Читать книгу Das Rascheln des Präriegrases - Nora-Lena Brägger - Страница 8
ОглавлениеGegen halb sechs kam meine Tante mit den Kindern zurück. Der Wagen war vollgepackt mit Einkaufstüten, die ich ihr in die Küche tragen half.
Naomi, Leon und Ron begannen auf der Veranda mit kleinen Figürchen zu spielen. Ich kniete mich zu ihnen auf den Boden und fragte: «Was spielt ihr da?»
«Wir spielen mit unseren Holzfiguren. Die hat uns Papa geschnitzt und bemalt.»
Ich betrachtete die Figuren eingehend. Sie waren unglaublich raffiniert und exakt geschnitzt, fein und liebevoll. Mit Farben ganz bunt angemalt und mit Perlen, Fäden und Stoffen verziert. «Die sind wunderschön. Euer Papa ist ja ein richtiger Künstler.»
«Hihi», kicherte Naomi verlegen und fragte: «Findest du? Unser Grossvater, also sein Vater, hat ihm das beigebracht. Das ist ein altes Kunsthandwerk der Oglala-Lakota, weisst du», sagte Naomi stolz. Ron und Leon nickten vielsagend.
«Spielst du mit uns?», fragte Leon und schaute mich hoffnungsvoll aus seinen kleinen Knopfaugen an.
«Vielleicht später. Jetzt muss ich eurer Mama in der Küche helfen.»
«Das ist aber schade.»
«Macht euch keine Sorgen, ich werde noch genügend lange hier sein, um mit euch zu spielen.» Zu lange werde ich noch hier sein, dachte ich im Stillen und wuschelte durch Leons Haare, der überrascht quiekte. Ich lachte, stand auf, griff nach den Einkaufstüten, die ich auf der Veranda abgestellt hatte und ging ins Haus. In der Küche standen weitere Einkaufstüten. Jul hatte begonnen, die Einkäufe auszuräumen und zu verstauen.
«Hier bin ich wieder. Was kann ich tun?»
«Du könntest diese Lebensmittel in den Schrank räumen, und wenn du damit fertig bist, die Kartoffeln schälen, in feine Scheiben schneiden und in die Pfanne legen. Das wäre super.»
«Okay.» Ich war froh, etwas tun zu können. Wir redeten über dies und das. Jul stellte mir keine Fragen weder über die Schule noch über meine Familie. Dafür war ich ihr dankbar. Ich hatte keine Lust, über Zuhause nachzudenken, geschweige darüber zu sprechen.
Beim Abendessen erzählte Bill von der Arbeit mit der Bisonherde. Er hatte vor zwei Jahren begonnen, Bisons zu züchten. Die Bisons wurden in ein kleines Tal getrieben, in dem es grüneres Gras gab. Es war wieder ein sehr trockener Sommer, und Bill musste ständig schauen, dass die Bisons genug zu trinken und zu fressen hatten. Bill erklärte mir, dass sie die Bisons zuerst nicht mit einem Zaun eingesperrt hätten, sondern frei herumwandern liessen wie früher. Nachdem die Herde mehrmals zu weit weg gegangen war, stellten sie einen Zaun auf. Das vereinfachte einerseits die Arbeit, andererseits brauchte es viel Zeit und Geld, um einen stabilen Zaun zu bauen. Das alles war schön und gut, doch interessierte es mich nicht wirklich. Ich hörte halbherzig zu und verzog mich nach dem Abendessen auf mein Zimmer.
Bill hatte das Wireless angeschaltet, und so legte ich mich auf mein Bett, um die Chat-Nachrichten zu lesen. Meine drei besten Freundinnen Lejla, Marie und Shona hatten mir mindestens eine Million Nachrichten geschickt, eine ungeduldiger als die andere. Ich freute mich und begann zurückzuschreiben in unserem Mädelschat.
Hey Mädels! ♡ Hier ist alles io. Meine Tante ist ganz oke und ihre Familie auch. Ich wurde von einem super Typen am Flughafen in Rapid City abgeholt. Er heisst Liam und ist echt cool drauf. So nun habt ihr von mir gehört! Ich lebe noch ☺
Und wie läuft’s so zu Hause? Schon gepackt für Spanien?
Innert wenigen Minuten kam eine Nachricht zurück, Shona war wie immer die Schnellste: Hey Darling ♡ Das tönt gar nicht übel! Schnapp dir diesen Typen ☺ und geniess es einfach! Lass dich auf ein Abenteuer ein! Halloo, du bist in Amerika!! Da können schliesslich Träume wahr werden! Okay?! Lass es krachen!! Und verkriech dich nicht unter deiner Bettdecke!! Vergiss, dass deine Eltern dich dorthin geschickt haben und mach das Beste daraus. Hey, und vergiss Spanien, das wird nicht mal halb so toll, wenn du nicht dabei bist! Vermiss dich ganz fest!
