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V. Kapitel Höllentrip über das Eis der Weichsel
ОглавлениеDer Fluss lag wie ein bleicher weißer Schatten in der Morgendämmerung, während sich am Horizont der Himmel rötlich färbte und einen klaren Sonnenaufgang verhieß. Leichte Nebel erhoben sich über der halbzerstörten, verlassenen Stadt, von der man in der Ferne deutlich die Spitzen der Türme erkennen konnte. Schon um diese frühe Stunde bewegte sich ein unaufhörlicher Zug weiter zum Fluss, warteten unzählige Kutschen, Schlitten und Fahrzeuge aller Art in der Schlange, um noch über die feste Eisbrücke hinüberzukommen, solange sie hielt. Wieder würden sich wahrscheinlich die gleichen Szenen abspielen wie in den vergangenen Tagen, wenn fassungslose Zuschauer am Ufer mitansehen mussten, wie in der Hast, das andere Ufer zu erreichen, ganze Wagen zwischen den tückischen Bruchstellen des Eises versanken, ohne dass man den Insassen noch helfen konnte. Auch heute würden vielleicht wieder Pferde, die bei einem falschen Schritt von der glitzernden Eisfläche glitten, wild werden und mitten auf dem Fluss einbrechen, würden Planwagen, Menschen und ihre Habe gnadenlos mit sich reißen. Wie ein Spuk versank dann das Ganze gluckernd in den eisigen Fluten, die sich unter der dünnen Schneedecke verbargen, und wurde, ohne dass jemand es verhindern konnte, flussabwärts hinweggeschwemmt.
Die Pumpen, die neues Gefrierwasser über die Eisbrücke sprühen sollten, um sie zu festigen, waren schon am Werk, als die erste Gruppe Soldaten erschien, die abkommandiert war, den Übergang zu leiten.
Das Gesicht des jungen Soldaten Conny trug heute einen entschlossenen Ausdruck. Er wollte nicht so lange warten, bis sie, eingeschlossen in der Festung, dem Verderben und dem nahenden Feind endgültig preisgegeben waren. Längst hatte er erkannt, dass sie diesen Endkampf, in dem die verbleibenden Mannschaften krampfhaft die Stellung halten sollten, schon verloren hatten. Sie würden in letzter Instanz nur noch als Kanonenfutter dienen. Das hieß nicht, die Kameraden im Stich zu lassen; hier ging es um Leben oder Sterben, für eine Sache, hinter der er nicht mehr mit all seiner Einsicht stehen konnte, ein Kampf, der aussichtslos, ja ein Himmelfahrtskommando war. Eine unbestimmte Ahnung in seinem Innern, die Stimme, die ihn bisher immer in gefährlichen Situationen gewarnt hatte, sagte ihm, er müsse weg, so schnell wie möglich, so bald wie möglich. Das Spüren einer direkten Gefahr hatte ihn fast die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Er kannte diese Unruhe, diese merkwürdige Vorahnung, die ihm bisher noch jedes Mal das Leben gerettet hatte.
Sein dicker Ledermantel bot ihm Schutz vor der Kälte, aber viel mitzunehmen war nicht möglich gewesen. So oder so, ob man ihn nun auf der anderen Seite aufgriff und erschoss oder ob er die Chance haben würde, sich zum nächsten Bataillon in der Tuchler Heide durchzuschlagen – er musste es riskieren. Willi wollte mit ihm fliehen. Schnaufend bewegten sich die Soldaten ohne ein Wort durch den tiefen Schnee, der die Festung umgab, und suchten mit zusammengekniffenen Augen den Horizont ab. Es gab keine neuen Meldungen, nur Gerüchte, der Russe sei nicht mehr weit. Aber auch der Feind schwankte in seiner Überzeugung, wo und in welcher Stärke und Anzahl sich sein Gegner befand; er war nur fest entschlossen, ihm die deutsch-polnischen Gebiete wieder abzunehmen, ihn einzuschließen und zu vernichten. Man belauerte einander und der Tag schien nicht fern, an dem es zum entscheidenden Kampf kommen würde.
