Читать книгу Weckzeit - Norbert Böseler - Страница 4
1985
ОглавлениеSie konnte den Tod nicht sehen, nicht hören und nicht fühlen, dennoch roch sie seine Gegenwart. Der Duft des Todes umgab sie wie eine finstere Wolke, sie aber blieb ahnungslos. Falls sie auf den Schalter drücken sollte, würde er sie in seine Arme schließen.
***
Das Leben hatte es nicht gut mit ihnen gemeint. Warum sollte es so früh enden? Musste es jetzt überhaupt enden? Doch Renate und Franz hatten einen Entschluss gefasst. So schwer der Weg auch schien, sie wollten ihn gemeinsam gehen. Renate war im vergangenen Jahr schwer erkrankt. Darmkrebs lautete die niederschmetternde Diagnose – weit fortgeschritten und unheilbar. Starke Medikamente begleiteten sie über den Tag und machten die Schmerzen einigermaßen erträglich. Sie bestand nur noch aus Haut und Knochen, wog gerade mal vierzig Kilo. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie im Bett, doch Schlaf fand sie kaum. Franz, ihr Ehemann, zerbrach an Renates Krankheit. Er litt an Depressionen, die er nicht mehr in den Griff bekam. Zum einen konnte er den Zustand seiner Frau nicht mehr ertragen, zum anderen stand er vor dem Nichts. Die beiden hatten Schulden, die ihre Zukunft zerfraßen wie die Krebszellen Renates Körper. Der landwirtschaftliche Betrieb, der Mittelpunkt ihres Lebens, stand vor dem Bankrott und musste verkauft werden. Für Franz war damals ein Jugendtraum in Erfüllung gegangen, als er den Hof von seinen Eltern übernehmen durfte. Die hatten sich daraufhin in die Stadt zurückgezogen, um ihren Ruhestand zu genießen. Nach mehr oder weniger erfolgreichen Jahren stürzte der Hof unaufhaltsam in eine verheerende, finanzielle Krise. Ein Großteil der Rinder war bereits verkauft worden, doch das Geld bekamen sie nie zu Gesicht. Franz sah keine Perspektiven mehr, dachte immer häufiger an Selbstmord. Bis vor kurzem konnte Renate ihm diese düsteren Gedanken noch austreiben, doch nun hatte sie die Kraft dazu verloren. Sie konnte ihrem Mann keinen Lebensmut mehr einhauchen, da ihr eigener sie langsam verließ. Einzig die beiden Kinder hatten ihren Willen zu leben noch aufrecht gehalten. Johanna, die siebenjährige Tochter sprühte nur so vor Lebensfreude. Um sie brauchte sich Renate keine Sorgen machen. Auch wenn das Schicksal sie hart treffen würde, sie käme bei den Großeltern unter und würde ein anderes Leben beginnen können. Sorgen bereitete Renate der elfjährige Junge. Er war äußerst labil und könnte an solch einer Tragödie zerbrechen. Er wollte nicht wahrhaben, dass seine Mutter so schwer erkrankt war. Jeden Tag fragte er sie, ob sie wieder gesund werde. Und als Renate die Frage eines Tages verneinte, rannte er weinend in sein Zimmer und schloss sich ein. Er konnte sich schwer von etwas trennen. Selbst wenn Rinder zum Schlachten gebracht wurden, weinte er tagelang. Was sollte aus ihm werden, wenn er von seinen Eltern getrennt wurde? Würde er sich jemals wieder fangen? Renate und Franz konnten es nur hoffen, denn sie hatten eine Entscheidung gefällt. Franz hatte seiner Frau unmissverständlich verdeutlicht, dass er ohne sie nicht leben könne. Wenn sie nicht mehr da sei, würde er sich früher oder später das Leben nehmen. Daran hegte er keinen Zweifel. Renate sah in seine Augen, die pure Verzweiflung widerspiegelten, dass er es ernst meinte. Ende letzter Woche stimmte sie seinem Plan zu. Sie kam zu der Überzeugung, dass dieser letzte Schritt für alle das Beste sei. Sie malten sich alle möglichen Szenarien aus, wobei in ihrer Ausweglosigkeit die positiven Aspekte für einen Freitod eindeutig überwogen. Für die Kinder würde gesorgt werden, sie würden nicht alleine sein, dessen waren Renate und ihr Mann sich sicher.
Franz traf alle Vorkehrungen. Er hatte fünf Gasflaschen im Haus verteilt. Eine im Wohnzimmer, eine in der Küche und die anderen drei im Schlafzimmer. Zudem hatte er den elektrischen Heizlüfter an eine Zeitschaltuhr gekoppelt und den Timer auf zwölf Uhr gestellt. Die Kinder würden eine Stunde später aus der Schule nach Hause kommen. Sie sollten ihre Eltern nicht tot im Bett vorfinden, diesen Anblick wollten sie ihnen ersparen. Wenn die beiden nach Hause kämen, würde das Wohnhaus nicht mehr existieren und die Rettungsdienste würden sich um die Kinder kümmern. Außerdem wollte Franz nichts hinterlassen. Nichts für die Bank, nichts für die Kinder. Alle persönlichen Gegenstände, die in den Kindern Erinnerungen wachrufen könnten, sollten in den Flammen zu Asche verglühen. Die beiden Kinder mussten vergessen, Erinnerungen durften ihrem Neuanfang nicht im Wege stehen. So sehr sie auch mit sich gerungen hatte, letztendlich tolerierte Renate den Wunsch ihres Mannes. Die Kinder sollten nicht zurückblicken müssen. Was vor ihnen lag, würde all ihre Kraft beanspruchen.