Marie, die immer die Vernünftigste unter uns vieren war, meldete sich: Hör nicht auf Shona!! Du musst schon aufpassen, mit welchen wilden Typen du da rumhängst! Und bau auf keinen Fall irgendeine Scheisse! Hast du verstanden? Reiss dich zusammen und mach nicht noch mehr Ärger.
Ich schüttelte nur den Kopf und lachte, dann antwortete ich: Mädels entspannt euch, okay. Ich werde schon nicht eine Bank ausrauben und mit wildfremden Typen ins Bett steigen! Ich habe ja nur gesagt, er ist total cool. Ich meine, er sieht schon echt gut aus, aber er ist erstens zu gross und zu schlank, und er ist einfach ein netter Kerl, versteht ihr?! Ihr seid ja so was von bescheuert. Er ist überhaupt nicht mein Typ, er wäre absolut dein Typ, Lejla! Er sieht aus wie ein Calvin-Klein-Model!!
Lejla meldete sich: Heyy honey bear ♡ Erstens, meine Liebe, habe ich bereits einen Freund. Aber schick mal ein Foto von diesem Liam ☺ Hahaha … Geniess deine Zeit dort, weit weg von allem!! Entspann dich, erhol dich und finde deine innere Mitte ☺ Das wird bestimmt toll! Lerne neue Leute kennen … mach das Beste draus! Shona hat ganz Recht!! Sieh es als ein Abenteuer und nicht als eine Bestrafung. Ich meine, deine Eltern sind ja nicht da, und deine Tante scheint ziemlich locker drauf zu sein. Von dem her stimme ich Shona absolut zu. Lass es krachen, Süsse!
Immer vernünftig bleiben! Und lass dich ja nicht einlochen!! Die haben da ganz andere Regeln!, meldete sich Marie.
Jajaja, ich bau schon keine Scheisse. Obwohl das mach ich eigentlich immer, aber vielleicht gelingt es mir ja ausnahmsweise einmal vernünftig zu sein, schrieb ich zurück.
Samira!, ich meine es ernst! Ich mache mir Sorgen um dich, schrieb Marie.
Was soll das? Bin ich 9 oder was? Ich kann ganz gut alleine klar kommen. Es bleibt mir hier nicht viel anderes übrig. Ich werde schon aufpassen … viel schlimmer kann mein Leben ja nicht mehr werden. Weisst du was, vielleicht haue ich einfach ab und gehe nach New York.
Samira, es tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint. Ich mache mir einfach Sorgen um dich. Pass auf dich auf! Versprich es! Und halte uns auf dem laufendem! Ja?, antwortete Marie.
Jaaa, ist schon okay. Ich weiss zwar nicht, was in diesem Kaff hier passieren soll, aber ich werde euch auf dem Laufenden halten, so wie ihr mich!! Ich gehe jetzt schlafen. Ich schaltete das Handy aus, ohne die Nachricht von meinen Eltern zu lesen, geschweige denn ihnen zu antworten und legte es auf den Nachttisch.
Was denken meine Eltern sich bloss? Ich werde ihnen ganz sicher nicht zurückschreiben. So schnell werde ich ihnen nicht verzeihen. Obwohl, vielleicht haben die Mädels ja wirklich Recht und ich sollte diesen Aufenthalt nicht als Bestrafung, sondern als Abenteuer sehen. Im Moment war ich wütend und deprimiert.
Ich wusste, ich konnte mich nicht ewig in meinem Zimmer verkriechen, ich würde mir selber auf die Nerven gehen, und irgendwann würde mich die Neugier packen. Dafür war ich ein viel zu vorwitziger Mensch. Aber jetzt war ich wütend, wollte wütend sein, und ich wollte nicht positiv nach vorne sehen. Das war natürlich total idiotisch, und ich machte mir so selber die Laune zur Sau und das Leben schwer.
Ich begann meine Sachen auszupacken. Ich hatte zu viele Kleider dabei und fand kaum Platz im Schrank. Ich pinnte ein paar Fotos von meinen Freunden und meine Lieblingsschüsse an die Wand. Meine Spiegelreflexkamera war ein älteres Modell, aber genau deswegen mochte ich sie so sehr. Morgen werde ich auf Fototour gehen, beschloss ich. Ich stellte ein Foto von mir mit meinen Freundinnen, das ich in einem Rahmen mitgenommen hatte, auf den Nachttisch. Es war vom letzten Sommer in Nizza. Es war der beste Sommer überhaupt gewesen. Strand, Sommer, Sonne, Mädels, Partys, heisse Jungs, … es war genial! Ich war total versunken in meinen Erinnerungen, als es an meiner Türe klopfte. Ich drehte mich erschrocken um: «Ja?»
