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Kapitel 1

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Den Stylus zwischen die Finger geklemmt, geht Robert noch einmal die Notizen auf seinem Tablet durch. Seine für gewöhnlich schon ernsten Gesichtszüge wirken noch strenger, weil er so konzentriert ist.

Manchmal frage ich mich, ob er bei allem so fokussiert ist, auch außerhalb des Büros. Wenn er Wäsche sortiert, zum Beispiel, oder einkauft. Kein Abstecher zum Süßigkeitenregal, weil einen etwas anlacht. Keine Ich-hab-gerade-Lust-drauf-Schokolade, weil die nicht auf dem Einkaufszettel steht.

Ich betrachte seine langen, schlanken Finger. Oder beim Sex. Widmet er sich den Männern in seinem Bett mit derselben Intensität wie diesen Notizen?

»Okay. Dann sind wir soweit fertig, oder?«

Der Blick aus seinen klaren, blauen Augen trifft mich unvorbereitet und löst ein völlig unangebrachtes, vorfreudiges Kribbeln in mir aus. Ich sollte aufhören, so viele Pornos zu gucken. Im Film mag »Dann sind wir soweit fertig« der Startschuss für den Boss sein, den Angestellten endlich auf seinem Schreibtisch zu vögeln.

In meinem Leben bedeutet das, dass Robert mir gleich einen schönen Feierabend wünscht und mich nach Hause schickt.

Ich räuspere mich und tue so, als würde ich auf meinem Laptop ebenfalls Notizen durchgehen. »Ja. Ich denke schon.«

»Du hast nichts mehr auf der Liste?«

Nichts, das Robert nicht ohnehin schon angesprochen hätte. Jeden Mittwoch setzen wir uns zusammen und besprechen Dinge, für die im Arbeitsalltag keine Zeit bleibt. Pläne für die Zukunft, Ideen, Vorschläge. Gelegentlich rekapitulieren wir die vergangene Woche oder sprechen Probleme an, auf die wir gestoßen sind.

Oft knüpft die Unterhaltung an etwas an, das einer von uns zuvor schon mal angemerkt hat, bevor etwas dazwischengekommen ist. Ein Anruf, ein Meeting, eine Mail. Bei einem Zwei-Mann-Unternehmen wie travele gibt es keine langen Dienstwege oder ewige Wartezeiten auf eine Besprechung. Wenn uns etwas beschäftigt, sagen wir es direkt, nur die ausführliche Diskussion verschieben wir manchmal auf Mittwoch.

Als ich den Kopf schüttle, nickt Robert und legt den Stylus weg. »Ich übertrage die Notizen noch und lege sie in der Cloud ab, damit du auch drauf zugreifen kannst.« Er deutet auf seinen Monitor. »Du kannst aber schon nach Hause...« Nebenbei wirft er einen Blick auf die Uhr und reißt die Augen auf. »Gott, ist es wirklich schon so spät?« Er seufzt. »Tut mir leid, dass ich dich schon wieder so lange hier festhalte.«

»Kein Problem.«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Es ist nach acht. Das ist ein Problem, Joscha. Ich bezahle dich viel zu schlecht für so viele Überstunden.«

Sein zerknirschter Tonfall bereitet mir beinahe ein schlechtes Gewissen. Ich könnte ihm sagen, wie egal mir mein Gehalt oder ein paar Überstunden sind. Dass es mir viel wichtiger ist, wie viel Spaß mir die Arbeit bei ihm macht. Mit ihm. Seine Hingabe für die kleine Firma hat mich vom ersten Tag an fasziniert.

Aber wenn ich das sage, würde ich noch eine ganze Menge mehr preisgeben. Dinge, von denen ich nicht weiß, ob Robert sie hören will. Für Kev und Anton ist es offensichtlich, dass ich auf meinen Chef stehe. Manchmal finde ich mein Verhalten selbst ziemlich offensichtlich. Immer wieder gibt es Situationen, in denen ich mir fast sicher bin, dass es zwischen uns knistert. Und dann...

