich in jenem Stadium befand, in dem der Körper schon mit allem abgeschlossen hat. Emilia presste es, obwohl sie so oft gleiche Szenen sah, in abgrundtiefer Traurigkeit das Herz zusammen. Ihr Wille zu helfen war so stark, dass es sie schmerzte, wenn sie sah, dass alles vergeblich schien.

Ein lauter Schrei auf dem Gang ließ sie zusammenzucken. „Schwester, kommen Sie, schnell! Es ist schrecklich – eine Verrückte!“ Ein weißhaariger Mann packte sie am Arm, in seiner Miene malte sich blankes Entsetzen. „Sie müssen sie beruhigen.“ Er versuchte sie mit sich zu ziehen. Emilia machte sich los und bemühte sich, Ruhe zu bewahren, obwohl ihr Herz wie ein Trommelfeuer klopfte. „Ein Streit – sie hat ein Messer – sie will uns alle umbringen, hat sie gesagt!“

Die junge Schwester war nahe daran, den Kopf zu verlieren. „Lassen Sie mich, ich kann doch nichts tun! Ein Mann viel leicht – aber doch nicht ich!“

Der Alte sah sie bittend an, dann stieß er hervor: „Geben Sie ihr etwas, damit sie ruhig wird. Sie wird vielleicht auf Sie hören – irgendetwas ... Ich bitte Sie, helfen Sie uns!“

Die Schwester zögerte einen Augenblick, dann stieß sie einen Seufzer aus und folgte dem Mann durch die engen Gänge des Zuges. Sie stieg über Menschen, die auf dem Boden hockten oder lagen, hinweg und wand sich zwischen verschnürten Paketen und Koffern hindurch, auf denen sie saßen und die ihre ganze Habe enthielten. Mit leerem Blick starrten die Vertriebenen vor sich hin. Ihre Augen belebten sich, als die Rettung verheißende Schwester in ihrer weißen Schürze mit dem Rot-Kreuz-Zeichen und dem Häubchen auf den zusammengesteckten Zöpfen auftauchte. „Schwester!“ Hilfe suchende Arme streckten sich von allen Seiten nach ihr aus. „Helfen Sie mir – meinem Sohn – meinem Mann – meinem Kind ...“ Emilia legte die Hände an die dröhnenden Ohren, verzog das Gesicht und versuchte, Fassung zu bewahren.

Schon von weitem hörte sie das kreischende Schreien, die hohen Töne eines bis zum Äußersten entbrannten Streites. Widerstrebend weitergezogen von dem alten Mann, stand sie unversehens vor einer Gruppe Menschen, die sich bei ihrem Erscheinen plötzlich teilte, als hätte ein Engel den Waggon betreten. Es wurde mit einem Schlag still.

Vor ihr stand mit wilden Augen, zerzausten Haaren und verlebtem, faltigem Gesicht eine Frau, die angriffslustig ein breites Messer schwenkte und heftige Stoßbewegungen in den leeren Raum vollführte. „Kommt nur her, ihr feigen Schlappschwänze!“, schrie sie und rollte die Augen wie ein tollwütiges Tier. „Wenn ich auch eine Hure bin, beleidigen lasse ich mich von niemandem!“ Ihre Haare hatten sich gelöst und fielen, schwer und trotz ihrer verblühten Jugend nur von wenigen weißen Strähnen durchzogen, voll und glänzend über ihre Schultern. Der üppige, aus allen Formen geratene Körper bewegte sich mit der Geschicklichkeit einer täppischen Bärin auf ihre Kontrahentin zu. „Ich bring dich um, ich bring euch alle um! Schaut mich nur an, ja!“ Schaum stand vor ihrem Mund und man konnte unschwer erkennen, dass sie zu allem fähig war. „Ich will deinen Mann nicht!“, fuhr sie die dicke Bäuerin an, die sie mit wutfunkelnden Augen anstarrte. „Du kannst ihn behalten, diesen Mistkerl, diesen Feigling! Wenn ich ihn doch nie gesehen hätte! Ihr habt mich ausgenützt, ich bring euch alle um!“ Wie rasend stürzte sie sich mit gezücktem Messer auf einen unscheinbaren Bärtigen, der sie mit abweisendem Blick und verschränkten Armen musterte.