«Ich bin es: Jul.»
«Komm herein.»
Meine Tante trat in mein Zimmer und schaute sich um. Es herrschte ein gewaltiges Chaos. Sie schmunzelte und meinte: «Em, Samira, ich wollte mit dir noch deinen Tagesablauf besprechen. Ich meine, du bist ja nicht hier, um Ferien zu machen, sondern um uns zu unterstützen.»
«Ja?», fragte ich skeptisch, denn ich ahnte Schlimmes.
«Keine Sorge, Samira, es ist halb so schlimm. Ich werde von dir nicht verlangen, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen, um die Pferde zu füttern, aber wir sind alle froh um zwei Hände mehr. Wir sind nicht in der Schweiz, hier ist alles anders, hier muss man hart arbeiten, wenn man über die Runden kommen will. Uns geht es sehr gut dank meiner Festanstellung an der High School und unseren Bisons. Bill leitet eine kleine Handwerkergruppe, die im Reservat, aber auch ausserhalb Aufträge erledigt.»
«Jaja, ich verstehe, was du meinst. Also, was muss ich tun?»
«Ich dachte mir, wir schauen Tag für Tag, was es zu tun gibt. Das ist am einfachsten. Grundsätzlich ist Bill mit dem Truck unterwegs, um Aufträge auszuführen. Ab und zu muss er nach den Bisons sehen. Da im Moment Ferien sind, arbeite ich nicht, und die Kinder gehen nicht zur Schule, somit ist es nicht so stressig.»
«Okay», erwiderte ich ungeduldig. Hier ist das Leben anders als zu Hause, das muss man mir nicht erklären. Kann sie nicht auf den Punkt kommen und geradeheraus sagen, was ich machen muss?
«Morgen früh muss man dringend den Garten pflegen. Beginnen wir um halb sieben, dann ist es noch nicht zu heiss. Okay?»
«Ja, das ist gut.»
«Super, vielen Dank!»
Ich wendete mich ab und nahm noch mehr Aufnahmen aus meiner Mappe, die ich an die Wand pinnen wollte. Jul wendete sich interessiert zu mir: «Kann ich mal sehen?»
«Ja, klar», antwortete ich und zeigte ihr die Bilder.
Sie war begeistert und meinte, ich hätte grosses Talent. Naja, das hatten mir schon viele gesagt, nur meine Eltern nicht, und genau von ihnen hätte ich gehofft, dass sie stolz auf mich wären.
Jul hob mit einer Hand mein Gesicht und meinte: «Samira, sei nicht traurig, ja? Du bist eine wunderbare, junge Frau, und du hast wirklich Talent, das sind richtig gute Fotos!»
Nach kurzem Zögern fuhr sie weiter: «Weisst du, ich bin nicht ohne Grund von zu Hause weggegangen. Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus, und da ich eine Rebellin war, im Gegensatz zu deiner Mutter, packte ich meine sieben Sachen und machte einen Trip quer durch die USA und blieb hier hängen. Ich habe es noch keinen einzigen Tag bereut. Du kannst jetzt bestimmt nicht verstehen, was an diesem Land so besonders sein soll. Aber ich bin mir sicher, eines Tages wirst du das verstehen. Die Zeit wird wie im Flug vorbeigehen, glaub mir, und etwas Abstand von deiner Familie schadet bestimmt nicht.»
«Nein. Aber es ist unfair, dass sie mich hierhergeschickt haben. Wieso hast du bloss Ja gesagt?»
«Ach, Samira. Es tut mir leid, glaub mir. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie deine Mutter sein kann, aber sie liebt dich, vergiss das nicht. Deine Eltern wollen nur das Beste für dich.»
«Nur das Beste für mich? Soll das ein Scherz sein?»
«Lass dir etwas Zeit, sei bereit zu vergeben und offen für Neues. Sonst machst du dir das Leben selber schwer.»
«Du klingst schon fast wie meine Mutter», sagte ich mürrisch, doch meine Tante liess sich nicht provozieren.
«Lass dir Zeit. Das kommt schon wieder gut.»
«Hmm … natürlich», erwiderte ich sarkastisch und dachte: Wieso belehrst du mich, wenn du es selber nicht besser kannst? Ich soll bereit sein zu vergeben und mich versöhnen. Wer ist von zu Hause weggelaufen und hat seither kaum mehr mit seiner eigenen Familie geredet?