Ein Anruf. Eine Mail. Ein Meeting. Ein »Schönen Feierabend, Joscha.«

»Das macht mir wirklich nichts aus.«

»Das sollte es aber.«

Ich lege den Kopf schief. »Willst du mich gerade dazu drängen, nach einer Gehaltserhöhung zu fragen?«

Die Andeutung eines Lächelns in seinen Mundwinkeln. Mein Herz überspringt einen Schlag. Wenn es nach mir ginge, könnte er mich viel häufiger anlächeln. Richtig anlächeln, nicht diese unverbindlichen Danke-für-den-Kaffee- und Schön-Sie-kennenzulernen-Höflichkeiten. Wenn er ehrlich lächelt, geht in seinem Gesicht schier die Sonne auf.

Keine Frage, diese stille, ernsthafte Gelassenheit, die ihn umgibt, ist anziehend. Mit seinem Lächeln erobert er allerdings Herzen.

»Die hätte ich dir längst gegeben, wenn ich es mir leisten könnte. Aber du hast doch bestimmt noch was vor.«

Nur lose. Kev hat gefragt, ob ich heute mit ihm zu einer After-Work-Party in einen neuen Szeneladen gehe. Allerdings habe ich noch nicht entschieden, ob ich mich wieder mal für ihn fremdschämen will, wenn er flaschenweise Champagner in Größe Doppelmagnum bestellt und passende Fotos auf Instagram hochlädt.

Ich zucke die Schultern. »Nichts, das nicht warten könnte.«

Er zögert. Fast bin ich sicher, dass er das, was ihm auf der Zunge liegt, runterschlucken wird, aber dann fragt er beiläufig: »Kein Treffen auf der Dachterrasse?«

Ich bin ein bisschen überrascht, dass er davon weiß. Normalerweise reden wir nicht über so was. Leider. Es geht immer nur um arbeitsrelevante Themen. Das Höchste der Gefühle ist, wenn er sich nach meinem Wochenende erkundigt. Wenn ich jedoch zu sehr ins Detail gehe, lenkt er meistens direkt ab. Meine Fragen nach Privatem beantwortet er genauso reserviert.

Andererseits sind meine wöchentlichen Treffen mit Kev und Anton kein Geheimnis. Wobei sie, zugegeben, seltener stattfinden, seit Anton nicht mehr im Co-Working-Space arbeitet.

»Nein, das haben wir etwas schleifen lassen, seit Anton...«

Unvermittelt kommt mir eine Idee. Ich habe die Firma von Antons Vater gegoogelt, nachdem er vor einiger Zeit hier im Co-Working-Space aufgetaucht ist und Anton zusammengestaucht hat. Ich bin ein neugieriger Mensch.

»Hey. Hast du nicht vorhin gesagt, dass du dich perspektivisch nach einem eigenen IT-Dienstleister für travele umsehen willst?«

»Ja, aber das hat keine Priorität. Bisher funktioniert es noch mit der IT-Abteilung von Ferienwunder. Mich ärgert es schon, wie lange manche Sachen dauern, gerade im Hinblick auf unser Wachstum und den immer neuen Anforderungen. Aber der Preis, den sie uns machen, ist unschlagbar. Das Gleiche gilt für die Marketingabteilung.«

Stimmt. Und da ich traveles Finanzen kenne, weiß ich das natürlich auch. Vage habe ich noch die Preise von Antons Vater im Kopf. Seine Dienste in Anspruch zu nehmen, kommt uns definitiv teurer.

»Warum fragst du?«

»Ach, nichts. Vergiss es.«

Ich will gerade meinen Laptop zuklappen und meine Sachen zusammenpacken, als Robert sagt: »Joscha.«

Weich, sanft, eindringlich.

Ich erschauere und muss das ergebene »Ja?«, das sofort aus mir herausplatzen will, erst herunterschlucken, bevor ich meiner Stimme und ihrem Tonfall wieder einigermaßen über den Weg traue.

»Ja?« Ganz nüchtern und sachlich. Im Gegensatz zu dem Ausdruck in seinen Augen.

Scheiße. Er sieht mich an wie ein Flaschengeist, der nichts lieber täte, als mir drei Wünsche zu erfüllen. Etwas zieht sich schnell und heftig in meinem Unterleib zusammen. Kann ich mir auch dreimal dasselbe wünschen? Mit Option auf eine Endlosschleife?