Durch Blicke und Gesten verständigten sie sich, als sie die ersten Wagen, die die Brücke passieren sollten, mit einer Handbewegung durchließen. Andere drängten sich, als hätte man nicht die geringste Zeit zu verlieren, hinter den vorderen nach und das Wiehern der aufgeregten Pferde zerriss die eisige Luft.
„Halt!“ Conny sprang vor. „Ihr seid ja verrückt! Seht ihr denn nicht, dass ihr euch gegenseitig vom Weg abdrängt?“
Das verschlossene, verzweifelte Gesicht des Mannes auf dem Bock, dessen Wagen überladen war mit Möbeln und Hausgeräten, gab keine Antwort. „Runter mit den Sachen, aber schnell – der Wagen ist zu schwer!“ Das war ein Befehl und Conny setzte die Waffe an. Die Leute drehten einfach durch – sie wussten nicht, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten; die provisorische Eisbrücke trug nur eine gewisse Last und man konnte so gut wie nichts mehr für sie tun, wenn sie einbrachen. Außerdem gefährdeten sie mit ihrem Gewicht die ganze Konstruktion.
Ein Kopfschütteln war die Antwort und das blasse Gesicht einer Frau, deren Kinder sich eng an ihren Körper pressten, lugte ängstlich aus der Ansammlung von Gegenständen hervor, die bis zum Bersten auf das wacklige Gefährt aufgeladen waren. Ein alter Mann, dessen weißes Haupt- und Barthaar sich kaum von seinem leichenblassen Gesicht abhob, hielt die Hand seiner Frau, die halb hingestreckt und anscheinend krank auf einem alten Fell am Boden der Kutsche lag. „Wir sind sieben Personen – wir brauchen die Sachen!“, rief der Mann und machte Miene, auf den Soldaten, der sich ihm in den Weg gestellt hatte, zuzusteuern.
„Stehen bleiben! Es ist verrückt, so auf das Eis zu fahren!“ Conny wagte es nicht, einen Warnschuss abzugeben. Das würde die Pferde toll machen und er konnte den Wagen nicht daran hindern, in voller Fahrt auf die Eisfläche zu rutschen. Der Kutscher hatte aus Angst, man könnte ihm sein Hab und Gut wegnehmen, die Pferde mit der Peitsche aufs Äußerste angetrieben und das Gefährt schlingerte mit den rutschenden Pferden auf die Seiten der abgesteckten Brücke zu. Stumm, die Augen in blankem Entsetzen aufgerissen, dann aufgeregte Schreie ausstoßend, sahen die Insassen der Kutsche dem Manöver zu, wagten es aber nicht, sich dem Oberhaupt der Familie entgegenzustellen. Den beiden Alten schien alles egal zu sein. Der Weißbärtige sah nicht einmal auf; mit gesenkten Lidern das Kreuzzeichen auf der Brust schlagend, warf er nur einen kurzen Blick zu seiner Frau hinüber, die mit geschlossenen Augen reglos auf dem Fell lag. „Hüh, he!“ Der Kutscher versuchte wie von Sinnen die Pferde einzufangen, die den Boden unter sich wanken fühlten und blind vor Angst lospreschten, das voranfahrende Gefährt bedrängend, das jetzt ebenfalls aus dem Gleichgewicht geriet.
Die Soldaten traten zurück. Es war zu spät, man konnte die Leute nicht davon abhalten, ins Verderben zu rennen. Den ganzen Tag über gab es Dutzende solcher Situationen. Mochten die unüberlegten Insassen sehen, wie sie davonkamen.
Ängstlich hielt der nachfolgende Treck an, die Situation beobachtend. Die beiden Wagen schleuderten mit den sich aufbäumenden Pferden über das Eis. In der Nacht hatte es sehr gefroren, aber noch hatten sie nicht einmal die Mitte des Flusses erreicht; vielleicht war das Glück auf ihrer Seite und das Eis am Rand hielt dem Gewicht stand. Die Pferde des vorderen Gefährts, erschreckt durch die Schreie und das Gerumpel hinter ihnen, zogen an, als müssten sie sich ebenfalls beeilen, das andere Ufer zu erreichen. Sie spürten die Unsicherheit des glitschigen Bodens, das Gluckern des Wassers um sie herum; und das Rauschen der offenen Stellen verdoppelte ihre Angst.