Jul erwiderte, als wüsste sie, was ich gerade gedacht hatte: «Ich weiss, ich muss nichts sagen, weil ich es selbst nicht auf die Reihe bekam. Aber ich will, dass du nicht denselben Fehler machst wie ich. Familie bleibt Familie. Glaub mir.»
Ich schaute betrübt zu Boden und wollte alleine sein. Jul stand unschlüssig neben mir. Schliesslich umarmte sie mich herzlich. Zuerst sträubte ich mich dagegen, dann liess ich mich von ihr drücken, und es war ganz in Ordnung.
«Morgen ist ein neuer Tag», sagte Jul optimistisch.
Ich schaute sie an und stellte überrascht fest: «Du hast ja grüne Augen! Nicht so krass wie ich, aber auch grün.» Ich hatte das bisher nicht bemerkt.
«Ja, das habe ich. Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen habe.»
«Wie man es sieht.»
«Gefallen dir deine Augen nicht?»
«Es geht. Sie fallen immer und überall auf, und die Reaktionen mancher Menschen sind komisch. Manche können mir fast nicht in die Augen schauen, sie finden es gruselig, andere erschrecken, wenn ich sie direkt anschaue.»
«Ich finde deine Augen schön. Sie haben eine besondere Kraft und Ausstrahlung.»
«Danke. Es wäre manchmal viel einfacher, nicht immer und überall aufzufallen und ganz normale braune Augen zu haben.»
«Du kannst wirklich zufrieden sein mit dir, genau so, wie du bist.»
«Aber …»
«Da gibt es kein Aber! Niemand ist perfekt. Wenn man akzeptieren kann, was ist, und nicht immer nur das sieht, was einem nicht gefällt, ist man viel glücklicher. Verstehst du? Denk mal darüber nach.» Jul drückte meine Hand: «Ich lasse dich jetzt alleine, schlaf gut und bis morgen früh! Und verschlaf mir nicht!»
«Jaja, gute Nacht.»
Jul war schon aus dem Zimmer und wollte gerade die Türe schliessen, da sagte ich: «Jul?»
Sie steckte den Kopf herein und schaute mich erwartungsvoll an.
«Danke!»
Sie fragte nicht wofür, sondern lächelte und schloss die Tür.
Ich hängte die restlichen Fotografien auf und verstaute meinen Kram. Irgendwie fühlte ich mich ganz gut. Ich hatte das Gefühl, Jul verstehe mich. Das zu wissen, beruhigte mich und gab mir Kraft.
Ich schaute überrascht in den Spiegel über der Kommode. Ich betrachtete mein Spiegelbild und dachte an Juls Worte. Momentan war ich ganz zufrieden mit meinem Aussehen, aber mit mir im Ganzen? Das Aussehen ist nur ein Teil von mir, der viel grössere ist in mir drin, und dort herrscht ein Riesenchaos. Ich seufzte, nahm meine Zigarettenpackung und kletterte aus dem Fenster auf das Verandadach. Ich setzte mich, lehnte mit dem Rücken gegen die Hauswand und zündete mir eine Zigarette an. Ich schmunzelte, als ich mich an die Diskussion mit Liam erinnerte. Naja, was soll’s. Ich wusste genau, es wäre besser, wenn ich nicht rauchte, doch ich liebte dieses Ritual. Ich rauchte jeden Tag drei Zigaretten. Wenn ich Stress hatte waren es mehr. Das gab ich zu. Ich hatte mir diese Grenze gesetzt, die ich meistens einhielt. Und so konnte ich mich jeden Tag auf drei Zigaretten freuen und sie in vollen Zügen geniessen. Zu viele junge Leute rauchten heutzutage, und ich gehörte dazu. Es war nicht gesund, es konnte Krebs verursachen, doch daran dachte man nicht, wenn man es tat. Wieso auch? Man konnte auch krank werden oder sterben, wenn man gesund lebte. Das Leben war unberechenbar. Das wusste ich. Also wieso sollte ich auf diese kleine Freude verzichten?
Ich legte mich auf den Rücken und betrachtete den Himmel. Ich hatte noch nie so viele Sterne gesehen. In Zürich konnte man die Sterne meist nicht gut sehen, und hier glitzerte der ganze Himmel. Es sah wunderschön aus. Ich dachte lange nach, was hier noch anders war, und plötzlich wurde es mir bewusst: die Stille. Man hörte nichts, kein Rauschen des Verkehrs, keine Fernseher oder Radios, die laut aufgedreht waren, keine lärmenden Nachbarn. Es war ganz still. Als wäre die Zeit stehen geblieben.