»Warum fragst du?« Ohne meinen Blick loszulassen. Wenn er mich weiter so ansieht, werde ich gleich hart.

Verdammt. Zu spät.

Ich atme aus und versuche, mich zu entspannen und an irgendetwas Unerotisches zu denken. Genauso gut könnte ich versuchen, einen Nagel mit einem Grashalm in die Wand zu hauen. Glücklicherweise verdecken die beiden Schreibtische, was sich gerade in meiner Hose abspielt.

»Wegen Anton. Sein Vater hat eine IT-Dienstleistungsfirma.«

Einen Moment lang sagt er nichts. Dann nickt er. »Okay.«

»Okay?«

»Hol ein Angebot ein. Vielleicht können wir uns früher von Ferienwunder abnabeln, als gedacht.«

»Willst du dir die Firma nicht erst mal anschauen?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich vertraue dir.«

Oh, verfluchter Mist. So schön die Worte auch klingen, sie verursachen mir augenblicklich Schuldgefühle. Wenigstens schwindet meine Erektion damit auch.

»Dann solltest du wissen, dass Anton einer der beiden ist, mit denen ich mich regelmäßig auf der Dachterrasse treffe. Und dass mir der Gedanke gekommen ist, dass ich hier vielleicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden kann. Aber es gibt sicher günstigere Anbieter als die Firma von Antons Vater, auch wenn er sein Geld wert zu sein scheint.«

»Es gibt immer günstigere Anbieter. Aber günstig ist nicht alles. Engagier Antons Vater, wenn du es für das Richtige hältst. Ich lasse dir da freie Hand.« Ein kleines Lächeln. »Im Rahmen unseres Budgets, natürlich.«

Ich bin völlig überrumpelt, trotzdem nicke ich schnell. »Na klar.«

Nicht, dass Robert mir nicht schon früher gelegentlich derartige Verantwortung übertragen hätte, aber es fällt ihm zweifellos schwer, die Kontrolle abzugeben.

Abermals drängt sich mir die Frage auf, ob das in all seinen Lebensbereichen so ist. Aber ich verbiete mir, weiter in diese Richtung zu denken, um meinen Schwanz nicht wieder aufzuwecken.

»Danke. Ich setz mich gleich morgen dran. Hast du...« Ich beiße mir auf die Unterlippe.

Scheiße. Wir haben gerade so einen guten Gesprächsfluss, dass ich beinahe vergessen hätte, mit wem ich hier rede. Aber Robert überschreitet nie die Grenze zum Privaten. Im Gegenteil. Er meidet sie wie eine Hochspannungsleitung.

»Habe ich?«

Ich gebe mir einen Ruck. Vielleicht – vielleicht – ist heute ja dieser eine Tag, an dem er eine Ausnahme macht. Weil er mir vertraut. Weil er weiß, dass ich hin und wieder einen Sundowner auf der Dachterrasse trinke. Weil er mich mit diesem Blick ansieht, der mir die Knie weich werden lässt.

»Hast du vielleicht noch Lust, was essen zu gehen? Jetzt? Mit mir?«

Großartig. Dämlicher kann man die Frage kaum stellen. Unverfänglich und locker geht anders.

Bevor ich jedoch in Versuchung gerate, mir vor die Stirn zu schlagen, füge ich noch halbwegs professionell hinzu: »Die Notizen kannst du morgen noch hochladen.«

Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich mir fast sicher, dass er zustimmen wird. Das Blitzen in seinen Augen, die Art, wie sich sein Gesicht aufhellt, sich seine Mundwinkel heben. Ich kann die Worte schon in meinem Kopf hören.

Ja, warum nicht?

Ja. Warum verdammt noch mal eigentlich nicht?

Aber dann huscht ein Schatten über seine Züge und noch bevor er den Kopf schüttelt, weiß ich, was er sagen wird.

»Nein, danke. Ich erledige das lieber gleich. Schönen Feierabend, Joscha.«

Vertrauen gegen Zweifel

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