Schon hatten die beiden Wagen die Mitte des Eises erreicht, doch in diesem Augenblick rutschten die großen Räder des hinteren, voll beladenen Anhängers und er sackte umkippend seitlich in die unbefestigten Regionen. Das Eis brach und der Wagen drehte sich um seine eigene Achse, während die Pferde blind ins Leere liefen. Ein dumpfes Knacken erfüllte die Luft und die verzweifelten Schreie der Mitfahrenden, vermischt mit dem Wiehern der Pferde, von Zügeln und Geschirr festgehalten, gellten über den Fluss. Die Mutter mit den beiden Kindern versuchte aus dem halb umgekippten Wagen zu springen, der langsam einsank. Hilflos streckte der Kutscher die Arme nach ihnen aus, der Alte bekreuzigte sich ein weiteres Mal und der Wagen versank mit den Pferden und allem, was sich darin befand, erst langsam und dann immer schneller in den kalten Fluten, die sich wie ein Schlund über der glitzernden Fläche geöffnet hatten und Mensch und Pferd, Wagen und alles, was sie von ihrer Habe retten wollten, in ihren eisigen Sog zogen.
Hilflos hatten die Soldaten und der Zug der wartenden Wagen dem Drama, das sich zu schnell und zu weit draußen ereignete, zugesehen, ohne eingreifen zu können. Jeden Tag spielten sich ähnliche Szenen auf der Weichsel ab. Obzwar gewarnt, waren die Leute zu unvernünftig oder wurden Opfer ihrer nervenschwachen Pferde.
„Zurückbleiben!“ Vor Angst wie erstarrt, den stummen Schrei des Entsetzens in der Kehle schauten die Menschen auf den wartenden Wagen über den Strom, dessen eisige Schollen sich teilten und sich über Mensch und Pferd, Möbeln und Säcken, den Resten einer ganzen Existenz, unerbittlich schlossen. Doch es half nichts, sie mussten denselben Weg nehmen, wenn sie hinüber wollten, denn hinter ihnen lauerte eine kaum geringere Gefahr. Hier hatten sie wenigsten eine Chance, die letzte, dem noch größeren Schrecken zu entrinnen – der Gefangenschaft und Willkür des Feindes, Folter und Mord. Die Berichte von Grausamkeiten, Verstümmelungen und Vergewaltigungen machten die Runde und geisterten in allen Köpfen.
Conny hob den Arm und stellte sich mitten auf den mit einem Seil abgesperrten Zugang zum Strom vor die Andrängenden. „Halt, nicht weiter! Zurück!“ Zum Teufel, es war zum Verzweifeln – die Leute lernten nichts oder wollten nichts lernen. „Zu stark beladene Wagen zurück!“, schrie er den Ankommenden entgegen. „Ihr seht doch, dass ihr damit nicht rüberkommt! Alles runter! Das Eis trägt nicht. Wir lassen niemanden mehr durch mit großem Gepäck!“ Er packte seinen Karabiner, sicherte das Maschinengewehr, das er unauffällig mitgenommen hatte, obwohl er es zu diesem Einsatz eigentlich nicht brauchte, und stand drohend vor der Absperrung.
Hinten in der Kolonne begannen einige Bauern zögernd Ballast abzuladen; dumpfes Murmeln erhob sich und Säcke fielen in den Schnee. Abschätzend ließ Conny seine Blicke über die wartenden Wagen gleiten. Alle Arten von fahrbaren Untersätzen waren darunter, klapprige Bauernkarren mit Planen, geräumige Kutschen mit Gespannen und einfache Kastenwagen, die Gepäckschlitten mit sich führten „Alle schweren Gegenstände abwerfen!“, schrie er den Wartenden an. Er sah zu Willi hinüber und machte ihm ein Zeichen, mit dem Kopf auf einen der kleineren Wagen deutend, die in der Schlange warteten. Es war einer jener leichten, von einem untersetzten Pferdchen gezogenen Panjewagen, mit einer simplen Feldplane bedeckt, der zwei kleine, an der Hinterachse angebundenen Schlitten zog, die ein paar sperrige Möbelstücke, eine Art Tisch und Kommode transportierten. „Die Möbel runter!“, schrie er, auf die Seite tretend. „Niemand kommt durch, der überladen ist.“ Er trat näher an den Kameraden heran und flüsterte: „Schau dir den gut an! Den nehm ich mir! Und du dir den nächsten. Die kommen leicht rüber!“ Mit einem Ruck machte er die Leine los und ließ das nächste Gefährt, das ungeduldig wartete, passieren.
