Читать книгу Weckzeit - Norbert Böseler - Страница 11
2015 / 3
ОглавлениеIn unmittelbarer Nähe klingelte es. Erschrocken riss ich die Augen auf. Der Wecker stand auf der Nachtkonsole, der kleine Schlagbolzen ruhte zwischen den Glocken. Trotzdem läutete es in meinem Kopf. Meine Ohren wurden von dem schrillen Geräusch malträtiert. Ich reckte mich zum Wecker und drückte schlaftrunken den Bügel herunter. Das Klingeln im Kopf verstummte abrupt. Ich rieb mir die Augen, dann sah ich mich um. Ich befand mich in meiner gewohnten Umgebung, in meinem Schlafzimmer mit all seinen Möbeln. Die Krücke stand am Stuhl gelehnt auf dem Parkettboden. Mir fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Ich sah auf meine Armbanduhr, 7:15 Uhr zeigten mir die Zeiger an. Der Glockenwecker sagte selbstverständlich eine andere Zeit an, weil er wieder entgegengesetzt lief. Ich hatte etwa acht Stunden geschlafen, wenn ich meiner Uhr Glauben schenken durfte. Das konnte hinkommen. Doch hatte ich wirklich geschlafen? War ich in der Nacht nicht ganz woanders gewesen? In einer anderen Zeit? Nichts erinnerte daran. Ich fühlte mich nicht müde, im Gegenteil, ich war munter und ausgeschlafen. Ich erinnerte mich an jedes Detail aus der vergangenen Nacht, so als wäre dies alles gerade erst passiert. Dann fiel mir etwas ein. Ich setzte mich im Bett auf und musste einige Verrenkungen ausüben, um unter meine Fußsohle sehen zu können. Sie war verschmutzt und klebrig. Anschließend suchte ich die Decke nach Katzenhaaren ab, fand aber keine.
Ich duschte und zog mich an. Auf dem Weg in die Küche spähte ich in Anjas Schlafzimmer. Sie lag in ihrem Bett und schlief fest. In der Küche setzte ich Kaffee auf und machte mir ein umfangreiches Frühstück. Sonst aß ich morgens nicht sonderlich viel, doch nun hatte ich Hunger. Mein Magen fühlte sich an wie ein mit Helium gefüllter Ballon. Nach dem Frühstück setzte ich mich ins Arbeitszimmer und arbeitete an meinem letzten Auftrag weiter. Nach anfänglichen Konzentrationsschwierigkeiten lenkte mich die durchaus anspruchsvolle Tätigkeit ab. Ich entwarf für einen Stammkunden ein Mehrfamilienhaus mit zehn Wohneinheiten. Das Zeichnen am PC machte mir Spaß, obwohl ich meine ersten Ideen immer noch mit Bleistift skizzierte. Die Kunden verlangten heutzutage nach 3D Zeichnungen, auf denen man die Räume aus allen Blickwinkeln betrachten konnte. Das Entscheidende, wie die richtige Positionierung von Maueröffnungen, den Verlauf von Rohrleitungen, die Statik, oder die korrekte Bemaßung, interessierte den Betrachter weniger. Doch hier lag meine eigentliche Aufgabe, die viel Zeit in Anspruch nahm. Tief versunken in einer komplizierten Maßkette bekam ich nicht mit, wie Anja in den Raum kam und plötzlich neben mir stand.
„Guten Morgen! Wie hast du geschlafen?“, fragte sie und hauchte mir einen sanften Kuss auf die Wange.
„Gut, und du?“
„Wie ein Murmeltier. Heute Nacht war nicht viel los, ich konnte zwischendurch ein Stündchen schlafen. Wie war‘s denn in Oldenburg auf dem Weihnachtsmarkt? Bist du fündig geworden?“
„Sehr schön. Es war nicht besonders voll, man konnte sich in aller Ruhe umsehen. Ich habe mir einen antiken Wecker zugelegt“, sagte ich so nebenbei.
„Einen Wecker? Du benutzt doch immer dein Handy!“
„Er dient ja auch nur zur Dekoration. Ich fand ihn einfach sehr schön und konnte nicht widerstehen“, warf ich ein.
„Ganz wie du meinst, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich geh jetzt duschen und mach uns anschließend etwas zu essen“, sagte Anja und ging zur Tür hinaus.
Ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder der Bemaßung meiner Zeichnung. Zahlen, die auf den Millimeter genau stimmen mussten, ließen mich an nichts Anderes denken. Ich kontrollierte jede Zahlenreihe mit dem Taschenrechner, falls sie nicht der Gesamtlänge entsprachen, hieß es, den Fehler ausfindig zu machen. Ich schrak regelrecht auf, als Anja die Tür öffnete und mich zum Essen rief. Wir saßen uns gegenüber und genossen schweigend die warme Mahlzeit. Auch wenn wir schwere Zeiten durchgestanden hatten, liebte ich meine Frau nach wie vor. Ich ging davon aus, dass sie auch noch für mich dieses Gefühl der Zuneigung empfand, obwohl sie mir gegenüber schon lange kein Liebesgeständnis mehr ausgesprochen hatte. Die Jahre schienen kaum an ihrem Äußeren zu nagen. Ein paar unscheinbare Falten, die sie mit diversen Cremes im Zaum hielt, zeichneten sich schon ab. Ich hielt das Eincremen für unnötig, doch solange sie sich nicht unters Messer legte, hatte sie meinen Segen. Anja sah immer noch ausgesprochen attraktiv aus. Ihre schwarzen, langen glatten Haare umrahmten ein Bilderbuchgesicht, aus dem die braunen Augen neuerdings wieder hervorstachen wie zwei glänzende Bernsteine. Doch strahlten sie wirklich für mich? Ihren sinnlichen Lippen konnte ich von Anfang an nicht widerstehen und habe sie unendliche Male geküsst. Ihre wohlgeformte Figur lockte Männerblicke nur so an, was in mir schon einige Eifersuchtsanfälle ausgelöst hatte. Sie setzte alles daran, ihre natürliche Schönheit möglichst lange zu bewahren. Abgesehen von den diversen Cremes und Gesichtsmasken, hielt sie sich zweimal die Woche in einem Fitnessstudio auf, um eventuellen Erschlaffungen vorzubeugen. Zudem ernährte sie sich gesund, wenn man vegetarisches Essen als gesund bezeichnen konnte. Ich von meiner Seite hatte gegen einen fettigen Braten nichts einzuwenden. Nachdem Anja ihre Spargelcremesuppe vertilgt hatte, sagte sie, sie hätte sich den Wecker angesehen.
„Deine neuste Errungenschaft läuft ja rückwärts, Edgar!“
„Ist mir bekannt, doch wie bereits erwähnt, ich fand ihn halt ausgesprochen schön und wollte ihn unbedingt haben.“
Anja zeigte kein weiteres Interesse, sondern verkündete, dass sie heute früher zur Arbeit fahren wollte.
„Doktor Weidner hat eine großangelegte Besprechung anberaumt, die einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Anschließend gehe ich in den Nachtdienst und komme morgen früh wie gewohnt nach Hause. Musst du heute noch weg?“
„Nein, ich muss unbedingt den Entwurf des Mehrfamilienhauses fertigstellen, da der Kunde Ende der Woche mit mir die Zeichnung besprechen möchte“, erwiderte ich.