Schwester Emilia, blass geworden, wich zurück, als sie sah, dass der Bärtige mit einem Schmerzensschrei zusammensank. Die mutigsten der umstehenden Männer stürzten sich auf die Tobende und hielten sie fest.

„Geben Sie ihr eine Spritze, irgendetwas, das sie ruhig macht, sonst gibt es Mord und Totschlag!“, flüsterte der Alte hastig. „Rasch! Worauf warten Sie noch? Die werden sich alle gegenseitig umbringen!“

Die Schwester nickte und nestelte mit zitternden Händen an ihrer Tasche, während der Tumult um sie herum weiter anschwoll. „Sie hat meinen Mann ermordet!“, schrie die Bäuerin mit gellender Stimme. „O Gott, wer wird sich um meine Kinder kümmern? Sie hat ihnen den Vater genommen!“ Verzweifelt warf sie sich auf den Blutenden und rang die Hände.

Emilia zwang sich zur Ruhe und zog mit fliegenden Händen eine Spritze mit einem starken Beruhigungsmittel auf. Sie hatte genug von diesen Substanzen dabei, um eine ganze Mannschaft außer Gefecht zu setzen. Entschlossen näherte sie sich der tobenden Frau, die sich immer mehr in ihre Wut hineinsteigerte, und setzte der von fünf Männern nur mühsam Gebändigten die Spritze durch die Wolljacke über dem dünnen Baumwollfähnchen. Augenblicklich sank die Rasende mit einem Aufschluchzen in sich zusammen, das Gesicht in den Händen vergraben.

Jetzt erst konnte Emilia sich dem Verletzten widmen, der leise stöhnte; er blutete stark aus einer Blessur an der Schulter. Die Wunde schien nicht allzu tief zu sein und Emilia säuberte sie, wie sie es gelernt hatte, mit aller Konzentration und verband fachgerecht den Mann, der apathisch auf dem Boden lag. Seine Frau schluchzte hysterisch und schlug sich immer wieder mit den Fäusten an die Brust, und ihre beiden Kinder, verstört durch das Getümmel und die Verletzung des Vaters, fielen in das Geschrei mit ein und heulten um die Wette. Von den anderen Männern waren sich einige, die verschiedene Parteien ergriffen hatten, ebenfalls in die Haare geraten und bedrohten sich mit wilden Gebärden. Chaos schien auszubrechen; hinzu kam, dass es immer kälter wurde, denn solange der Zug stand, fiel auch das bisschen Heizung aus, das bis dahin die Waggons ein wenig erwärmt hatte.

Kurz entschlossen riss die Schwester ein Päckchen mit Schlaftabletten auf, die sie in großer Menge bei sich trug, und verabreichte mit Hilfe des Alten allen Anwesenden eine Dosis Veronal, die jedermann ohne Aufbegehren schluckte. Emilia besaß die Autorität des Rettungsengels, ohne den sie alle verloren gewesen wären. Das Messer, das achtlos am Boden liegen geblieben war, steckte sie unauffällig in ihre Umhängetasche mit dem roten Kreuz.

Langsam trat Ruhe ein. Die Flüchtlinge zogen sich wieder auf ihre Plätze zurück oder streckten sich auf dem Boden, auf ihren Bündeln und Paketen aus. Schläfrig und erschöpft starrten die eben noch so Aufgebrachten vor sich hin und erst jetzt bemerkten sie, wie lange der Zug schon auf freier Strecke hielt.