Das Eis knackte bedrohlich, als die Wagen sich auf die unsichere, von Schnee bedeckte Fläche begaben, doch der Treck rollte wieder regelmäßig voran. Als der Panjewagen erschien, der auf seinen ausdrücklichen Befehl einen Teil seiner Last entladen hatte, warf sich Conny auf einen der beiden Schlitten, die hin und her schlingerten, und legte sich, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, flach unter die Plane, die ihn zur Hälfte bedeckte. Der Bauer, der sich auf den Weg und die schmale Eisbrücke konzentrieren musste, hatte nur einen Augenblick Zeit, sich erstaunt nach seinem neuen Fahrgast umzudrehen. Conny machte ihm ein Zeichen und rief: „Ich muss rüber – fahr zu! Die Kameraden drüben sollen abgelöst werden.“ Hinter sich sah er aus den Augenwinkeln Willi, der es ihm im Anfahren der anderen Karren gleichtat, sich ebenfalls auf einen Schlitten warf und unter die Plane duckte.
Die Kameraden, mit der Betätigung der Eispumpen, dem Abladen und Sichern der Brücke beschäftigt, hatten noch nicht bemerkt, dass jemand fehlte. Langsam holperte der Panjewagen über die kristallene, rutschige Oberfläche, verloren zwischen den großen Gefährten, die sich dicht hintereinander langsam vorwärts bewegten.
Es war ein höchst ungemütliches Gefühl, so mitten auf dem blanken Eise, das unter den Rädern knackte und sich zu verschieben schien, wie auf einer gläsern wirkenden, transparenten Schicht dahinzurollen, neben sich gluckernde Wasserpfützen und in der Mitte aufragende Reste versunkener Wagen. Die Sonne war hervorgebrochen; das Glitzern des Eises blendete die Augen und die Landschaft, in die die Biegung des Flusses eine gleißende Silberader hineinschnitt, war von unschuldiger, überzuckerter Schönheit. Raureifbedeckte Bäume säumten ungleichmäßig die Ufer, sie streckten ihre schneebestäubten Äste gen Himmel, der von reiner, glasklarer Bläue schien. In der Ferne, auf dem Hügel tauchte das Burggemäuer auf, wie ein Märchenschloss aus alter Zeit, umgeben von dichtem Tann, dessen Nadeln von brillant aufleuchtenden Kristallen besetzt schien. Alles war von atemberaubender, unschuldsvoller und friedlicher Schönheit und nichts sprach von der Gefahr, der dunklen Drohung, der Verfolgung des unerbittlichen Feindes, von den Entbehrungen, vom Verlust der Heimat und vor allem von der Tücke des einbrechenden Eises und der würgenden Angst, die über allem lag. Niemand hatte auch nur einen Blick für die tragische und poetische Schönheit der Naturkulisse. Jetzt ging es um nichts anderes mehr als darum, das nackte Leben zu retten.
Eine plötzliche Stille war eingetreten und nur das Ächzen der Räder, das Knallen der Peitsche und das dumpfe Trappeln der Pferdehufe war zu vernehmen, als hielten Mensch und Tier auf den Wagen für eine Weile den Atem an. Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen und hinter ihnen drängten die nachfolgenden Gespanne, deren Pferde kaum zu bändigen waren, nach.