Renate und Franz gingen ins Bad, wo beide Schlaftabletten zu sich nahmen. Franz drehte die Gasflaschen in der Küche und im Wohnzimmer auf. Renate wartete im Flur auf Franz, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als Franz auf sie zukam, musste sie sich an der Wand abstützen, da ihre Beine einzuknicken drohten. Sie hakte sich bei ihrem Mann ein und wankte mit ihm ins Schlafzimmer. Schwerfällig ließ sie sich aufs Bett nieder und legte sich hin. Franz drehte die Ventile der drei restlichen Gasflaschen auf, kontrollierte nochmal die Zeitschaltuhr und legte sich anschließend zu seiner Frau aufs Bett. Renate öffnete das Nachtschränkchen und holte einen Rosenkranz hervor. Sie legte ihn in die offene Hand und wandte sich ihrem Mann zu. Er griff nach ihrer Hand mit dem Rosenkranz und umschloss sie sanft. Dann gab er seiner Frau einen letzten Kuss, wobei ihm eine Träne des Abschieds über die Wange rann. Beide lagen im Schlafzimmer und starrten an die Decke, wo vor ihren Augen Bilder aus einer glücklichen Vergangenheit abliefen, die sie nicht wiederbeleben konnten. Das Ehepaar würde ihre Kinder nie wieder wiedersehen. Renate und Franz warteten darauf, dass die Bilder erloschen. Voller Wehmut hofften sie auf die baldige Erlösung.
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Johanna saß frohgelaunt im Bus und unterhielt sich angeregt mit ihrer Freundin. Die letzten beiden Stunden waren heute ausgefallen, da die Deutschlehrerin erkrankt war. Als der Schulbus anhielt, verabredete Johanna sich noch schnell mit ihrer Freundin und stieg dann aus. Den Rest des Weges musste sie zu Fuß bewältigen. Der Hof lag weit abseits der Wohnsiedlung hinter einem kleinen Wald verborgen. Ein mit Schotter befestigter Weg führte links von der Landstraße ab, dem musste sie knapp vierhundert Meter folgen, um nach Hause zu gelangen. Rechts und links flankierten Maisfelder den Weg. Die Pflanzen ragten so weit in die Höhe, dass Johanna sie nicht überblicken konnte. Sie schippte einen Stein vor sich her und als er im hohen Gras am Wegesrand verschwand, suchte sie sich einen neuen Schotterstein. Ein einziges Mal hatte sie es bislang geschafft, mit nur einem Stein den Hof zu erreichen. Dabei hatte sie für die Strecke die doppelte Zeit benötigt, weil sie sich voll und ganz auf ihre Schusstechnik konzentriert hatte. Heute ging sie zügig, ihr war egal, wohin die kleinen Steinchen rollten. Vor ihr endeten die beiden Maisfelder und sie erreichte den Wald, der ausschließlich aus Laubbäumen bestand. Von hieraus war es nicht mehr weit. Kurze Zeit später sah sie das Wohnhaus. Johanna wunderte sich, weil es auf dem Hof so still war. Normalerweise arbeitete ihr Vater um diese Zeit im Stall, der sich noch ein Stück weiter hinter dem Haus befand. Jetzt hörte sie keine Geräusche, selbst die Türen waren alle verschlossen. Bestimmt hilft er Mama im Haus, dachte Johanna und ging unbekümmert zur Eingangstür. Die Tür war abgeschlossen, was ebenfalls ungewöhnlich war. Johanna nahm die Schultasche ab und bückte sich zu dem Blumentopf, der auf dem Treppenstein stand. Darunter lag für den Notfall ein Haustürschlüssel. Klingeln wollte sie nicht, falls ihre Mutter schlief. Johanna schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Sie stellte die Schultasche im Windfang ab und ging dann durch eine zweite Tür in den Flur. Sie bemerkte sofort den komischen Geruch. Er stieg beißend in ihre Nase auf und füllte Johannas Augen mit Tränen. Ihre Mutter hatte in der Küche sicherlich wieder etwas anbrennen lassen, glaubte Johanna, das kam in letzter Zeit häufiger vor. Sie rief einmal nach ihren Eltern, erhielt jedoch keine Antwort. Der Flur war fensterlos, nur wenig Licht fiel durch die Verglasung der Haustür. Johanna begann zu husten und hielt sich die Hand vor den Mund. Mit der anderen Hand tastete sie nach dem Lichtschalter. Sie legte ihre kleinen Finger auf die Wippe und drückte sie nach unten.