Читать книгу Das Rascheln des Präriegrases - Nora-Lena Brägger - Страница 6
ОглавлениеWir setzten unseren Weg durch die endlose Weite der Prärie fort. Die Sonne war längst am Horizont verschwunden, und es wurde schnell dunkel.
Ich dachte an meine Tante. Ich kannte sie eigentlich nicht. Ich hatte sie ein paar Mal gesehen, doch das letzte Mal war schon lange her. Ich konnte mich kaum an sie erinnern. Ich hatte in den Fotoalben meiner Mutter ein Foto von ihr gesucht, bevor ich abgereist war. Ich nahm ein kleines Papierstück aus meiner Hosentasche, faltete es auseinander und betrachtete eine junge Frau, die mich abenteuerlustig und voller Energie anschaute. Sie stand auf einem Hügel, hatte die Arme ausgebreitet und strahlte über das ganze Gesicht. Auf dem Rücken trug sie einen grossen Tramperrucksack, der Wind wehte ihr die langen braunen Haare ins Gesicht und hinter ihr breitete sich eine weite karge Landschaft aus. Ich fuhr über das Foto, drehte es um und versuchte, die unleserliche Schrift zu entziffern. Pine Ridge Indian Reservation 1999.
Da war Tante Jul etwa fünfundzwanzig Jahre alt und ich gerade mal drei. Das war ein Drama gewesen. Als Jul alleine nach Amerika in ein Indianerreservat reiste und sich in einen Indianer verliebte und nicht mehr zurückkam. Ihre Eltern waren schockiert, doch sie konnten nichts machen. Jul hatte ihre grosse Liebe und ihre Heimat gefunden. Sie blieb dort und ist seither nur für ein, zwei Besuche nach Hause zurückgekehrt. Ihre Eltern unterstützten sie von da an nicht mehr, doch Jul hatte die Ausbildung zur Lehrerin in der Schweiz abgeschlossen und fand hier Arbeit. Sie heiratete Bill, bekam drei Kinder und lebte auf einem Hof inmitten der Prärie. Das war alles, was ich wusste.
Ich hatte sie immer heimlich bewundert, dass sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatte, um sich in einer ganz anderen Welt niederzulassen. Ich bewunderte sie für ihren Mut und die Kraft, sich ihrer Familie zu widersetzen, um ihren Traum zu leben und nicht nach den Vorstellungen der Eltern. Meine Mutter, ihre ältere Schwester, hatte diese Entscheidung nie verstanden. Aber ich glaube, insgeheim bewunderte sie ihre kleine Schwester ebenfalls, aber würde es nie zugeben.
«Zeig mal! Wer ist das auf dem Foto?», fragte Liam.
«Ich muss dich leider enttäuschen, wenn du gedacht hast, es wäre mein Freund. Es ist Tante Jul.»
Liam betrachtete die Fotografie. «Eine eindrucksvolle Aufnahme!»
«Ja, das war 1999, als sie das erste Mal im Reservat war.»
«Deine Tante ist schon lange hier. Womöglich kennt sie das Leben hier besser als ich.»
«Hat sie sich sehr verändert?»
«Was?»
«Ich meine Tante Jul von diesem Foto zu heute?»
«Ach so. Nein, ich denke nicht. Ich meine, klar hat sie sich verändert, aber sie ist immer noch die Gleiche geblieben. Sie ist eine wirklich tolle Frau!»
«Hmmm …»
«Du musst dir keine Sorgen machen. Du wirst sie mögen, und sie wird dich mögen. Alle freuen sich auf dich!»
«Wenn du meinst.» So schnell konnte mich Liam nicht überzeugen. Meine Gedanken schwirrten zurück in die Schweiz.
Es ging mir einfach nicht in den Kopf, wieso meine Eltern mich zu Tante Jul schickten. Sie verstanden sich überhaupt nicht. Meine Mutter hatte praktisch keinen Kontakt mehr zu ihr, oder täuschte ich mich? Vielleicht dachten sie, ich passe gut hier her, weil ich auch so ein komischer Vogel sei. Vielleicht war Tante Jul die Einzige, die mich noch nicht aufgegeben hatte. Sollte ich mich darüber freuen?