Als sie die Mitte des Flusses erreicht hatten, an dem versunkenen Gefährt vorbei, von dem Teile der Ladung in einen offenen Stromteil geschwemmt waren, hörte Conny hinter sich laute, aufgeschreckte Rufe, die Hühs und Hes eines Kutschers, seine Flüche und das Quietschen der Räder, die sich aberwitzig auf der glatten Eisfläche zu drehen begannen. Pferde wieherten in aufkommender Panik, mit der sie die vorderen ansteckten. Der ganze Zug geriet in unheilvolle Bewegung, wie eine Welle, die sich über die schmale, abgesteckte Eisrampe mitzuteilen schien, und schon hatten sich wieder zwei der Wagen gerammt und gegenseitig über den gesicherten Boden hinausgeschoben. Als Conny sich umwandte und zurückblickte, sah er schaudernd, wie mit einem scharrenden Krachen die Räder des abgedrängten Wagens einsanken, dessen Pferde sich in heller Angst, keinen festen Boden mehr unter den Hufen zu haben, hoch aufbäumten. „Weiter!“, schrie er dem verdutzten Fahrer seines Panjewagens zu, der seinem ungebetenen Fahrgast einen feindlichen Blick zuwarf. „Nicht stehen bleiben, verdammt noch mal!“
Unruhige Bewegung verbreitete sich über den ganzen Treck, dessen Fahrt jetzt durch den quer gestellten Wagen blockiert war, und von überall konnte man spitze Angstschreie der Frauen und Kinder vernehmen, die sich schon wie der vorherige Unglückswagen in den eisigen Fluten untergehen sahen. Jetzt rutschte auch der leichte Panjewagen, dessen stämmiges Pferdchen sich von der Nervosität der anderen hatte anstecken lassen, und geriet ebenfalls über die Absperrung. Der Schlitten schlingerte in wilden Sprüngen hin und her und kollerte über die holprigen Eisschollen, die halb auf dem grauen Wasser des Stromes trieben und deren grausames Glitzern in der fahlen Wintersonne zu sagen schien: „Ihr entkommt mir nicht. Wir werden uns über euch schließen, in einem eiskalten, nassen Grab, als wäret ihr niemals da gewesen!“ Bereit, notfalls abzuspringen, hielt sich Conny an dem wie verrückt nach allen Seiten schlenkernden Schlitten fest. Doch der leichte Wagen, von einem bedächtigen Kutscher gelenkt, gewann wieder Boden und erreichte die feste Fläche erneut. Hinter ihm schien das Inferno loszubrechen. Wagen kippten, verkeilten sich ineinander, Pferde stürzten, galoppierten mit ihrer Last auf die freie, dünne Eisfläche des Flusses, brachen ein und versanken mit der verzweifelten Besatzung in der unsichtbar strömenden Wasserfläche, die sich unter der nur scheinbar tragfähigen Schicht des bläulich schimmernden Eises verbarg. Schreckliche Schreie zerrissen die Luft und Todesangst malte sich auf den Gesichtern der Menschen, die von den fließenden, schaurig kalten Fluten sofort hinabgezogen und weggeschwemmt wurden. Sie wussten, dass sie auf keinerlei Hilfe mehr hoffen durften. Mindestens drei Wagen, die hinter ihm fuhren, hatten die rettende, gesicherte Furt verlassen und zwei davon waren mit allem, was sich darin befand, in der Tiefe versunken. Der dritte blockierte umgestürzt, mit halb eingebrochenen Rädern, die Durchfahrt für die anderen. Panik begann sich im hinteren Bereich auszubreiten, während die vorderen, starr und angstvoll geradeaus blickend, ihren Weg fortsetzten, immer auf der Hut, dass ihnen nicht das gleiche Schicksal beschert würde.
Conny richtete sich auf und starrte mit zusammengekniffenen, von der Sonne geblendeten Augen auf das Drama und fühlte sich dem grausamen Schicksal gegenüber unendlich hilflos, weil er außerstande war, den Ertrinkenden zu helfen. Es gab kaum eine Möglichkeit, einem einmal Eingebrochenen zu Hilfe zu kommen. Aber jetzt sah es so aus, als würde durch den Tumult und die Blockierung die ganze mühsam erzeugte Eisbrücke zerstört. Damit wären nicht nur einige, sondern Tausende von Menschen verloren, die in der Hoffnung den Fluss erreichten, noch auf die andere, vielleicht rettende Seite zu kommen. Es musste etwas geschehen. Die Kameraden am anderen Ufer konnten die Gestürzten nicht erreichten, aber er – er konnte doch hier, an dieser Stelle, der Katastrophe nicht tatenlos zusehen!
