Читать книгу Weckzeit - Norbert Böseler - Страница 3
2004
ОглавлениеIm Kinosaal herrschte absolute Stille. Den Zuschauern stockte der Atem, als ein riesiger Vogel die ganze Leinwand vereinnahmte und mit weit ausgebreiteten Schwingen auf dem Bergplateau landete. Das imposante Wesen aus einer anderen Welt faltete seine mächtigen Flügel zusammen und wandte sich der Berghütte zu, in der sich sein Sohn befand. Die vogelartige Gestalt wollte seinen Nachkommen töten. Die Tür öffnete sich und ein alter Mann trat heraus.
Nora und Regina saßen in der letzten Reihe des gut besuchten Kinos und starrten gebannt auf die Leinwand. Regina kaute vor lauter Anspannung auf ihren künstlichen Fingernägeln. Nora hingegen verhielt sich ein wenig gelassener, da sie das Buch Quick gelesen hatte, das nun endlich verfilmt worden war. Sie wusste, wie es ausgehen würde, dennoch füllten sich ihre Augen bei der Schlussszene mit Tränen. Während der Abspann lief, verließen die meisten Besucher bereits das Kino. Die beiden Freundinnen warteten, bis sich der Vorhang schloss, dann bewegten sie sich gemächlich auf den Ausgang zu. Draußen wurde angeregt über den Film diskutiert. Auch Reginas Analyse ließ nicht lange auf sich warten: „Wow, der Streifen war ja megaspannend. Phänomenal, wie Falcao sich in dieses Vogelwesen verwandelt hat. Marlon war wirklich ekelig, ein richtig mieser Typ. Nicks schneller Alterungsprozess wurde super dargestellt. Stell dir mal vor, du würdest an einem Tag um ein Jahr altern. Wie hat dir denn der Film gefallen, Nora?“
„Er hat meine Erwartungen übertroffen, obwohl ich das Buch dennoch besser finde. Das Interessante an einer Buchverfilmung ist, zu sehen, wie aus den stillen Worten eines Romans lebendige Bilder werden, und das ist den Machern dieser Verfilmung sehr gut gelungen. Ich werde mir später auf jeden Fall die DVD holen“, meinte Nora.
„Ich auch! Was machen wir jetzt? Gehen wir zum Fitz und trinken noch was? Ulf ist bestimmt auch da!“
„Das ist eine gute Idee, auf zum Fitz.“
Die beiden jungen Frauen hakten sich mit den Armen ein und schlenderten über den Gehweg Richtung Innenstadt. Nora hoffte sehr, Ulf in der Musik Bar anzutreffen, denn sie hatte sich in den gutaussehenden Jungen verliebt. Noch flatterten die Schmetterlinge in einem Käfig, dessen Maschen aus Schüchternheit bestanden. Eine hemmende Gemeinsamkeit, die sie mit Ulf teilte. Keiner von beiden traute sich, gegenüber dem anderen seine Gefühle zu äußern. Sie hatte ihn in einer Diskothek kennengelernt. Nora studierte Grafik und Design und er hatte an einigen Lesungen teilgenommen. Nach einem Semester hatten sie sich leider aus den Augen verloren, doch seit geraumer Zeit traf sie ihn häufig im Fitz an. Beide hatten sich über das Wiedersehen sehr gefreut und kamen gleich in ein unterhaltsames Gespräch, wobei Ulf es immer wieder verstand, Nora zum Lachen zu bringen. Ja, sie mochte ihn. Vielleicht würde sie heute Abend all ihren Mut zusammennehmen und die Maschen des Käfigs zerreißen, damit die Schmetterlinge sich frei entfalten konnten.
Obwohl es noch vor Mitternacht war, platzte das Fitz aus allen Nähten. Oben drängten sich die Leute an einer langen Theke. Unten aus dem Keller, wo sich die Tanzfläche befand, dröhnte laute Rockmusik. Nora und Regina bahnten sich ihren Weg durch die Menge und suchten zunächst die Toiletten auf. Nachdem die beiden ihr Make-up nachgebessert hatten, gingen sie zurück in die Bar und bestellten zwei Getränke. Während Nora an ihrem Pernod Cola nippte, spähte sie durch die Vielzahl der Besucher, konnte Ulf aber nirgends entdecken. Regina unterhielt sich mit einem Typen, dessen Haupt von langen Rasta-Locken geziert wurde, die wie leblose Schlangen auf seinen Schultern ruhten. Soweit Nora wusste, tummelten sich bei Regina keine Schmetterlinge, und falls doch, würde sie ihre Gefühle nicht in einen Käfig sperren, sondern unbekümmert in Freiheit lassen. Was Jungs anbelangte, war ihre Freundin anders gestrickt. Nora blickte nochmal enttäuscht durch die Menge, wahrscheinlich tobte Ulf sich unten in der Disco aus. Wie auf Kommando erklang aus dem Keller das Intro von Vagabonds, ein Song ihrer Lieblingsband New Model Army. Nora zerrte Regina von dem Rasta-Mann weg und drängte mit ihr zur Kellertreppe. Sie stellten die Gläser ab und stürmten auf die Tanzfläche. Die Musik löste bei Nora pures Adrenalin aus. Sie bewegte sich ausgelassen zu dem harten Rhythmus des Liedes, wobei sie die Blicke der Männer auf sich zog. Lange blonde Haare rahmten ihr hübsches Gesicht ein. Ein enges Top und verwaschene Blue Jeans schmiegten sich an ihren perfekt geformten Körper. Noras hingebungsvoller Tanz mit geschmeidigen, rhythmischen Bewegungen faszinierte die anwesenden Jungs. Die beiden tanzten auch noch zu dem nächsten Lied, dann leerten sie ihre Gläser und bestellten an der Kellerbar ein neues Getränk. Nora erspähte viele bekannte Gesichter, Ulf sah sie jedoch nicht. Frustriert drehte sie an dem silbernen Ring, der auf ihrem rechten Mittelfinger steckte. Eine Angewohnheit, die Nora kaum wahrnahm und so nie wieder ausüben würde.