Was machte ich bloss hier? Ich sass in diesem verfluchten Truck, weit weg von zu Hause, von meinen Freunden, auf dem Highway Richtung Nirgendwo. Was sollte ich hier draussen? Das war die absolute Verbannung. Was würde aus mir werden? Aus meinem Leben? Nein, nein, nein, ich würde jetzt nicht in Selbstmitleid zerfliessen, das kam nicht in Frage. Ich hatte das alles tausendmal durchgekaut. Jetzt war Schluss, ich würde das Beste daraus machen! Liam war locker drauf, und das würde bestimmt toll werden. Ich würde neue Leute kennenlernen, und verdammt noch mal: Jetzt sollte ich mich zusammenreissen! Meine Vernunft war scheinbar noch vorhanden und bewahrte mich vor dem ultimativen Tiefpunkt.
Ich betrachtete Liam verstohlen von der Seite. Er sah nicht schlecht aus, er sah sogar sehr gut aus. Er hatte schulterlange, rabenschwarze Haare, nein nicht zu einem langen Zopf zusammengebunden. Er war sehr schlank, gross, braungebrannt und athletisch. Die Wangenknochen waren markant. Seine dunkelbraunen bis schwarzen Augen funkelten neugierig, und sein Mund schien immer zu schmunzeln. Ich fühlte mich nicht zu ihm hingezogen. Ich hatte eher das Gefühl, dass wir gute Freunde werden würden.
«Können wir Musik hören?», fragte ich ihn, um die Stille zu durchbrechen.
«Klar», antwortete er und schaltete das Radio ein.
Liam zappte durch die Sender auf der Suche nach einem, der ihm gefiel. Schliesslich fand er einen, bei dem nicht nur ein monotones Rauschen ertönte. Es war KILI Radio, der Sender des Pine Ridge Indianerreservats. Neben dem normalen Radioprogramm mit Wettervorhersagen, Verkehrsmeldungen, Neuigkeiten und Musikwünschen, würden auch alte Gesänge und Geschichten ausgestrahlt, erklärte Liam.
Ich hörte fremde Klänge und Stimmen, die mich in eine andere Welt zu ziehen schienen. Liam summte leise mit, und ich vergass meine Sorgen. Wir redeten nicht mehr besonders viel. Doch wenn wir redeten, war es vertraut, als würden wir uns seit Jahren kennen und nicht erst seit wenigen Stunden. Ich mochte seine ruhige, aber neugierige Art zuzuhören, seinen Humor und war beeindruckt von seinem Wissen.
Nach etwa dreieinhalb Stunden Autofahrt fuhren wir um einen Hügel herum und in der Ferne konnte man ein Licht in der Dunkelheit leuchten sehen.
«Ist es das?», fragte ich Liam aufgeregt und setzte mich aufrecht hin.
«Ja, wir sind gleich da.»
Seit etwa einer dreiviertel Stunde waren wir über die holprige, nicht asphaltierte Strasse des Pine Ridge Reservats gefahren. Durch das leichte Hin- und Herschaukeln wäre ich fast eingenickt, doch jetzt war an Schlaf nicht mehr zu denken. Es war halb elf Uhr abends, und ich war todmüde von der langen Reise. Dennoch war ich ganz kribbelig und konnte es kaum erwarten, meine Tante und ihre Familie kennenzulernen. Meine anfängliche Skepsis war der Neugier gewichen, und ich reckte den Kopf, um mehr zu sehen. Was lächerlich war. Es war stockdunkel, abgesehen von den Scheinwerfern des Autos, die die Umgebung für kurze Zeit in Licht tauchten.
Als wir vor dem Haus hielten, tauchte aus dem Nichts ein dunkler Schatten von der Veranda auf. Ein grosser Hund rannte wild bellend und schwanzwedelnd um den Truck herum. «Hier sind wir. Und das ist Sky, die uns willkommen heisst.»
Ich stieg freudig aus. Sky sprang sofort auf mich zu, um mich gründlich zu beschnuppern. Ich musste lachen, kraulte sie hinter den Ohren und dachte mir: Da freut sich immerhin jemand über meine Ankunft.
Liam und ich luden mein Gepäck ab, als meine Tante aus dem Haus kam und rief: «Samira! Da bist du ja. Mein Gott, lass dich ansehen!»