Hinter ihm, im Stau der umgekippten großen Kutsche, erhob sich neues Geschrei. Doch um den Weg wieder frei zu machen, musste der Wagen ins Wasser geschoben werden. Die Insassen konnten dann, entweder zu Fuß oder von den anderen aufgenommen, ihren Weg über die glatte, trügerische Schneefläche fortsetzen.
Während all diese Überlegungen durch seinen Kopf gingen, hielt sich der junge Soldat mit aller Kraft auf dem hin und her rutschenden Schlitten fest. Er hatte keine Ahnung, was mit Willi geschehen war, der sich einige Wagen hinter ihm befinden musste und von dem er hoffte, dass er nicht zu den Versunkenen gehörte. Aber war nicht der Krieg so? Musste nicht jeder selber sehen, wie er sich fortbrachte? Ein grausames Rezept, das Überleben um jeden Preis, der Weg rechts und links von Opfern gesäumt. Die Hilfeschreie der Frauen und Männer gellten in seinen Ohren, bis er es nicht mehr aushielt. In diesem Moment wusste er, dass er nicht anders handeln konnte.
Mit einem Satz sprang er von seinem Schlitten, der wie ein wild gewordenes Tier, hin- und herbockend durch die schneller gewordene Fahrt, über die Eisschollen rumpelte. Hinter ihm, ganz nahe, die geifernden Pferde, die, Schaum vor dem Maul, fast auf der Stelle galoppierten. Diese Fluchttiere konnten im Augenblick der Angst nicht ruhig verharren, und wenn sie sich auch ins Verderben stürzten. Keuchend ergriff er die Zügel der schlingernden, viel zu großen Kutsche und fasste den Pferden in die Nüstern, um sie zum Halt zu zwingen. Ein großer Brauner blieb mit dem Huf in einer Eisspalte hängen und brach in die Knie, den rasenden Lauf der anderen stoppend. Tollkühn warf sich Conny auf den Wagen, kletterte über die schreienden Insassen und sprang auf der Rückseite wieder hinab. So sich von Wagen zu Wagen hangelnd, langte er endlich bei dem eingebrochenen Gefährt an. Der eher ärmliche Karren hing, schon halb auseinander gerissen, zur Hälfte im Wasser und blockierte mit dem anderen sperrigen Teil seiner Rückwand den Weg. Die Räder hingen halb in der Luft, die gesamte Habe der Leute, in Säcke verpackt, lag ringsum verstreut auf dem Eis. Der unglückliche Kutscher war mit dem Vorderteil des Gefährts ins Wasser gestürzt und klammerte sich krampfhaft an ein Stück Holz des Wagens; er kämpfte verzweifelt in den eisigen Fluten, die ihn mitzureißen drohten. Sein weißes Gesicht mit offenem Mund, dem sich nicht einmal mehr ein Schrei entringen konnte, trieb wie ein Ball auf dem Loch im Eis, das der Wagen gerissen hatte. Seine Frau und die Tochter, ein junges blondes Mädchen, hatten sich auf den hinteren Teil gerettet; sie jammerten ununterbrochen, riefen alle Heiligen um Hilfe an und streckten die Hände nach dem Vater aus.