„Warum geht es nicht weiter?“, rief ein brummiger Hüne, an einem Brotkanten kauend. „Dieser verdammte Zug will doch wohl nicht ewig hier stehen bleiben!“

In diesem Moment gab es einen dumpfen Knall, der alle erstarren ließ. Aus dem benachbarten Waggon drangen laute Geräusche, die Türen wurden geöffnet und der Zugführer stieg aus. „Wir sitzen fest!“, rief eine atemlose Stimme plötzlich durch den Wagen. Ein junger Arbeiter mit Schiebermütze und blassen, mageren Zügen riss die Zugtür mit einem Ruck auf und lehnte sich erschöpft gegen das Fenster, nachdem er versucht hatte, es einen Spalt zu öffnen. Eisige Winterluft drang in den stickigen Raum und Protestgeschrei antwortete ihm. Er schloss das Fenster wieder und sah in die Runde. „Keine Kohlen mehr“, ächzte er, „wir kommen nicht mehr weiter.“

Unruhiges Gemurmel antwortete ihm.

„Wenn wir nicht heizen können, fährt der Zug nicht, ganz einfach! Ihr müsst alle mithelfen, sonst wird uns der Russe angreifen und wir sind alle verloren.“

„Da hätten wir auch gleich auf unseren Höfen bleiben können!“, ließ sich ein anderer in mürrischem Ton vernehmen. Ein Kind begann zu weinen: „Ich hab Hunger, Mama, ich hab Hunger!“ In diesem Moment beglückwünschte sich die Schwester im Stillen zu ihrer Entscheidung für die Beruhigungsmittel, denn spätestens jetzt wäre eine Panik unter den Reisenden ausgebrochen.

„Was sollen wir denn machen?“, erklang eine schwache, ängstliche Stimme.

„Wenn wir nicht verhungern wollen, dann müssen wir in die Dörfer und um Kohlen betteln! Ihr müsst alle mithelfen! Wer noch laufen kann, der muss los. Die Alten, die Kinder und die Kranken bleiben im Zug. Hier, die leeren Kohlensäcke können wir zum Sammeln gebrauchen.“

Plötzliche Stille trat ein. Die Gesichter waren gelb, verzerrt von Anstrengung, Kälte und Entbehrung und die Aussicht, in den eiskalten Morgen hinauszuwandern, ohne einen Bissen im Magen oder etwas Warmes zu trinken, ängstigte sie. Aber wenn sie leben wollten und ihren Weg fortsetzen, dann mussten sie hinaus. In das Greinen des Kindes, das sich erneut erhob, waren andere mit eingefallen und ein herzzerreißendes Jammern und Klagen nach Brot und Essen hob unter der kleinen Schar an. Selbst die Kranken, lethargisch, notdürftig am Boden gelagert, stöhnten auf, der Hoffnung beraubt, bald in einem soliden Lazarett versorgt zu werden und der Gesundung entgegenzusehen.

Doch die Lähmung, die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der Verzweiflung dauerte nur wenige Minuten. Ein Mann sprang auf. „Ich gehe! Wer kommt mit mir?“ Von allen Seiten erklang es: „Ich, ich ...“, und bald hatte sich eine große Gruppe formiert, die ihre Stiefel schnürte und so viel Kleidung wie möglich übereinander zog. Mit geröteten, von Schlafmangel überanstrengten Augen versuchten die Männer die endlose Weiße der tristen Schneelandschaft zu durchdringen. „Es ist aussichtslos“, klagte einer von ihnen. „Wo soll hier ein Dorf sein? In welche Richtung sollen wir gehen? Ich sehe nichts als Öde, Schnee und dürre Sträucher.“ „Dort hinten – ist das nicht ein Kirchturm?“, rief ein anderer. „Ich hab einen Kompass.“

„Halt – ich gehe mit!“, rief Emilia trotz ihrer chronischen Müdigkeit, einer plötzlichen Eingebung folgend. Alles war besser als hier im Zug, der untätigen Verzweiflung ausgesetzt, unter all den Elenden auszuharren. Einer Schwester würde man bestimmt etwas überlassen. Sie würde für ihre Kranken sammeln!

Bratkartoffeln und Rote Beete

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