Etwas zurückhaltend sagte ich: «Hi, Tante Julia. Ja, hier bin ich.»
Meine Tante hatte lange, braune Haare – wie auf dem Foto – zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz, trug zerschlissene Jeans, ein T-Shirt, darüber ein kariertes Hemd, war braun gebrannt und ihre Augen strahlten voller Wärme. Sie umarmte mich ganz unerwartet und drückte mich an sich. «Nenn mich einfach Jul.»
«Okay», murmelte ich und war überrumpelt und überwältigt von ihrer Energie und Herzlichkeit. Liam hatte Recht gehabt, sie schien die Gleiche geblieben zu sein. Ihre Augen strahlten, sie sah glücklich und zufrieden aus, genau wie auf dem Foto.
Schon sprudelten die nächsten Worte aus ihr heraus wie ein Wasserfall: «Und hattest du eine gute Fahrt mit Liam? Hat er dich gut unterhalten? Es tut mir leid, dass ich dich nicht abholen konnte. Es kam etwas dazwischen. Hast du Hunger? Komm rein, ich werde dir alle vorstellen. Hey, Liam komm auch, du bist sicher hungrig und hast noch nichts gegessen.»
«Oh ja, vielen Dank, das wäre toll.»
Wir gingen hinein, und meine Tante stellte mir ihren Mann Bill und ihre drei Kinder Leon, Naomi und Ron vor. Bill war ein grosser Mann um die vierzig, mit einem freundlichen Gesicht und einer tiefen Stimme. Er war mir sofort sympathisch, und sein Händedruck war kräftig und herzlich. Ich fühlte mich willkommen, und das war ein Gefühl, mit dem ich nicht gerechnet hatte.
Die Augen der Kinder glänzten aufgeregt und neugierig. Ich schätzte Leon auf etwa acht Jahre, Naomi und Ron um die zehn Jahre herum. Leon hatte die Energie seiner Mutter, seine Augen leuchteten, genauso wie ihre, voller Energie. Naomi strahlte eine Ruhe aus, welche auch von Bill aus ging, und Ron, Ron war etwas dazwischen. Sie waren alle aufgeblieben, weil sie mich unbedingt sehen wollten, bevor sie zu Bett gingen. Wir setzten uns um den grossen Eichentisch im Wohnzimmer, und nachdem meine Tante das Essen aufgewärmt hatte, schöpfte sie Liam und mir die Teller voll. Ich hatte riesigen Hunger und ass zwei grosse Portionen Lasagne. Ich hatte die naive Vorstellung gehabt, dass man sich hier nur von getrocknetem Fleisch, Bohnen und Wurzeln ernähre. Das war früher bestimmt so gewesen, doch die Zeiten verändern sich. Ich schämte mich für meine Gedanken, für mein Misstrauen, wie gut, dass niemand Gedanken lesen konnte.
Ich musste von der Reise und von der Schweiz berichten. Doch viel gab es nicht zu erzählen. Die Müdigkeit machte sich ausserdem bemerkbar. Schliesslich war ich seit morgens um sieben Uhr unterwegs. Zuerst von Zürich nach Amsterdam, dann nach Minneapolis und anschliessend nach Rapid City. Der Zeitunterschied betrug acht Stunden. In der Schweiz war es jetzt gegen halb acht Uhr morgens. Ich war seit über 24 Stunden wach, und das ganze Warten, Umsteigen, Fliegen, Autofahren mit all den neuen Eindrücken war mir jetzt zu viel. Ich wünschte allen Gute Nacht, bedankte mich nochmals bei Liam fürs Abholen, und dann folgte ich meiner Tante die Treppe nach oben. Jul führte mich in ein kleines Zimmer auf der Vorderseite des Hauses. Es sah nett aus, und auf dem Nachttischchen stand ein kleiner Blumenstrauss.
«Gute Nacht», sagte meine Tante und ging aus dem Zimmer. Bevor sie die Türe schloss, drehte sie sich um: «Samira?»
«Ja?»
«Ich freue mich, dass du hier bist.»
Ich murmelte so etwas wie: «Ich auch», und legte mich dann samt den Kleidern auf das Bett, wo ich sofort einschlief.