Wir räumten gemeinsam den Küchentisch ab, danach begab ich mich wieder in mein Büro, derweilen Anja im Bad verschwand, um ihre Fältchen zu übertünchen. Am späten Nachmittag verabschiedete sie sich von mir mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Dass Anja so frühzeitig das Haus verließ, kam mir ganz gelegen. Ich wollte heute früher als gewohnt ins Bett, doch diesmal hatte ich vor, mich auf die Nacht vorzubereiten. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich in der Nacht wieder eine Reise antreten würde, eine Reise in die Vergangenheit. Der Gedanke daran ließ ein konzentriertes Weiterarbeiten nicht zu. Ich schloss das Zeichenprogramm und fuhr den Rechner runter. Draußen hatte sich die Sonne bereits verabschiedet und eine nebelverhangene Dunkelheit hinterlassen. In der Küche wärmte ich den Rest des Mittagessens auf, zusätzlich gönnte ich mir noch zwei Enden Kabanossi. Ich wollte gut gestärkt zu Bett gehen, wer wusste schon, was in der Nacht noch alles passieren würde. Irgendwie hatte ich Angst, doch die Neugierde überwog. Vielleicht tat sich ja auch gar nichts. Vielleicht war der ganze Spuk nur ein einmaliges Ereignis gewesen, oder ein Hirngespinst, welches sich in meinem Kopf eingenistet hatte. Ein zuletzt vernachlässigter Teil meines Gehirns, der Abenteuer herbeiersehnte, hatte sich in den Vordergrund gedrängt und zeigte mir Visionen auf, von denen ich nur träumen konnte. Doch der Glockenwecker verkörperte die Realität. Er stand auf meinem Nachttisch, lief entgegen der Zeit, spulte sie zurück wie die Ebbe das Meer. Ich tauchte in die Flut der Zeit ein und wurde von ihr mitgerissen. Ich musste schon viel Fantasie aufbringen, um daran zu glauben. Die folgende Nacht würde zeigen, ob das Phänomen nur ein Hirngespinst oder die unglaubliche Wirklichkeit verkörperte. Ich richtete mich auf Letzteres ein und traf einige Vorkehrungen. Zunächst packte ich meine Reisetasche, was mir irgendwie absurd vorkam. Ich wollte schließlich nicht verreisen, sondern mich schlafen legen. Nichtsdestotrotz packte ich wärmende Winterkleidung hinein. In den Seitentaschen verstaute ich die Schuhe, einen Winterschuh und die Sonderanfertigung für den künstlichen Fuß, der von dem anderen Schuh optisch kaum zu unterscheiden war. Die Tasche stellte ich zunächst neben dem Bett ab. Im Bad machte ich mich bettfertig. Die Prothese klemmte ich mir unter den Arm und humpelte auf der Krücke gestützt ins Schlafzimmer. Von vornherein klar war, dass ich nur wie gewohnt nächtigen konnte, sprich in Shorts und T-Shirt. Diesbezüglich wollte ich keine Experimente eingehen, da ich tief und fest schlafen musste. So meine Theorie. Was würde wohl passieren, wenn ich in der Nacht unverhofft aufwachen sollte. Vielleicht riss es mich dann unkontrolliert zurück in die Gegenwart, ein Aspekt, den ich nicht außer Acht lassen durfte. Das Risiko wollte ich nicht eingehen, deshalb glaubte ich, es wäre besser, meine vertrauten Schlafgewohnheiten beizubehalten. Mein Bett maß ein Meter zwanzig in der Breite, wobei die rechte Seite an der Wand grenzte. Dort legte ich die Prothese ab und stellte die Tasche dazu. Aus dem Flur holte ich noch den Stock, mein Portemonnaie und das Smartphone. Ob ich mit dem Handy etwas anfangen konnte, musste sich dann herausstellen, wahrscheinlich nicht. Ich gesellte den Stock zur Prothese oben auf die Tasche, so blieb mir genügend Platz zum Liegen. Die anderen Sachen platzierte ich auf der Nachtkonsole. Ich konnte nur hoffen, dass das Bett und alles, was mit dem Wecker in Verbindung stand, als Transporter diente und durch den Raum der Zeit gezogen wurde. Als ich mich hinlegen wollte, fiel mir noch etwas ein. Ich bewahrte gerne Schlüssel auf, auch von Dingen, von denen bereits keine Schlösser mehr existierten. Ich raffte mich nochmal auf und bewegte mich ins Büro. Tatsächlich fand ich in der Schublade noch den Schlüssel von der ursprünglichen Eingangstür unseres Hauses. Kurz vor neunzehn Uhr lag ich im Bett. Für meine Verhältnisse viel zu früh. Ich bezweifelte, dass ich schnell einschlafen würde, zumal ich innerlich ziemlich aufgewühlt war. Ich nahm ein Buch mit dem Titel „Puppenmord“ zur Hand und fing an zu lesen. Die schwarzhumorige Story lenkte mich ab. Nach einer Weile schlich sich Müdigkeit ein, die Buchstaben verschwommen vor meinen Augen zu undefinierbaren Hieroglyphen. Ich legte das Buch beiseite. Die Zeiger meiner Armbanduhr hatten sich inzwischen eine Stunde weiterbewegt. Ich wälzte mich auf den Rücken, blickte an die Decke und lauschte dem Wecker. Die getakteten Schläge des Sekundenzeigers, schienen mich zu hypnotisieren und trieben mich durch die Dunkelheit der Zeit.