Etwa zwei Stunden später verließen die beiden Freundinnen leicht angetrunken das Lokal.
„Lass uns mit der S-Bahn fahren“, schlug Regina vor.
Nora war einverstanden, woraufhin die beiden den nächstgelegenen S-Bahnhof ansteuerten. Nur wenige Leute befanden sich um diese Zeit auf dem Nachhauseweg. Die Straßenbahn war nur spärlich besetzt. In ihrem Abteil suchte ein Flaschensammler in aller Seelenruhe nach Pfandflaschen, die achtlose Fahrgäste zurückgelassen hatten. Nach drei Stationen stiegen die beiden jungen Frauen wieder aus. An der nächsten Ampelkreuzung trennten sich ihre Wege. Regina musste links die Hauptstraße überqueren, während Nora noch gut einen Kilometer bis zu ihrer Studentenwohnung vor sich hatte und der Straße folgen musste. Die Ampel zeigte auf Rot und die beiden jungen Frauen nutzten die Zeit, um sich mit einer innigen Umarmung voneinander zu verabschieden. Aus den Augenwinkeln sah Nora einen dunklen Lieferwagen, der ungewöhnlich langsam über die Kreuzung fuhr. Das grüne Männchen und der piepende Signalton der Ampel lösten die beiden Freundinnen aus ihrer Umarmung.
„Ich ruf dich morgen an“, versprach Regina und eilte dann schnellen Schrittes über die Kreuzung. Nora winkte Regina kurz hinterher und setzte dann ihren Weg fort, den sie schon viele Male gegangen war. Nach etwa zweihundert Metern verengte sich die Straße und Nora kam an einem asphaltierten Bolzplatz vorbei, der von hohen Gittern umgeben war. Vor sich konnte sie schon die Eisenbahnunterführung erahnen. Als sie das öffentliche Fußballfeld passiert hatte, überquerte ein Zug mit lautem Getöse die Brücke. Die anschließende Stille wirkte auf Nora bedrückend, zumal sich kein Mensch auf der Straße befand. Im Schein der Straßenlaternen konnte sie ein Fahrzeug erkennen, das direkt vor der Unterführung parkte. Das helle Nummernschild hob sich deutlich von der dunklen Karosserie ab. Nora näherte sich mit unwohlem Gefühl in der Magengegend, obwohl sie eigentlich kein ängstlicher Mensch war. Bei dem abgestellten Fahrzeug handelte es sich um den dunklen Lieferwagen, der Nora schon an der Ampel aufgefallen war. Der Wagen hatte im Bereich der Ladefläche keine Fenster. Nora blickte sich um und machte einen weiten Bogen um das Fahrzeug. Sie sah zum Seitenfenster, konnte aber niemand hinter dem Steuer erkennen. Ohne es zu bemerken, hatten sich ihre Schritte automatisch beschleunigt, die jetzt laut durch die Unterführung hallten. Da die kurze Strecke unterhalb der Bahnschienen nicht beleuchtet war, schnürte aufkommende Panik Noras Magen nun vollends zusammen. Sie war kurz davor loszurennen, als sich eine dunkle Gestalt von dem Betonpfeiler löste und auf sie zugestürmt kam. Ein kräftiger Arm presste sich gegen ihren Brustkorb. Panisch trat Nora mit den Füßen um sich, doch der Angreifer hielt sie mit seiner stählernen Umklammerung fest. Nora wollte gerade nach Hilfe schreien, als ein feuchtes Tuch vor ihren Mund gedrückt wurde. Der durchtränkte Stoff raubte ihr die Luft zum Atmen, stattdessen inhalierte sie Dämpfe, die ihre Sinne benebelten. Nora spürte, wie ihre Kräfte schwanden, dann tauchte sie in eine lautlose Dunkelheit ab.