Conny überlegte nicht lange, riss eine Planke aus den Trümmern und setzte vorsichtig einen Fuß auf eines der Wagenräder, selbst in Gefahr, mit allem, was da war, zu versinken. Der Wagen schwankte. Vorsichtig zerrte er das raue Brett hinter sich her, während es unter ihm bedrohlich zu schaukeln begann und das Eis verdächtig ächzte. „Schluss, aufhören, lasst ihn doch! Der ist nicht mehr zu retten!“ Wildes Gemenge und aufgeregte Rufe waren hinter ihm zu vernehmen, in die sich die spitzen Hilfeschreie der Frauen mengten, die sich bedrängt fühlten. „Da ist ja doch nichts mehr zu machen. Die ganze Eisbrücke wird einstürzen und wir werden alle mit untergehen!“, riefen aufgebrachte Männer, die nicht vor und nicht zurück konnten, im Rücken der Kolonne. „Lasst den Mann, er ist verloren. Weiter, sonst gehen wir alle mit unter! Schiebt den Wagen ins Wasser. Alle anpacken!“
Der Soldat sah sich nicht um, unter sich nur das Knirschen des Eises und die trügerisch glasige Oberfläche, die unvermutete Löcher verbarg, unter denen das Wasser und die Strömung gurgelten. „Keine schnellen Bewegungen – langsam heraus“, ermutigte er die beiden Frauen, die gehorchten und vorsichtig nacheinander über die Rückwand des Wagens kletterten. Das junge Mädchen rutschte in letzter Minute auf dem glitschigen Holz aus, fiel zurück und brachte den Wagen dadurch in gefährliches Trudeln. Vom Schreckensschrei der Mutter und gleichzeitig von jähem Überlebenswillen getrieben, bäumte sie sich wieder auf und nach zwei Ansätzen gelang es ihr, endlich das tragende Eis zu erreichen. Schwer atmend, mit bläulichen Lippen von der schier übermenschlichen Anstrengung und der Kälte des Wassers blieb sie bäuchlings liegen. Die Mutter half ihr auf und schloss sie in die Arme, den Vater nicht aus den Augen lassend; der immer noch gegen den eisigen Strom, der ihn zu verschlingen drohte, ankämpfte. Vorsichtig hangelte sich Conny über das vordere Rad, das halb im Wasser hing und mit einem leichten Ruck ein Stück nachgab, als er es betrat. Jetzt streckte er die Planke langsam über die Wasseroberfläche und der Mann, dessen Kräfte im Eiswasser sichtlich nachließen, versuchte verzweifelt, sie zu erreichen und zu packen.
Hinter Conny hatte die Unruhe der auf der Eisbrücke Blockierten zugenommen. Wilde Rufe erhoben sich, Drohungen wurden ausgestoßen, jeder sah sein eigenes Leben und das seiner Familie in Gefahr. Wenn man noch länger in dieser Lage verbliebe, würden alle untergehen. „Aus dem Weg! Wir wollen weiter – wenn es nicht anders geht, mit Gewalt! Wir haben keine andere Chance mehr. Die Pferde drehen durch! Den Wagen ins Wasser! Schiebt ihn zur Seite!“, hallte es aufgeregt mit vielen Stimmen hinter ihm. Ein paar Männer kamen näher und machten Anstalten, den Wagen samt dem Soldaten in die Weichsel zu befördern. Conny, der mit dem Holzstück fast den Eingebrochenen erreicht hatte, richtete sich auf, als er die zu allem Entschlossenen sah, die schon die Fäuste ausstreckten, um die Reste des Karrens aus dem Weg und ins Eiswasser zu befördern. „Halt!“, schrie er donnernd, als er in die vor Angst und Verzweiflung weit aufgerissenen Augen der Männer sah; er packte seinen Karabiner und legte ihn an. „Wer näher kommt, ist als erster im Fluss.“
Die Männer wichen einer nach dem anderen zurück, doch die Planke war ihm bei der abrupten Bewegung aus der Hand geglitten, über das Eis gerutscht und trieb auf den Ertrinkenden zu, der nicht wusste, ob er es wagen sollte, den Wagen loszulassen und das Holz zu ergreifen. Mit einem letzten verzweifelten Schrei warf er sich auf die Planke und Conny beugte sich weit über das letzte Wagenrad, das mit einem hässlichen Geräusch bedrohlich splitternd einsank.
„Vater!“ Ein verzweifelter, lang gezogener Schrei entrang sich in diesem Moment der Kehle des jungen Mädchens, das bisher tatenlos und unbeweglich vor Angst am äußersten Rand der Eisbrückenabsperrung gestanden hatte. Sie stürzte vor und streckte dem Soldaten verzweifelt die Hände entgegen. „Retten Sie ihn, um Gottes willen, retten Sie ihn!“